Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit Lyrik. Sie strebt nichts weiter als die genaue Lektüre eines Gedichtes an. Es handelt sich um das Eingangspoem des 1890 erstmals veröffentlichten Zyklus‘ ‚Hymnen‘ von Stefan George und trägt den Titel ‚Weihe‘. Es thematisiert, so wird sich zeigen, u.a. die Frage der Referentialität poetischer Rede. Eine Gedichtanalyse wird sich in zweierlei Hinsicht mit dem Begriffsfeld ‚Referentialität‘ auseinandersetzen müssen: 1. Es wird zu fragen sein, welche Techniken und Strukturen referentieller Aktivität der Text entwirft und inwieweit ihm dies gerade als poetischer Text möglich ist, bzw. ihn als solchen allererst charakterisiert und begründet.
2. In einem weiteren Schritt muss geklärt werden, wie das Gedicht selbst über diese seine spezifischen Verweisstrukturen reflektiert und welche Konsequenzen es für die Frage der Referentialität hat, dass der Text sich selbst zum Thema macht.
Bezüglich beider Punkte scheint mir eine begriffliche und gedankliche Klärung vor der eigentlichen Analyse unerlässlich. Wird einerseits also nach der Referentialität von Sprache und Poesie überhaupt zu fragen sein, ist in einem weiteren Schritt zu klären, welche Folgerungen sich aus der poetologischen Ausrichtung des Textes ergeben.
Inhaltsverzeichnis
1. Poesie und Referenz
1.1 Zur genuinen Selbstreferentialität poetischer Rede
1.2 Das poetologische Gedicht
2. Stefan George: ‚WEIHE‘
2.1 Verweigerte Grenzerfahrung
2.2 Simultaneität und Sinnlichkeit
2.3 Ästhetik des Geordneten
2.4 Bild und Rahmen
2.5 Inspiration und Parodie
2.6 Verweigerter Musenkuss
3. Poetik des Sakralen
1. Poesie und Referenz
Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit Lyrik. Sie strebt nichts weiter als die genaue Lektüre eines Gedichtes an. Es handelt sich um das Eingangspoem des 1890 erstmals veröffentlichten Zyklus‘ ‚Hymnen‘ von Stefan George und trägt den Titel ‚Weihe‘. Es thematisiert, so wird sich zeigen, u.a. die Frage der Referentialität poetischer Rede. Eine Gedichtanalyse wird sich in zweierlei Hinsicht mit dem Begriffsfeld ‚Referentialität‘ auseinandersetzen müssen:
1. Es wird zu fragen sein, welche Techniken und Strukturen referentieller Aktivität der Text entwirft und inwieweit ihm dies gerade als poetischer Text möglich ist, bzw. ihn als solchen allererst charakterisiert und begründet.
2. In einem weiteren Schritt muss geklärt werden, wie das Gedicht selbst über diese seine spezifischen Verweisstrukturen reflektiert und welche Konsequenzen es für die Frage der Referentialität hat, dass der Text sich selbst zum Thema macht.
Bezüglich beider Punkte scheint mir eine begriffliche und gedankliche Klärung vor der eigentlichen Analyse unerlässlich. Wird einerseits also nach der Referentialität von Sprache und Poesie überhaupt zu fragen sein, ist in einem weiteren Schritt zu klären, welche Folgerungen sich aus der poetologischen Ausrichtung des Textes ergeben.
1.1 Zur genuinen Selbstreferentialität poetischer Rede
1934 veröffentlichte Roman Jakobson einen Aufsatz mit dem programmatischen Titel „Was ist Poesie“.[1] Er fragt darin nach den Möglichkeiten der Bestimmung allgemeiner Kriterien poetischer Rede. Jakobson betont, dass sich solche Kriterien nicht durch spezifische Eigenschaften der Dichtung bestimmen lassen, da diese kulturellen und zeitlichen Wandlungen unterliegen und beschreibt die Spezifik des poetischen Sprechens als Besonderheit seiner kommunikativen Funktion:
Ich habe bereits erwähnt, daß der Inhalt des Begriffs Poesie labil und zeitgebunden ist, doch die poetische Funktion, die Poetizität, wie die ‚Formalisten‘ betonen, ist ein Element sui generis, ein Element, das sich nicht auf andere Elemente zurückführen läßt.[2]
Jakobson – und zahlreiche andere Vertreter strukturalistischer Literaturwissenschaft – haben diese Bestimmung der „Dichtersprache“[3] als lautliche Realisierung poetischer Sprachfunktion im Verlauf des 20. Jahrhunderts weiter ausdifferenziert. Trotz aller Unterschiede bei der Nutzbarmachung der Jakobsonschen Kategorie können rückblickend folgende gedankliche Kontinuitäten ausgemacht werden:
1. Die poetische Funktion der Sprache ist nicht nur im engeren Feld der Poesie repräsentiert:
Jeder Versuch, die Sphäre der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die poetische Funktion einzuschränken, wäre eine trügerische Vereinfachung. Die poetische Funktion [...] spielt in allen andern sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle.[4]
Sie ist also ein unablösbarer Aspekt jeder Äußerung und kann durch exakte linguistische Kategorien erfasst werden.
2. Diese bestehen gemäß Jakobson in der Projektion des „Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“[5], also in der Organisation einander phonetisch, morphologisch oder syntaktisch ähnlicher Signifikanten. Diese Umstrukturierung der alltäglichen Rede betrifft jeden Bereich der Sprachwirklichkeit, ist jedoch gerade für das Feld der Dichtung konstitutiv.
3. So vom gewöhnlichen Sprachgebrauch entfremdet, lenkt der Signifikant nicht unmittelbar auf sein Signifikat sondern verweist zusätzlich auf seine eigene sprachliche Materialität:
Die ästhetische Funktion [...] führt eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf das sprachliche Zeichen selbst herbei – und ist so das genaue Gegenteil einer wirklichen Ausrichtung auf ein Ziel, d.h. im Fall der Sprache auf die Mitteilung.[6]
4. Eine solche „Spürbarkeit der Zeichen“[7] blockiert die referentiellen Bindungen der Signifikantenkette und weist auf die Art und Weise der sprachlichen Äußerung hin. Die poetische Sprache (und jede andere Sprache mit poetischer Funktion) „lenkt die Aufmerksamkeit auf die materialen, strukturalen und relationalen Qualitäten der Worte“[8] und referiert demnach genuin auch auf sich selbst.
5. Wenn dieses Verweisen auf die Sprache selbst alleiniger Zweck der Äußerung ist, kann von einem poetischen Text die Rede sein. Eine weitere Form von Selbstreferentialität tritt zutage: Demnach kennzeichnet es den poetischen Text, dass er (aus der Menge aller Texte mit poetischer Funktion) der einzige ist, dem die Tatsache des Verweisens auf Sprache als Legitimation seiner selbst genügt:
Man kann also von einem literarischen Kunstwerk als einem Ganzen sagen, daß sein Wesen die Form ist, die Art und Weise nämlich, in welcher das Material – sei es sprachlich im eigentlichen Sinn des Wortes oder sei es thematisch – aus dem üblichen Kontext herausgerissen ist, und zwar darum, damit es Gegenstand des Erlebens um seiner selbst willen wird, als Zweck, nicht etwa als bloßes Mittel.[9]
Deswegen ist freilich nicht jedes Gedicht von vornherein poetologisch. Die folgende Arbeit jedenfalls verwendet den Begriff in einem engeren Sinn, indem sie nur solche Texte als ‚poetologische‘ bezeichnet, die auch explizit auf das semantische Feld ‚Literatur‘ Bezug nehmen. Trotzdem müssen Jakobsons Thesen im Auge behalten werden, da sie eine weitere (freilich allgemeinere) Dimension des Poetologischen eröffnen. Die vorherigen Überlegungen sind insofern von Belang, als sie ein begriffliches und gedankliches Instrumentarium bereitstellen, das es erlaubt, die textinternen Verweisstrukturen freizulegen und somit poetologische Explikation und Implikation in Verbindung setzen zu können.[10]
1.2 Das poetologische Gedicht
Literarische Texte, die „künstlerische Selbstreflexion beinhalten“[11], sind seit jeher beliebter Gegenstand der Literaturwissenschaft. In poetologischen Gedichten ist dieses Nachdenken des Textes über sich selbst gewissermaßen potenziert. Dies macht eine wichtige Begriffsdifferenzierung von Frank klar:
Im Bereich der Dichtung über Dichtung gibt es offenbar zwei Haupttypen: (1) Verspoetiken, die als Spielart des Lehrgedichts ihr Strukturprinzip in dem Argument haben, das die verwendeten Worte mit möglichst großer Eleganz und Prägnanz vortragen, und (2) mimetische Gedichte über Dichtung, die als poetologische Gedichte im präzisen Sinne dieser Bezeichnung das in Worten sind, was sie mit eben diesen Worten ausdrücken.[12]
Eine Analyse hinsichtlich poetischer Selbstreferentialität muss also in zwei Richtungen erfolgen. Einerseits kann der literarische Text nach seinem diskursiven poetologischen Gehalt, andererseits nach seinen aus der materiellen ‚Gedichtpraxis‘ ableitbaren poetologischen Implikationen befragt werden. Der Abstraktion literarischer Theorie steht die Konkretisierung dichterischer Praxis gegenüber.[13]
Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, nicht nur beiden (poetologischen Sinn konstituierenden) Tatsachen Beachtung zu schenken, sondern ihre wechselseitigen Abhängigkeiten aufzuzeigen. Zu untersuchen ist also, ob die poetische (jakobsonsche) Selbstbezüglichkeit sich mit der „poetologischen Selbstreflexivität der literarischen Moderne“[14] tatsächlich verbinden lässt, und inwieweit gerade diese Verbindung wichtig für die lyrische Produktion Georges ist.
2. Stefan George: ‚WEIHE‘
1 WEIHE
Hinaus zum strom! wo stolz die hohen rohre
Im linden winde ihre fahnen schwingen
Und wehren junger wellen schmeichelchore
5 Zum ufermoose kosend vorzudringen.
Im rasen rastend sollst du dich betäuben
An starkem urduft · ohne denkerstörung ·
So dass die fremden hauche all zerstäuben.
Das auge schauend harre der erhörung.
10 Siehst du im takt des strauches laub schon zittern
Und auf der glatten fluten dunkelglanz
Die dünne nebelmauer sich zersplittern?
Hörst du das elfenlied zum elfentanz?
Schon scheinen durch der zweige zackenrahmen
15 Mit sternenstädten selige gefilde ·
Der zeiten flug verliert die alten namen
Und raum und dasein bleiben nur im bilde.
Nun bist du reif · nun schwebt die herrin nieder ·
Mondfarbne gazeschleier sie umschlingen ·
20 Halboffen ihre traumesschweren lider
Zu dir geneigt die segnung zu vollbringen:
Indem ihr mund auf deinem antlitz bebte
Und sie dich rein und so geheiligt sah
Dass sie im kuss nicht auszuweichen strebte
25 Dem finger stützend deiner lippe nah.
2.1 Verweigerte Grenzerfahrung
Georges Gedicht inszeniert zunächst die Wahrnehmung eines natürlichen Raumes. Am Beginn dieser Begegnung steht der Topos des Aufbruchs, das Verlassen eines möglicherweise gesicherten, in jedem Fall aber bekannten Raumes zugunsten einer Konfrontation mit dem Außen eines ‚Anderen‘. Ein solchermaßen impliziertes lyrisches Subjekt zeichnet die Wahrnehmung dieses Außenraumes nun nach und entwirft eine Topographie, in der es einzelne Bestandteile der Natur aufruft, poetisch transformiert und mit sich selbst in Beziehung setzt: Einige explizite Elemente des semantischen Feldes ‚Natur‘ (‚strom‘, ‚winde‘, ‚wellen‘) ebenso wie leicht auf ein Eigentliches zurückführbare Metaphern (‚hohe rohre‘ für Schilf, ‚fahnen‘ für Ähren) erlauben es, die Landschaft recht genau zu beschreiben. Die Szenerie ist demnach am Ufer eines Flusses angesiedelt. Schilfrohre wehen im Wind und brechen die herannahenden Wellen, bevor diese das Ufer – an dem das lyrische Subjekt vermutet werden kann – erreichen. Soviel zum ‚Was‘ des Mitgeteilten.[15]
Mindestens drei Beobachtungen müssen an dieser Stelle herausgestellt werden:
1. Der Entwurf einer natürlichen Topographie wird von Attribuierungen und Metaphern aus dem Bereich der Kultur begleitet, was die Erfahrung eines ursprünglichen, von der menschlichen Außenwelt abgetrennten Natureindrucks verunmöglicht. Das Wahrnehmen des Natürlichen ist a priori ein Wahrnehmen durch den Filter der sinnlichen und kategorialen Bezugsgrößen des Menschen, die kulturell präfiguriert sind. Wenn Schilf ‚stolz‘ ist, wenn seine ‚fahnen‘ im Wind wehen, wenn das Geräusch der Wellen als ‚schmeichelchore‘ bezeichnet und eben diesen Wellen der Zugang zum Ufer ‚verwehrt‘ wird, dann scheint die Erfahrung der Natur bereits durch das Raster des menschlichen Apperzeptions- und Begriffsapparates gegangen zu sein:
Das Naturbild, das George in der ersten Strophe entwirft, [...] wirkt in seinen Elementen unverkennbar stilisiert [...] d.h. die Metaphern sind nicht Bestandteile einer letztlich realistischen Natur-Mimesis, sondern zielen auf bildliche Verfremdung.[16]
Die Unmöglichkeit einer nicht stilisierten Beschreibung von Natur gründet aber nicht in einem irgendwie gearteten Unvermögen des lyrischen Subjekts sondern in der Vorgängigkeit und Unhintergehbarkeit des poetischen Blickwinkels:
War früher das Gedicht weitgehend eine Typisierung des konkreten Erlebnisses und seine Steigerung zum Symbol, so typisiert George das Erlebnis, ‚bevor noch überhaupt vom Dichten die Rede ist‘. Das aber heißt, daß er schon als Dichter erfährt und erlebt; er steht ästhetisch im Leben.[17]
[...]
[1] Vgl. Jakobson, 68-79
[2] Jakobson, 78
[3] Mukařovský, 144
[4] Jakobson, 92
[5] ebd. 94
[6] Mukařovský, 144
[7] Jakobson, 93
[8] Helmstetter, 34
[9] Mukařovský, 93
[10] Müller-Zettelmanns Hinweis auf die Notwendigkeit, die allgemein-literarische Selbstreferentialität (i.S. Jakobsons) von dem metaliterarischen bzw. metalyrischen Phänomen strikt zu trennen, ist richtig und wichtig. (vgl. Müller-Zettelmann, 97) Dennoch glaubt die vorliegende Arbeit, die Analyse unter Berücksichtigung beider Erscheinungen treffender und vollständiger betreiben zu können.
[11] Wild, 17
[12] Frank, 151
[13] Hinck setzt m.E. unbegründet eine Übersetzbarkeit beider Phänomene voraus: „Das poetologische Gedicht vermittelt zwischen Begriff und Bild, zwischen Abstraktion und Anschaulichkeit, und es überführt poetische Theorie schon wieder in poetische Praxis.“ (vgl. Hinck, 11) Die vorliegende Arbeit will hingegen gerade aufzeigen, inwieweit die Frage nach Übersetzbarkeit selbst wieder Teil des poetologischen Diskurses ist.
[14] Vgl. Braungart (1997), 254f
[15] Weder lässt sich etwas über einen „Kontrast zwischen der den Dichter einengenden empirischen Wirklichkeit und der Befreiung in der Natur“ sagen (Durzak, 23), wie man m.E. ebensowenig einen „verborgen angesprochenen Kontrast zwischen Großstadt und Parklandschaft“ (ebd.) ausmachen kann. Solche Deutungen speisen sich aus Vermutungen zu Biographie und Zeitgeschichte und bleiben vor dem Anspruch einer genauen Textlektüre spekulativ.
[16] Durzak, 24
[17] Wuthenow, 203
- Quote paper
- Mirko Mandic (Author), 2004, Poesie, Poetologie, Ritual. Zu einem Gedicht von Stefan George, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48427
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