Kriminalätiologische Darstellung aktueller Jugendkriminalität. Probleme der Kriminalitätswahrnehmung und der Hell- Dunkelfeldforschung


Diplomarbeit, 2005

148 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Gesellschaftliches Verständnis von Jugend
2.1 Wechsel sozialer Bezugsgruppen
2.2 Jugendliches Lernen und Sozialisation
2.3 Hauptagenturen der Sozialisation

3. Definition der Kriminalität durch das Recht
3.1 Konsens- und Konflikttheorie
3.2 Normgenese
3.3 Normimplementation
3.4 Registrierungswahrscheinlichkeit und Selektionsprozesse während der Strafverfolgung

4. Jugendkriminalität
4.1 Phänomenologische Entwicklung der Jugendkriminalität
4.2 Aktuelle Jugendkriminalität und Sanktionsentwicklung
4.3 Deliktspezifische Unterschiede zwischen Erwachsenen und Jugendlichen
4.4 Kriminalätiologie im Jugendalter
4.4.1 Soziale Aspekte
4.4.1.1 Schichtspezifische Betrachtungen
4.4.1.2 Arbeitslosigkeit
4.4.1.3 Risikoverhalten/Freizeitgestaltung
4.4.1.4 Sekundäre Devianz
4.4.2 Kontrollfelder
4.4.3 Biologische Faktoren
4.4.4 Viktimisierung
4.4.4.1 Idealtypus des seelisch gesunden Menschen
4.4.4.2 Zusammenhang zwischen Viktimisierung und seelischer Gesundheit
4.4.4.3 Der Gewaltkreislauf
4.4.4.4 Täter-Opfer Beziehungen
4.5 Mehrfachauffälligkeit und Karriereforschung
4.5.1 Modelle und Theorien
4.5.2 Selective incapacitation
4.5.3 Vorhersagbarkeit von Straftatentwicklungen

5. Soziale Einflussgrößen kriminellen Verhaltens
5.1 Die Familie
5.2 Die Gleichaltrigengruppe/Peer Group
5.3 Die Schule
5.4 Empirisch kriminologische Theorien
5.4.1 Der Lerntheoretische Ansatz
5.4.2 Die Kontrolltheorie
5.4.3 Neutralisierungstechniken
5.4.4 Der ökonomische Ansatz
5.4.5 Tatgelegenheit als Prädiktor devianten Verhaltens

6. Kriminalitätsausformungen
6.1 Jugendgewalt
6.1.1 Differenz zwischen Jugendgewalt und Jugendkriminalität
6.1.2 Genese gewalttätigen Verhaltens
6.1.2.1 Männlichkeitsideale
6.1.2.2 Familiäre Situation
6.1.2.3 Rolle der Schule
6.1.2.4 Peer Group
6.1.3 Motive für die Gewaltanwendung
6.1.4 Mädchengewalt/Geschlechteraspekt
6.2 Diebstahlkriminalität
6.2.1 Tataufklärung
6.2.2 Tatbegehungskriterien
6.3 Rechtsextremistisch motivierte Kriminalität
6.3.1 Charakteristika rechtsextremen Handelns
6.3.2 Motive
6.3.3 Identifizierung und Registrierung rechtsextremer Gewalt
6.4 Illegaler Drogenumgang
6.4.1 Tradierte Erfahrungen und Mythen
6.4.2 Beschaffungskriminalität
6.4.3 Kriminalität als logische Konsequenz des Drogenkonsums?
6.5 Kriminalität junger Migranten
6.5.1 Lebensumstände und sozialer Backround
6.5.2 Justiziare Kontrollintensität und Straftatbelastung

7. Diskrepanzen und Konflikte in der Darstellung tatsächlicher Kriminalität
7.1 Das Hellfeld
7.1.1 Die Polizeiliche Kriminalstatistik
7.1.2 Grenzen der Hellfelddarstellung
7.2 Das Dunkelfeld
7.3 Diskrepanzen zwischen Hell- und Dunkelfeld
7.4 Differenzen zwischen Stadt und Land in der Kriminalitätsbelastung
7.4.1 informelle Streitbeilegung
7.4.2 Pendlerwesen
7.4.3 Theoretische Erklärungsversuche der Stadt - Land Unterschiede
7.5 Medial erzeugte Kriminalitätswahrnehmung
7.5.1 Trends und Agenda Setting in den Medien
7.5.2 Kriminalitätsfurcht

8. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Vereinfachte Form eines Anforderungs-Ressourcen- Modells nach Becker (Becker 2001, S. 48)

Abbildung 2: Rate der Opfer elterlicher Gewalt in der Kindheit, aggregiert für neun Städte (Opfererfahrungen vor Vollendung des 12. Lebensjahres) (Pfeiffer/Wetzels/Enzmann 1999, S. 12)

Abbildung 3: Viktimisierung durch elterliche Gewalt in den letzten 12 Monaten nach Arbeitslosigkeit/Sozialhilfe (Pfeiffer/Wetzels/Enzmann 1999, S. 14)

Abbildung 4: Raten der Beobachtung von Partnergewalt für Jugendliche unterschiedlicher Schulformen (Gesamtstichprobe neun Städte) (Pfeiffer/Wetzels/Enzmann 1999, S. 16)

Abbildung 5: Häufigkeit des Gewalterlebens und der Gewaltfurcht bei Jungen und Mädchen (Lösel/Bliesener 2003, S.51)

Abbildung 6: Deutlich erkennbare Anstiege rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten nach deren umfangreicher medialer Aufbereitung (Ohlemacher 1998, S. 6)

Abbildung 7: Opfer elterlicher Gewalt in der Kindheit in verschiedenen ethnischen Gruppen (Gesamtstichprobe neun Städte) (Pfeiffer/Wetzels/Enzmann 1999, S. 19)

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Tatverdächtigenzahl der Jugendlichen und deren Anteil an den Tatverdächtigen insgesamt (Bundeskriminalamt 2004, S. 19)

Tabelle 2: Ausgeübte Freizeitaktivitäten und deren Zusammenhang mit dem Problemverhalten (Lösel/Bliesener 2003, S. 74)

Tabelle 3: Korrelation zwischen verschiedenen Indizes des Medienkonsums und dem Problemverhalten (Lösel/Bliesener 2003, S. 76)

Tabelle 4: Korrelation des Problemverhaltens mit den Schulnoten in ausgewählten Fächern (Lösel/Bliesener 2003, S. 71)

Tabelle 5: Korrelation zwischen Merkmalen der Peergruppeneinbindung und dem Problemverhalten (Lösel/Bliesener 2003, S. 72)

Tabelle 6: Tatverdächtige deutsche Jugendliche (Bundeskriminalamt 2004, S, 20)

Tabelle 7: Tatverdächtige nichtdeutsche Jugendliche (Bundeskriminalamt 2004, S. 20)

1. Einleitung

Jugendkriminalität wird im öffentlichen Diskurs immer häufiger synonym für Kriminalität im Allgemeinen verwendet. Ständige Schreckensmeldungen über Gewalttaten, zumeist jugendlicher Täter und scheinbar unaufhörlich steigende Kriminalitätsraten in den letzten Jahren, unterstreichen diesen Eindruck. Folgt man diesen Berichten kann leicht der Eindruck entstehen, dass der Anteil derjenigen Jugendlichen, welche Gewalttaten verüben, ständig zunimmt, die Täter parallel immer jünger werden und bei der Tatbegehung eine zunehmende Brutalität an den Tag legen. (vgl. Mansel/Raithel 2003, S. 7) Die anonyme Masse der Jugendlichen verkommt auf diese Weise stillschweigend zu einer Bedrohung für die rechtschaffende Gesellschaft. Die Schuldzuschreibung erfolgt dabei zumeist einseitig durch die Erwachsenen, wobei keine spezifische Gruppe innerhalb des jugendlichen Personenkreises an den Pranger gestellt wird, sondern Pauschalurteile über die scheinbar in zunehmendem Maße immer stärker kriminalisierte Jugend gefällt werden. Eine derartige, zumeist emotional und einseitig geführte, Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Jugendkriminalität ist jedoch nicht neu. In zyklischen Abständen lassen sich wechselnde Gruppen identifizieren, welche in besonderem Maße den gängigen Wert- und Normvorstellungen zuwider handelten. In den 50er Jahren waren die Krawalle der Rocker und Halbstarken ein oft beklagtes Problem, ehe in den 60er Jahren protestierende Studenten, in den 70ern wütende Demonstranten und den 80ern die Hausbesetzer als größte gesellschaftliche Herausforderung erkannt wurden. Gerade in den 90er Jahren rückten dann vermehrt Gewalttaten an Schulen in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. (vgl. Eckert 1995, S. 88ff) Aber ist Kriminalität wirklich ein lediglich auf die Jugendphase beschränktes Problem? Allzu oft könnte man diesen Eindruck erhalten, würde man unreflektiert Presse und Medien vertrauen.

Zum einen ist Gewaltkriminalität, anders als häufig angenommen, lediglich ein geringer Teil der Jugendkriminalität und weiterhin „...werden die schlimmsten und größten sozialen Schäden nach wie vor von Erwachsenen hervorgerufen“. (Walter 2001, S. 29)

Fakt ist, dass monokausale Erklärungsansätze schon sehr bald scheitern müssen. Jugendkriminalität kann als ubiquitäres und passageres Phänomen verstanden werden, zu deren Erklärung unterschiedlichste Kriterien herangezogen werden müssen. (vgl. Kastner/Sessar 2001, S. 29f.; Bundeskriminalamt 2003, S. 51) So ist es sehr wohl von Interesse welcher sozialen Schicht ein Jugendlicher angehört und welche Chancen er für sein eigenes Weiterkommen in der Zukunft sieht. Weiterhin sind Schulbildung, Familiensituation, Freundeskreis aber auch Viktimisierungen, erste Kriminalisierungen und Reaktionen im sozialen Nahraum von Belang. Wie gehen Verwandte und Freunde aber auch Unbeteiligte oder Außenstehende mit abweichendem Verhalten um.

Auffällig ist, dass Jugendliche heutzutage fast schon argwöhnisch durch die Älteren beäugt werden.

Hier besteht offensichtlich eine „…Unfähigkeit der Erwachsenen, sich an die eigene Jugend und ihre „Jugendsünden“ zu erinnern oder Verständnis für die besondere Lebenslage Jugendlicher aufzubringen,…“. (Kastner/Sessar 2001, S. 29)

Besonders die Medien steuern durch eine mehr oder weniger intensive Berichterstattung die Kriminalitätswahrnehmung in der Gesellschaft.

Denn „Straftaten Jugendlicher werden – wie alle Straftaten – von den Menschen relativ selten unmittelbar erlebt.“ (Walter 2001, S 288)

Tötungsdelikte oder Raub und Erpressung werden in der Regel ausschließlich durch die Presse transportiert und somit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Hieraus resultieren eine veränderte Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung und die Reizschwelle, die darüber entscheidet, ob ein Verhalten als anzeigewürdig beurteilt wird oder nicht, verschiebt sich. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf die noch vor Jahren üblichen Gerangel unter Gleichaltrigen auf dem Pausenhof der Schule verwiesen. Durch die intensive und häufig stereotype Berichterstattung der schrecklichen Ereignisse in Erfurt (Gutenberggymnasium) und den USA (Columbine Highschool) hat eine Sensibilisierung der Bevölkerung dahingehend stattgefunden, dass besorgte Eltern heute schneller Anzeige erstatten, bei einem Verhalten welches noch vor wenigen Jahren kaum Erwähnung gefunden hätte. (vgl. Fuchs/Luedtke 2003, S. 161) Durch diese vermehrten Anzeigen steigt in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) die Belastung jugendlicher Gewalttäter rasant an. Hierdurch haben die Medien eine scheinbare Bestätigung für ihre vorangehende Berichterstattung, nämlich eine tatsächlich gestiegene Anzahl jugendlicher Gewalttäter, erbracht. Ein ähnliches Phänomen stellt die hohe Kriminalitätsfurcht gerade der Personen dar, welche aus statistischer Sicht am wenigsten kriminalitätsgefährdet sind. Gerade bei Frauen und älteren Menschen ist, unterschiedlichen Studien zufolge, die Angst Opfer eines Verbrechens zu werden am größten. Gleichzeitig sind sie jedoch die Personengruppe welche die geringste Viktimisierungswahrscheinlichkeit aufweist. (vgl. Walter 2001, S. 7)

Jede offizielle Statistik zum Kriminalitätsaufkommen lebt von den Anzeigen der Opfer oder von Zeugen. Nur ein minimaler Teil geht auf pro-aktive Ermittlungsarbeit der Polizei zurück. Die gesammelten Daten bilden den offiziellen Teil der Kriminalität, dass so genannte Hellfeld. Dieses kann nur einen Ausschnitt der tatsächlichen Kriminalität abbilden und somit nur bedingt Entwicklungen im Kriminalitätsaufkommen darstellen. Die Anzeigebereitschaft unterliegt, wie bereits gezeigt, einer starken Beeinflussung durch die Presse, wodurch sich das Hellfeld zunehmend aktuellen Trends folgend verzerrt. So ist es denkbar, dass ein Straftatbestand im Hellfeld abnimmt, weil er weniger angezeigt wird, obwohl die Tat eventuell sogar häufiger verübt wurde. Hieraus erklärt sich, dass gerade im Bereich der Jugendkriminalität ein relativ großes Dunkelfeld (Straftaten die nicht zur Anzeige gekommen sind und somit nicht offiziell bekannt werden) vermutet wird. Zahllose Umstände können dazu führen, dass ein Opfer keine Anzeige stellt. Wird ein Verbrechen nicht erkannt, kann es nicht angezeigt werden und wenn der Nutzen einer Anzeige nicht im Verhältnis zum Aufwand steht, wird sie wahrscheinlich auch eher unterbleiben. Das Dunkelfeld gänzlich zu erhellen dürfte unmöglich sein, da nicht in jedem Fall einem Vergehen auch ein Geschädigter zugeordnet werden kann.

„Scheinbar opferlose Delikte, wie beispielsweise Umweltdelikte (§§ 324f. StGB), werden meist nur wahrgenommen, falls proaktive Nachforschungen angestellt werden, und das geschieht selten.“ (Walter 2001, S. 187)

Es stellt sich die Frage, in wie weit es überhaupt sinnvoll ist, dass Dunkelfeld zu erhellen und wie zuverlässig die gewonnenen Daten letztlich wirklich wären. Andererseits ist eine bloße Übernahme, der in der Polizeilichen Kriminalstatistik veröffentlichten Zahlen gefährlich, da sie ein falsches Bild von dem tatsächlichen Bedrohungspotential in der Gesellschaft malen. Dies stellt nur einen kleinen Ausschnitt der Problemstellungen da, denen sich diese Arbeit im Folgenden zuwenden wird.

Ein weiteres wesentliches Anliegen ist es, einen aktuellen Stand der Ursachenforschung von Jugendkriminalität abzubilden und dabei zu jeder Zeit die Diskrepanzen zwischen Hell- und Dunkelfeld in der Jugendkriminalität herauszustellen. Denn nur wenn deutlich wird, wie unterschiedlich die Chancen offiziell strafrechtlich in Erscheinung zu treten für den Einzelnen sind, welchen Ursachen das delinquente Verhalten hypothetisch unterliegt und welche Besonderheiten in der Phase der Jugend beim Einzelnen zu berücksichtigen sind, können Feststellungen über die tatsächlichen Ausmaße aktueller Jugendkriminalität gemacht werden.

Ziele der Arbeit

Die vorliegende Arbeit stellt, vor dem Hintergrund aktueller Literatur, die Ursachen gegenwärtiger Jugendkriminalität dar. Zu diesem Zweck wird das Phänomen der kriminellen Abweichung im Jugendalter genauer beleuchtet und anhand gegenwartsnaher kriminologischer Theorien auf mögliche Ursachen untersucht. Da in der Gesellschaft häufig eine überzogene Kriminalitätsfurcht vorherrschend ist, versucht die Arbeit ebenfalls mit gängigen Vorurteilen über Jugendkriminalität aufzuräumen. Hierzu wird auf Konflikte und Unzulänglichkeiten in der Kriminalitätsdarstellung im Hell- und Dunkelfeld abgehoben. Die Frage nach dem tatsächlichen Bedrohungspotential durch jugendliche Straftäter oder der persönlichen Viktimisierungswahrscheinlichkeit kann im Rahmen dieser Arbeit nicht beantwortet werden. Aufgezeigt werden soll jedoch, welche Rolle den Medien bei der Darstellung von Kriminalität und der Verbreitung von Stereotypen zukommt. Welchen Einfluss haben der soziale Status, Arbeitslosigkeit, Risikoverhalten und Freizeitgestaltung auf die Genese kriminellen Verhaltens? Überwiegt die Bedeutung der Schule, als Ort einer möglichen kriminellen Konditionierung, vor dem Einfluss der Familie oder lernen Jugendliche ausschließlich in der Peer Group? In einem weiteren Arbeitsschritt werden die bedeutendsten Ausformungen jugendlicher Abweichung beschrieben. Allzu oft wird Kriminalität im Jugendalter mit Gewalt oder auch Drogenkonsum und in diesem Zusammenhang mit Beschaffungskriminalität in Verbindung gebracht. Welches sind aber die durch Jugendliche vorrangig verübten Vergehen und bei welchen Straftaten sind sie überproportional häufig vertreten? Auch die Rolle jugendlicher Migranten wird hinsichtlich ihrer Straftatbelastung dargestellt. Zu jedem Zeitpunkt der Arbeit wird, wenn es angebracht erscheint, auf potentielle Verfälschungsmomente der offiziellen Kriminalstatistik hingewiesen. Auf diese Weise soll dargestellt werden, dass tatsächliche Kriminalität, Kriminalität im Dunkelfeld und medial wahrgenommene Kriminalität sehr stark voneinander differieren. Nur mit dem Wissen um die Registrierungswahrscheinlichkeit in einem dieser Kriminalitätsfelder und die zahlreichen Faktoren, die einer solchen Registrierung vorausgehen, kann das momentane Bild der Jugendkriminalität entzerrt und von Vorurteilen befreit werden.

Vorgehensweise

Im zweiten Kapitel wird, auf die Einleitung (Kapitel eins) folgend, die besondere Lebensphase der Jugend mit ihren Eigenheiten und Herausforderungen beleuchtet.

Hieran schließt sich das dritte Kapitel mit der Definition der Kriminalität durch das Recht an. In diesem Kapitel soll eine Annäherung an den Begriff der Kriminalität geleistet werden um im vierten Kapitel auf den Sonderfall der Jugendkriminalität abzuheben. Besonders die Betrachtung wesentlicher möglicher Kriminalisierungsfaktoren und die Karriereforschung stehen hier im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Das fünfte Kapitel dient der Auseinandersetzung mit sozialen Einflussgrößen des kriminellen Verhaltens. In diesem Rahmen werden gegenwärtige kriminologische Theorien als Versuch zur Erklärung devianten Verhaltens im Jugendalter herangezogen und auf ihre Relevanz bezüglich Jugendkriminalität hin untersucht.

Die Darstellung der wesentlichen Kriminalitätsausformungen von Jugendkriminalität stellt im sechsten Kapitel den Versuch dar, kriminelles Verhalten im Jugendalter vom Stigma der drogensüchtigen Gewalttäter zu befreien.

Die Diskrepanzen und Konflikte in der Darstellung tatsächlicher Kriminalität werden im siebenten Kapitels eingehend beschrieben. Nachdem Hell- und Dunkelfeld eingehend dargestellt worden sind, werden die Diskrepanzen zwischen tatsächlicher und dokumentierter Kriminalität behandelt. Hierbei wird weiterhin die Bedeutung der Medien bei der Kriminalitätswahrnehmung untersucht.

Ihren Abschluss findet die Arbeit im achten Kapitel, in welchem die wesentlichen Erkenntnisse in Form einer Ergebnissicherung zusammengetragen werden.

2. Gesellschaftliches Verständnis von Jugend

Jugend als Lebensphase lässt sich nicht an einem Alter oder einem körperlichen Entwicklungszustand festmachen. Vielmehr ist Jugend in heutigem Verständnis ein Abschnitt, der durch jeden Menschen auf dem Weg zum Erwachsenwerden durchschritten werden muss. Trotz dieser Einschränkungen wird das Alter berücksichtigt und der Begriff Jugend, in der Gesellschaft, auf 13 bis 24 jährige angewendet. Aus kriminologischer Sicht wird der Begriff nochmals eingegrenzt. Im Fall strafrechtlicher Sanktionierung findet das Jugendgerichtsgesetz (JGG) lediglich auf die 14 bis unter 21 jährigen Anwendung. (vgl. Dölling 1995, S. 38) Jugend als Lebensabschnitt ist gekennzeichnet von Eigenheiten wie etwa dem Schulbesuch, Ausbildungszeiten im Lehrberuf oder dem Wehrdienst. (vgl. Griese 1987, S. 41f; Dörmann 2004, S. 60) Diese Faktoren sind als kulturell spezifisch zu betrachten und können somit in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich stark variieren.

„Jugend entsteht, soweit ein entsprechender Status als sozial zweckmäßig oder sogar notwendig erscheint und darum von der Gesellschaft zuerkannt wird.“

(Walter 2001, S. 85)

Kinder leben in relativer Abhängigkeit von ihren Eltern. Mit dem Eintritt in das Jugendalter entsteht für die Jugendlichen eine Situation des Übergangs. Sie sind nunmehr nicht mehr nur Reagierende sondern auch Agierende, die ihre Umwelt selbst mit gestalten können. Die jeweiligen gesellschaftlichen Anliegen, welche einmal zur Einführung des Jugendbegriffs führten, färben diesen nun ein. Dies bedeutet, dass die Merkmale einer Jugendphase durch die Eigenheit ihrer Bestimmung gekennzeichnet sind. Führt also eine Gesellschaft den Jugendbegriff als Zeitspanne zur beruflichen Ausbildung ein, so bietet das Lebensalter nur eine bedingte Grenze für die Phase in diesem definitorischen Sinne. Wichtiger sind hier dann der Abschluss und damit verbunden der Einstieg ins Erwerbsleben, welcher nun gleichsam den Ausstieg aus der Jugendlichkeit darstellt. (vgl. Walter 2001, S. 85f) Die zunehmende Komplexität der Aus- und Weiterbildung und die fortschreitende Übernahme von Jugend als Ideal unserer Gesellschaft, führten zu einem immer stärkeren Ausbau dieses Lebensabschnitts.

„Die Lebensphase „Jugend“ hat sich von einer relativ klar definierbaren Übergangs-, Existenz- und Familiengründungsphase zu einem eigenständigen und weitgehend diffusen, relativen offenen Lebensbereich gewandelt.“

(Ferchhoff 1990, S. 232)

Gründe hierfür können zum einen im früheren Einsetzen von Merkmalen der körperlichen Reifung, welche traditionell als Beginn des Jugendalters galten, aber auch in der zunehmenden Verzögerung von beruflichen und/oder schulischen Ausbildungen oder der Familiengründung gesehen werden. (vgl. Schenk-Danziger 2002, S. 251) Jung sein ist aus gesellschaftlicher Perspektive mit zahllosen Vorteilen verbunden und wird durch die Medien häufig zu einem schwer erreichbaren Idealzustand stilisiert. (vgl. Walter 2001, S. 86) Diesem Verständnis von Jugendlichkeit steht der Vorwurf einiger Autoren gegenüber, welche behaupten, dass der Jugendbegriff lediglich eingeführt wurde, um junge Menschen der Kontrolle von Sozialisationsinstanzen zu unterstellen. In diesem Fall wird Jugend mit Kriminalität und mangelnder moralischer Entwicklung nahezu gleichgestellt. Jugendkulturen werden beispielsweise in fast allen Gesellschaften als Bedrohung und mit potentiell zerstörerischem Charakter behaftet, empfunden.

„Denn Jugendkulturen werden als Nährboden für tatsächliche oder zumindest mögliche Devianzen betrachtet.“ (Walter 2001, S. 86)

Dieser Aussage folgend beschreibt die Theorie der Entwicklung des moralischen Bewusstseins eine geradezu natürliche Verbindung von Jugend und mangelnder Moralität. Dieser Theorie liegt die Annahme zu Grunde, dass jeder Mensch während seiner Entwicklung verschiedene Moralstufen durchläuft. Solange sich ein junger Mensch noch auf den unteren Stufen befindet, ist demzufolge mit vermehrten Normbrüchen zu rechnen. Diese Theorie stützend haben einige Untersuchungen gezeigt, dass unsoziale und militante Gruppen tatsächlich ein wesentlich geringeres moralisches Niveau aufweisen. (vgl. Walter 2001, S. 89) Bei derartigen Studien darf jedoch nicht übersehen werden, dass auch Moralvorstellungen Wandlungsprozessen unterliegen. Sicherlich unterscheiden sich Moralvorstellungen aus dem angloamerikanischen Raum von denen in unseren Breiten. Somit sind auch territoriale Unterschiede in der Moraldefinition zu beachten. Havighurst beschreibt 1972 in seinem Buch „Developmental Tasks and Education“ einen ähnlichen Ansatz und spricht in diesem Zusammenhang von unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben, die jeder Jugendliche auf dem Weg zum Erwachsenwerden schrittweise bewältigen muss. Nur durch die erfolgreiche Auseinandersetzug mit diesen Aufgaben kann sich der junge Mensch den gesellschaftlichen Normen entsprechend weiterentwickeln. Fehlen adäquate Lösungsstrategien, treten Stress und Belastung oder Frustration bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben auf, so können Krisen entstehen.

„Auch bei stark belasteten Jugendlichen zeigt sich die Tendenz zur aktiven Problembewältigung, insgesamt scheint jedoch die schwierigere Situation (vor allem Probleme mit dem Elternhaus) ihre Aktionsfähigkeit zu lähmen und zu Resignation, Verdrängung, Rückzugsverhalten, zu fruchtlosen Dampfablassen und zu Betäubungsstrategien zu drängen.“ (Schenk-Danziger 2002, S. 279)

Obwohl, wie vorangehend gezeigt, Jugendlichen häufig ein gewisser Hang zur Morallosigkeit unterstellt wird, gilt diese Altersgruppe auf der anderen Seite als besonders schützenswertes Gut. In ihr entwickelt sich die Zukunft und somit die künftigen Erwachsenen unserer Gesellschaft. Besonders kontrovers wird momentan darüber diskutiert, inwieweit die Phase der Jugend in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiter ausgebaut oder auch eingeschränkt werden wird. (vgl. Walter 2001, S. 91)

Jugend als Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsenenalter geht mit dem Wechsel sozialer Ansprechpartner einher, dieses soll im Folgenden beschrieben werden.

2.1 Wechsel sozialer Bezugsgruppen

Durch den Übergang von Kindheit in die Phase der Jugend kommt es zu einem Wechsel der sozialen Bezugsgruppen. Der Jugendliche entwickelt zunehmend ein Bedürfnis nach einem Eigenleben und persönlicher Autonomie.

„In seinem Streben nach Unabhängigkeit versucht er, sich von Gewohnheiten und Konventionen zu lösen, denen er sich bis dahin gefügt hatte“

(Schenk-Danziger 2002, S. 260)

Hieraus resultieren geradezu zwangsläufig Konflikte mit den Erwachsenen. Sie befürchten in zunehmendem Maße, Einfluss auf ihr Kind zu verlieren. Diese Konflikte, die als natürliche Erscheinung des Abnabelungsprozesses betrachtet werden und in aller Regel ohne weiter reichende Konsequenzen verlaufen, können bei Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Umstände, Gefahrenmomente für die Begehung von Straftaten bedeuten. (vgl. Walter 2001, S. 93) Eine in zunehmendem Maße wichtige Rolle spielen in diesem Alter die Gleichaltrigen. Diese so genannten Peer Groups werden durch den Jugendlichen so gewählt, dass sie sowohl neue Erfahrungen ermöglichen und dennoch den bekannten häuslichen Verhältnissen entsprechen.

„Jugendliche, die in ihrer Herkunftsfamilie Gewalt erfahren haben, schließen sich Peergroups an, in denen wiederum Gewalt und entsprechende Normen gelten,…“ (Walter 2001, S. 93)

Hieran wird deutlich, dass die elterliche Erziehung und der soziale Backround auch dann in hohem Maße nachwirken, wenn der eigentliche unmittelbare Einfluss der Eltern auf ihr Kind bereits abgenommen hat. Eine wirkliche Chancengleichheit der Jugendlichen auf dem Weg zum Erwachsenwerden gibt es somit nicht. Vielmehr entscheiden das individuelle Leistungsvermögen, familiärer Rückhalt und sozialstrukturelle Bedingungen über den Fortgang der Sozialisation und diese können beim Einzelnen sehr unterschiedlich sein. Der Jugendliche muss sich jenen ungleichen Startbedingungen stellen. Zusätzliche Konflikte können aus Diskrepanzen zwischen persönlicher Befähigung, beruflicher Qualifikation und anhaltend ausbleibenden Perspektiven erwachsen. (vgl. Walter 2001, S. 94)

„Die Ausbildungs-/Berufswahl ist also von großer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung jedes Jugendlichen, denn der Erfolg in der Ausbildung, das zunehmende Bewältigungsgefühl, die Hoffnung auf eine befriedigende Zukunft und schließlich das Interesse an der Arbeit selbst bestimmen weitgehend das (künftige) Selbstwertgefühl.“ (Schenk-Danziger 2001, S. 297)

Ein positives Selbstwertgefühl ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche soziale Integration. Wie diese Sozialisation bei Jugendlichen verläuft und welchen vielfältigen Einflüssen sie unterliegt, wird im folgenden Arbeitsschritt dargestellt.

2.2 Jugendliches Lernen und Sozialisation

Die persönliche Entwicklung wird zu einem wesentlichen Teil durch Lernen beeinflusst. Für Jugendliche ist hierbei vor allem das Belohnungslernen, das Imitationslernen und das experimentelle Lernen nach „try an error“ Verfahren wichtig. Hieraus lässt sich relativ gut die Verbindung zu Kriminalität konstruieren. Durch Abweichung testen Jugendliche dabei häufig Grenzen aus und lernen auf diese Weise, wo gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten endet und der Normbruch beginnt. Da sich die sozialstrukturellen Lebensbedingungen und mit ihnen das gesellschaftliche Wertegefüge ständig wandeln und bewegen, ist eine genaue Positionsbestimmung innerhalb des sozialen Systems Gesellschaft, für den Jugendlichen nur schwer möglich. (vgl. Walter 2001, S. 94ff) Junge Menschen sind somit den Einflüssen des sozialen Wandels am stärksten unterworfen. Sie haben bisher kein gefestigtes Selbstverständnis aufbauen und etablieren können. Sozialer Wandel meint in diesem Zusammenhang nicht nur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt oder eine stärkere Technisierung und landschaftliche Veränderung, vielmehr beschreibt es auch eine Veränderung der Menschen selbst. Diesen Prozess der Vergesellschaftung und der Anpassung an wechselnde gesellschaftliche Erwartungen wird als Sozialisation beschrieben. (vgl. Dörmann 2004, S. 60f; Walter 2001, S. 98f) Jugendtheorien und kriminologische Theorien haben vielfältigste Ausgangspunkte, jedoch einen gemeinsamen Schnittpunkt, nämlich Sozialisation.

„Zugleich stellt die Sozialisation einen risikoreichen Prozess dar – mit Chancen der Entfaltung und Gefahren des Scheiterns.“ (Walter 2001, S. 99)

Das System Gesellschaft steht nicht fest und so ist die gesellschaftliche Reaktion auf ein Verhalten nur sehr schwer vorherzusagen. Sozialisation beginnt zumeist mit der Übernahme der aktuellen gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen. Hiermit ist nicht gemeint, dass Normen zwangsläufig akzeptiert werden müssen. Notwendig ist zumindest aber ein Wissen um sie, denn auch abweichendes Verhalten orientiert sich unwillkürlich an diesen gesellschaftlichen Minima. Nur wenn bekannt ist, welches Verhalten erwartet wird, kann bewusst dagegen verstoßen werden. Durch Erziehung wird die Erwartung der Umgebung an das Individuum herangetragen. Daher ist nachvollziehbar, dass lange Zeit eine intakte Familie als wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Sozialisation galt. Hierbei war in aller Regel die Mutter-Kind Beziehung gemeint. Diese Art der theoretischen Mutterfixierung gibt es heute nicht mehr.

„Erforderlich ist allgemeiner Auffassung nach nicht unbedingt die leibliche Mutter, sondern „lediglich“ eine feste Bezugsperson, der das Kind Vertrauen entgegenzubringen vermag.“ (Walter 2001, S. 100)

Diese Auffassung ist in sofern nachvollziehbar, als das eine vollständige Familie, in welcher jedoch Gewalt und Streit an der Tagesordnung sind, Sozialisationsaufgaben weniger erfolgreich bewältigen kann, als dies beispielsweise im Fall einer harmonischen Vater-Kind Beziehung möglich wäre. Insofern kann eine Trennung der Eltern auch günstigere Bedingungen liefern, als dies vorher der Fall war. Nachgewiesen ist, dass elterlichem Verhalten, egal ob dies beabsichtigt ist oder nicht, in jedem Fall Vorbildcharakter zu teil wird. Besonders deutlich ist dies bei der Übernahme gesellschaftlich vermittelter Rollen. So sind beispielsweise die Rolle des Mannes und des männlichen Verhaltens stark mit gewaltträchtigen Zügen verbunden. Dieser Umstand macht die Entstehung von Kriminalität wahrscheinlicher. In einem solchen speziellen Fall kann also auch eine vermeintlich gelungene Sozialisation, die erfolgreiche Übernahme der Männerrolle, zu Kriminalität und Abweichung führen. (vgl. Walter 2001, S. 101; Dörmann 2004, S. 61) Durch unsere immer komplexer werdende Gesellschaft entstehen eine Vielzahl unterschiedlicher Rollen und Erwartungen. Eine Person kann hierbei gleichzeitig junger Vater, Kind seiner Eltern, Schüler und Mitglied einer Jugendclique sein. An alle diese Rollen werden unterschiedliche Erwartungen, von Seiten der Gesellschaft, herangetragen. Würde dieser Jugendliche nun der Rolle des Cliquenmitglieds in vollem Maße entsprechen, würden unzweifelhaft Konflikte mit seinen anderen Rollen etwa der Schule entstehen. Dieser Normbruch würde von gesellschaftlicher Seite nicht lange geduldet und vermutlich hart sanktioniert. Durch den Pluralismus von Werten und Normen wird somit der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter zusätzlich erschwert. (vgl. Engel/Hurrelmann 1994, S. 2f) Deutlich soll hieran werden, dass es oft nicht möglich ist, alle Rollen zu erfüllen, wodurch es zu einer Gradwanderung zwischen einem gerade noch akzeptierten Rollenbruch und gesetzlicher Strafverfolgung kommt.

„Je komplexer eine Gesellschaft wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit für Normverletzungen und damit auch für Kriminalität“ (Dörmann 2004, S. 61) Gleichzeitig steigt mit der Komplexität der Gesellschaft auch das Anforderungsprofil an die Hauptagenturen der Sozialisation. Als ihre vorrangige Aufgabe kann das Herstellen von Faktoren, die eine erfolgreiche Sozialisation wahrscheinlicher machen, verstanden werden.

2.3 Hauptagenturen der Sozialisation

„“Haupt“ –Agenturen der Sozialisation sind zunächst das Elternhaus, später dann die Schule und die (Aus-)Bildungsstätte.“ (Walter 2001, S. 103)

Im Bereich der Familie spricht man von der so genannten „Frühsozialisation“. Da die Familie die erste und bedeutsamste Lebensgemeinschaft für ein Kind darstellt, sollen gerade hier grundlegende Werte und Formen des sozialen Zusammenlebens eingeübt werden. (vgl. Kastner/Sessar, S. 339) Hierbei ist zu beachten, dass gerade Unterschichtfamilien durch schlechtere Wohn-, Arbeits- und sonstige Lebensbedingungen in ihrer Sozialisationsfähigkeit stärker eingeschränkt sind. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang jedoch auch, dass die Zugehörigkeit zu höheren Schichten wiederum Belastungen anderer Art bereithält, welche die Vergesellschaftung ebenfalls ungünstig beeinflussen können. Es lässt sich also feststellen, dass der Sozialisationserfolg nicht an einer sozialen Schicht festgemacht werden kann. Die Möglichkeit der Eltern, ihre Kinder zu beaufsichtigen und beim Heranwachsen zu begleiten, sind durch alle Schichten hindurch sehr unterschiedlich. Es gibt Studien, in denen positive Korrelationen zwischen mangelnder familiärer Bindung und Jugendkriminalität festgestellt werden konnten. (vgl. Walter 2001, S. 101) Besonders tragisch sind solche frühen Versäumnisse in der Erziehung als sie sich oftmals auch in späteren Sozialisationsinstanzen niederschlagen. So folgen auf Störungen in der Kindheit häufig auch Schulschwierigkeiten. Ein weit verbreiteter Irrtum ist in diesem Zusammenhang allerdings die Annahme, dass vorbelastete Schüler wegen schlechter schulischer Leistungen die Klassenziele nicht erreichen. Vielmehr ist oft deren soziales Verhalten der Grund für das schulische Versagen. Als Kettenreaktion kann dann das erneute Versagen in der sich anschließenden Berufsausbildung gesehen werden. Die häufigen Misserfolge und Rückschläge müssen durch den Jugendlichen verarbeitet werden und das erzeugt meistens neue Belastungen und Spannungen.

„Seit langem wissen wir, dass viele kriminalrechtlich auffällige junge Menschen insoweit erhebliche Misserfolge erlebt haben. Sie zeigen sich zum einen in der Anzahl von Schülern ohne Schulabschluss, zum anderen in einer geringen Anzahl qualifizierter Abschlüsse.“ (Walter 2001, S. 103)

Bisher ist jedoch nicht hinreichend geklärt, inwiefern die schlechten Sozialisationsleistungen der Hauptagenturen Ursache oder Konsequenz von Kriminalität sind.

Zusammenfassend lassen sich zu diesem Kapitel folgende Punkte festhalten. Jugend beschreibt eine Phase des Übergangs von Kindheit zum Erwachsenenalter, die zumeist von gesellschaftlichen Anforderungen bestimmt und ausgestaltet wird. In dieser Phase entwickeln Jugendliche zunehmend den Wunsch nach Autonomie und eigenverantwortlichem Verhalten. Neben der Familie als Frühsozialisationsinstanz tritt nun auch die Gleichaltrigengruppe verstärkt in den Mittelpunkt. Hier finden Jugendliche Anerkennung und Bestätigung, die ihnen im Elternhaus nicht in ausreichendem Maße zu teil wurde. Das Verständnis der Erwachsenen gegenüber den einstigen Kindern weicht in dieser Phase einer Erwartungshaltung. Abweichungen von gesellschaftlichen Normen oder Rollenmodellen werden nun zum Teil hart sanktioniert und haben weit reichende Konsequenzen. Da der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen nicht in jedem Fall gleich verteilt ist, kann Resignation oder Wut bei den Jugendlichen entstehen, wenn über längere Zeit der eigene Anspruch und die tatsächliche Perspektive in krassem Gegensatz zueinander verlaufen. Ungeklärt ist hierbei die Frage, inwieweit eine mangelhafte Sozialisation spätere Kriminalität bedingt oder nur wahrscheinlicher macht.

In einem nächsten Arbeitsschritt wird nun der eigentlichen Betrachtung der Ursachen von Jugendkriminalität, die Darstellung der Entwicklung von gesellschaftlich akzeptierten Normen und deren spätere Umsetzung vorangestellt. Diese Ausführungen beinhalten weiterhin eine Veranschaulichung dessen, was in unserer Gesellschaft unter Kriminalität verstanden wird, um darauf folgend Jugendkriminalität als eigenständiges Phänomen detailliert abzubilden.

3. Definition der Kriminalität durch das Recht

Da es zahlreiche engere aber auch weiter gefasste Definitionen von Kriminalität gibt, soll hier nun eine für die weitere Arbeit verbindliche Begriffsbestimmung gefunden werden. Zunächst kann Kriminalität unter juristischem Blickwinkel als die Summe der Handlungen mit strafrechtlichen Rechtsfolgen verstanden werden. Diese Erklärung greift jedoch zu kurz, als sie lediglich die bekannt gewordenen Vergehen erfasst, nicht jedoch die Taten, welche im Dunkelfeld verbleiben. (vgl. Lüdemann/Ohlemacher 2002, S. 9) Lamnek nutzt deshalb einen sehr viel weiter gefassten Kriminalitätsbegriff, wenn er in seinem Buch von abweichendem Verhalten spricht. Hierunter subsumiert er jegliche Nichterfüllung normativer Erwartungshaltungen der Gesellschaft oder auch einzelner Bürger. (vgl. Lamnek 1999, S. 43ff; Böhnisch 1999, S. 12ff) Dieser Ansatz greift für die weiteren Ausführungen allerdings zu weit, weil nicht in jedem Fall ein strafrechtlicher Bezug herzustellen ist. Der Autor schließt sich daher für die folgenden Betrachtungen einer engeren Definition von Lüdemann und Ohlemacher (2002) an. Dieser Festlegung folgend ist im Weiteren immer dann von Kriminalität die Rede, wenn Handlungen einen strafrechtlichen Tatbestand erfüllen, also verfolgt werden bzw. verfolgt werden könnten. (vgl. Lüdemann/Ohlemacher 2002, S. 10; Dörmann 2004, S. 59; Walter 2001, S. 25) Das Problem, welches sich aus dieser Betrachtungsweise ergibt, besteht in der Tatsache, dass Gesetze keinen naturgesetzlichen, unabänderlichen Gültigkeitsanspruch haben. Sie unterliegen einem ständigen, durch die Gesellschaft gestalteten, Wandel.

„Allein die fortwährenden Auslegungen und Deutungen der Rechtsprechung ziehen die Zonen des Erlaubten und Verbotenen in Grenzbereichen ständig neu.“

(Walter 2001, S. 25)

Hier beschriebene Wandlungen können sowohl durch neue technische Veränderungen, sozial veränderte Vorstellungen oder politische Strömungen entstehen.

„Beispielsweise wurde die Prügelstrafe früher als normales Erziehungsmittel angesehen, gilt aber aktuell in unserer Gesellschaft als verpönt. Und was vor wenigen Jahren noch als „dummer Jungenstreich“ durchging, wird heute vielleicht als strafbares Verhalten eingestuft.“ (Kastner/Sessar 2001, S. 24)

Oft folgt die Reform des Strafrechts dabei dem gesellschaftlichen Normenwandel mit erheblichem zeitlichem Abstand. Zu beobachten ist auf der anderen Seite jedoch auch, dass Normen, die noch nicht in Form von Gesetzen festgeschrieben sind, sich trotzdem bereits auswirken können, wenn sie etwa durch die Gesellschaft stillschweigend akzeptiert werden.

Kriminalität als soziales Phänomen wird somit überhaupt erst beobachtbar, wenn mehrere Bedingungen erfüllt sind. So muss zuallererst ein Verhalten durch einen anderen überhaupt als kriminell erkannt und bewertet werden. Weiter muss dieses Verhalten einer zur Entgegennahme von Anzeigen berechtigten Behörde mitgeteilt werden, um die strafrechtliche Lawine ins Rollen zu bringen. (vgl. Walter 2001, S. 27; Walter 1995, S. 15) Wird Kriminalität also nicht erkannt oder nicht als solche bewertet, kann sie auch nicht geahndet werden. Sie wäre der strengen juristischen Festschreibung folgend gar keine Kriminalität. Der dieser Arbeit zugrunde liegenden Definition von Kriminalität zufolge, ist jedoch auch eine unerkannte Abweichung von bestehenden Gesetzen kriminell und man kann daher festhalten, dass allein durch die Existenz von Gesetzen kriminelles und legales Verhalten überhaupt erst unterscheidbar wird. Auf diese Weise erfüllen Gesetze eine elementare Funktion in der Gesellschaft, indem sie gesetzwidriges Verhalten erkennbar machen und gegebenenfalls bestrafen und konformes, gesetztreues Verhalten durch das Ausbleiben von Strafe belohnen. (vgl. Böhnisch 1999, S. 101; Walter 2001, S. 27)

Unabhängig von bestehenden Gesetzen und gesellschaftlichen Normen hat Kriminalität immer auch eine subjektive Seite.

„Kriminalität wird für den Einzelnen erst dadurch zu einer lebendigen Größe, dass er den betreffenden Informationen in seiner Gedankenwelt einen bestimmten Stellenwert gibt.“ (Walter 2001, S. 293)

Diese subjektive Wahrnehmung unterliegt sehr stark den Einflüssen der Presse, den gesellschaftlichen Strömungen und ist abhängig von der individuellen Vorprägung. Dass dieser subjektiven Seite enorme Bedeutung zukommen kann, wird daran deutlich, dass im Rahmen eines Kriminalisierungsprozesses ständig subjektive Entscheidungen getroffen werden müssen, angefangen vom Erkennen der Tat bis zur Strafmaßverkündung vor Gericht. So kann eine gewisse Sympathie des Kontrolleurs für die hinter dem Vergehen stehenden Absichten oder eine aktuelle gesellschaftliche Minderbewertung des Deliktes an sich erheblichen Einfluss auf das Strafmaß haben. Jegliche strafrechtliche Entscheidung fußt dabei auf der Voraussetzung, dass die Gesetze, aufgrund derer eine Handlung als abweichend im kriminellen Sinne erkannt wurde, wirklich sinnhaft, gültig und notwendig sind. (vgl. Lamnek 1999, S. 30)

Bevor im folgenden die Normgenese und die Normimplementation dargestellt werden, sollen an dieser Stelle die zwei unterschiedlichen Theorien bei der Erstellung eines sozialethischen Minimalprogramms kurz erklärt werden.

3.1 Konsens- und Konflikttheorie

Normen enthalten Gebote, die zur Gewährleistung eines erträglichen Zusammenlebens notwendig sind. Strafrechtler behaupten regelmäßig, dass Straftatbestände auf einem Konsens der mündigen und eigenverantwortlich handelnden Bürger zurückgehen. Dieses normative Ideal beschreibt den Inhalt der Konsensustheorie. (vgl. Walter 2001, S. 74) Dem gegenüber steht die Konflikttheorie. Sie betrachtet Normen als Festschreibung des Siegers nach einem vorausgegangenen Konflikt. Dieser Theorie folgend würde nicht zwangsläufig die plausibelste und sinnvollste Lösung in ein Gesetz umgewandelt werden, sondern diejenige, welche am ehesten den Ansichten des Siegers entspricht. In der Politik spricht man in diesem Fall von einem „Kuhhandel“ zwischen den an der Gesetzgebung beteiligten Parteien.

„Aus den einschlägigen Strafgesetzen folgt, wer sich in welchem Maße hat durchsetzen können.“ (Walter 2001, S. 75)

Gerade das jüngere Schrifttum scheint aktuell eher der Auffassung zu sein, Genese und Implementation mit Aspekten der Konflikttheorie besser erklären zu können. Der Autor schließt sich für den weiteren Teil der Arbeit dieser Sicht an, gibt aber zu bedenken, dass Normen immer auch Schwache in ihren individuellen Freiheiten schützen wollen und somit nicht ausschließlich Ergebnis von Konflikten sein können. Gerade gesellschaftlich eher Randständige hätten andernfalls wohl kaum die Möglichkeit, ihre originären Interessen wirksam vorzutragen und umzusetzen. In welchem Maße individuelle Absichten die Normgenese beeinflussen und welche Funktion Normen zukommt, wird nun folgend dargelegt.

3.2 Normgenese

Normen sind Konkretisierungen von Werten innerhalb einer Gesellschaft, die zu Verhaltensgleichförmigkeit der Individuen beitragen sollen. So gesehen sind sie Verhaltensanforderungen der Gesellschaft an ihre einzelnen Mitglieder und regeln das tägliche Leben. (vgl. Böhnisch 1999, S. 19) Strafrechtliche Normen sind ein Bestandteil der Normen im allgemeinen und werden im weiteren Verlauf der Arbeit synonym mit Gesetzen verwand.

Wie vorangehend bereits gezeigt, sind Gesetze die einzige Möglichkeit, um zwischen kriminellem und legalem Verhalten zu unterscheiden. Aus diesem Grund stellt die Normgenese den Versuch dar, auf eine aktuelle Problemlage angemessen zu reagieren.

„Über das für maßgeblich erklärte Problemverständnis wird die Richtung der gesetzlichen Intervention festgelegt.“ (Walter 2001, S. 71)

Weil jede Gesellschaft ein eigenes Wertverständnis besitzt und jeweils unterschiedliche Werte unterschiedlich gewichtet werden, können sich auch die Gesetze nur in einigen wesentlichen Punkten gleichen. Da die Normgenese sowohl durch politische Zielvorstellungen als auch durch Systeminteressen beeinflusst wird, können sich hinter Normen unterschiedliche Absichten verbergen. Diese unterschiedlichen Interessen und Absichten bilden den Motor für die Schaffung von Normen.

„Die einen fragen, wie die Menschen vor dem Kontakt mit bestimmten Drogen bewahrt werden können, die anderen sehen das Hauptproblem in den „Kosten“ eines Kampfes gegen die Sucht.“ (Walter 2001, S. 70)

Beide Seiten wirken trotz unterschiedlicher Intentionen an der Schaffung einer Norm zum Verbot des Konsums illegaler Substanzen mit. Mit zunehmender Wertschätzung finanzieller Aspekte in der Justiz entstehen auch für die Normgenese Konflikte. Hier kann davon ausgegangen werden, dass Justizinteressen etwa auf der Mitte zwischen finanziellen Vorteilen und hehren Idealen angesiedelt sind.

„So dürften beispielsweise große Vollzugsanstalten von den Justizverwaltungen u.a. wegen ihres lukrativen Stellenkegels bevorzugt werden, obwohl kleinere Einheiten von einem Behandlungskonzept her besser geeignet wären.“ (Walter 2001, S. 77)

An diesen beiden Beispielen wird deutlich, dass Normen, um wirksam sein zu können, immer auch einen Adressaten benötigen.

„Normen die keinen Adressaten haben, sind sinnlos.“ (Lamnek 1999, S. 18)

Aus diesem Grund unterscheidet man zwischen denen, welche die Norm setzen (Normsender) und denen, an welche sich die Norm richtet (Normadressaten). Normsender greifen nicht in jedem Fall die plausibelste Theorie auf, um sie in der Folge in strafrechtliche Festschreibungen zu überführen. Vielmehr beruft man sich bei der Normgenese allzu oft auf die der eigenen Meinung am nächsten stehenden Theorien.

„Die Vorstellung es würden von Zeit zu Zeit „die neuen“ empirischen Erkenntnisse – gleichsam von selbst – in die Gesetzesfassungen und Interpretationen einfließen, ist jedoch naiv und trifft nicht zu. Wissenschaft wird vielmehr höchst selektiv und aus bestimmten Absichten heraus gesetzespolitisch eingesetzt, nutzbar gemacht.“ (Walter 2001, S. 166)

Nachdem eine Norm formuliert wurde, muss diese nun, soll sie strafrechtlich wirksam werden, in den Gesetzesapparat überführt und auch durchgesetzt werden. Dieser Prozess wird als Normimplementation beschrieben und soll im folgenden Abschnitt verdeutlicht werden.

3.3 Normimplementation

In diesem Unterkapitel wird mit Implementation der Normen, die Umsetzung der im Prozess der Normgenese festgeschriebenen Gesetze und die daraus resultierenden Schwierigkeiten beschrieben. Wenn also im Folgenden die Auswirkungen der Anwendung von Normen dargestellt werden, so sind diese in individuelle und generelle Wirkungen zu unterscheiden. Hinzu tritt die Differenzierung aus zeitlicher Perspektive. Hier kennt man die langfristigen und die kurzfristigen Auswirkungen. (vgl. Walter 2001, S. 275) Durch ergänzende Verwaltungsvorschriften können bestehende Normen ausgehöhlt oder auch unbrauchbar gemacht werden. Die tatsächliche Durchsetzung der Gesetze hängt demnach davon ab, inwiefern der Staat hierfür Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Durch Sonderdezernate, Bereitstellung von Geld, Sachkunde der Ermittler und umfangreiche Sachausstattung kann die Verfolgungsintensität und damit die Umsetzung einer bestimmten Norm in hohem Maße beeinflusst werden.

Herausgestellt wurde bereits, dass Normen im allgemeinen und strafrechtliche Normen im speziellen kulturspezifischen Relativitäten unterliegen. Auch möglich ist, dass durch eine Norm unterschiedliche Adressaten angesprochen werden und auf diese Weise zwei Personen für dieselbe Tat unterschiedlich hart bestraft werden. (vgl. Lamnek 1999, S. 34; Walter 2001, S. 277) Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass Normen miteinander konfligieren, dass also die Einhaltung der einen Norm den Bruch einer anderen bedingt. Normbruch muss in diesem Zusammenhang nicht in jedem Fall dysfunktional sein.

„Vielmehr kann ein bestimmtes, geringes Ausmaß an abweichendem Verhalten erforderlich sein, um via Sanktionierung desselben die Aufrechterhaltung und Durchsetzung der Normen bei der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder zu garantieren.“ (Lamnek 1999, S. 33)

Da neben der Vermeidung von Strafe selbst kaum positive Sanktionen im Strafrecht existieren, würde bei absoluter Konformität der Belohnungseffekt gänzlich seine Bedeutung verlieren und der Kontrasteffekt zwischen gut und böse würde verschwinden. Eine andere Theorie geht davon aus, dass die Geltung von Normen ruiniert wäre, würde das gesamte Dunkelfeld nicht entdeckter Straftaten aufgehellt. Wissenschaftler vermuten ein derartig großes Dunkelfeld, dass schnell der Eindruck entstehen könnte, Normen hätten ihre Gültigkeit verloren. Kriminalität würde als Konsequenz wahrscheinlicher. Weiterhin muss abweichendes Verhalten auch als Indikator für gesellschaftlichen Wandel verstanden werden.

„Die permanente Devianz indiziert, dass die bisherigen Verhaltenserwartungen einer Überprüfung bedürfen; die Norm wird in Frage gestellt.“ (Lamnek 1999, S. 41)

Zu bedenken ist, dass der Kriminelle durch seine Tat das soziale Gefüge der Gesellschaft nicht wirklich gefährdet, jedoch das Solidaritätsgefühl des Restes der Gesellschaft gestärkt wird und daraus Zusammenhalt gegen den Abweichler resultiert. Mit Abweichung, ist Lamnek zufolge, in jedem Fall und bei jeder Form der normativen Regulierung zu rechnen. Aus diesem Grund ist jegliche Form der Regulierung durch Normen besser, als komplett auf sie zu verzichten. Grundsätzlich sollte die Einhaltung bestehender Normen durch den Gesetzgeber immer auch eingefordert werden können. Eine Verhaltensforderung, die nicht gefordert werden kann, ist widersprüchlich und würde schnell an Gültigkeit verlieren. Ein potentieller Normbrecher, der weiß, dass sein Verhalten nicht sanktioniert wird, begeht die Tat auch bei höchster Strafandrohung. (vgl. Lösel/Bliesener 2003, S. 20; Walter 2001, S. 21) Nicht überschätzt werden darf jedoch die Wirkung strafrechtlicher Sanktionierung.

„Die Sanktionen wirken entgegen verbreiteter Ansicht nicht als Verstärker für straffreies Verhalten.“ (Walter 2001, S. 280)

Ganz im Gegenteil lassen neuere Studien sogar einen Anstieg der Rückfallquoten bei besonders eingriffsintensiven Maßnahmen erkennen.

„Wir wissen, dass lange Freiheitsstrafen den Staat, die Gesellschaft, die Opfer, die Gefangenen und deren Angehörige vielfältig belasten und Unmenschlichkeit fördern. Die Bemühungen des Vollzuges, diesen unbeabsichtigten Nebenfolgen entgegenzuwirken, verbrauchen sich regelmäßig darin, die nachteiligen Folgen des Freiheitsentzuges zu kompensieren, also die Begleitschäden des eigenen Systems zu reparieren“ (Viehmann 1996, S. 238)

Normen werden durch den Normsender so angelegt, dass sie auf Dauerhaftigkeit ausgerichtet sind, um auf diese Weise Handlungssicherheit beim Adressaten zu erzeugen. Würden sich Normen ständig wandeln, ginge schnell der Überblick verloren, Unsicherheit wäre die Konsequenz. Gerade in dieser, auf Dauerhaftigkeit ausgerichteten Struktur liegt jedoch Konfliktpotential. „Zunehmende Variation der Situationen erfordert die Bewältigung derselben, wobei dies aber unter möglichst geringer Modifikation der Norm erreicht wird.“

(Lamnek 1999, S. 38)

Schnell verlieren Normen in diesem Fall an Wirkkraft, weil eine andere Situation gelöst werden soll, als jene für die sie einst formuliert wurden. Aus diesem Grund bilden Normen zumeist nur einen gesellschaftlichen Minimalkonsens ab, der dafür aber zeitlich relativ stabil ist. Dieser Minimalkonsens findet in Form von Gesetzen nicht mit gleich hoher Wahrscheinlichkeit bei jedem Anwendung. Vielmehr gibt es relativ starke Selektionsprozesse während der Strafverfolgung und auch die Möglichkeit, strafrechtlich registriert zu werden, ist nicht bei jedem Mitglied der Gesellschaft gleich groß. Diesem Aspekt widmet sich der folgende Teil der Arbeit.

3.4 Registrierungswahrscheinlichkeit und Selektionsprozesse während der Strafverfolgung

Deutlich geworden ist bereits, dass nicht die Handlung diejenige ist, welche eine Person kriminalisiert, sondern aus gesellschaftlicher Sicht sind es Gesetze und deren Kontrolleure, welche diese Zuschreibung vornehmen. Ein erster großer Selektionsprozess besteht darin, dass aus dem Dunkelfeld nicht jede Tat bekannt wird, bzw. die Aufmerksamkeit der Kontrollinstanzen auf sich zieht. Zu dem Teil der bekannt gewordenen Vergehen gibt es nicht in jedem Fall auch einen Tatverdächtigen. Von dem begrenzten Verdächtigenkreis wird nur ein kleinerer Teil auch wirklich angeklagt und ein noch geringerer Teil wird letztlich wirklich verurteilt. (vgl. Lüdemann/Ohlemacher 2002, S. 13; Kastner/Sessar 2001, S.38)

Verfahrenseinstellungen sind deliktspezifisch und werden häufiger bei leichteren Vergehen angewendet. Weiterhin entscheidet das soziale Erleben von Delikten über die Anzeigehäufigkeit. Wenn ein Vergehen nicht bemerkt wird, kann es nicht angezeigt und somit auch kein Täter ermittelt werden. Somit unterliegen Verstöße in öffentlichen sozialen Räumen eher der Wahrscheinlichkeit erkannt und gemeldet zu werden, als dies zum Beispiel bei Umweltvergehen der Fall ist. Bei Kindern unter 14 Jahren werden Vergehen nicht durch die Polizei weiterverfolgt. Somit bleiben sie vorerst straffrei. Denkbar ist allerdings, dass Straftaten die zu einem früheren Zeitpunkt begangen wurden bei einer Strafmaßzumessung in späteren Jahren durch die Justiz erschwerend berücksichtigt werden. Es kommt somit zu einer Nachsanktionierung, da dem Täter durch frühere Auffälligkeiten schlechtere Bewährungschancen eingeräumt werden. (vgl. Walter 2001, S. 221) Mit zunehmendem Alter muss der Täter mit steigender Schärfe im Strafmaß rechnen. Aus diesem Grund entwickelt sich die eigene Kosten-Nutzen Rechnung zu seinen Ungunsten und er wird für die Zukunft die Begehung von Straftaten eher einstellen. Selektion entsteht aber auch aus dem sozialen Status einer Person heraus oder ist in der ethnischen Zugehörigkeit begründet. So werden Ausländer beispielsweise stärker durch Kaufhausdetektive kontrolliert. Durch diese vermehrten Kontrollen steigt deren Entdeckungsrisiko. Wird im Rahmen einer Kontrolle nun ein Ausländer des Diebstahls überführt, manifestiert sich das Vorurteil. (vgl. Geißler 2000, S. 20-27; Walter/Trautmann 2003, S. 67) Diese vorurteilbehaftete Verfahrensweise lässt sich ähnlich auch auf Angehörige unterer sozialer Schichten übertragen, die gleichsam aufmerksamer beobachtet werden und somit auch häufiger auffallen. (vgl. Villmow-Feldkamp 1976, S. 19f)

Oftmals wird die Einhaltung von Gesetzen und damit einhergehend die Registrierungswahrscheinlichkeit durch relativ banale Dinge gesteuert. So entscheidet zum Beispiel die Anzahl von Geschwindigkeitsmeßgeräten über die Kontrollintensität auf den örtlichen Straßen. Dieses Beispiel gilt andererseits auch in umgekehrter Richtung. So zieht ein höheres Polizeiaufkommen auch einen Anstieg der registrierten Kriminalität nach sich, da mehr Polizisten auch mehr ermitteln können. Es ist nachvollziehbar, dass auf diese Weise verstärkt Delikte zu Tage befördert werden, deren Registrierung mit weniger Beamten nicht möglich gewesen wäre.

„Ein Beispiel dieser Art lieferte der Kriminalitätsanstieg im Landkreis Lüchow-Dannenberg zu einer Zeit, als dort die Polizeikräfte wegen der geplanten atomaren Wiederaufbereitungsanlage – und erwarteter Proteste – erheblich verstärkt worden waren. Der recht plötzlichen Verlegung des Standorts nach Bayern konnte die Polizei nicht im gleichen Tempo folgen, sodass sie mit einem Male überrepräsentiert war. Das Problem wurde mit der zunehmenden Verfolgung von Verstößen der Landbevölkerung „gelöst““ (Walter 2001, S. 80)

Erkennbar ist hieran, dass sich die Polizei ihre Legitimation und Beschäftigung sucht und damit auch die Entdeckungswahrscheinlichkeit bei Straftätern steigt. Auch die Rolle der Medien ist wesentlich und darf nicht unterschätzt werden. Sie reflektieren keinesfalls lediglich die Gesellschaft, sondern wirken in hohem Maße meinungsbildend. (vgl. Lukesch 2002; Kepplinger 1989) Auf diese Weise sensibilisieren sie die Bevölkerung für ein bestimmtes Problem. Dieses wird in der Folge häufiger angezeigt, weil die Anzeigebereitschaft und die Aufmerksamkeit für die spezifische Problemstellung zugenommen haben. Ein Normbrecher, der diese gesellschaftlich geächteten Vergehen verübt, hat deshalb auch mit einem erhöhten Entdeckungsrisiko zu rechnen. (vgl. Lüdemann/Ohlemacher 2002, S. 16)

Diese Darstellungen lassen die ungleiche Registrierungswahrscheinlichkeit erkennen und werden im weiteren Verlauf der Arbeit ständig ergänzt. Sie machen jedoch bereits jetzt deutlich, dass Täter, die durch justiziale Ermittlungsarbeit ins Hellfeld überführt werden, keinesfalls ein repräsentatives Abbild der Gesamtpopulation aller Kriminellen darstellen können.

Nachdem in diesem Kapitel die für diese Arbeit wichtige Definition kriminellen Verhaltens angestellt wurde, hat im Anschluss eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff der Norm. Der Absatz der Normimplementation stellte die Erschwernisse und Konflikte bei der Umsetzung von Normen genauer dar und machte zusammen mit den Ausführungen, zum Thema der Selektionseffekte bei der Strafverfolgung deutlich, welche Determinanten, sowohl die Durchsetzung als auch die Ermittlungstätigkeit staatlicher Kontrollorgane beeinflussen. Das folgende vierte Kapitel wendet sich nun dem Phänomen der Jugendkriminalität zu.

4. Jugendkriminalität

Die Kategorie der Jugendkriminalität ist sehr weit gefasst und daher nur schwer zu beschreiben. Sie beinhaltet Verstöße, entsprechend der Definition von kriminellem Verhalten im dritten Kapitel, in den Altersgruppen von 14 bis 21 Jahren. Häufig wird auch der Bereich der Kinderkriminalität, also abweichendes Verhalten unter 14 Jahren, hierin subsumiert. Heute sind sich viele Wissenschaftler einig, dass dem Phänomen der Jugendkriminalität lediglich ein episodenhafter Charakter zu teil wird. Mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter und hiermit einhergehender erhöhter gesellschaftlicher Einbindung und Verantwortung nimmt die Straftatbelastung zusehends ab. (vgl. Bundeskriminalamt 2004, S. 51; Kastner/Sessar 2001, S. 45; Palmer 2000, S. 119; Lösel/Bliesener 2003, S. 9) Das passagere Auftreten von Jugendkriminalität lässt sich durch Längsschnittstudien belegen. Sie sind jedoch nur begrenzt vorhanden, da sie zeitlich und organisatorisch sehr aufwendig sind. (vgl. Kastner/Sessar 2001, S. 45f) Da Jugendliche ihre Taten nicht verschleiern und zumeist in der Öffentlichkeit begehen, kommt es häufig zu einer Überbewertung des wahren Potentials jugendlicher Verfehlungen. (vgl. Walter 2001, S. 33) Dieser Umstand wiegt doppelt schwer, als durch die mediale Aufbereitung zumeist kein repräsentatives Abbild der Kriminalität Jugendlicher dargestellt wird. Hier überwiegt die Ausführung spektakulärer Einzelfälle, die zwar den Absatz der Medien steigern, aber ein komplett falsches Bild der tatsächlichen Straftatbelastung Jugendlicher malen. (vgl. Walter 2001, S. 172) Mediale Kriminalität kann also als Verzerrungsfaktor in Bezug auf die Art und Häufigkeit krimineller Handlungen im Jugendalter oder als Spiegel und tendenzieller Verstärker latenter gesellschaftlicher Annahmen verstanden werden. Gewalt wird hier deutlich überbetont, obwohl sie nur einen sehr geringen Teil der eigentlichen Jugendkriminalität ausmacht, wie im weiteren Verlauf der Arbeit noch gezeigt werden wird. Die überwiegende Mehrheit der Vergehen sind Bagatelldelikte. (vgl. Palmer 2000, S. 119)

Die registrierte und in Form der PKS veröffentlichte Kriminalitätsbelastung unterliegt mithin Melde- und Registrierinteressen der Geschädigten. Nur bei Vorlage einer Anzeige wegen Diebstahl kann heute beispielsweise mit der Regulierung des entstandenen Schadens durch die Versicherung gerechnet werden. (vgl. Lüdemann/Ohlemacher 2002; S. 14; Raithel/Mansel 2001, S. 12) Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch wirtschaftliche Interessen die amtlichen Kriminalstatistiken beeinflussen können.

Die Dunkelfeldforschung unterliegt, wie die beiden voran beschriebenen Kriminalitätsdarstellungen, ebenfalls Ungenauigkeiten. Da hier vorrangig Täter- und Opferbefragungen verwand werden, kann die Art der Fragestellung die Antwort maßgeblich mitbestimmen. Ebenfalls ist davon auszugehen, dass auch bei anonymisierten Befragungen eher leichtere Delikte eingeräumt werden, während Kapitalverbrechen wie Mord oder Raub vermutlich verschwiegen werden dürften. (vgl. Raithel/Mansel 2003, S. 10)

Um Jugendkriminalität als soziale Erscheinung verstehen zu können, ist es notwendig, nicht nur amtliche Zahlen zu interpretieren, sondern vielmehr deren Ursachen zu ergründen und zu verändern. Viele Delinquenztheorien setzen diesem Anspruch gemäß dann auch im Jugendalter an, was den Schluss nahe legt, dass diese Phase die Ursache allen Übels sei. Fakt ist jedoch obwohl Jugend als eigenständiger und mit besonderen Herausforderungen behafteter Lebensabschnitt verstanden wird, gibt es keine gesetzlichen jugendspezifischen Regelungen. So erfüllt das unter Jugendlichen typische „Abzocken“ den Tatbestand der räuberischen Erpressung, obwohl der Gesetzgeber sich seinerzeit sicherlich etwas anderes darunter vorgestellt hatte. (vgl. Walter 2001, S. 26) Vielleicht können diese gesetzlichen Unschärfen als Ursache für die so genannten jugendlichen Intensivtäter verstanden werden. Man geht davon aus, dass eine Gruppe von weniger als 5% der jugendlichen Täter für über 30% der bekannt gewordenen Verstöße verantwortlich ist. (vgl. Dörmann 2004, S. 308; Palmer 2000, S. 119; Kastner/Sessar 2001, S. 47; Walter 2003, S. 273) Gerade bei dieser speziellen Gruppe ist die Gefahr von Verstärkerkreisläufen gegeben. Da sie häufig aus sozial belasteten Familien stammen, geraten sie auch leichter ins Hellfeld. Bei weiteren Straftaten sehen die Richter nun intensiveren Handlungsbedarf und es kommt zu schärferen Sanktionen. Hiermit einhergehend nimmt die Überwachung der Jugendlichen durch die Kontrolleure zu und es werden weitere Abweichungen schneller entdeckt, als dies bei anderen Jugendlichen der Fall wäre. Sie treten also wiederum strafrechtlich in Erscheinung und der Kreis schließt sich.

Den detaillierten Darstellungen der Ursache von Jugendkriminalität werden im Folgenden eine kurze Betrachtung der Phänomenologie und der aktuellen Jugendkriminalität sowie eine Veranschaulichung der deliktspezifischen Unterschiede zwischen Erwachsenen und Jugendlichen vorangestellt. Dies ist insofern notwendig, als nur auf diese Weise eine ausreichende Spezifizierung des Jugendkriminalitätsbegriffs erreicht werden kann, der es erlaubt, jugendlichen Normbruch als eigenständiges, von Erwachsenenkriminalität losgelöstes, Phänomen zu verstehen.

4.1 Phänomenologische Entwicklung der Jugendkriminalität

Jugendkriminalrechtliche Regelungen sind seit der Reichsgründung 1871 dokumentiert. Nach der Jahrhundertwende entwickelte sich um 1908 eine Reformbewegung deren Neuerungen jedoch erst nach Ende des ersten Weltkriegs umgesetzt werden konnten. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Verabschiedung des Jugendgerichtsgesetz (JGG) 1923. Hierin wurde erstmalig der Erziehungsgedanke als Bemessungsgrundlage der Strafe formuliert. Denn nicht Sühne der gesellschaftlichen Schuld, sondern Erziehung ist Absicht der gesetzlichen Intervention im Jugendstrafrecht. (vgl. Heinz 1996, S. 101; Walter 2001, S. 38; Walter 1995, S. 25; Rössner 1996, S. 344-348) Dieser Maßgabe folgend, entwickelten sich zwei Richtungen der Strafmaßermittlung. Während die eine Seite Strafe eher abmildern wollte, um dem Erziehungsanspruch zu entsprechen, sah die zweite Richtung eine „harte Hand“ als bestes und nachhaltigstes Erziehungsmittel. Einigkeit herrschte auf beiden Seiten darüber, dass Erziehung nicht Verharmlosung der Tat oder Schonung des Täters bedeuten dürfte. In der Zeit des zweiten Weltkrieges erfuhr dieses Gesetz verschiedenartigste Änderungen, etwa durch die Aufnahme „völkisch-biologischer“ Differenzierungen oder durch den disziplinierenden Jugendarrest.

„Der frühere Grundsatz, dass der Erziehung - soweit möglich – ein Vorrang vor der Strafe einzuräumen sei (s. § 6 JGG von 1923), fand keine Billigung.“

(Walter 2001, S. 41)

Erst 1953 wurde durch die Bundesrepublik ein vom nationalsozialistischen Gedankengut befreites JGG erlassen. Innovationen blieben in diesem Gesetz weitestgehend aus. Vielmehr orientierte man sich bei der Gesetzfindung an europäischen Nachbarländern und knüpfte an die Inhalte des Gesetzes aus Zeiten der Weimarer Republik an. In dieser Form blieb das Gesetz dann vorerst unverändert, bevor es 1990 zur Verabschiedung des 1. JGG – Änderungsgesetz (1. JGGÄndG) kam. Durch dessen relativ offenen Sanktionskatalog konnten neue, nicht ausdrücklich genannte, Weisungen ausprobiert werden. Es entstanden Auflagen wie die Teilnahme an sozialen Trainingskursen oder es kam zu vorzeitigen Verfahrenseinstellungen im Rahmen der Diversion. Letzteres war der Vorbeugung unnötiger Dramatisierungen von Kleinkriminalität geschuldet. Ferner wurden ambulante Maßnahmen weiter ausgebaut um freiheitsentziehende Sanktionen zurückzudrängen. (vgl. Dünkel 1995, S. 92; Heinz 1996, S. 108f) Als wesentliche Neuerung kann die Einführung des Täter-Opfer-Ausgleich verstanden werden.

„Mit „Täter-Opfer-Ausgleich“ lassen sich Bemühungen bezeichnen, die nach einer Straftat zwischen Tätern und Geschädigten bestehenden Probleme, Belastungen und Konflikte zu bereinigen. Dieser Tatfolgenausgleich wird von einem Vermittler begleitet, der Einzelgespräche mit den Betroffenen führt, Täter und Opfer zu einer persönlichen Begegnung anregt und solche Ausgleichsgespräche moderiert.“ (Schreckling 1995, S. 235)

Jugendkriminalität wird somit als „normales“ Ereignis verstanden, für welches der Täter dem Opfer gegenüber die Verantwortung zu übernehmen hat. Hierin erschöpften sich bereits die wesentlichen Änderungen, obwohl weitere fast traditionelle Forderungen auf ihre Umsetzung warteten. Diese sollten in einem zweiten Änderungsgesetz Aufnahme finden. Die Wiedervereinigung und die mit ihr einhergehenden Umbruchsituationen führten zu einem Anstieg der registrierten Kriminalität. Deren mediale Aufbereitung und die daraus resultierende wachsende Verunsicherung der Bevölkerung ließen weitere Reformen, hinsichtlich eines liberaleren Jugendgerichtgesetzes, vorerst scheitern. Daher ist das 1. JGGÄndG in seiner damaligen Fassung auch heute noch aktuell, obwohl derzeit wieder an der Umsetzung des 2. JGGÄndG gearbeitet wird. (vgl. Walter 2001, S. 37 – 47)

4.2 Aktuelle Jugendkriminalität und Sanktionsentwicklung

Die PKS zeigt einen Anstieg der tatverdächtigen Jugendlichen in den Jahren von 1993 bis 1997 um fast 30%. Da gleiche Steigerungsraten auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten waren, scheint es sich nicht um ein regionales, auf Deutschland begrenztes, Problem zu handeln. Da Jugendliche in der Öffentlichkeit agieren und die Straftaten eher spontan begehen, werden sie auch einfacher entdeckt. Weiterhin tauchen in der PKS keine Straßenverkehrsdelikte auf, was die Belastungsziffer nochmals zu Ungunsten der Jugendlichen beeinflusst. (vgl. Dörmann 2004, S. 307) Aktuell weist diese Statistik eine Zunahme der tatverdächtigen Jugendlichen um 4% bei Körperverletzung und um 4,7% bei Leistungserschleichung auf. Insgesamt hat die Anzahl der strafrechtlich in Erscheinung getretenen Jugendlichen um 1,3% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum abgenommen. Die am häufigsten verübte strafrechtliche Handlung stellte bei den Jugendlichen erneut der Ladendiebstahl da. Auf diesen entfielen mehr als ein Drittel aller Straftaten. (vgl. Bundeskriminalamt 2004, S. 19f) Die zwar leicht rückläufigen, aber dennoch sehr hohen Jugendkriminalitätsraten, werden von immer mehr Autoren durch eine zunehmende Entsolidarisierung innerhalb der Gesellschaft erklärt. Durch steigende Scheidungsraten erhöht sich die Zahl der „broken homes“.

„Dies kann nicht ohne Auswirkungen auf die Jugenddelinquenz bleiben, da nachgewiesenermaßen durch das erlittene Verlusttrauma und die Unvollständigkeit der Erziehungsträger die Gefahren für die soziale Entwicklung des jungen Menschen zunehmen.“ (Palmer 2000, S. 123)

Andere Autoren legen den Steigerungen ein verändertes, durch Medien beeinflusstes, Anzeigeverhalten zugrunde. Da 90% der Polizeiarbeit auf Anzeigen und nicht auf proaktive Ermittlungsarbeit zurückgeht, reagiert die Polizei also lediglich auf die ihr zugetragenen Fälle. Sind hier in zunehmendem Maße Jugendliche verwickelt, könnte dies die Steigerungen in der PKS, zumindest zu einem Teil, erklären. (vgl. Mansel/Raithel 2003, S. 17) Einigkeit herrscht in Bezug darauf, dass monokausale Erklärungsansätze dieses Problem nicht hinreichend eingrenzen können.

Viele Jugendliche fassen beispielsweise die Bewährung als einen Freispruch zweiter Klasse auf und verkennen auf diese Weise den Ernst der Situation vollkommen. Eine stärkere Sensibilisierung der Jugendlichen für die zur Anwendung kommenden Rechtsmittel wäre hier wünschenswert. Des Weiteren wird immer wieder gefordert, den zeitlichen Abstand zwischen Tat und staatlicher Reaktion möglichst klein zu halten. Dieser Forderung kann jedoch nur in den wenigsten aller Fälle entsprochen werden. (vgl. Palmer 2000, S. 153f) Diesen Umstand teilen die Jugendlichen, aufgrund der Überlastung deutscher Gerichte, auch mit den Erwachsenen Tatverdächtigen. Klare Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen lassen sich jedoch in Bezug auf die häufigsten Deliktarten feststellen.

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Ende der Leseprobe aus 148 Seiten

Details

Titel
Kriminalätiologische Darstellung aktueller Jugendkriminalität. Probleme der Kriminalitätswahrnehmung und der Hell- Dunkelfeldforschung
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
148
Katalognummer
V48468
ISBN (eBook)
9783638451741
Dateigröße
1034 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kriminalätiologische, Darstellung, Jugendkriminalität, Probleme, Kriminalitätswahrnehmung, Hell-, Dunkelfeldforschung
Arbeit zitieren
Sebastian Schlör (Autor:in), 2005, Kriminalätiologische Darstellung aktueller Jugendkriminalität. Probleme der Kriminalitätswahrnehmung und der Hell- Dunkelfeldforschung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48468

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Titel: Kriminalätiologische Darstellung aktueller Jugendkriminalität. Probleme der Kriminalitätswahrnehmung und der Hell- Dunkelfeldforschung



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