Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung – Eine neue Bildwelt, gefüllt mit Farbe
2. Rainer Maria Rilke und die Suche nach dem Selbst in der Welt der Kunst
3. „He wanted to write like Cézanne painted“
3.1 Rainer Maria Rilke auf den Spuren Cézannes
3.2 Ein Blick auf die „neue Existenz“ der Dinge - Rilkes Bildbetrachtungen
4. Farben malen Bilder
4.1 Farbnuancen als bildkonstituierender Faktor
4.2 Farbenleben
4.3 Eine Farbe schreibt Geschichte – Rilke und die Unendlichkeit des Blaus
5. Eine Verschmelzung von Wort und Pinselstrich? –
Die Farbthematik in Rilkes Werken
6. Gefärbte Blicke auf Cézanne im interdisziplinären Kontext
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildungsnachweis
1. Einleitung – Eine neue Bildwelt, gefüllt mit Farbe
„Jeder große Künstler sieht die Welt neu, aber so eigenartig hat sie noch keiner gesehen.“1 Diese Worte von Theodor Hetzer über Paul Cézannes Blick auf die Welt stehen stellvertretend für Generationen von Kunsthistorikern, die sich mit Cézannes nie zuvor dagewesener Art, eine eigene Welt im Bild zu schaffen, beschäftigten und auch heute noch beschäftigen. Bereits mit den Ausgangsmaterialien für seine Bilder ging der Künstler auf eine außergewöhnliche Weise um: Er stelle sich die Farben als „leibhaftige Ideen [vor], Wesen der reinen Vernunft, mit denen wir in Beziehung treten können“,2 gab Cézanne einst in einem Interview preis. Beinahe wirkt es, als hätte er damit auf eine Frage geantwortet, die schon Sokrates beschäftigte: „Haben nicht zunächst Farbe selbst und Klang ein jedes ihr bestimmtes Wesen und so auch alles andere, dem man diese Bezeichnung des Seins zubilligt?“3 Bei Cézanne taucht der Betrachter in eine völlig neue Welt ein, in der die Farbe mehr ist, als nur künstlerische Zutat, und sie erscheint umso neuartiger, wenn sie dem Leser und Betrachter durch Rainer Maria Rilkes Worte in seinen Briefen über Cézanne nähergebracht wird. Hier begegnen Beschreibungen, die wirken, als stelle er sich vor, die Farben hätten Cézanne persönlich ins Ohr geflüstert, an welcher Stelle des Bildes sie als taches, nuances, plans oder tons verewigt werden möchten.4 Cézanne selbst stimmt diesem Gedanken wie selbstverständlich zu: „Sie [die Farben] ordnen sich auf gut Glück, wie sie wollen.“5
Doch wenn auch geradezu verlebendigt für ihn selbst, erscheine den „wahren Malern“, wie Cézanne erklärte, die Farbe „durchaus dramatisch“, da sie der Ort sei „wo unser Gehirn und das Weltall sich begegnen.“6 Zwischen den Zeilen klingt hier ein Verweis auf den in der Renaissance initiierten Streit zwischen der venezianischen und römischen Künstlerszene um den Stellenwert der Farbe innerhalb eines Gemäldes an. Erstere maßen der Farbigkeit eine Schlüsselfunktion bei, während die römische Konkurrenz die zuvor notwendige Zeichnung stärker bewertete. Ein Streitpunkt, der sich über Jahrhunderte hinweg beständig hielt und zu Konflikten zwischen den sogenannten „Poussinisten“ und „Rubinisten“ ab den 1670er-Jahren führte und im 19. Jahrhundert zwischen Jean-Auguste-Dominique Ingres und Eugène Delacroix erneut entbrannte.7 Cézanne näherte sich der Farbe jenseits dieser Auseinandersetzungen auf eine neuartige Weise, die auch Rainer Maria Rilkes Gehirn färbte, wie berauscht von Cézannes Farbenspiel. Wie genau Rilke Cézannes innovative Darstellungsweise bewertete, wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen, wobei der Fokus explizit auf seine Reflexion über den Kolorit der Cézanne‘schen Bildwelt gelegt werden soll. Um den hohen Stellenwert, den Rilke der Farbe beimaß, zu symbolisieren, soll seine Farbwahrnehmung in Bezug auf andere Künstler ergänzend angeführt werden. Darüber hinaus ist es sinnvoll, den Effekt, den Cézannes Farbeinsatz bei anderen Literaten und überblickshaft auch im interdisziplinären Kontext auslöste, anzureißen, um einen runden Abschluss zu erzielen. Die Faszination, die Rilke aus der Begegnung mit Cézanne erfuhr, bot Stoff für umfassende wissenschaftliche Publikationen, wobei die Rolle der Farbe immer als ein wesentlicher Aspekt gehandhabt wurde.8 Es wird angestrebt, herauszufiltern, inwiefern Cézanne mit seinem ganz eigenen Verständnis von Farbe in Rilkes Augen etwas Innovatives schuf, welche Wirkkraft hiermit einherging und auf welche Weise Rainer Maria Rilke anhand seiner sorgsam gewählten Ausdrücke, poetische Assoziationen mit der Farbe zu verknüpfen vermochte. Interessant ist dies besonders, da das Zusammentreffen der beiden großen Künstler, auch wenn es nicht persönlich geschah, bis heute einen bleibenden Eindruck hinterließ und der Leser der Briefe über Cézanne9 immer noch nicht nur die umgebende, kühle Pariser Herbstluft zu schmecken glaubt, sondern auch die anwesenden Farben plötzlich fühl- und erfahrbar werden.
2. Rainer Maria Rilke und die Suche nach dem Selbst in der Welt der Kunst
Wir schreiben das Wintersemester 1895/96 an der Prager Universität: Der junge Rainer Maria Rilke entschließt sich in seiner Geburtsstadt einen neuen Lebensabschnitt als Student der Kunstgeschichte und Literatur zu beginnen. Nach einem kurzen Blick in die juristische Fakultät, zieht es ihn in die Ferne, zunächst nach München und im Herbst 1897 schließlich nach Berlin, wo er seinem Wunsch, sich primär den kunsthistorischen Studien zu widmen, nachgeht.10 Von Beginn an unternimmt Rilke den Versuch, neben seinem Studium Kontakt zu zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern zu knüpfen und außerdem Ausstellungs- und Buchrezensionen zu publizieren, um sich somit bereits während seiner Lehrjahre, einen Namen als Kunstliterat und -kritiker zu erarbeiten.
Über niemand geringeren als Auguste Rodin veröffentlichte er im Jahre 1903 seine erste Künstlermonographie.11 Mit dem französischen Bildhauer und Maler pflegte Rilke engen persönlichen Kontakt, er arbeitete sogar einige Zeit lang als Assistent für ihn und erkundete gemeinsam mit dem Kenner die Künstlerszene in und um Paris.12 Seine zweite Monographie, ebenfalls 1903 erschienen, behandelte die norddeutsche Gruppe der Worpsweder Künstler, zu der neben Paula Modersohn-Becker auch Rilkes spätere Ehefrau, Clara Westhoff zählte.13 Während sich sein kunsthistorisches Interessengebiet von der Antike bis zur zeitgenössischen Kunst und von der Florentiner Renaissance bis zur Kunst von Kindern oder auch geistig behinderten Menschen erstreckte, widmete er gattungstechnisch der Malerei ein besonderes Augenmerk, wobei ihn einige Aspekte hierbei insbesondere beschäftigten. Dazu zählten der Blick auf die Bedingungen zur Entstehung von Kunstwerken, vornehmlich die Lebensführung eines Kunstschaffenden. Indessen suchte Rilke aber auch tiefergehende Antworten in Bezug auf den Ursprung und die Arten der menschlichen Kreativität und der Produktivität des Künstlers. Wichtig und ausschlaggebend war für ihn die Tatsache der Sichtbarkeit der bildenden Kunst, anders als etwa die „Unsichtbarkeit“ der Musik, da er das Sehen von Kunst auch mit einem daran anknüpfenden Erkennen der Welt in Beziehung brachte.14 Dieses Sehen und Erkennen soll auch bei seiner Farbwahrnehmung noch eine maßgebliche Rolle spielen. Ferner erträumte sich Rilke Inspirationen und Denkanstöße für seine eigenen künstlerischen Arbeiten und konkretisierte diese in Bezug darauf, aus den Bildern, mit denen er sich beschäftigte „stoffliche Anregungen und Vokabeln des Sichtbaren“15 für seine Gedichte zu übernehmen. Wie sich im weiteren Verlauf der Arbeit zeigen wird, lässt sich insbesondere der umgekehrte Weg, nämlich gewissermaßen das Erkennen seines eigenen Schaffens in den bildkünstlerischen Werken, ausmachen. Neben Gedichten und kunsttheoretischen Schriften ließ er auch in zahlreichen Briefen, unter anderem in einer Reihe, die er im Herbst 1907 an seine Frau Clara richtete, erkennen, wie die Kunst und ein Künstler im Besonderen, ihn und seine dichterische Arbeit maßgeblich beeinflussten.
3. „He wanted to write like Cézanne painted“
3.1 Rainer Maria Rilke auf den Spuren Cézannes
Die Bilder des „eigentümlichen Franzosen Cézanne“,16 betrachtete er erstmals im Jahre 1900 in der Berliner Nationalgalerie.17 Kollegen und Künstler wie Paula Modersohn-Becker, die selbst an Cézannes Malweise anschloss, oder seine Frau Clara, die Kenntnisse über Cézanne in ihrer Zeit in Paris aufgelesen hatte, brachten Rilke schon vor der „entscheidenden“ Begegnung mit dem französischen Künstler in Kontakt.18 Die eindringliche Beschäftigung begann schließlich ein Jahr nach Cézannes Tod, als im Pariser Salon d’Automne ihm zu Ehren eine große Retrospektive initiiert wurde. 56 seiner Gemälde schmückten die Räumlichkeiten,19 die sich der Dichter, seinen Berichten zufolge, während der zweiwöchigen Ausstellungszeit fast täglich ansah. Seine Eindrücke hielt er für seine Frau, aber auch für sich selbst und überdies bereits mit Blick auf die Nachwelt fest.20 Ralph Köhnen sieht durch die Briefe über Cézanne gar „die Gattung des Privatbriefes weit überschritten und die des Kunstbriefes erneuert.“21 Laut Heinrich Wiegand Petzet ist die Briefsammlung die nie zu Papier gebrachte Monographie, die Rilke über Cézanne zu veröffentlichen beabsichtigte. Obgleich es ihm ferngelegen habe, eine kunsthistorische Abhandlung zu verfassen, lieferte er Einblicke, die immensen Einfluss auf die später einsetzende Cézanne-Forschung haben sollten.22 Durch seine durchdachten Worte zeigt Rilke, wie bedeutsam die Werke Cézannes in Hinblick auf sein eigenes künstlerisches Schaffen waren und beschreibt ausführlich, was genau ihn faszinierte. Abseits einer Betrachtung aus kunstwissenschaftlicher Perspektive und ohne Blick auf etwa die Malweise in Cézannes Werken, war sein erklärtes Ziel, die „Wendung“, die er in den Bildern zu erkennen glaubte, zu erfassen:23
Es ist gar nicht die Malerei, die ich studiere (denn ich bleibe trotz allem Bildern gegenüber ungewiss und lerne nur schlecht, gute von weniger guten zu unterscheiden, und verwechsle beständig frühe mit spät gemalten.) Es ist die Wendung in dieser Malerei, die ich erkannte, weil ich sie selbst eben in meiner Arbeit erreicht hatte oder doch irgendwie nahe an sie herangekommen war […].24
Während die Avantgardisten Künstler wie Cézanne, Rodin oder van Gogh anfangs belächelten und zu „Übergangsfiguren“ zwischen Tradition und Moderne deklarierten, da sie trotz realisierter Abstraktion am Gegenstand festhielten, hatten Cézanne und seine „Wendung“, mit der er die Kunstwelt aus den Angeln hob, auf Rilke eine geradezu erschütternde Wirkung.25 Die später aufkommenden abstrakten Tendenzen der Kunstszene, stießen den Dichter dahingegen eher ab, lösten sogar, wie Sabine Schneider betont, einen horror vacui bei ihm aus.26 Rilke verehrte Cézanne als sein bedeutendstes Vorbild, dem er ab 1906 „nach dem Tod des Meisters, auf allen Spuren nachging.“27 So berichtet er seiner Frau, dass er, nach ausführlichen Zeilen über Cézanne, im folgenden Brief wieder von sich sprechen werde, doch weist darauf hin, wie er durch die Worte über den Künstler, bereits einiges über sich selbst preisgegeben hat.28 Auf der Suche nach dem innersten Kern autonomer künstlerischer Ausdruckskraft, begann er durch die Auseinandersetzung mit Cézanne und van Gogh, wie er selbst sagte, zu lernen.29 Was genau er lernte, zeigt sich bei genauem Betrachten der Cézanne’schen Malerei durch seinen poetischen Blick. Eine Voraussicht darauf sei in den Worten Ernest Hemingways ausgedrückt: „He wanted to write like Cézanne painted.“30
3.2 Ein Blick auf die „neue Existenz“ der Dinge - Rilkes Bildbetrachtungen
Für Rilke geht es in Cézannes Kunst vor allem um die mit ihr einhergehende „Wendung“, doch wie definiert sich diese laut Rilke? Bevor der Fokus explizit auf die Farbe gelegt wird, ist es sinnvoll, sich zunächst mit den grundlegenden Neuerungen des dargestellten Objekts, die Rilke in Cézannes Kunst imponierten, auseinanderzusetzen. Ausschlaggebend ist die „Transformation“, die sich innerhalb des Bildes in Bezug auf die Gegenstände vollziehe, genauer gesagt, stellt der Dichter eine Verwandlung des „Dings“ von der „bürgerliche[n] Realität“ in ein „endgültiges Bild-Dasein“ fest.31 Hiermit drückt er aus, dass das zu malende Objekt nicht in die Gegenstandslosigkeit verfällt, wie es in der weiteren zeitgenössischen Entwicklung zunehmend eintrat und was die Kritiker Cézannes diesem, wie im Kapitel zuvor erwähnt, vorhielten. Vielmehr wird das Dargestellte zunächst „der Realität entrissen“, um sich innerhalb des Bildes neu zu entwickeln.32 Wie Kurt Badt es ausdrückt, werden die Dinge „malerisch-kompositionellen Formvorstellungen untergeordnet.“33 Sie bekommen demnach eine neue, ungewohnte Aufgabe innerhalb des Bildraumes, der keinen direkten Bezug mehr zu ihrem „wirklichen“ Aussehen darstellt. Bernhard Marx weist darauf hin, dass sich in diesem Sinne sowohl eine „Reduktion“, als auch ein „Zuwachs“ in Cézannes Kunst aufzeigen lässt.34 Die dem Betrachter vertraute Optik des Gegenstandes wird ihm abgesprochen, dafür eröffnet sich ihm eine neue „Wirklichkeit“ des Objekts, eine Art des Betrachtens und der Wahrnehmung fernab eines „klassisch“ erschließbaren Bildraumes. Die Dinge beginnen, mit Rilkes Worten „eine neue Existenz, ohne frühere Erinnerungen“35 anzufangen. Laut Ralph Köhnen sei hiermit eine wesentliche Idee Cézannes von Rilke erfasst worden: „[…] die Dinge sind nicht vor der Malerei zu haben, sondern entstehen erst mit ihr.“36
Cézannes erklärtes Ziel seiner Vorgehensweise war es, die Malerei gewissermaßen der Natur anzunähern und sie unmittelbar und „vielleicht sogar ursprünglich“ erfahrbar zu machen, was nur möglich sei, wenn man sich dem Gegenstand ohne Voreingenommenheit und eigenes „Wollen“ nähere.37 Es ist daher von Nöten, gewissermaßen eine imaginäre, durch das innere Auge stattfindende Betrachtung der Natur vorzunehmen, die die Dinge erfasst und im Bild wiedergibt.38 In dieser unvoreingenommenen Umsetzung des Bildmaterials erkennt Rilke eine Art von „Sachlichkeit“,39 eine reine Betrachtung des Objekts als Objekt im Bild in seiner Funktion als „Kunstding“. Schon bei Rilkes Beschäftigung mit Rodin formulierte sich dieser Sachlichkeits-Gedanke aus:40
Sachlichkeit bedeutet die Suspension konventionalisierter Bedeutungszuschreibungen, eine aus geduldiger, hingebungsvoller Naturbeobachtung resultierende Verwandlung des Sujets in die ‚Namenlosigkeit‘ und daher neu erworbene Bedeutungsoffenheit des Kunstwerks.41
Diese Dingwerdung, die eine bis ins „Unzerstörbare hinein gesteigerte Wirklichkeit“42 beinhaltet, war Rilkes Übersetzung für Cézannes „réalisation“.43 Als anschauliches Beispiel dient hierzu die Art, wie Cézanne die Äpfel seiner Stillleben gestaltete (Abb. 1): „Bei Cézanne hört ihre Eßbarkeit [sic] überhaupt auf, so sehr dinghaft wirklich werden sie, so einfach unvertilgbar in ihrer eigensinnigen Vorhandenheit.“44 Man solle nicht zeigen, dass man die Dinge, die man malt, „liebt“, sondern darüber hinaus kommen. Wie Rilke es ausdrückt, müsse der Maler Abstand von einer Beurteilung des Objekts nehmen und es mit dem Gedanken „hier ist es“, in all seiner Vollzähligkeit, statt „ich liebe dieses hier“ zu malen.45 Laut Torsten Hoffmann stelle Cézanne demnach weniger die Gegenstände, sondern respektive das „Sehen“ selbst dar.46 Inwiefern der wichtige Aspekt der Farbe ein Hilfsmittel bei diesem Seh- und Verarbeitungsvorgang des Gemäldes sein kann, wird später noch genauer herausgestellt werden. Die Dinge, die durch Cézannes innovative Technik geschaffen wurden, sind neu erfahrbar und erhalten für Rilke eine „Beständigkeit und Souveränität“,47 die gewissermaßen, die Erneuerung und gleichzeitige, wenn man so sagen darf, Zeitlosigkeit der Cézanne’schen Malerei betont. Die Kunst selbst stelle eine Art „Knoten im Rosenkranz“48 dar. Dementsprechend glorifiziert er die Objekte noch weiter, indem er sie als „Heilige“ mit einer überwältigenden Präsenz anspricht, was zeigt, welch enormen Eindruck die Farberlebnisse auf den Dichter gemacht haben müssen. Bereits bei van Gogh sah er den Ansatz für diese „Heiligen“49 und auch bei der Blendung Simsons von Rembrandt betrachtet er Farben, die nicht aufhören, „selig“ zu sein (Abb. 2).50 Cézanne hingegen schafft seine „Heiligen“ aus alltäglichen Gegenständen und „[…] zwingt sie, schön zu sein, die ganze Welt zu bedeuten […]“.51 Es ist, wie Gottfried Boehm anführt, vor allem ausschlaggebend, wie Rilke die geheimnisvollen Gegensätze von Veränderung und Beständigkeit, Wirklichkeit und Unwirklichkeit, für sich selbst versteht, die alle ein inneres Gleichgewicht aufweisen und sich durch Cézannes Kunst wie ein roter Faden ziehen.52 Ein Gleichgewicht, das Cézanne zwischen der „Wirklichkeit der Natur“ und der „Wirklichkeit des Bildes“ herzustellen bemüht war und welches in der Verwendung der Farben kulminiert.53
[...]
1 Theodor Hetzer, Zur Geschichte des Bildes. Von der Antike bis Cézanne, hg. von Gertrude Berthold, Stuttgart 1998 (Schriften Theodor Hetzers, 9), S. 319.
2 Joachim Gasquet, „Was er mir gesagt hat“, in: Gespräche mit Cézanne, hg. von Michael Doran, Zürich 1982, S. 133-202, hier S. 153.
3 Plato, Sämtliche Dialoge. 2. Menon, hg. von Otto Apelt, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1922 und 1923, Hamburg 1998, S. 103.
4 Vgl. Max Imdahl, Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 1987, S. 115.
5 Paul Cézanne, Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet und Briefe, Hamburg 1957, S. 17.
6 Gasquet, Gespräche mit Cézanne 1982, S. 140.
7 Vgl. Martina Kurz, Bild-Verdichtungen. Cézannes Realisation als poetisches Prinzip bei Rilke und Handke, Göttingen 2003, S. 134.
Siehe auch: Max Imdahl, „Poussinisten – Rubenisten. Zur Relativierung ihres Streites“, in: Ders., Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 1987, S. 66-86.
Delacroix hatte laut Adriani erklärt, dass er „an den von Rubens gemalten Wassertropfen und an den Reflexen im orangefarbenen Kragen einer Figur links in Veroneses monumentaler Historie zum Coloristen geworden sei“. Siehe hierzu: Götz Adriani, Paul Cézanne. Aquarelle 1866-1906, Ausst.-Kat. Tübingen, Kunsthalle, Köln 1982, S. 29.
8 Hier seien als Auswahl vor allem die Publikationen von Martina Kurz (siehe Fußnote 7), Ralph Köhnen (siehe Fußnote 17) und Sabine Schneider (siehe Fußnote 25) erwähnt, die sehr ausführliche Analysen der Rilke-Cézanne-Begegnung vornehmen, wobei Letztere außerdem eine anschauliche Auswertung der Farbthematik in Rilkes Werken präsentiert.
9 Rainer Maria Rilke, Briefe über Cézanne, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1990.
10 Vgl. Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Manfred Engel, Stuttgart [u.a.] 2013, S. 2 und S. 130.
11 Vgl. ebd . S. 130 und S. 139.
12 Ebd. S. 7.
13 Vgl. ebd. S. 4 und S. 137.
14 Vgl. ebd. S. 130 f.
15 Rilke-Handbuch 2013, S. 131.
16 Rainer Maria Rilke, Briefe und Tagebücher aus der Frühzeit 1899 bis 1902, hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1930, S. 74.
17 Vgl. Manja Wilkens, „Etappen einer Genieästhetik. Lebensstationen und Kunsterfahrungen Rilkes“, in: Rilke und die bildende Kunst seiner Zeit, hg. von Gisela Götte und Jo-Anne Birnie Danzker, München und New York 1996, S. 9-29, hier S. 21.
18 Vgl. Ralph Köhnen, Sehen als Textkultur. Intermediale Beziehungen zwischen Rilke und Cézanne, Bielefeld 1995, S. 109 f.
19 Vgl. ebd. S. 75.
20 Vgl. Rilke-Handbuch 2013, S. 142.
21 Ralph Köhnen, „Das physiologische Wissen Rilkes und seine Cézanne Rezeption“, in: Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900, hg. von Helmut Pfotenhauer, Würzburg 2005, S. 141-162, hier S. 144.
22 Vgl. Heinrich Wiegand Petzet, „Nachwort“, in: Rainer Maria Rilke, Briefe über Cézanne, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1990, S. 109-111. Adriani und Badt seien hier als Beispiele für Autoren, die auf Rilkes Beobachtungen zurückgriffen, genannt.
23 Vgl. Köhnen, Sehen als Textkultur, 1995, S. 112.
24 Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 48 f.
25 Rilke-Handbuch 2013, S. 145. Zur erschütternden Wirkung: Petzet 1990, S. 108 f.
26 Vgl. Sabine Schneider, V erheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900, Tübingen 2006, S. 234.
27 Rainer Maria Rilke, Brief an Alfred Schaer vom 26.02.1924, in: Rainer Maria Rilke, Briefe Bd. II. 1914-1926, hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, besorgt durch Karl Altheim, Wiesbaden 1950, S. 440.
28 Vgl. Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 35.
29 Vgl. Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 40.
30 Ernest Hemingway, The Nick Adams Stories, New York 1972, S. 239. Zitiert nach Kurz 2003, S. 21.
31 Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 59.
32 Köhnen, Das physiologische Wissen Rilkes, 2005, S. 146.
33 Kurt Badt, Die Kunst Cézannes, München 1956, S. 26.
34 Bernhard Marx, Meine Welt beginnt bei den Dingen. Rainer Maria Rilke und die Erfahrung der Dinge, Würzburg 2015, S. 76.
35 Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 50.
36 Köhnen, Das physiologische Wissen Rilkes, 2005, S. 145.
37 Marx 2005, S. 70.
38 Vgl. Ebd. S. 70.
39 Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 41.
40 Vgl. Rilke-Handbuch 2013, S. 140.
41 Ebd.
42 Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 30.
43 Köhnen, Sehen als Textkultur, 1995, S. 124.
44 Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 29.
45 Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 41.
Hier setzt er sich von Charles Baudelaire ab, der ein Kunstwerk als qualitativ hochwertiger einstufen wollte, je mehr Assoziationen es im Betrachter hervorrief, statt das „reine“ Kunstobjekt zu würdigen. Siehe hierzu: Wolfgang Drost, „‘Erscheinung und Vision‘ in Rilkes Kunstverständnis. Die Versuchung der Phänomenologie“, in: Rilke und die bildende Kunst seiner Zeit 1996, S. 99-112, hier S. 106 f.
Siehe hierzu auch: Rainer Maria Rilke, Briefe Bd. I. 1907-1914, hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1933, S. 72-75. An Jacob von Uexküll richtete er im Jahre 1909 die folgenden Worte: „Die Kunst ist nicht für eine Auswahl aus der Welt zu halten, sondern für deren restlose Verwandlung ins Herrliche hinein.“
46 Torsten Hoffmann, „Lehrer ohne Lehre. Einführung“, in: Lehrer ohne Lehre. Zur Rezeption Paul Cézannes in Künsten, Wissenschaften und Kultur (1906-2006), hg. von Torsten Hoffmann, Freiburg im Breisgau 2008, S. 9-28, hier S. 12.
47 Gottfried Boehm, „Einführung“, in: Rainer Maria Rilke , Rilke und die bildende Kunst. Insel-Almanach auf das Jahr 1986, hg. von Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1985, S. 7-24, hier S. 18.
48 Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 11.
49 Ebd. S. 20.
50 Rainer Maria Rilke, ‚ Im ersten Augenblick‘. Bildbetrachtungen, hg. von Rainer Stamm, Berlin 2015, S. 70.
51 Rilke, Briefe über Cézanne, 1990, S. 34.
52 Gottfried Boehm, „Einführung“, in: Rainer Maria Rilke , Rilke und die bildende Kunst. Insel-Almanach auf das Jahr 1986, hg. von Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1985, S. 7-24, hier S. 18.
53 Petzet 1990, S. 111.