Arthur Schopenhauers: Die Welt als Wille und Vorstellung erster Band - Philosophie zwischen Pessimismus und Erlösung ohne Gott


Magisterarbeit, 2005

137 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

I. Vorwort

II. Einleitung

III. Pessimismus - Besseres Bewusstsein - Mitleid und Heilslehre – Grundzüge der Philosophie Schopenhauers

IV. Darstellung der Philosophie Schopenhauers – 'Die Welt als Wille und Vorstellung erster Band'
IV.1. Erkenntnistheorie
IV.1.1. Kant und die koperkanische Wende – das ewig dunkle Ding an sich
IV.1.2. Die Welt ist meine Vorstellung – Schopenhauers spezifischer Entwurf einer Erkenntnistheorie
IV.1.2.1. Subjekt-Objekt-Beziehung oder die Abgrenzung von absoluten Idealismus und Realismus
IV.1.2.2. Intuitive und abstrakte Vorstellung – Erörterung und Beurteilung der
Leistungen des Verstandes und der Vernunft
IV.1.2.2.1. Der Verstand
IV.1.2.3. Wissenschaft– Geltung und Grenzen der Erkenntnis am Leitfaden des
Satzes vom Grunde
IV.2. Metaphysik
IV.2.1. Die Suche nach dem Was der Welt – Schopenhauers Grenzgang im
Niemandsland
IV.2.2. Die Entdeckung des Selbstbewusstseins –Schopenhauer gräbt sich einen
Tunnel zum Ding an sich
IV.2.3. Identität von Leib und Wille und der Analogieschluss – Vom eigenen
Leib zur Gesamtheit der Erscheinungen
IV.2.4. Konsequenz – Metaphysik der Natur und die Stufen der Objektivation
des Willens
IV.2.5. Die Tragweite der metaphysischen Bestimmung des Wesens als Wille -
oder: die sich ergänzenden Ebenen zur Bestätigung der These, alles Leben ist Leiden
IV.2.5.1. Die Gesamtheit des Seins betreffen
IV.2.5.2. Den Menschen betreffend
IV.2.6. Die Hoffnungslosigkeit der Schopenhauerschen Metaphysik und die
Frage wo das Rettende erwächst
IV.3. Ästhetik
IV.3.1. Erkenntniskomplettierung
IV.3.1.1. Das entindividualisierte Subjekt der reinen Erkenntnis
IV.3.1.2. Das Objekt der Kunst – Die platonischen Ideen als die Stufen der
Objektivation des Willens
IV.3.2. Schopenhauers Bild des Kunstwerkes – Der Genius und die
Wiederholung der durch die reine Anschauung aufgefassten ewigen Ideen
IV.3.3. Schopenhauers Bild des Künstlers - Die Tragik der Schopenhauerschen
Kunstkonzeption und die Frage nach dem Ernst der Dinge
IV.4. Ethik
IV.4.1. Einschränkung des Geltungsbereiches einer Willensethik– Die Tugend
wird nicht gelehrt sowenig wie der Genius
IV.4.2. Die Freiheit des Willens und die Notwendigkeit der Erscheinungswelt –
Intellegibler und empirischer Charakter
IV.4.3. Die Bejahung des Willens und der daraus resultierende
Ethikentwurf
IV.4.3.1. Egoismus als unmittelbarer Ausdruck des menschlichen Wesens
IV.4.3.2. Die hierarchische Struktur im Schopenhauerschen Moralverständnis
IV.4.3.3.1. Gerechtigkeit
IV.4.3.3.2. Mitleid
IV.5. Schopenhauers Heilslehre
IV.5.1. Der Asket und die Verneinung des Willens als eigentlich freiheitlicher Akt
IV.5.2. Die Veränderung der Erkenntnisart und der Widerspruch zwischen Willensverneinung und leiblicher Existenz
IV.6. Erleuchtung – Gnadenwirkung und der Übergang ins Nichts

V. Versuch einer systematischen Darstellung der problematischen Argumentationsschritte in 'Die Welt als Wille und Vorstellung erster Band' anhand der Rezeptionsgeschichte
V.1. Argumentationsverlauf unkritisch-zustimmenden Interpreten oder –
Gehen Schopenhauer und Kant Hand in Hand?
V.1.1. Unmittelbare Verbundenheit – Kant und Schopenhauer gehen Hand in
Hand
V.1.2. Metaphysik – Der Alleinherrscher Wille ist das Ding an sich
V.2. Argumentationsverlauf kritisch-zustimmender Interpreten
V.2.1. Die Eigenheit der Schopenhauerschen Philosophie – Schopenhauers
kritisches Verhältnis zur kantischen Philosophie
V.2.2. Die veränderte Verstehensart des Willens und die Annäherung an die
Ausgangsfrage der Schopenhauerschen Philosophie
V.3. Zusammenfassung der zustimmenden Interpretationsentwürfe
V.4. Argumentationsverlauf der unkritisch-ablehnenden
Interpretationsentwürfe
V.4.1. Erkenntnistheorie und Metaphysik – Ein Gewirr von Widersprüchen
V.4.1.1. Der Grundwiderspruch – Das Ding an sich ist Wille
V.4.2. Spezifische Einwände
V.4.2.1. Erkenntnistheorie
V.4.2.2. Willensmetaphysik
V.4.2.2.1. Metaphysik des Grundes und theoretischer Egoismus –
Schopenhauer widerspricht seinen eigenen Prämissen
V.4.2.2.2. Zellscher Zirkel – Widerspruch zwischen transzendentaler und
naturwissenschaftlicher Sichtweise
V.4.3. Ästhetik und Willensmetaphysik – Der Widerspruch zwischen
Ideenlehre und Ding an sich
V.4.4. Ethik
V.4.4.1. Anhängsel der Schopenhauerschen Philosophie
V.4.4.2. Schopenhauers Immoralität
V.5. Argumentationsverlauf der kritisch-ablehnenden
Interpretationsentwürfe
V.5.1. Die Entdeckung des Willens – Schopenhauers eigentlicher Verdienst
V.5.2. Der Wille und das Ding an sich
V.6. Die Einwände gegen die Heilslehre
V.6.2. Contradictio in adjecto – Der real-existierende Heilige
V.6.3. Widerspruch zwischen individueller Willensverneinung
und dem Fortbestehen der Welt
V.7. Zusammenfassung der Rezeptionsgeschichte zu Schopenhauer – Die
drei Hauptschwierigkeiten von 'Die Welt als Wille und Vorstellung erster
Band'
V.7.1. Die Ausgangsfrage
V.7.2. Ding an sich – Kant und Schopenhauer
V.7.3. Die Willensmetaphysik – Hauptteil der Schopenhauerschen
Philosophie
V.8. Der soteriologische Interpretationsentwurf
V.8.1. Grundlegender Anspruch
V.8.2. Erkenntnistheorie – oder die erste Krise der Philosophie
V.8.3. Metaphysik – oder die zweite Krise der Philosophie Schopenhauers
V.8.4. Ästhetik – oder die dritte Krise der Philosophie Schopenhauers
V.8.5. Heilslehre – oder die vierte Krise der Philosophie Schopenhauers
V.8.6. Zusammenfassung des soteriologischen Standpunktes
V.9 Kunst als die eigentlich-metaphysische Tätigkeit des Menschen
V.1.9. Die Unhaltbarkeit der absoluten Willensverneinung
V.9.2. Philosophie und Kunst – Charakterisierung des Blickes in das Wesen
der Welt
V.9..2.1. Vernünftige Metaphysik – oder die plausibel gemachte Vermutung
V.9..2.2. Die künstlerische Metaphysik – oder der wahre unmittelbare
Einblick in das Wesen der Welt
V.9.3. Alles ist schön
V.9.4. Jeder ein Ästhet

VI. Schluss
VI.1. Rückblick
VI.1.1. Der soteriologisch fundierte Lösungsvorschlag
VI.1.2. Der ästhetisch fundierte Lösungsvorschlag
VI.2. Ausblick – Pessimismus und Erlösung ohne Gott – oder das

soteriologische Potenzial der Kunst

I. Vorwort

Warum wollt ihr stets

Hinter die Kulissen sehn!

Sie sind nicht bemalt.

Über die Dinge

Spurlos hinweg sich schmiegen –

Weisheit der Schatten

Es ist leider so:

Auch was dir zu Herzen spricht,

muß erst durch den Kopf.

Und wenn auch dein Geist

Die Dinge durchdringt, dein Leib

muß dran vorbeigehn.

Blick in den Brunnen?

Nur zu denn, dein Spiegelbild

Verdeckt die Tiefe.

Nach einem Schachspiel.

Auch die Siegerfiguren

werden umgestürzt.

Allzulang lachen

kann man nicht, aber weinen,

das geht viel länger.[1]

II. Einleitung

Die Idee zu dieser Arbeit ergab sich aus dem Spannungsverhältnis von Kunst und Erlösung in Schopenhauers Denken. Die Aufarbeitung von 'Die Welt als Wille und Vorstellung erster Band', genauso wie die Aufarbeitung der verschiedenen Interpretationsentwürfe stellt somit den Versuch dar, die wesentlichen Entwicklungslinien der Rezeption des Schopenhauerschen Oeuvres wiederzugeben. Erst damit kann die Überlegung, die sich mit der spezifischen Problematik der Konkretisierung von Erlösung beschäftigt, einer fruchtbaren Lösung entgegengeführt werden. In diesem Sinne ist die hier vorliegende Arbeit lediglich ein Annäherungsversuch. Durch die Aufarbeitung der verschiedensten Interpretationsentwürfe, ebenso wie durch die direkte Auseinandersetzung mit Schopenhauer, soll überprüft werden, auf welcher Grundlage es zu einem Verständnis kommen kann, welches in der Kunst bzw. in der Fähigkeit des ästhetischen Betrachtens den wesentlichen, den metaphysischen Kern Schopenhauerschen Philosophierens erkennt. Auf die Konsequenz dieser Annahme, d.h. Kunst als die einzig relevante Realisationsmöglichkeit von Leidbefreiung zu erkennen, wird im abschließenden Teil lediglich verwiesen. Damit muss die vorliegende Arbeit vielmehr als propädeutische Maßnahme verstanden werden, die es ermöglicht philosophische Texte, die sich direkt der Grundlegung von Erlösung im Kunstgeschehen bedienen, kritisch aufzuarbeiten. Mit diesem Charakterisierungsversuch der Grundintention vorliegender Arbeit einher geht die Voraussetzung, dass sowohl die Frage nach Erlösung als auch die Bedeutung des Schopenhauerschen Denkens bezüglich dieses Fragens als relevant erkannt wird. Sollte dem nicht so sein, so wird auch dies zur Aufgabe dieser Untersuchung.

Ziel dieser Arbeit ist es, die verschiedenen Interpretationsvorschläge hinsichtlich ihrer inneren, argumentativen Vorgehensweise darzustellen. Voraussetzung dafür ist die ausführliche Rekonstruktion des Primärtextes, d.h. die detaillierte Auseinandersetzung mit 'Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Band'. Erst dies ermöglicht es, sich auf kritische Art und Weise mit den verschiedensten Interpretationsentwürfen auseinander zu setzen. Dabei wird deutlich werden, dass sich trotz nachgewiesenen Konversionsgeschehens (sowohl in der Rezeptionsgeschichte der ablehnenden als auch der zustimmenden Interpreten) eine Stagnation im Verständnis der Philosophie Schopenhauers eingestellt hat. Erst mit Malters soteriologischer Interpretation ist es gelungen, aus dem starren Verstehensmuster auszubrechen. Alleine durch die Leseart, welche die Beantwortung der Frage nach Leidbefreiung als den wesentlichen Ausgangspunkt Schopenhauerschen Denkens annimmt, kann die organische Einheit von 'Band, 1 Die Welt als Wille und Vorstellung' plausibel gemacht werden. Der Aporie, die sich durch den Heiligen als real-existierende Willensverneinung genauso darstellen wird wie durch den unvereinbaren Widerspruch zwischen der individuellen Willensverneinung und dem Weiterbestehen der Welt ist hingegen auch durch ein soteriologisches Verständnis nicht auszuweichen. Malters ganzes Bemühen zielt im eigentlichen darauf ab, die Philosophie Schopenhauers, zumindest bis zu diesem Punkt, vom Vorwurf der Irrationalität zu befreien. In seiner letzten Konsequenz hingegen - und dies gesteht sich Malter durchaus selbst ein - entzieht sich Schopenhauers philosophische Reflexion dem vernünftigen Denken.

Der Teil, der sich im Verlauf dieser Arbeit unmittelbar an den Rekonstruktionsversuch der soteriologischen Interpretation anschließt, ist die versuchte Aufarbeitung einer Verstehensweise, die im ersten Band von Schopenhauers 'Die Welt als Wille und Vorstellung' im wesentlichen die begrifflich-abstrakte, mittelbare Beschreibung einer unmittelbaren ästhetischen Gewissheit erkannte. Repräsentativ für diese Interpretationsrichtung war Pothasts Charakterisierung der eigentlich-metaphysischen Tätigkeit. Dabei wird unter dem Aspekt der Allgemeinheit zuerst das Verhältnis Kunst/Philosophie in den Fokus der Betrachtungen treten. Erst danach, d.h. im Kontext von 'Die Welt als Wille und Vorstellung erster Band', konkretisiert sich dieses zur spezifischen Verhältnismäßigkeit von Ästhetik und Heilslehre.

Wie es zu zeigen gilt, weisen sowohl die soteriologische Interpretation als auch diejenige, die im ästhetischen Geschehen den metaphysischen Kern Schopenhauerschen Denkens wiederzuerkennen glaubt, eine direkte Verbundenheit zum Problem des Heiligen auf. Beide Verstehensweisen entwerfen direkte Problemlösungsvorschläge auf die sich im Phänomen der absoluten Willensverneinung darstellenden Widersprüchlichkeiten und sind sich damit hinsichtlich ihres interpretativen Ausgangspunktes sehr nahe. Wenngleich sich die jeweils erbrachten Lösungsvorschläge deutlich voneinander unterscheiden, erkennen beide dennoch im soteriologischen Aspekt den wesentlichen Kern der philosophischen Bemühungen Schopenhauers.

III. Pessimismus - Besseres Bewusstsein - Mitleid und Heilslehre – Grundzüge der Philosophie Schopenhauers

Pessimismus ist psychologisch betrachtet ein Zusammenspiel aus hoffnungsloser, negativer Lebensstimmung und intellektuell oder intuitiv erworbener Lebensauffassung[2]. Im Falle Schopenhauers trifft beides zu. Diese Annahme bekräftigen unzählige Anekdoten aus seinem Leben[3] genauso wie das von ihm geschaffene philosophische System[4]. Schopenhauer hat persönlich erfahrenes Leid und die daraus resultierende pessimistische Grundstimmung zum philosophischen System gemacht.[5]

Der zu dieser Entwicklung grundsätzlich notwendige realistische Charakter, d.h. das unmittelbare Erlebnis der (leidvollen) Wirklichkeit bestimmt die metaphysische Wertschätzung derselben als Ganzes[6], zeigt sich bei Schopenhauer sowohl in seinem intuitiven als auch in seinem intellektuellen Vorhandensein schon früh. Vor die Entscheidung gestellt: entweder zweijährige Reise mit den Eltern durch Europa und anschließend Kaufmannslehre, oder der Verzicht auf die Reise und sofortiger Eintritt ins Gymnasium, gibt der fünfzehnjährige Schopenhauer, dessen Wunsch es durchaus nicht war, Kaufmann zu werden, dem Abenteuer Wirklichkeit den Vorrang. Diesen Entschluss wird er später als den intuitiven Akt seines realistischen Charakters auslegen und durchaus positiv bewerten[7]. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird die hier nur angedeutete und theoretisch nicht weiter begründete Immanenz des Schopenhauerschen Denkens, wofür die angeführten, in der Jugendzeit erlebten Eindrücke bei aller Gefahr, die eine biographische Argumentation für das Verständnis eines philosophischen Systems birgt[8] zumindest mitverantwortlich waren, immer wieder deutlich werden.

Autoren, die sich jedoch damit begnügen, eine im Sinne Coreths erstellte Persönlichkeitsbeschreibung zum Ausgangspunkt ihres eigenen Nachdenkens über Schopenhauer zu erheben, verfehlen die Gesamtheit seines Charakters ebenso wie seine Philosophie. Sie leugnen eine schon in den ursprünglichsten Wurzeln seines Denkens vorhande Polarität[9], deren Widerstreit zum eigentlichen Anlass seines Schaffens wurde. Nicht die pessimistische Weltauffassung alleine, sondern der durch die Kenntnis eines anderen Bewusstseins entstandene Konflikt veranlasste Schopenhauer zur philosophischen Reflexion allen Seins.

Begrifflich lässt sich dieser Antagonismus in zweifacher Weise nachvollziehen:

(1) Für den jungen Schopenhauer gibt es auf der einen Seite das (a) bessere Bewusstsein[10], das in seinem Erleben zur Glorifizierung und Mystifizierung bestimmter Erkenntnisfähigkeiten beiträgt. Bezüglich des intuitiven Erkenntnisvermögens verdeutlicht sich dies durch das später im Werk gezeichnete Bild des Künstlers und Genius. Hinsichtlich des intellektuellen Vermögens bzw. der Fähigkeit, philosophisch zu agieren, nimmt Schopenhauer persönlich Stellung[11]. Das Konglomerat beider (intuitiv und intellektuell) Erkenntnisvermögen verdeutlicht sich in einem Zitat zur Entstehung des Hauptwerkes selbst:

„Während dieses vierjährigen Aufenthalts in Dresden ist es gewesen, dass in meinem Kopfe, gewissermaßen ohne mein Zuthun, mein philosophisches System, strahlenweise wie ein Krystall zu einem Centro konvergirend, zusammenschoß, [...]“[12]

Die hier von Schopenhauer mystisch inszenierte Annäherung seiner Philosophie an das oben bereits angedeutete Genius- und Künstlerbild, dient im Kontext der hier angestellten Überlegung als Bestätigung meiner These von der Polarität der Ausgangspunkte des philosophischen Denkens bei Schopenhauer.[13] Auf die damit verbundenen Schwierigkeiten einer Ideenerkenntnis der Philosophie wird später noch einzugehen sein[14].

Diesem durchaus von Euphorie und Glaube an Wirksamkeit getragenen Standpunkt entgegen steht die bereits durch den rezitierten Erfahrungsbericht in Toulon angedeutete (b) unmittelbare Erkenntnis der leid- und sinnlosen Welt:

„O Wolllust, o Hölle, In Demuth versinkend,

O Sinne , o Liebe, Den Einklang nur hörend;

Nicht zu befried´gen Wie wollt ich vergessen,

Und nicht zu besiegen! Des niedrigen Staubes,

Aus Höhen des Himmels Nicht schelten die Thoren,

Hast du mich gezogen Nicht neiden die Großen,

Und hin mich geworfen Nicht spotten die Schwachen,

In Staub dieser Erde: Die Bösen nicht sehen,

Da lieg ich in Fesseln. Den Meister im Werke,

Wie wollt ich mich schwingen In Körpern die Geister,

Zum Throne des Ewgén Nur sehen und lieben –

Mich spiegeln im Abdruck Doch du, Band der Schwäche,

Mich spiegeln im Abdruck Du ziehst mich nieder,

Des höchsten Gedankens Daß fest mich umklammert,

Mich wiegen in Düften, Das Heer deiner Fäden,

Die Räume durchfliegen, Und jegliches Streben,

Voll Andacht, voll Wunder Nach Oben misslingt mir.“[15]

Ausbrechend in Jubel

Ein weiterer Antagonismus, in und durch den sich Schopenhauers philosophisches System von Beginn an ausformuliert, betrifft die bereits ausgeführten Standpunkte des besseren Bewusstseins und des Pessimismus in ihren Konsequenzen.

Wie ist auf der Basis eines radikalen Pessimismus Moral zu vertreten? Wie kann in einer leidvollen und sinnlosen Welt überhaupt noch ein ethischer Anspruch aufrechterhalten werden?

(2) Auch hier geben uns die Erfahrungsberichte Schopenhauers Auskunft. Dem (a) unleugbaren pessimistischen Gefühl, das Schopenhauer beim Anblick der Galeerensklaven in Toulon überkommt, tritt (b) ein Bewusstsein der tiefsten, ursprünglichsten Verbundenheit entgegen[16]. Mitleid wird aus moralischer Perspektive zum einzigen Anlass, den absoluten Anspruch des Pessimismus kritisch zu reflektieren. Mitleid wird später in der systematischen Ausformulierung zur alleingültigen Grundlage der Moral bzw. des moralischen Handelns[17].

Als Zusammenfassung der hier ausgeführten Überlegungen zur Ambivalenz in der Ausgangssituation des Schopenhauerschen Denkens kann übereinstimmend mit Köhler behauptet werden:

„Wer diesen Weg sucht [auf den die beschriebenen inneren und äußeren Wirklichkeiten schicken MJ], dem bleibt nur die Flucht aus dem Wirrwarr des Lebens, das ernsthafte Sichentscheiden für die grundsätzliche innere Einstellung auf den Dienst am Menschentum in Gestalt der innerlich als einzig die Seele befriedigend empfundenen Betätigung des Mitleids, sowie das Ergriffenwerden von der Erhabenheit und Heiligkeit der Kunst, in der die innere, mystische Schau dem Menschen die Offenbarung des objektiven Seins, die wahre Wirklichkeit, zum Bewusstsein bringt.“[18]

Wäre dem nicht so, dann müsste die Frage, warum sich Schopenhauer trotz aller Verfeindung mit dem Leben, trotz aller Sinnverneinung dennoch von Pessimisten wie bspw. Horstmann und Cioran unterscheidet, erst gar nicht gestellt werden. Wäre dann nicht zwangsläufig für Schopenhauer auch

„der wahre Garten Eden – [...] die Öde. Das Ziel [...] – das verwitternde Ruinenfeld. Der Sinn – der durch die Augenhöhlen unter das Schädeldach geblasene, rieselnde Sand.“[19] ?

Unbestreitbar gibt es Berührungspunkte zwischen Schopenhauer und den hier repräsentativ angeführten gegenwärtigen, zeitgenössischen pessimistischen Autoren. Auch Schopenhauer

erkennt unter eingeschränkten Bedingungen den Nachteil, geboren zu sein, an[20], wenn er aus 'gut leben' ist 'besser als leben' – 'nicht leben' ist besser als 'schlecht leben' schließt. Keineswegs zielt meine Argumentation darauf ab, Schopenhauer vom Vorwurf des pessimistischen Denkens zu befreien. Ganz im Gegenteil. Schopenhauers pessimistische Sicht übertrifft bei weitem die von Horstmann und Cioran, die trotz des diskussionsbedürftigen Wunsches nach absoluter Selbst- und Weltzerstörung doch immer noch von Sinn sprechen, Sinn annehmen. Für Schopenhauer dagegen entbehrt das Sein als solches jeglichen Sinnes[21]. Keine Entwicklung der Welt, keine individuelle Veränderung kann, solange sie in der Welt geschieht, durch bejahenden Zuspruch in derselben verharrt, an dieser Tatsache etwas ändern.

Erst mit dieser radikal-pessimistischen Sicht nötigt sich Schopenhauer zur Konzeption einer Heilslehre. Erst hier erlangt die Irrationalität ihre rationale Notwendigkeit. Die bereits erwähnte intuitiv erfasste Existenz eines besseren Bewusstseins, die sich später als das ästhetische Erleben ausdrückt, genauso wie die unmittelbare Erkenntnis des Mitleids, nährt und stärkt die Idee der Möglichkeit einer transzendierenden Heilslehre von Anfang an. Mit und in ihr erwächst im Denken Schopenhauers ein anthropofugaler Fixpunkt, dessen Existenz nicht einfach als eine systemimmanente Notwendigkeit bzw. als ein rational nicht mehr zugänglicher Versuch gedeutet werden darf, der einzig darauf zielt, die vorhandenen Widersprüche des philosophischen Systems aufzulösen oder zumindest der vernünftigen Argumentationsebene zu entziehen. Die hier geleistete Überlegung steht diesem Verständnis diametral gegenüber. Besseres Bewusstsein und Mitleidsempfindung kennzeichnen in Auseinandersetzung mit der pessimistischen Grundauffassung den Beginn und nicht das Ende des Schopenhauerschen Denkens.

IV. Darstellung der Philosophie Schopenhauers – 'Die Welt als Wille und Vorstellung erster Band'

IV.1. Erkenntnistheorie

IV.1.1. Kant und die koperkanische Wende – das ewig dunkle Ding an sich

„Kants grösstes Verdienst ist die Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge an sich, - aufgrund der Nachweisung, dass zwischen den Dingen und uns immer noch der Intellekt steht, weshalb sie nicht nach dem, was sie an sich selber sein mögen, erkannt werden können.“[22]

In der transzendentalen Ästhetik[23], dem ersten Abschnitt der 'Kritik der reinen Vernunft', bestimmt Kant die formalen Bedingungen der Möglichkeit einer vernunftgetragenen Erkenntnis. Anlass dieser kritischen Auseinandersetzung ist die Vernunft selbst. Ihr nicht enden wollender Drang, metaphysisch zu fragen[24], und ihre in den Antwortmöglichkeiten auftretende Widersprüchlichkeit[25] werden Kant zur Herausforderung einer kritischen Untersuchung[26]. Zeit und Raum werden als die den Erkenntnisakt notwendig begleitenden Formen a priori erkannt. Diese positive Bestimmung ist in ihrem Allgemeinheitsanspruch zugleich eine unüberwindbare Barriere, die ein Erkennen jenseits der formalen Erkenntnismöglichkeiten unmöglich macht. Sie trennt unvereinbar die Erscheinung vom Ding an sich. Da das Empirische der Anschauung von außen gegeben ist, dieses aber, wenn es ins Bewusstsein des Menschen tritt, schon zeitlich und räumlich durch die Vernunft bestimmt ist, entbehrt das menschliche Erkenntnisvermögen einer unmittelbaren Erkenntnismöglichkeit des empirisch Gegebenen. Über die Grenzen des Bewusstseins hinauszublicken und somit unmittelbaren Einblick in die Dinge, wie sie an sich, vor jeder formalen Transformation, sind, zu erlangen, ist im Kantischen Sinne unmöglich. Das Ding an sich ist X, ewig dunkel und jenseits jeder Möglichkeit einer positiv bestimmten Erkenntnis.

In dieser rudimentär gezeichneten Konstellation kritischen Denkens erhält Schopenhauers Philosophie ihre Grundbestimmung.

Alle Philosophie muss unter Berücksichtigung der subjektiven Bedingungen der Erkenntnis einsetzen.

„Die Transzendentale Aesthetik ist ein so überaus verdienstvolles Werk, dass es allein hinreichen könnte, Kants Namen zu verewigen. Ihre Beweise haben so volle Ueberzeugungskraft, dass ich die Lehrsätze derselben den unumstößlichen Wahrheiten beizähle, wie sie ohne Zweifel auch zu den folgenreichsten gehören, mithin als das Seltenste auf der Welt, nämlich eine wirkliche, große Entdeckung in der Metaphysik, zu betrachten sind.“[27]

Wenn nicht, bleibt die grundsätzlichste aller Voraussetzungen ungeklärt, womit jedes unkritisch erzielte Ergebnis seinen Wert verliert. Die enorme Bedeutung, die Schopenhauer der transzendentalen Ästhetik Kants beimisst, wird neben der immer wieder betonten Anerkennung[28] auch durch die Wahl der Thematik seiner Dissertation 'Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde' deutlich[29].

Trotz aller positiven Bestimmtheit hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Ausgangsposition[30] ist neben dem Unterschied in der Wertschätzung der Vernunft[31] vor allem der Unterschied im Verständnis des Begriffs 'Ding an sich' zu beachten[32]. Damit untrennbar verbunden ist die Möglichkeit (Schopenhauer) bzw. Unmöglichkeit (Kant) einer adäquaten[33] Wesenserkenntnis bzw. Wesensbeschreibung, die, wenngleich die Verbundenheit Schopenhauers zu Kant nicht zu leugnen ist[34], alleine schon Schopenhauers philosophischen Versuch (impliziert die Annahme einer durchführbaren Metaphysik des Wesens) als eigenständigen und unabhängig von Kant zu denkenden erscheinen lässt[35]. Auch Schopenhauers erkenntnistheoretische Ausführungen tragen bereits den Stempel jenes spezifischen Geistes, was ihre nähere Betrachtung, vor allem in Hinblick auf die in Punkt V. dargestellte problemorientierte Diskussion als sinnvoll erscheinen lässt.

IV.1.2. Die Welt ist meine Vorstellung – Schopenhauers spezifischer Entwurf einer Erkenntnistheorie

„Die Welt ist meine Vorstellung: - dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt,; wiewohl der Mensch alleine sie in das reflektirte abstrakte Bewusstsein bringen kann.“[36]

Die Ausgangsthese Schopenhauers erhebt Allgemeinheitsanspruch und wird zudem als notwendig bestimmt. In diesem Sinne gilt sie ihm als Gewissheit a priori. Zu einem adäquaten Verständnis dieser eindeutigen Positionierung führen verschiedene Argumentationsstränge.

(1) Prozessual gefasst dient Schopenhauer der eingenommene idealistische Standpunkt dazu, das eigentlich intendierte Ziel zu erreichen. Dieses ist die Untersuchung der Möglichkeiten und Realitäten einer Befreiung des Menschen aus seiner Existenz des Leidens. Ein Verständnis der Schopenhauerschen Philosophie aus dieser Perspektive heraus ist soteriologisch zu nennen[37]. Die Plausibilität des Ganzheitsanspruches dieser Interpretationsmöglichkeit wird in Punkt V. eigens diskutiert.

(2) Historisch betrachtet vollziehen sich die erkenntnistheoretischen Ausführungen Schopenhauers ganz im Sinne eines zeitgenössisch geführten philosophischen Diskurses, in dem, durch Kants Kritik der reinen Vernunft erneut[38] initiiert, Bewusstseinsproblematiken zum geisteswissenschaftlichen Diskursschwerpunkt avancieren[39]. Subjekt und Objekt bzw. die Beziehung beider zueinander, das damit zusammenhängende Problem der Realität bzw. Idealität der Außenwelt und die Unterscheidung von innerer und äußerer Anschauung sind nur einige ausgesuchte Teilaspekte dieser fruchtbar geführten Auseinandersetzung. In der jeweiligen Definition finden sich die Philosophen und findet sich ihre Philosophie wieder.

Auch Schopenhauers Gesamtentwurf konvergiert in der eingenommenen Haltung gegenüber spezifischen Bewusstseinsproblematiken, womit die nähere Betrachtung der Wichtigsten unerlässlich für ein Verständnis der philosophischen Gesamtkonzeption Schopenhauers wird[40].

Kants transzendentaler Idealismus erfährt durch Schopenhauer eine Radikalisierung. Die Kritik der reinen Vernunft ist Erkenntnistheorie. Ding an sich bzw. Noumenon bzw. transzendentales Objekt sind in erster Linie (erkenntnistheoretisch gelesen) von negativer Bedeutung. Bezeichnet wird hier die Unmöglichkeit einer positiven Bestimmung des jenseits unseres Erkenntnisvermögens Vorhandenen[41]. Diese hauptsächlich von Kant intendierte negative Bestimmung erwächst Schopenhauer zum Anlass, den Versuch zu unternehmen, alles Sein positiv, auf die ihm zugrundeliegende Washeit hin zu untersuchen[42]. Dass diese Absicht im Kontext erkenntnistheoretischer Überlegungen scheitert, bedeutet nicht das Ende der Bemühungen Schopenhauers, eine adäquate Wesenserkenntnis zu erlangen. Vielmehr wird durch die in der Erkenntnistheorie aufgewiesene Aporie hindurch der Weg zur Metaphysik ersichtlich. Prozessual konkretisiert stellt sich dies folgendermaßen dar:

Sein ist für ihn in erster und wesentlichster Hinsicht immer Vorgestellt-Sein (esse = percipi). Nichts außer unserem Bewusstseinsinhalt ist uns gegeben. In der Sprache Schopenhauers ist dies nichts anderes als: 'Die Welt ist meine Vorstellung'. Was jenseits unseres Erkenntnisvermögens die Welt ist, bleibt im Kontext der Erkenntnistheorie notwendig unbekannt. Die hier getroffene Entscheidung impliziert jedoch eine nicht unmittelbar zugängliche Grundannahme Schopenhauers. Jenseits unseres Bewusstseins (welches für die formale Bestimmung des Objekts verantwortlich ist) besteht, wenngleich diese nicht im objektiven Sinne zu denken ist, eine Realität. Die sich durch ein Zusammenspiel von subjektivistischer, naiv-realistischer, metaphysischer und idealistischer Grundansicht

konkretisierende Fundierung der Erkenntnistheorie im Subjekt-Objekt-Verhältnis verlangt

durch ihre substanzielle Stellung, gerade auch im Hinblick auf die aus ihr resultierenden Konsequenzen, eine eigene Betrachtung[43].

[...]


[1] Hossenfelder, H., 1982, S. 421

[2] Vgl. dazu: Köhler, F., 1926, S.16

[3] Vgl. dazu bspw. die häufig angeführte Begegnung Schopenhauers mit den Galeerensklaven in Toulon: RT, S. 145. Im Jahre 1832 führt Schopenhauer den Eindruck dieser frühen Erfahrungen ausführlich aus: HN IV 1, S. 96: „In meinem 17ten Jahre ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, überwandt bald die auch mir eingeprägten Jüdischen Dogmen, und mein Resultat war, dass diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens seyn könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick ihrer Quaal sich zu weiden: darauf deuteten die Data, und der Glaube, dass es so sei, gewann die Oberhand.“

[4] Vgl. dazu die Ausführungen zur Metaphysik des Willens, der Ästhetik und der Ethik

[5] Vgl. dazu: Fahsel, H, 1930, S. 2, wenngleich in der weiteren Auseinandersetzung der von Fahsel konstatierte absolute Anspruch zu relativieren ist

[6] Vgl. dazu: Köhler, F., 1926, S. 16

[7] B, S. 650: „ Denn gerade in den Jahren der erwachenden Mannbarkeit, in welchen die menschliche Seele sowohl Eindrücken jeder Art am meisten offen steht, [...] wurde mein Geist, nicht, wie gewöhnlich geschieht, mit leeren Worten und Berichten von Dingen [...] angefüllt und auf diese Weise die ursprüngliche Schärfe des Verstandes abgestumpft und ermüdet; sondern statt dessen durch die Anschauung der Dinge genährt und wahrhaft unterrichtet [...]. Besonders erfreue ich mich dessen, dass mich dieser Bildungsgang frühzeitig daran gewöhnt hat, mich nicht mit den bloßen Namen von Dingen zufrieden zu geben, sondern die Betrachtung und Untersuchung der Dinge selbst und ihre aus der Anschauung erwachsende Erkenntnis dem Wortschalle entschieden vorzuziehen, weshalb ich später nie Gefahr lief, Worte für Dinge zu nehmen.“

[8] Ein aus meiner Sicht negatives Beispiel hierfür bildet der zweiseitige Einführungstext zu Schopenhauer von Coreth, E., 1997, S. 119f. .Dort heißt es lapidar: „ Philosophisch weit bedeutsamer [als Schlegel, F., MJ] und einflussreicher wird Arthur Schopenhauer (1788 bis 1860), der Sohn eines Danziger Bankiers, der sich in Berlin habilitiert (1820), aber wenig Anklang und wenig Freude an der Lehrtätigkeit findet, sich bald davon zurückzieht und zu einem vergrämten, verbitterten Junggesellen wird, der sich selbst maßlos überschätzt und von aller Welt unverstanden und zurückgesetzt fühlt, ein verkanntes Genie, [...]“. Weiter urteilt Coreth (und dies wohl in der von ihm bei Schopenhauer vermissten philosophischen Tiefsinnigkeit): „Dies alles [das philosophische System Schopenhauers MJ] ist jedoch nicht so sehr tiefsinnig philosophisches Denken als – in schärfster Antithese zum Rationalismus und Idealismus – Ausdruck persönlicher Bitterkeit und Zerworfenheit mit sich und der Gegenwart.“

[9] Zur Verwendung der Begriffe Antagonismus oder Polarität in diesem und dem vorigen Abschnitt, die beide die absolute Gegensätzlichkeit und vermeintliche Unvereinbarkeit betonen, sei hier angemerkt, dass es mir um die Beschreibung der Ausgangssituation des Denkens Schopenhauers geht. Keineswegs behaupte ich die absolute Unvereinbarkeit, denn das philosophische Systems Schopenhauers stellt gerade den Versuch dar, unter Berücksichtigung der Wirklichkeitserfahrungen beides zugleich denken und eingestehen zu können.

[10] HN I, S.42: „Ich aber sage in dieser Zeitlichen, Sinnlichen, Verständlichen Welt giebt es wohl Persönlichkeit und Kausalität, ja sie sind sogar nothwendig. – Aber das bessere Bewusstsein in mir erhebt mich in eine Welt wo es weder Persönlichkeit noch Kausalität noch Subjekt und Objekt mehr giebt.“. Eine treffende Beschreibung dessen, was sich als besseres Bewusstsein bei Schopenhauer exploriert, findet sich bei Safranski, R ., 1988, S. 201: „Unter dem Namen des besseren Bewusstseins zieht Schopenhauer jetzt alles zusammen, was er bisher als Akte oder Wunschbilder erfahren hatte: das 'Der Mensch ist hier nicht zu Hause' des Matthias Claudius, die Entrückung in der Kunst, besonders in der Musik; das Bergerlebnis; jenes Transzendieren nach Innen, wodurch Sinnlichkeit und Selbsterhaltung nur noch als Spiel erscheinen; die Selbstvergessenheit der versunkenen Betrachtung oder auch umgekehrt die Erfahrung des Ichs als eines Spiegels, der die vielgestaltige erscheinende Welt reflektiert, ohne doch selbst ein Teil davon zu sein; die Platonische 'Idee' und, wenn auch erst zögernd ergriffen, das Kantische 'Sollen' – jenes Freiheitsrätsel, das die Welt des notwendigen Seins zerreißt.“. Eine plausible und nachvollziehbare Darstellung zur Transformation des in der Frühphilosophie Schopenhauers erkannten 'besseren Bewusstseins' in die Systematik und Begrifflichkeit des Hauptwerkes 'Die Welt als Wille und Vorstellung erster Band' liefert Malter. Vgl. dazu: Malter, R., 1988, S. 4-12

[11] HN II, S.6: „Die Philosophie ist eine hohe Alpenstraße, zu ihr führt nur ein steiler Pfad über spitze Steine und stechende Dornen: er ist einsam und wird immer öder je höher man kommt, und wer ihn geht, darf kein Grausen kennen, sondern muß alles hinter sich lassen, und sich getrost im kalten Schnee seinen Weg selbst bahnen. Oft steht er plötzlich am Abgrund und sieht unten das grüne Thal: dahin zieht ihn der Schwindel gewaltsam hinab; aber er muß sich halten und sollte er mit den eigenen Blut die Sohlen an die Felsen kleben. Dafür sieht er bald die Welt unter sich, ihre Sandwüsten und Moräste verschwinden, ihre Unebenheiten gleichen sich aus, ihre Misstöne dringen nicht hinauf, ihre Rundung offenbart sich. Er selbst steht immer in reiner, kühler Alpenluft und sieht schon die Sonne wenn unten noch schwarze Nacht liegt.“

[12] B, S. 261

[13] Vgl. zur Wirksamkeit der Dualität in Schopenhauers Denken die von Simmel angestellte Überlegung zur Bedeutung des Subjekts als 'Bürger der beiden Welten'. In dieser, erst aus dem vollendet vorliegenden philosophischen System gezogenen Feststellung Simmels spricht sich dasjenige aus, was das Denken Schopenhauers von Anfang an bestimmt. Vgl. dazu: Simmel G., 1902, S. 61-89

[14] Vgl. Punkt V.4.3.

[15] HN II, XI, S. 6

[16] Vgl. dazu: RT, S. 145

[17] W I, S. 484: „Was daher auch Güte , Liebe und Edelmuth für andere thun, ist immer nur Linderung ihrer Leiden, und folglich ist was sie bewegen kann zu guten Thaten und Werken der Liebe, immer nur die Erkenntnis des fremden Leidens, aus dem eigenen unmittelbar verständlich und diesem gleichgesetzt. Hieraus ergibt sich, dass die reine Liebe (αγαπη, caritas) ihrer Natur nach Mitleid ist.“

[18] Köhler, F., 1926, S. 10

[19] Horstmann, U., 1983, S. 8

[20] Cioran, E., 1979

[21] Die Bestimmung dieses qualitativen Unterschiedes betont Simmel, wenn er schreibt: „Gegenüber den pessimistischen Velleitäten, an denen auch sonst kein Mangel war und die die Welt für ein Jammertal, das Leben für nicht lebenswert und das Glück für einen flüchtigen Traum erklären, macht Schopenhauer das Leiden zur absoluten Substanz des gefühlten Daseins, zu seiner Bestimmtheit a priori, er senkt es in den Wurzelpunkt unserer Existenz, so dass keine ihrer Früchte anderen Wesens sein kann. Zum erstenmal ist hier das Leiden nicht ein Akzidenz des Seins, wie überwuchernd auch immer, sondern das Sein selbst, soweit es sich im Fühlen spiegelt.“. Simmel, G., 1902, S. 102

[22] W I, S. 534

[23] KdrV, S. 71–99. Zur ausführlichen Darstellung des Inhaltes der transzendentalen Ästhetik vgl. Brandt, R., 1998; S. 81-107 und Mohr, G., 1998, S. 108-131

[24] KdrV, Vorrede zur ersten Auflage, S. 15: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: Dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“

[25] Das Antinomien-Problem als Ausgangspunkt des Kantischen Kritizismus. Vgl. dazu Schadel, E., 1998, S. 114- 120

[26] Im Vergleich zu Kants Motivation, über Metaphysik nachzudenken, erscheint Schopenhauers Charakterisierung schon ganz im Gepräge der in Punkt III. unserer Arbeit dargestellten Ambivalenz. W II, S. 184f.. Zum einen zeigt sich der Mensch in seinem Bedürfnis nach metaphysischer Begründung als höchstes Wesen. Andererseits aber erlangt dieses Bedürfnis seinen Ernst erst durch das Bewusstsein des Todes, womit dem Vorzug vernünftigen Denkens die bittere Gewissheit der eigenen Endlichkeit zur Seite gestellt wird. (Todes-) Angst als Anlass zur Philosophie. Vgl. dazu: W I, S.73: „Das Thier lernt den Tod erst im Tode kennen: der Mensch geht mit Bewußtseyn in jeder Stunde seinem Tode näher, und dies macht selbst Dem das Leben bisweilen bedenklich, der nicht schon am ganzen Leben selbst diesen Charakter der steten Vernichtung erkannt hat.“

[27] W I, S. 558

[28] W I, S.547: „Kants Stil trägt durchweg das Gepräge eines überlegenen Geistes, ächter, fester Eigenthümlichkeit und ganz ungewöhnlicher Denkkraft; der Charakter desselben lässt sich vielleicht treffend bezeichnen als die GLÄNZENDE TROCKENHEIT, vermöge welcher er die Begriffe mit großer Sicherheit fest zu fassen und herauszugreifen, dann sie mit größter Freiheit hin- und herzuwerfen vermag, zum Erstaunen des Lesers.“

[29] Zwar ist diese in dem Sinne schon kritisch gegenüber Kant, weil Schopenhauer versucht hinsichtlich der Objektseite des Erkennens, die Kausalität alleine als den ursprünglichen Kern des Erkenntnisaktes auszumachen, jedoch steht die Ausgangsfrage noch ganz unter dem Einfluss der kantischen transzendentalen Ästhetik. Vgl. dazu: Weiner, T., 2000, S. 19-20. Zudem zeigt sich bereits im Ergebnis der Dissertation, dass die Möglichkeit einer Wesensbestimmung nur über den Weg der Leibvergegenwärtigung zu finden ist. Vgl. dazu: Grätzel, S., 1989, S. 41-53

[30] Vgl. zum idealistischen Standpunkt Schopenhauers: Volkelt, J., 1923, S. 80f.; Bohinc, T., 1989, S.124-129. W II, S. 13: „[…] Nur das Bewußtseyn ist unmittelbar gegeben, daher ist ihre Grundlage auf Thatsachen des Bewußtseyn beschränkt: d.h. sie ist wesentlich idealistisch.“

[31] W II, S.549: „Nachdem er Zeit und Raum isolirt abgehandelt, dann diese ganze, Raum und Zeit füllende Welt der Anschauung, in der wir leben und sind, abgefertigt hat mit den nichtssagenden Worten „der empirische Inhalt der Anschauung wird uns gegeben“, - gelangt er sofort, mit EINEM Sprunge zur LOGISCHEN GRUNDLAGE SEINER GANZEN PHILOSOPHIE, ZUR TAFEL DER URTHEILE. Aus dieser deduzirt er ein richtiges Dutzend Kategorien, symmetrisch unter vier Titelns abgesteckt, welche späterhin das furchtbare Bett des Prokrustes werden, in welches er alle Dinge der Welt und alles was im Menschen vorgeht gewaltsam hineinzwängt, keine Gewaltthätigkeit scheuend und kein Sophisma verschmähend, um nur die Symmetrie jener Tafel überall wiederholen zu können.“

[32] Vgl. dazu Punkt V.1.1.

[33] Wie sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen wird, liegt in der immer wieder zitierten Meinung, Schopenhauer habe Kants Ding an sich entdeckt, der entscheidender Punkt. Je nach eingenommener Stellung zu dieser Frage entscheidet sich auch das gesamte Verständnis der Schopenhauerschen Philosophie. Vgl. dazu die Punkt V.1.1.; V.2.1.; V.2.2.; V.4.1.1.; V.7.2.

[34] Zur eindeutig nachweisbaren Beeinflussung Schopenhauers durch Kant vgl.: Schulz, W., 1983, S. 58f.; Sauter- Ackermann, G., 1994, S. 9; Lee, A.-H., 1983, S. 37-51; Zimmermann, E., 1970, S.4-9; Deussen, P., 1920, S. 425-430, wenngleich Letzterer in problematisch-radikaler Bejahung des Kanteinflusses; im selben Sinne kritisch zu betrachten,: Wörner, P., 1914, S. 3-13; Zeller, E ., 1873, S. 872-894. Eine davon ganz abzusondernde Frage ist es hingegen, ob der Schopenhauersche Philosophieentwurf lediglich einen Vollendungsversuch des Kantischen Denkens darstellt. Die hierfür relevante Forschungsdiskussion wird eigens in den Punkten V.1.1.; V.2.1.; V.2.2.; V.4.1.1.; V.7.2. dieser Arbeit besprochen werden.

[35] Vgl. Punkt V.7. und V.8. In der gesamten Argumentation des soteriologischen Ansatzes wird davon ausgegangen, dass Schopenhauers Philosophie als ein eigenständiger Versuch verstanden werden muss. Erst damit ergibt sich die Möglichkeit, die im soteriologischen Ansatz herausgearbeitete, eigentliche Intention Schopenhauers zu verdeutlichen.

[36] W I, S. 31

[37] Zur Begriffsklärung vgl.: Malter, R., 1991, S. 51-63. Zur besonderer Berücksichtigung der Stellung des schopenhauerschen Transzendentalismus der Vorstellung im soteriologischem Verständnis vgl.: Ebd., S. 67-69

[38] Zur Beeinflussung Schopenhauers durch den französischen Materialismus, den Sensualismus, durch Descartes, Locke und Hume vgl.: Naegelsbach, H., 1927, S. 75-78

[39] Eine ausführliche Beschreibung der verschiedenen durch Kants Kritik der reinen Vernunft beeinflussten philosophischen Systeme vor Schopenhauer findet sich bei: Zeller, E., 1873, S. 515-871. Vor allem aber ist der deutsche Idealismus in Gestalt von Schelling, Fichte und Hegel hervorzuheben, der die Aufmerksamkeit und direkte Beurteilung Schopenhauers herausfordert. Vgl. zur Geschichte der Erkenntnisproblematik nach Kant: Cassirer, E., 1995

[40] Zudem muss betont werden, dass Schopenhauer im erkenntnistheoretischen Problem der Realität bzw. der Idealität der Materie das Grundproblem aller Philosophie erkennt. Vgl. dazu: P., S.3.; Primer, H., R., A., 1984, S. 66f.

[41] Zur genaueren Ausführung der hier angeführten erkenntnistheoretischen Grenzfunktion der Überlegungen Kants in der Kritik der reinen Vernunft vgl.: Wörner, W., 1914, S. 3-13

[42] Zum Wandel der skeptischen Beurteilung in eine auslegende metaphysisch-dualistische bei Schopenhauer: vgl. Volkelt, J., 1923, S. 69: „War vorhin das Ding an sich das erkenntnistheoretische Jenseits, so ist es jetzt zu einem metaphysischen Jenseits geworden. [...] Auch bei Schopenhauer gewinnt die Unerkennbarkeit der Welt an sich immer zugleich den Sinn, dass sie den Formen und Gesetzen der Erfahrungswelt vollständig entrückt ist. Das Nichtwissen wandelt sich in ein gewusstes Nichtsein nach bestimmten Richtungen.“

[43] Eine Rekonstruktion der Genealogie der Schopenhauerschen Erkenntnistheorie findet sich bei: Naegelsbach, H., 1927, S. 50ff.

[...]

Ende der Leseprobe aus 137 Seiten

Details

Titel
Arthur Schopenhauers: Die Welt als Wille und Vorstellung erster Band - Philosophie zwischen Pessimismus und Erlösung ohne Gott
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
137
Katalognummer
V48738
ISBN (eBook)
9783638453486
Dateigröße
963 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In der vorliegenden Arbeit handelt es sich um umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Primärtext Schopenhauers. Zudem werden die relevanten Interpretationen zu Schopenhauers Hauptwerk aufgearbeitet und hinsichtlich ihrer Plausibilität geprüft. Der soteriologische Ansatz erfährt hierbei besondere Beachtung und dient zudem als Sclüssel zu einem entsprechenden Verständnis der Philosophie Schopenhauers.
Schlagworte
Arthur, Schopenhauers, Welt, Wille, Vorstellung, Band, Philosophie, Pessimismus, Erlösung, Gott
Arbeit zitieren
M.A. Mirko Jungkunz (Autor:in), 2005, Arthur Schopenhauers: Die Welt als Wille und Vorstellung erster Band - Philosophie zwischen Pessimismus und Erlösung ohne Gott, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48738

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