Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Was ist Glück? Oder: Die Problematik eines Glücksbegriffes
3. Wie ist Glück? Oder: Die Facetten des Glücks
3.1 Episodisches Glück
3.2 Periodisches Glück
4. Wann ist Glück? Oder: Die Deutungshoheit der Glückszuschreibung
5. Warum ist Glück? Oder: Voraussetzungen und Hindernisse des Glücks
6. Wo ist Glück? Oder: Wo beginnt das Glück?
7. Was ist Glück? Oder: Eine Zusammenfassung
8. Wer ist glücklich? Oder: Die Konkretisierung auf das Leben
Literaturverzeichnis:
Internetquellen:
1. Einleitung
Beatos nos esse volumus (Wir alle wollen glückselig sein) Augustinus1 Es gibt manche Dinge, die verbinden das Menschengeschlecht über Generationen hinweg, wie zum Beispiel der Blick in den nächtlichen Sternenhimmel. Und seit jeher grübelt der Mensch, denkt nach über die Himmelsgestirne oder betet sie als Gottheit an. Erkenntnisse werden an die nächste Generation übergeben: Die Erde dreht sich um die Sonne. Der Mond ist ein Trabant der Erde, unser Zuhause ist die Milchstraße und sie zeigt sich als ein Band aus funkelndem Staub am Nachthimmel. Mit der Zeit bestätigt der Mensch Generationen vorher getroffene Vermutungen, verwirft vorherige Vorstellungen, stellt auf neuen Erkenntnissen aufbauend neue Fragen für nachfolgende Forscher. Jede Antwort ist gleichzeitig eine Aktualisierung der Fragezeichen. Und so bleibt der Sternenhimmel Symbol für die Neugierde des Menschen. Er fasziniert, macht nachdenklich und verbindet so Vorfahren und Nachkommen in ewigem ehrfurchtsvollem Interesse und Spekulationen über das generationsübergreifende Änigma. Es gibt viele solcher großen Fragen der Menschheit, an denen die Genies ihrer Zeit knobelten, um mit Ansätzen und Ansichten der nächsten Generation ein Fundament zu bieten. Sie zeugen von der unerschöpflichen Motivation des homo sapiens, sich selbst und seine Peristase zu verstehen. Diese großen Fragen beschränken sich nicht nur auf die Außenwelt. Auch sich selbst erforscht der Mensch und fragt weiter, erkundet sich und zerbricht sich ohne Zweifel seit er nachdenklich in die Sterne blickt den Kopf über ein Abstraktum mit größter Auswirkung auf das menschliche Handeln und Sein: Glück. Afrikanische Sprichwörter, chinesische Lebensweisheiten, hellenistische Abhandlungen und römische Fabeln: Sie alle zeugen von der Attraktivität des Glücks unabhängig von Nationalität, Lokalität und Epoche.
Im Folgenden soll eine philosophische Annäherung an diesen Begriff gelingen, der so alltäglich ist wie diffus und König wie Kind, Genie wie gemeinen Mensch beeinflusst und betrifft, dessen Erlangen für nicht wenige das Lebensziel bedeutet und dessen Charakter Universalgelehrte wie Laien zu Spekulationen anregt.
Als Wegweiser auf der Wanderung durch die philosophische Welt des Glücks sollen die aus dem Journalismus zu Zeiten vor Clickbait -Artikeln nicht wegzudenkenden sechs – von manchen um ein zusätzliches erweitertes – Ws dienen: Diese sechs, beziehungsweise sieben Ws sind Abkürzungen für die relevantesten Fragen, die eine Nachricht meist schon in dem sogenannten Lead, dem Anfang eines Artikels, beantwortet: Wer? – Was? – Wo? – Wann? – Wie? – Warum? – (Woher?)2
Als Einführung in die Annäherung an das Glück wird die Frage stehen: „Was ist Glück?“ – Kurz wird die sich über Jahrtausende streckende Glücksphilosophie umrissen. Dies dient dem groben Überblick: Ist Glück relevant genug, um eine ausführliche Beschäftigung zu rechtfertigen? Was ist bei dieser Beschäftigung zu beachten? Lassen sich vorab Eingrenzungen des Begriffs treffen, um den wegweisenden Ws einen Rahmen zu geben?
Daran anschließend stellt sich die Frage, „Wie ist Glück?“ – Ist es die Summe der Glücksmomente unter dem Strich des abgeschlossenen Lebens? Oder ein kurzes, aber intensives Hochgefühl, das beispielsweise bei einem Erfolg eintritt? Bezeichnet es einen Zustand, einen Prozess oder etwa eine rückblickende Beobachtung?
Folgend wird sich mit der Frage beschäftigt, „Wann ist Glück?“, die weniger darauf abzielt, ab wann sich eine Person als glücklich bezeichnet, sondern darauf, wann man sich glücklich nennen darf: Braucht es eine extrinsische Attestierung des Glücks, lässt sich überhaupt aus der Außenperspektive Glück bei einer anderen Person belegen? Oder genauer: Existieren objektive Maßstäbe zur Glückszuschreibung oder lässt sich nur aus dem Subjekt selbst heraus Glück erkennen? Für beide Ansichten lassen sich triftige Argumente finden: In Imre Kertész' Roman eines Schicksalslosen beispielsweise schreibt der Autor über einen unerwarteten Ort der Glücksempfindung und tritt so gleichzeitig dafür ein, dass die alleinige Autorität zur Feststellung eines Glückszustandes bei dem Individuum selbst liegt und somit Glück nur subjektiv zuzuschreiben sei:
„Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. […] Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.“3
Auf der anderen Seite legt das allzu menschliche, erst retrospektive Erkennen des Glücks nahe, dass es „möglich [ist], glücklich oder unglücklich zu sein, ohne zu wissen, daß man es ist.“4 Dies wiederum lässt ein Zuschreiben des Glücks ausschließlich aus der Außenperspektive heraus nicht mehr so kontraintuitiv wirken.
Schließlich soll ein kurzer Überblick über die Voraussetzungen und Hindernisse des Glücks unter der Frage „Warum ist Glück?“ gegeben werden. Lassen sich überhaupt Voraussetzungen oder Hindernisse definieren?
Daraufhin gilt es, die Frage „Wo ist das Glück?“ zu beantworten und dazu das Glück auf einer Skala zwischen Leidlosigkeit und Lust einzuordnen: Ist Leidfreiheit eine hinreichende Bedingung für das Glück oder ist sie, wenn überhaupt, höchstens notwendig und es bedarf der Lust um glücklich zu sein?
Anschließend werden die bis hierhin behandelten fünf Ws in einer finalen Zusammenfassung der Ergebnisse durch Iteration der anfänglichen Fragestellung „Was ist Glück?“ münden. Die vier Fragen plus der einen die Annäherung umschließenden werden in einem differenzierten Glücksbegriff resultieren, der im letzten Kapitel dieser Arbeit die Ergebnisse konkret anzuwenden versucht, in welchem die letzte verbleibende W-Frage, „Wer ist glücklich?“, unter Zuhilfenahme der zusammengetragenen Erkenntnisse in Bezug auf das Individuum, auf bestimmte Einstellungen und auf Lebensumstände zu beantworten ist.
Robert Spaemann schreibt in seinem Versuch über die Ethik Glück und Wohlwollen: „Dieser Versuch über Ethik enthält hoffentlich nichts grundsätzlich Neues. Wo es um Fragen des richtigen Lebens geht, könnte nur Falsches wirklich neu sein.“5 Und so wird auch diese Annäherung weitestgehend keine neuen Erkenntnisse demjenigen vermitteln können, der sich ausführlich mit einer philosophischen Betrachtung des Glücks beschäftigt hat. Dennoch wird durch Gegenüberstellung und Vergleich von verschiedensten Ansichten, Zeiten und Einstellungen das Glück hoffentlich als ein solches trotz der nach Christoph Horn auf die pyrrhonische Skepsis zurückgehenden Überzeugung, „jedes willentliche Intendieren des Glücks verfehlt sein Ziel“6, greifbarer und verständlicher – ganz im Sinne Dieter Thomäs:
„Wörter allein – Glück, Gerechtigkeit, Wahrheit etc. – haben ein faules Flair. Sie stehen da wie Ölgötzen. In Bewegung kommen sie erst, wenn sie verwendet werden, in immer wieder verschiedenen Zusammenhängen auftreten. Dabei werden sie beobachtet und gelegentlich ertappt.“7
2. Was ist Glück? Oder: Die Problematik eines Glücksbegriffes
Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht. Immanuel Kant8
Die Frage „Was ist Glück?“ birgt viel Raum für Missverständnisse. Schon Aristoteles bemerkte in der Nikomachischen Ethik, wie weit die Ansichten über die konkrete Bedeutung des Abstraktum auseinander zu gehen pflegen: Nicht nur unterscheiden sich diese Ansichten von Person zu Person, mitunter seien sie sogar bei einem Individuum ambivalent: So passe sich der Inhalt des Glücks gleich einem Chamäleon an die aktuellen Umstände oder Bedürfnisse an – für den Kranken ist das größte Glück die Genesung, für den Armen großer Reichtum.9 Diese Flexibilität des Glücks erschwert es, triftige Aussagen über die genaue Wortbedeutung und den Inhalt des Lemmas zu treffen.
Bereits die Verwendung des deutschen Wortes Glück kann leicht zu einem Missverständnis führen, schließlich ist Glück ein Homonym und kann entweder „den günstigen Zufall, den unverdienten Erfolg oder das überraschende Gelingen“10 – kongruent zu dem lateinischen Begriff fortuna, dem griechischen eutychia, dem französischen chance oder dem englischen luck - meinen, oder es bezeichnet das deutsche Pendant zu dem lateinischen Begriff beatitudo, dem griechischen eudamonia, dem französischen bonheur oder dem englischen happiness;11 auch: Glücklichsein, Glückseligkeit. Eine weitere Schwierigkeit bei der Beschäftigung mit dem Begriff Glück wird offensichtlich, wenn man den epochen-, oder zeitgebundenen Aspekt des Bedeutungshorizontes bedenkt: Verwendet Aristoteles beispielsweise den Begriff eudamonia, der im Deutschen meist nicht mit Glück, sondern mit Glückseligkeit wiedergegeben wird, so versteht er darunter nach Seel einen Glücksbegriff mit übergreifender Bedeutung, man könne eudamonia auch als „gelingendes Leben“, „menschliches Gedeihen“ oder schlicht „Wohlergehen“ übersetzen.12 Kurze Momente eines empfundenen Glücks sind aus peripatetischer Sicht zwar nicht trivial, haben sich aber in das größere Konstrukt des gelingenden Lebens einzuordnen: „[D]enn wie eine Schwalbe und ein Tag noch keinen Sommer macht, so macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden glücklich und selig.“13 Vergleicht man die antike Auffassung von einer Art „Erfüllungsglück“ mit dem modernen Gebrauch des Begriffs Glück, der eher als „Empfindungsglück“ verstanden werden kann,14 eröffnen sich wiederum zwei Dimensionen des Glücksbegriffes: „ [A]uf der einen Seite die Veranschlagung auf das ganze Leben, das Glück als Lebenszufriedenheit, auf der anderen Seite das situative Glück“.15 Diese Metamorphose der Semantik resultiert aus einer millenniumsüber- greifenden Beschäftigung mit der Thematik des Glücks, aus welcher sich die Relevanz einer Glücksphilosophie ableiten lässt. Neben dem oben genannten Aristoteles, der Glück formal als „[...] das (a) vollkommenste oder auch vollständigste Gut (teleiotaton), […] (b) für sich hinreichend (autarkes), und [...](c) wählenswerteste Gut (hairetôtaton) “16 definiert, beschäftigte sich auch der Politiker, Anwalt und Philosoph Cicero in seiner Schrift Hortensius sive de philosophia ( folgend nur Hortensius) mit dem Glück – er vertritt die Meinung, dass die Philosophie der Weg zum Glück sei17 – und inspirierte mit dieser Augustinus dazu, sich ebenfalls auf eine philosophische Suche nach dem Glück zu begeben,18 dessen Abhandlung de beata vita das Zitat der Einleitung entnommen ist, welches sich Augustinus selbst wahrscheinlich aus Ciceros Hortensius geliehen hat.19 Augustinus bezeichnet Glück als ein Geschenk Gottes20 und deduziert anschließend unter den Prämissen, dass nur, „was Dauer hat, was kein Schicksalssturm […] rauben kann“21, glücklich macht und dass Gott allein von zeitloser Dauer sei:22 „Wer also Gott hat, ist glücklich.“23 Das philosophische Interesse am Glück reißt auch im Mittelalter nicht ab und ermutigt kirchliche Philosophen zu eigenen Nachforschungen und Thesen. Wie auch schon Augustinus, setzten die mittelalterlichen Philosophen Gott und Glück oft in eine direkte Relation: Thomas von Aquin beispielsweise gelangt in De beatitudine zu der Ansicht, dass das den Menschen glücklich machende Gut ungeschaffen sein müsse und kommt mit einer anderen Prämisse zu demselben Ergebnis wie Augustinus etwa 800 Jahre früher – denn dieses Gut ist natürlich Gott selbst.24 Und auch Immanuel Kant hat sich – wie an dem Zitat dieses Kapitels zu erkennen – mit der Glückseligkeit beschäftigt. Anders als viele Vorgänger und Nachfolger fordert er, Glück dürfe in einer Ethik, die auf apriorischen Erkenntnissen beruht, aufgrund seiner Empirie äußerstenfalls eine marginale Rolle einnehmen.25 Vehement widersprechen hier die Utilitaristen, welche ähnlich Aristoteles' formaler Definition der Meinung sind, „daß das Glück wünschenswert ist, und zwar als das einzige [sic!], was als Zweck wünschenswert ist. Alle anderen Dinge sind nur als Mittel zu diesem Zweck wünschenswert.“26 Darauf aufbauend fußt das utilitaristische Ethikkonzept, welches das Glück ausdrücklich als Indikator der Moralität einer Handlung einsetzt: „[t]he greatest happiness principle: the rightness of an action is determined by its contribution to the happiness of everyone affected by it.“27 Durch den Utilitarismus inspiriert wird die Relevanz des Glücks auch dadurch greifbarer, dass es sich neben Leben und Freiheit als ein unveräußerliches, von Gott gegebenes Recht des Menschen in einem der wichtigsten Dokumente einer heutigen Weltmacht findet: Der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in der Thomas Jefferson jedem Menschen das Recht auf das Streben nach Glück zugesteht („[...] all men are created equal, […] they are endowed by their Creator with certain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happiness [Hervorh. d. Verf.].“)28
Auch in der heutigen Zeit scheint das Interesse am Glück nicht abzunehmen. Ein schier endloses Angebot an Glücks- und Lebensratgebern verspricht den Weg zum Glück und auch die Presse versucht das große Interesse am Glück zu bedienen29 Kurz gesagt: Das Interesse am Glück ist wieder (oder wohl eher unverändert) hoch.
Was ist also Glück? Dieser erste Überblick wird wohl mehr Fragen generiert haben als beantwortet, denn die Diskrepanz zwischen den Antworten verschiedener Philosophen legt nahe, dass es eine genauere Beschäftigung benötigt, um dem Glück auf die Schliche zu kommen. Aber gerade durch das rege Interesse an dem Begriff mindestens seit der Antike wird deutlich, warum eine ausgiebige Beschäftigung lohnend ist: „Glücklich leben […] wollen alle; aber wenn es darum geht, zu durchschauen, was es ist, das ein glückliches Leben bewirkt, dann ist ihr Blick getrübt.“30
Eine Annäherung an den Begriff des Glücks und Trabantenwörter soll auf den folgenden Seiten gelingen. Sofern nicht ausdrücklich anders angegeben liegt diesem die zweite der oben differenzierten Bedeutungen, Glück als happiness, als bonheur, als beatitudo, als eudamonia, zugrunde, allerdings ohne die peripatetische semantische Einschränkung der eudamonia als ein Erfüllungsglück. Zweifelsfrei muss der Begriff von vorneherein weit gefasst werden, um die verschiedenen Wesensarten und Verständnisse des Glücks, die unterschiedlichen Theorien und Ratschläge zum Erlangen ebendessen in einer philosophischen Annäherung betrachten zu können.
3. Wie ist Glück? Oder: Die Facetten des Glücks
Es gibt auf der Welt zwei Grundarten von Glück. Bertrand Russel31 Die semantische Erweiterung des Glücksbegriffs im Laufe der Zeit hat keineswegs ausschließlich zur Folge, dass antike und moderne Philosophen oft über Unterschiedliches sprechen, wenn vom Glück die Rede ist. Vielmehr teilt sie die Terminologie des Glücks in zwei verschiedene Bedeutungen, die wiederum verschiedene Aspekte an sich haben. Die Rede ist einerseits vom episodischen, andererseits vom periodischen Glück,32 die sich wie folgend seziert unterscheiden:
3.1 Episodisches Glück
Und ob dieses Glück hundert Sekunden oder zehn Minuten gedauert habe, es war so außerhalb der Zeit, daß es jedem andern echten Glücke so vollkommen glich wie ein flatternder Bläuling dem andern. Hermann Hesse33 Episodisches Glück bezeichnet die unmittelbare Empfindung von Glück; einen sich über meist kurze Zeitabschnitte mehr oder minder konstant erstreckenden Zustand, der sich in zwei Varianten unterteilen lässt: Die eine ist verknüpft mit einer gesteigerten, die andere mit einer gedämpften Bewusstheit. Daraus ergeben sich verschiedene, differenzierbare Glückszustände.34
Das episodische Glück der gesteigerten Bewusstheit tritt willkürlich auf und ist nicht an Auslöser gebunden, aber kann durch Auslöser verursacht werden. Birnbacher beschreibt dieses Glücksgefühl als oft „unerklärlich“ oder sogar „paradox“, manchmal sogar unpassend, wie beispielsweise „in Gestalt eines jäh aufflackernden Triumphgefühls bei der Nachricht vom Scheitern oder vom Tod eines aktuellen oder potenziellen Rivalen.“35 Seel spricht von einem „Glück des erfüllten Augenblicks“36 oder dem „Glück reiner Gegenwärtigkeit“37, welches nicht intendiert werden könne, sondern sich von selbst einstelle.38 Durch dieses Negieren der Intention ist das Glück des erfüllten Augenblicks abhängig von dem Zufallsglück, denn es tritt insofern zufällig auf, als dass es sich nicht willentlich herbeirufen lässt und sich nicht auf Wunsch einstellt. Das Subjekt hat lediglich die Kontrolle darüber, für einen solches Glücksmoment offen zu sein und in ihm, sollte er eintreten, zu verweilen.39 Wichtig ist jedoch die Distinktion, dass diese Augenblicke zwar zufällig auftreten, aber dennoch durch eine bestimmte Situation oder Begebenheit wahrscheinlicher gemacht werden können.
Dieses episodische Glück lässt sich am leichtesten veranschaulichen, wenn man es mit „Euphorie“ umschreibt – Euphorie bezeichnet eine „zeitweilige übersteigert heitere und zuversichtliche [Gemüts]stimmung, Hochstimmung, Zustand optimistischer Begeisterung, [rauschhaft] gesteigerten überschwänglichen Gefühls.“40
Das Pendant dazu ist das episodische Glück in Kombination mit einer gedämpften Bewusstheit. Dieses tritt auf, wenn sich das Individuum einer Tätigkeit oder Sache hingibt und sich in dieser verliert. Das Bewusstsein wird dabei so für die bestimmte Tätigkeit oder Sache beansprucht, so darauf fokussiert, dass sich das Individuum darüber quasi selbst vergisst, dass das Bewusstsein seiner selbst dadurch eingeschränkt wird.41 Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi prägte für diesen Zustand den Begriff flow: Die Vertiefung in eine Sache oder Tätigkeit, die das komplette Bewusstsein in Anspruch nimmt, „jene[r] Zustand, bei dem man in eine Tätigkeit so vertieft ist, dass nichts anders [sic!] eine Rolle zu spielen scheint.“42 Diese Vertiefung hat zur Folge, dass das Bewusstsein derartig gefesselt ist im Fokus auf etwas, dass darüber das eigene Selbst vergessen wird und mit ihm auch an dieses Selbst gekoppelte Probleme:
„Wer flow erlebt, kann nicht darüber nachgrübeln, ob er gut aussieht oder ob andere ihn sympathisch finden oder nicht. Die Intensität des Erlebnis verhindert, daß man über die Vergangenheit und Zukunft nachgrübelt.“43
Mit dem abgeschwächten bis nicht vorhandenen Bewusstsein um das eigene Selbst verlieren also auch die das eigene Selbst betreffenden Vorstellungen, Ansichten und Wünsche ihre Wirkung; das Bewusstsein wird so intensiv wie möglich in die Handlung investiert. Young-Dal You spricht sogar von einer Verschmelzung von Handeln und Bewusstsein, die sich unter anderem durch ein verändertes Zeitgefühl bemerkbar macht, denn im flow weicht die empfundene Zeit stark von der tatsächlichen Zeit ab, sie scheint schneller zu vergehen oder sogar gar nicht zu existieren.44
Wurde oben der Begriff Euphorie verwendet, so ließe sich das episodische Glück der gedämpften Bewusstheit mit dem Begriff der Ekstase näher erläutern, wäre dieser Zustand nicht religiös konnotiert und wissenschaftlich oft widersprüchlich verwendet.45
Passend ist die Ekstase trotzdem deshalb, weil sie durch ihre Herkunft vom griechischen ékstasis, das Aus-sich-Heraustreten,46 gut die Distanz des Subjekts zu sich selbst veranschaulicht. Rümke elaboriert: „Das erlebende Subjekt wird in der Ekstase nicht mehr sich selbst gewahr.“47 Darüber hinaus bezeichnet die Ekstase einen „rauschhafte[n] Zustand, in dem die Kontrolle über das Bewußtsein entzogen ist“48, was ebenfalls eine Deckungsgleichheit mit dem flow aufweist. Kongruent sind die beiden Begriffe zwar nicht, mit der vorangestellten Erläuterung des episodischen Glücks gedämpfter Bewusstheit und der Einschränkung des Begriffs der Ekstase, lässt sich flow jedoch adäquat veranschaulichen.
Seel unterscheidet bei seiner Darstellung das episodische Glück vom bloßen Wohlgefühl, da er episodisches Glück immer in einem Kontext periodischen Glücks versteht, auf welches im nächsten Abschnitt eingegangen wird. Seel argumentiert, die Wertigkeit des episodischen Glücks sei erst vor dem Horizont des mehr oder weniger glücklichen Lebens, beziehungsweise vor übergreifenden Glücksmöglichkeiten oder -erwartungen, erkennbar. Von Glück sei nur da zu sprechen, wo es sich in einen zeitlichen Kontext zwischen „vorauseilender Erwartung“ und „zurückreichender Erinnerung“ einordnen lässt.49 Diese Glücksauffassung wird in dieser Annäherung nicht geteilt, da sie konträr zu dem oben beschriebenen Glück durch flow steht, das sich eben dadurch auszeichnet, dass es in einem vom Individuum als zeitlos empfundenen Rahmen existiert, in dem das Konstrukt von Erinnerung und Erwartung durch die Selbstvergessenheit keinen Einfluss hat.
3.2 Periodisches Glück
Glücklich ist derjenige, dem die Vernunft den Gesamtzustand seiner Verhältnisse als angenehm erscheinen lässt. Seneca50
Das antike Verständnis der eudamonia, also vom gelingenden Leben, lässt sich dem periodischen Glück zuschreiben. Dieses bezeichnet nämlich keine Augenblicke des Glücks, sondern den Glücksdurchschnitt wählbar lang andauernder Perioden im Leben eines Menschen oder das gesamte Leben eines Menschen selbst.51 Während Birnbacher das episodische Glück als Zustand kategorisiert, betrachtet er periodisches Glück als Urteil, und zwar als Urteil über die „Gesamtqualität“ eines bestimmten Zeitabschnittes.52 Auch Seel sieht das periodische Glück nicht als zuständlich, sondern als prozessual an: „Das gute Leben wird hier verstanden als ein Prozeß der gelingenden Erreichung episodischen Glücks“53 Es wird deutlich, dass bei Seel die Begriffe des episodischen und des periodischen Glücks interdependent sind.
Wichtig ist Seel auch, zu betonen, dass periodisches Glück sich nicht bloß aus dem addierten episodischen Glück ergibt, die Rechnung selbst dann nicht aufgeht, wenn von dieser Summe Un-Glück 54 subtrahiert wird, denn „[d]ie übergreifende Qualität menschlichen Lebens zeigt sich erst darin, wie wir in seinem Lauf mit dem Wechsel von Lust und Schmerz, Freude und Leid, Angst und Zuversicht, kurz: mit den Schwankungen des Glücks und des Wohlergehens zu Rande kommen.“55
Periodisches Glück bedeutet also nicht permanentes Wohlfühlen, denn negative Erfahrungen und Emotionen gehören ebenso zum menschlichen Leben wie positive.56
Das periodische Glück kann entweder die rückblickende Beurteilung eines vergangenen Zeitabschnittes oder des Lebens bis dato bedeuten, bei Verstorbenen oder Versterbenden also auch das ganze Leben umfassen, oder als eine Bewertung des gesamten Lebens aus dem Lebensvollzug selbst heraus und somit auch der noch nicht erlebten Zeit unter Zuhilfenahme verschiedener Prognosen, Vermutungen und Entscheidungen verstanden werden.57 Für Birnbacher beschränkt sich der Begriff des periodischen Glücks auf ersteres: Er versteht es immer als eine rückblickende Beurteilung.58 Seel hingegen sieht die erste Variante schlichtweg als Teil der zweiten: Die rückblickende Beurteilung ist ein notwendiger Teil der Gesamtbilanz, die notgedrungen aber auch die Zukunft ins Auge zu fassen hat. Denn ein glückliches Leben entscheidet sich daran, „wie es für die Betreffenden war, ist und vermutlich sein wird, in den diversen – vergangenen und künftigen – lokalen und globalen Situationen ihres Lebens zu sein.“59 So sei die Aussicht auf erfüllte Momente und glückliche Situationen für ein glückliches Leben ebenso relevant wie eine im Gesamten als glücklich empfundene Vergangenheit.
Dadurch, dass das periodische Glück als Bewertung eines Verlaufs oder Prozesses verstanden wird, ist es jedoch eher als sein Pendant den menschlichen Schwächen ausgesetzt. Besonders die rückblickende Beurteilung unterliegt der menschlichen Eigenschaft, im Nachhinein Zeiten als positiver zu bewerten, als sie zu dem Zeitpunkt der Entstehung empfunden wurden.60 Das menschliche Gehirn neigt dazu, unangenehme Erinnerungen zu verdrängen61 und besonders im fortgeschrittenen Alter zeigt sich bei vielen Menschen eine positivere Bewertung der vergangenen Zeit. Nicht zufällig ist seit der Antike das rhetorische Mittel der laudatio temporis acti, dem Lob der vergangenen Zeit, nicht nur in Reden beliebt. Eine rückblickende Beurteilung ist also dem menschlichen Naturell geschuldet oft nicht vollends zutreffend, sondern unterliegt einer „illusionären 'Verklärung' der Vergangenheit“.62 Wolfram Kurz fasst es treffend zusammen: „Der Mensch hat die paradoxe Fähigkeit, vergangene Episoden seines Lebens als glücklich zu erleben, die er seinerzeit als alles andere erlebt hat: nur nicht als glücklich.“63
Das periodische und das episodische Glück scheinen also grundverschieden zu sein: Ersteres ist weniger ein Gefühl oder eine Stimmung als eine Bewertung oder Einschätzung der Vergangenheit und Prognose der Zukunft. Periodisches Glück ist zwar im Moment ebenso möglich wie es in einer retrospektiven Bewertung zu Tage treten kann, ist aber in seiner Daseinsform insofern weniger als das episodische Glück auf die Gegenwart zu beziehen, als dass diese Gegenwart immer auch in einer Beziehung zu Vergangenem, Vergehendem und Vergehen werdendem steht. Denn ein glücklicher Moment ist nicht gleichbedeutend – wie Aristoteles mit seinem Vergleich der noch keinen Frühling machenden Schwalbe veranschaulicht64 – mit einem eine bestimmte Periode anhaltendem Glück. Genauso zerstört ein verhindertes episodisches Glück wie beispielsweise ein verlorenes Schachspiel oder eine ungefährliche Sportverletzung nicht notgedrungen eine glückliche Periode. Ebenso wahr ist der Umkehrschluss: Ein kurzer Lichtblick episodischen Glücks wie eine bestandene Klausur schafft nicht zwingend ein periodisches Glück. Das episodische Glück wiederum wehrt sich gegen eine Einordnung in einen zeitlichen Kosmos. Es ist da oder nicht. Es lässt sich nur einladen, nicht aber herbeirufen. Erst durch die Betrachtung der einzelnen Episoden, die vor dem Kontext des periodischen Glücks zusammengeknüpft werden wie ein Teppich, gewinnen diese an nicht der Situation selbst inhärentem Wert und werden entweder zu einem weichen Perserteppich, über den man gerne barfuß läuft, oder zu einem flickenhaften Fußabtreter.
4. Wann ist Glück? Oder: Die Deutungshoheit der Glückszuschreibung
Glücklich ist nicht, wer andern so vorkommt, sondern wer sich selbst dafür hält. Seneca65 Wann ist jemand glücklich? Ist es zum Glück hinreichend, dass sich die Person selbst als glücklich bezeichnet oder bedarf es einer Attestierung von außen? Aus der Antwort wird sich ergeben, ob das Glück subjektiver oder objektiver Art ist.
Intuitiv liegt es nahe, dass das episodische Glück – da ein Zustand – allein durch das erlebende Subjekt zugeschrieben werden kann. Von außerhalb lässt sich allenfalls vermuten, dass sich das beobachtete Individuum in einem Glücksmoment befindet, wie es oft passiert bei Menschen, die selbstvergessen mit geschlossenen Augen selig lächelnd einer Tätigkeit nachgehen, die sie vollends in ihren Bann zieht. Man denke nur an den Musiker, der in einem Solo versunken ist. Aber dieser Musiker wird im Moment der „vollendeten Seligkeit“66, dem „reine[n], selbstvergessene[n] Eintauchen in die Unmittelbarkeit des Erlebens“67 sich nicht glücklich nennen können, denn dieses Glück entspringt zwar der Unmittelbarkeit der Empfindung, eben diese Unmittelbarkeit unterbindet aber eine Reflexion – oder die Reflexion unterbricht die Unmittelbarkeit, da durch die Reflexion das Individuum eine Rolle außerhalb seiner selbst einnimmt, um die Vorgänge in sich zu bewerten.68 Robert Spaemann zieht daraus den Schluss, dass dieses Glück überhaupt nur in der Retrospektive existiert, erst durch die reflexive Betrachtung im Nachhinein Glück wird: „Ekstase ist vollkommenes Glück nur als erinnerte Unmittelbarkeit […]. Das heißt: es gibt dieses Glück überhaupt nur als ‚erinnertes‘.“69 Dieter Birnbacher widerspricht dieser Ansicht in seinem Essay Philosophie des Glücks: Erstens lasse sich das empfundene Glück auch in einem „dazwischen“ und nicht nur einem „danach“ erkennen, was er metaphorisch durch das „zeitweilige Auftauchen aus dem Strom“70 der Unmittelbarkeit darstellt, zweitens sei es trivial, ob es zu einem Wissen über den eigenen Glückszustand während oder nach der Empfindung kommt, da dieses Glück nicht an eine Beurteilung gebunden ist und unabhängig von Erkenntnis existiert.71 An dieser Stelle wird also dafür plädiert, dass Glück losgelöst von einer Glückszuschreibung existiert, ja, einer solchen nicht einmal bedarf – jedenfalls die das Sich-Selbst-Bewusstsein einschränkende Glücksform der Hingabe. Würde man allerdings eine Glückszuschreibung erzwingen wollen, so wäre diese Glückszuschreibung nur durch die Reflexion des Zustandes während oder nach diesem selbst möglich. Da der Zustand jedoch am genauesten von der diesen erfahrenden Person evaluiert werden kann, besitzt sie in dem Falle des episodischen Glücks der gedämpften Bewusstheit die alleinige Autorität der Glücksdiagnose.
Bei einem mit gesteigerter Bewusstheit verbundenen Glück muss es sich ähnlich verhalten. Wieder lässt sich von außen allenfalls ein Glückszustand vermuten, wie beispielsweise bei einem Fußballspieler, der aus lauter Freude über den entscheidenden Treffer jubelnd sein Trikot auszieht. Dieses Glück kann nur eo ipso attribuiert werden, da sich das Glück geradezu aufdrängt: „Wer sich ‚himmelhoch jauchzend‘ fühlt, ist sich seiner selbst in höchstem Maße bewusst“72 und somit gleichzeitig seiner Euphorie, sei sie auch noch so unerwartet oder paradox.
Auf die Frage, wann Glück ist, beziehungsweise ob es zu dieser Antwort eine des Subjekts gibt oder die Antwort nur von Außerhalb asseriert werden kann, lässt sich auf den ersten Blick im Bezug auf das episodische Glück eine klare Antwort geben: Beide Formen des episodischen Glücks verschließen sich vor einer extrinsischen Dechiffrierung, schließlich offenbart sich die eine, wenn überhaupt, nur in einer intrinsischen Reflexion und die zweite Form existiert nicht ohne eine korrekte Glückszuschreibung, da ihr selbst das Wissen um sich inhärent ist. Diese Antwort ist auch valide, wenn es keine Möglichkeit gäbe, von außen in das Subjekt und seine Gefühlswelt hineinzublicken, doch neue Ansätze und Erkenntnisse in Wissenschaft und Forschung öffnen der Bestimmung des Glücks von außen die Tür: „Einer dieser Ansätze ist die Reduktion des Glücks auf neurophysiologische Prozesse im menschlichen Gehirn.“73 Diese Ansätze übertragen das Recht der Zuschreibung weg von einer individuell-subjektiven Einschätzung vollends auf eine (wie lange noch?) fiktive Maschine, die unfehlbar die für das Glück relevanten Botenstoffe wie Endorphine, Dopamin oder Serotonin und andere neurochemische Bedingungen nachverfolgen, analysieren und interpretieren kann. Gemeinsam hat dieser Ansatz mit den antiken Vorstellungen das Resultat, dass normative Handlungsanweisungen gegeben werden können, die das Glück verstärken oder hervorrufen sollen. So ist das Glücksgefühl bei sportlicher Anstrengung – landläufig Läuferhoch genannt – unlängst mit der Ausschüttung der körpereigenen Endocannabinoiden in Verbindung gebracht worden.74
Nicht deckungsgleich ist diese moderne Ansicht mit der antiken allerdings aufgrund der Tatsache, dass die Zuschreibung mittels Maschinen – zumindest bis jetzt – nur das episodische Glück zu beurteilen weiß. Etwaige Handlungsanweisungen sollen das Glück des Moments hervorrufen und können höchstens über die Addition dieser Glücksmomente das periodische Glück fördern.
Die antike Glücksphilosophie, die sich ja nicht nur mit der bloßen Glücksforschung zufrieden gibt, sondern auch eine Handlungs- anweisung zum Erhalt der eudamonia, also einem periodischen Glück angeben möchte, sieht das Glück als objektivierbar. Diese Vorstellung des Glücks, das es durch allgemeingültige Handlungen jedermann offensteht, erzwingt ja schließlich ein objektives Glück. Auch Horn stellt fest, dass das Glück in der Antike als ein Objektivierbares verstanden wird, zu dem die Philosophie mit normativen Erkenntnissen verhelfen kann.75 Als Beispiel führt er Platon an, der behauptet, es sei möglich zu wissen, wer glücklich ist und wer nicht.76 Dies ist wahrscheinlich nicht zuletzt dem häufig normativen Charakter der antiken Philosophie geschuldet, die sich über weite Strecken an der zweiten kantischen Frage zu orientieren scheint: „Was soll ich tun?“77
Aristoteles ist ebenfalls der Meinung, universale Normen einer extrinsisch möglichen Glückszuschreibung seien valide, „[e]r geht davon aus, daß man unter Glück die objektive Erfüllung menschlicher Lebens- und Handlungsmöglichkeiten verstehen könne.“ 78
Auch Augustinus traut sich eine treffende Einschätzung zu, die er Ciceros Hortensius entnahm: So sei derjenige am unglücklichsten, der etwas Falsches erreicht (velle falso et adipisci), weniger unglücklich als dieser derjenige, der etwas Falsches anstrebt aber nicht erreicht (velle falso, non adipisci), glücklicher der das Gute anstrebende, aber nicht erreichende (velle recte, non adipisci) und wahrhaft glücklich nur derjenige, der das Gute erstrebt und erreicht (velle recte et adipisci).79
Daraus resultiert, dass diese Philosophen eine Glückszuschreibung vom Subjekt loslösen: Erfüllt ein Individuum die Kriterien, so kann es glücklich genannt werden und wird sich auch selbst aufgrund dieser erfüllten Kriterien so nennen. Hans Blumenberg, der die äußerliche Zuschreibung von Glück sehr kritisch sieht und fordert, jede Glückstheorie müsse die Subjektivität respektieren, würde entgegnen:
„Glück ist, was einer als sein Glück bestimmt; es wäre eine der möglichen Katastrophen für die Menschheit, wenn einer für alle oder alle für einen oder viele für wenige oder wenige für viele bestimmen könnten, was deren Glück zu sein hätte. Deshalb ist diese Bestimmung auch nicht in die Hände der Vernunft gegeben[...]“80
Es gebe also keine allgemeingültigen, objektiven Kriterien, anhand derer sich jemand als glücklich bezeichnen lässt. Und auch Martin Seel stimmt darin mit Blumenberg überein und stellt fest, dass man niemandem etwas als Glück zuschreiben könne, was dieser sich nicht ebenfalls selbst als Glück zuschreiben würde.81 Man stelle sich beispielsweise die begabte Geigenspielerin vor, die mit ihrem Spiel die Mengen verzaubert, so dass eine Dame sich zu ihrem Mann hinwendet und sagt: „Sie spielt so wunderschön – Sie muss der glücklichste Mensch auf Erden sein!“ Die Dame überträgt hier ihre eigene Glücksvorstellung auf die Künstlerin, die in Wahrheit jedoch tieftraurig ist, da sie seit ihrer Kindheit keinen anderen Lebensinhalt kennt außer dem Üben des Instruments.
An dieser Stelle wird deutlich, warum oben die dritte Möglichkeit des periodischen Glücks ausgeschlossen wurde, und zwar eine Beurteilung nach dem Exitus, die Aufgrund der Irreversibilität dessen nur stellvertretend erfolgen kann. Einer dahingeschiedenen Person lässt sich nur ein glückliches Leben unterstellen, wenn diese sich kurz vor ihrem Tod ähnlich geäußert hat. In diesem Falle handelt es sich allerdings um die erste der im vorigen Kapitel beschriebene Beurteilung – und zwar eine rückblickende, die lediglich von Hinterbliebenen validiert werden kann.
[...]
1 Augustinus 1982, 11.
2 Vgl. von La Roche 2008, 97f.
3 Kertész 2010, o.S. (zit. nach: Thomä 2008, 21).
4 Seel 1995, 58.
5 Spaemann 1989, 9.
6 Horn 1998, 102ff.
7 Thomä 2008, 298.
8 KpV A 224.
9 Vgl. NE I 2, 1095a ca. 24f.
10 Horn 1998, 65.
11 Vgl. Seel 1995, 56.
12 Vgl. Seel 1995, 65.
13 NE I 6, 1098a ca.17-20.
14 Vgl. Horn 1998, 65.
15 Thomä 2008, 165.
16 Horn 1998, 80.
17 Straume-Zimmermann 1976, 195f.
18 Vgl. Augustinus 1982, 9.
19 Straume-Zimmermann 1976, 158
20 Vgl. Augustinus 1982, 13.
21 Augustinus 1982, 25.
22 Vgl. ebd.
23 Ebd.
24 Vgl. Brachtendorf, Vorwort in von Aquin 2012, XVIII.
25 Vgl. Birnbacher 2005, 1.
26 Mill 2009, 53.
27 Quinton 1973, 1.
28 Jefferson 2009, 19.
29 Vgl. Hoyer 2007, 7.
30 Seneca 1990, 5.
31 Russel 1977, 99.
32 Die Begriffe „episodisch“ und „periodisch“ werden bei verschiedenen Autoren durchaus nicht gleich verwendet. Die hier erfolgende Definition wird sich an der Begriffsverwendung des Essays Philosophie des Glücks von Dieter Birnbacher orientieren.
33 Hesse 1973, 53.
34 Vgl. Birnbacher 2005, 3f
35 Birnbacher 2005, 4.
36 Seel 1995, 102.
37 Seel 1995, 103.
38 Vgl. ebd.
39 Vgl. ebd.
40 „Euphorie“ auf Duden online.
41 Vgl. Birnbacher 2005, 4.
42 Csíkszentmihályi 2008, o.S.
43 You 2001, 36.
44 Vgl. You 2001, 39.
45 Vgl. Zirfas 2013, 13.
46 Vgl. „Ekstase“ auf Duden online.
47 Rümke 2013, 43.
48 „Ekstase“ in Lexikon der Psychologie (online).
49 Vgl. Seel 1995, 62f.
50 Seneca 1990, 19.
51 Vgl. Seel 1995, 62f.
52 Vgl. Birnbacher 2005, 4.
53 Seel 1995, 96.
54 Dieser Begriff steht für das Gegenteil, die Negierung bzw. Umkehrung des bis hierhin geprägten Glücksbegriffs. Diese Schreibweise soll es ohne vorangestellte Definition von dem Gegenteil des Zufallsglück (etwa: „Es fängt an zu regnen. Was für ein Unglück!“) differenzieren.
55 Seel 1995, 67.
56 Vgl. ebd.
57 Vgl. Seel 1995, 72 - Als dritte Möglichkeit des periodischen Glücks wird oft eine „Bilanzierung ex post“ (ebd.), also eine Beurteilung nach dem Tod genannt. Diese Möglichkeit wird in dieser Annäherung jedoch nicht geteilt, eine nähere Begründung dazu findet sich im folgenden Kapitel.
58 Vgl. Birnbacher 2005, 4.
59 Seel 1995, 72.
60 Vgl. Birnbacher 2005, 4.
61 Vgl. N.N. aerzteblatt.de.
62 Birnbacher 2005, 5 - Birnbacher sieht diese Verklärung als am häufigsten bei der jeweils letzten Phase des Lebens auftreten und argumentiert, diese sei schließlich „am lebendigsten haften geblieben“. (ebd.) Diese Ansicht teile ich nicht, meiner Meinung nach erlaubt gerade diese zeitlich geringere Distanz einen neutraleren Blick auf die Empfindungen dieser Phase. Im Gegenteil sehe ich eher die am weitesten zurückliegenden Zeiten als einem Falschurteil ausgeliefert an. Man denke nur an berufstätige Menschen, die allen Ernstes ihre Schulzeit als die glücklichste beschreiben, oft, weil ihnen aus ihrer derzeitigen Perspektive die Probleme von damals als unscheinbar und trivial erscheinen. Sie beachten dabei aber nicht die Realität dieser Probleme für ihre vergangene Existenz und den aus diesen resultierenden – in der Retrospektive vielleicht unbegründeten aber damals realen – Kummer.
63 Kurz 2008, 18.
64 Vgl. NE I 6, 1098a ca. 18.
65 Knischeck 2008, 381.
66 Spaemann 1989, 88.
67 Ebd.
68 Vgl. Spaemann 1989, 88f.
69 Spaemann 1989, 89.
70 Birnbacher 2005, 4.
71 Birnbacher 2005, 4.
72 Birnbacher 2005, 3.
73 Duckheim 2012, o.S.
74 Vgl. N.N. Zeit Online (dpa).
75 Vgl. Horn 1998, 63.
76 Vgl. Gorg. 472 c.
77 KrV A 805.
78 Horn 1998, 65.
79 Vgl. Augustinus 1982, 21, lat. Pendant Straume-Zimmermann 1976, 158.
80 Blumenberg 1986, 216.
81 Vgl. Seel 1995, 60.