Herbert Marcuse und die Kontinuität romantischer Ideen

Welche Anknüpfungspunkte an die Frühromantik lassen sich in "Der eindimensionale Mensch" und "Triebstruktur und Gesellschaft" herausarbeiten?


Hausarbeit, 2018

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Die Frühromantik & die Dialektik der Aufklärung

2. Marcuse und die Kontinuität romantischer Ideen
2.1 Die Phantasie an die Macht
2.2 Narziss & Orpheus

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

Romantik. – Für mich besteht dieses Wort auch heute noch.

Es hat seine Verdienste. In alten Zeiten nannten die Russen

einen an Ketten hängenden eisenbeschlagenen Balken,

mit dem sie die festen Mauern feindlicher Städte brachen,

„roman“. – Roman – das war damals ein Mauerbrecher.

Später ist er immer mehr gesunken und schließlich ein Buch geworden.

Und jetzt ist es Zeit, ihm die ursprüngliche Bedeutung wiederzugeben.

Romantik!

(Kawerin 1961: 11, zitiert nach Faber 1999: 24)

Einleitung

Das vorangestellte Zitat stammt vom sowjetischen Literaten Wenjamin A. Kawerin aus den 20er Jahren. Die deutsche Romantik gilt vielen als idealistische Epoche des Kitschs, der Träumerei, der antimodernen Schwärmerei für eine ländliche Vergangenheit, sie gilt als Gegenentwurf zur gepriesenen Aufklärung, als irrational, phantastisch, esoterisch, religiös. Die Aufzählung ihrer Mängel könnte sich über diese Seite fortsetzen, jedoch breche ich sie an dieser Stelle ab, um ein gänzlich anderes Gesicht der Romantik zu zeichnen. Die von Kawerin hergeleitete ursprüngliche Bedeutung des Wortes Romantik als Mauerbrecher scheint auf eine andere Romantik zu deuten, auf einen utopischen Versuch das Leben zu revolutionieren, die Zwänge und Grenzen der Gesellschaft aufzubrechen. So muss differenziert werden zwischen der Frühromantik, die sich als Aufklärung der Aufklärung versteht und moderne Tendenzen der Entfremdung in die Kritik nahm, emanzipative Modelle des Zusammenlebens entwarf und erprobte, fundamentale Religionskritik übte und kühn ein neues goldenes Zeitalter der durch Poesie und Einbildungskraft befreiten Menschheit ausrief, und einer Spätromantik, die zurückkehrte zum dogmatischen Katholizismus, idyllischen Bildern nationaler Heimatliebe und einer sich versenkten Innerlichkeit verfiel, die reaktionären Unternehmen einen nahtlosen Anschluss lieferten.

Die Frühromantik als Versuch einer Aufklärung der Aufklärung gab späteren progressiven Bewegungen zahlreiche Impulse, ohne dass der Ursprung dieser Ideen dezidiert reflektiert und gewürdigt wurde. Im Gegenteil wurde der Romantik insgesamt reaktionäre Tendenzen unterstellt, die geradewegs in den Faschismus mündeten.

Die vorliegende Hausarbeit stellt den Versuch dar, die progressive Frühromantik nicht nur zu rehabilitieren, sondern zugleich exemplarische Anknüpfungspunkte an Herbert Marcuses Werke „Der eindimensionale Mensch“ (1967) sowie „Triebstruktur und Gesellschaft“ (1957) herauszuarbeiten. Die Auseinandersetzung damit verfährt vornehmlich ideengeschichtlich. Die in Marcuses Werk vorhandenen Bezüge sollen auf die Kontinuität (früh-)romantischer Ideen geprüft werden. Die progressiven Anteile der Frühromantik und ihre z.T. unmarkierte, geleugnete oder nicht bewusste Aufnahme sollen explizit herausgearbeitet werden. Dies bedeutet nicht, dass die aufgedeckten Bezüge allesamt den frühromantischen Ideen zugerechnet werden dürfen oder von ihr ausgelöst wurden. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Marcuses Ansatz aus seiner Romantik-Rezeption kausal hervorgeht. Vielmehr bietet sich es sich an mithilfe der frühromantischen Anknüpfungspunkte einen Deutungsversuch Marcuses zu realisieren, der nicht nur bei der Interpretation seines Werkes neue Spielräume eröffnet, sondern zugleich die Stringenz seiner Argumentation sowie Stärken und Schwächen auf der Basis eines breiten Fundaments romantischer Ideengeschichte auf den Prüfstand stellen kann.

Es sollen die Bezüge Marcuses so herauskristallisiert werden, dass sowohl progressive als auch reaktionäre Elemente identifiziert und in ihrer Struktur erhellt werden können. Zum einen soll also geklärt werden, welche romantischen Elemente Marcuse in seine Konzeptionen aufnimmt und auf welche Art und Weise er sie gebraucht. Zum anderen steht die Frage im Raum, inwiefern Marcuses Ansätze und Weiterentwicklungen dem progressiven Anspruch der Romantik gerecht werden können und damit die selbstreflexive Aufklärung der Aufklärung fortsetzen oder ob sie vielmehr hinter ihren romantischen Vorläufern zurückbleiben und nur vage Sehnsüchte beschwören.

Ich konzentriere mich dabei auf zwei zentrale Bereiche aus Marcuses Werk: die Phantasie oder Einbildungskraft sowie der Mythos von Narziss und Orpheus.

Zuerst gebe ich im ersten Kapitel einen detaillierteren Abriss über die Frühromantik als Aufklärung der Aufklärung. Nach der Untermauerung ihres utopischen Potenzials folgt im zweiten Kapitel die vertiefte Analyse exemplarischer Textstellen aus „Der eindimensionale Mensch“ (nachfolgend EM) sowie „Triebstruktur und Gesellschaft“ (nachfolgend TG). Es wird anhand von EM eine kurze Verortung Marcuses vorgenommen und zwei Spielarten Marcuses Romantikbezugs herausgearbeitet, die nachfolgend das Analysegerüst bilden werden. In den Unterkapiteln wird TG als Textbasis dienen. Im ersten Unterkapitel steht die Phantasie oder Einbildungskraft im Mittelpunkt, während im zweiten Unterkapitel der Mythos von Narziss sowie Orpheus näher beleuchtet werden. Die aus der Einsicht in frühromantische Ideen gewonnenen Erkenntnisse werden dabei jeweils als Grundlage eines Deutungsversuchs von Marcuses Theorie herangezogen. Im dritten und letzen Kapitel erfolgt eine Zusammenschau der Ergebnisse, die auf die in der Einleitung aufgeworfenen Fragestellung rekurrieren. Darauf folgt das Literaturverzeichnis.

1. Die Frühromantik & die Dialektik der Aufklärung

Die Deklaration des Gegensatzes von Romantik und Aufklärung greift zu kurz und trifft insbesondere auf die Frühromantik nicht zu. So finden sich etwa bei Novalis unzählige Äußerungen, die das Projekt der Aufklärung und die Vernunft betonen. Ein Beleg zur Verehrung der Mathematik als Kunst stellt folgender Passus dar: „Sie [die Mathematik] ist Kunst, weil sie genialisches Verfahren in Regeln gebracht hat – weil sie lehrt Genie zu seyn – weil sie die Natur durch Vernunft ersetzt “ (Fragmente Sammlung IX, 473/4, Nr. 1126, zitiert nach Frank 1989: 285). An anderer Stelle formuliert Novalis:

In der künftigen Welt ist alles, wie in der ehmaligen Welt- und doch alles ganz Anders. Die künftige Welt ist das Vernünftige Chaos – das Chaos, das sich selbst durchdrang – in sich und außer sich – Chaos[2] oder unendlich. (IX, 281, Nr. 234, zitiert nach Frank 1989: 283)

Wie das Paradox des Vernünftigen Chaos zu deuten ist, wird noch in diesem Kapitel erörtert werden. Ersichtlich ist aber bereits, dass die Romantik der Aufklärung an sich keineswegs ablehnend gegenüber steht. Novalis selbst studierte Hüttenkunde an der Bergakademie in Freiberg in Sachsen, ein Studium, das sowohl chemische als auch mechanische Technologien des Bergbaus beinhaltete (vgl. von Campe 2003: 243) und hinterließ uns zahlreiche naturwissenschaftliche Reflexionen. Die romantische Kritik der Aufklärung bestand in der Ablehnung einer totalitären Rationalität sowie eines instrumentell verkürzten Verstandes. August Wilhelm Schlegel schrieb von einer Dystopie, in der Menschen „nur wie die Uhren für die täglichen Verrichtungen aufgewunden werden“. (Schlegel 1974: 30, zitiert nach Wilkening 2003: 255) Das menschliche Dasein solle nur wie ein Rechenexempel aufgehen. (vgl. ebd.) Die einseitige Ausrichtung der Aufklärung auf unreflektierten Fortschrittsglauben, die zerstörerische Beherrschung der Natur und die Mechanisierung und Rationalisierung aller Lebensbereiche einschließlich des innermenschlichsten sind das Ziel der romantischen Kritik. Damit nimmt sie gewissermaßen die Mahnungen der Kritischen Theorie vorweg und betreibt eine Aufklärung der Aufklärung, um nicht den Übeln der Dialektik der Aufklärung unterworfen zu sein. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die progressive Universalpoesie verstehen. Schlegel beschreibt sie als allumfassende Poesie, „bis zu dem Seufzer, dem Kuß“, die „frei von allem realen und idealen Interessen auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen“ kann. (Schlegel 1967: 182f., zitiert nach Li 2016: 60) Die Reflexion der Romantik kommt nie zum Stillstand, sie bleibt dynamisch und kann so dem Rückwurf auf reaktionäre, destruktive Tendenzen entgehen, denen die Aufklärung anheimfällt.

Die Einheit und Harmonie, die die Romantik herstellen möchte, ist keine rückwärtsgewandte Klischeevorstellung oder Idealisierung, vielmehr enthält die Geschichtsphilosophie eines Novalis die Einsicht, dass erst durch eine Periode der Disharmonie Harmonie entstehen kann. (vgl. Wilkening 2003: 260) Das beschworene goldene Zeitalter zeichnet sich auch nicht durch Monotonie aus, sondern durch ein vernünftiges Chaos, wie bereits in dem Zitat zu Anfang des Kapitels hervorgehoben oder wie Kleist es ausdrückt: „Wir müssen wieder vom Baume der Erkenntnis essen.“ (ebd. S. 262) In der Schrift „Über das Marionettentheater“ beschreibt Kleist, wir ein Jüngling durch den Blick in den Spiegel beim Tanzen sich seiner selbst gewahr wird und jede Anmut in der Bewegung verliert. Er wird steif und automatenhaft. Allerdings befürwortet Kleist nicht die Rückkehr in den vorbewussten, naiven Zustand. Vielmehr muss das Bewusstsein und die Vernunft so weit entwickelt werden, dass sie nicht mehr im Widerspruch zur sogenannten „Natur“ steht. (vgl. Faber 1999: 41 f.) Dies bezeichnet der Ausspruch „Wir müssen wieder vom Baume der Erkenntnis essen“.

Der Weg der Geschichte hin zur Harmonie vollzieht sich demnach triadisch. Am Anfang steht die einstige Harmonie und Unschuld. Sie ist natürlich, allerdings von keinerlei Selbstbewusstsein gekennzeichnet. Es herrscht eine Einheit der Unterschiedslosigkeit, der Monotonie. In der zweiten Periode durchläuft der Mensch die Phase der Disharmonie. Es erfolgt die Trennung, die Entfremdung, aber auch die Reflexion und die Bildung des Selbstbewusstseins. (vgl. Dischner 2003: 281/2) Im dritten Schritt schließlich herrscht der Zustand einer utopischen Zukunft. Was diesen Zustand vom ersten so gravierend unterscheidet, drückt folgendes Zitat von Novalis ausgezeichnet aus: „Vor der Abstraction ist alles Eins – aber eins, wie das Chaos – Nach der Abstraction ist wieder alles vereinigt – aber diese Vereinigung ist eine freye Verbündung selbstständiger, selbstbestimmter Wesen.“ (Novalis 1965: 454 ff. / 1968: 246, zitiert nach Röder 1982: 87)

So wie die kritische Theorie und Marcuse, um einen Vorgriff zu wagen, den Wert der Erinnerung, der zu bewältigenden Vergangenheit hervorheben, erachtet auch die Romantik die Rückschau als notwendig, um zu einer vollkommenen und erlösten Zukunft zu gelangen. So schreibt Novalis: „Darum ist der ‚Märchendichter’[...] als Seher der Vorzeit zugleich ein Seher der Zukunft.“ (IX, 281, Nr. 234, zitiert nach Frank 1989: 283) Darauf werden wir im Zuge der Neuen Mythologie im Kapitel 2.2 erneut zu sprechen kommen. Fassen wir ein vorläufiges Fazit: Erst in der bewussten Aneignung, der Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann das goldene Zeitalter erstehen. (vgl. Faber 1970: 46) Die Hinwendung zur Innerlichkeit, zu Emotionen, zur Subjektivität und Individualität, zur Erinnerung ist also keineswegs Sentimentalität, sondern kann vielmehr als ein selbstreflexiver Prozess der Bewusstwerdung gesehen werden - Novalis strebt für die dritte Periode das „vollendete[ ] Bewußtsein“ an. (vgl. Klinger 1999: 89f.) Die Begriffe Synthese, Reflexion, Bewusstsein, Potenzierung prägen den romantischen Diskurs. So kann Romantik sich eigentlich nie vollenden, im Sinne von ans Ende gelangen, an dem keine Weiterbewegung mehr stattfindet. Das Programm der progressiven Universalpoesie enthält gewissermaßen die Aufforderung zur unendlichen Potenzierung, der Mensch wie das Kunstwerk sollen unendlich, unerschöpflich sein. (vgl. Dischner 2003: 283)

Dass die Romantik nicht davor gefeit war, ihrerseits instrumentalisiert zu werden, soll an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden. Die Ausführungen dieses Kapitels können nicht als abschließend und vollständig erachtet werden, sollten aber die vielfältigen progressiven Impulse der Frühromantik genügend verdeutlicht haben, um eine vertiefte Auseinandersetzung mit Marcuse zu ermöglichen. Auf einige der genannten Begriffe und Zitate wird auch in den folgenden Kapiteln erneut eingegangen, sodass ein umfangreicheres Bild der frühromantischen Ideen entstehen kann.

2. Marcuse und die Kontinuität romantischer Ideen

Bevor ich in den zwei Unterkapiteln eine vertiefte Analyse exemplarischer Textstellen Marcuses vornehme, soll eine kurze Verortung Marcuses in romantische Traditionen skizziert werden. Marcuses einschlägige Werke EM und TG avancierten in der 68-er Bewegung schnell zu den Klassikern der Neuen Linken. In seinen Jugendjahren nahm Marcuse selbst teil an romantischen Fahrten und Wanderungen der Jugendbewegung seiner Zeit. (vgl. Tripold 2012: 268) Auch in seinen Werken finden sich teilweise romantische Untertöne. Während der Lektüre des EM fielen mir mehrere Passage auf, die ausschlaggebend für die Auswahl des Hausarbeitsthemas waren. So definiert Marcuse „Romantik“ als einen Begriff, der eben kein „Begriff herablassender Diffamierung“ ist, „um avantgardistische Positionen zu verunglimpfen“:

[...]

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Details

Titel
Herbert Marcuse und die Kontinuität romantischer Ideen
Untertitel
Welche Anknüpfungspunkte an die Frühromantik lassen sich in "Der eindimensionale Mensch" und "Triebstruktur und Gesellschaft" herausarbeiten?
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Hauptseminar: „Herbert Marcuse: Sozialpsychologie & Gesellschaftskritik“
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
18
Katalognummer
V491582
ISBN (eBook)
9783668978010
ISBN (Buch)
9783668978027
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Romantik, Marcuse, Sozialpsychologie, Gesellschaftskritik, Ideologie, Kontinuität, Ideengeschichte, Philosophie, Interdisziplinarität, Fantasie, Dialektik der Aufklärung, Frühromantik, Narziss, Orpheus, Literaturwissenschaft, Utopie, Revolution, Klischee
Arbeit zitieren
Henrike Vogel (Autor:in), 2018, Herbert Marcuse und die Kontinuität romantischer Ideen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/491582

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