Die Suizidalität von Polizeibeamten. Wie wirkt sich die psychosoziale Belastung des Polizeidienstes auf das Selbstmordrisiko aus?


Fachbuch, 2019

49 Seiten

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einführung
1.1 Fragestellung
1.2 Begriffsbestimmung psychosoziale Belastung
1.3 Begriffsbestimmung Gesundheit/Krankheit

2 Suizidrate / -problematik der Polizei
2.1 Absolute Suizidzahlen
2.2 Entwicklungen der letzten Jahre
2.3 Psychologische Störungen
2.4 Verfügbarkeit von Mitteln

3 Vulnerabilitäts-Stress-Modell
3.1 Vulnerabilität
3.2 Stressoren

4 Auswahl Psychischer- und Verhaltensstörungen
4.1 Akute Belastungsreaktion
4.2 PTBS
4.3 Anpassungsstörung
4.4 Depression

5 Prätraumatische Risikofaktoren
5.1 Alter
5.2 Geschlecht
5.3 Familiäre Umgebung
5.4 Frühere Traumatisierung
5.5 Einschätzung der Sicherheit

6 Traumatisierungsfolgen im und durch den Polizeidienst
6.1 Stress und Traumareaktionen
6.2 Primäre Traumatisierung
6.3 Sekundäre Traumatisierung
6.4 Peritraumatische Faktoren innerhalb eines Einsatzes
6.5 Peritraumatische Dissoziation
6.6 Ausmaß der Traumaexposition
6.7 Posttraumatische Bewältigung
6.8 Gesundheitsfaktoren

7 Schutzfaktoren

8 Schutzmechanismen innerhalb der Polizei

9 Resümee

10 Literaturverzeichnis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum:

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Anzahl Suizide Polizei NRW

Abbildung 2: Phasenmodell Burnout

Abbildung 3: Prozentuale Suizidrate nach Altersgruppen

1 Einführung

1.1 Fragestellung

Nur äußerst selten, meist dann, wenn die Art und Weise eines Suizids außergewöhnliche Ausmaße annahm, wird eine Selbsttötung publik. Meist lässt sich dies wohl durch eine Sorge vor dem <<Werther-Effekt>> erklären. Nach Tomandl, Sonneck, Stein und Niederkrotenthaler (2017) handelt es sich hierbei um den Effekt, dass eine gesteigerte, sensationsgerichtete Berichterstattung zu weiteren, nachahmenden Suiziden führen kann. Verwunderlich bleibt allerdings, dass Suizide, welche mit einem kräfteintensiven Einsatz von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst verbunden sind, noch immer große mediale Aufmerksamkeit erfahren. Selbige Aufmerksamkeit wird Suiziden von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zuteil. (Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.) Schon eine kurze Suche in einschlägigen Online-Suchmaschinen offenbart diverse Berichte über Suizide von Polizeibeamten.

Da ich sowohl in der Zeit meines Studiums als auch während des Dienstes in meiner Praxisbehörde häufiger mit dem Thema Suizid konfrontiert war und ich immer wieder auf Berichte über Suizide von Polizeibeamten stieß, erweckte dies bei mir den Anschein, als wäre die Suizidrate von Polizeibeamten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung besonders hoch.

Diese Arbeit soll daher untersuchen, ob bei Polizeibeamten tatsächlich ein erhöhtes Suizidrisiko durch die Ausübung ihres Amtes besteht. Im Fokus der Betrachtung steht dabei, welche psychosozialen Belastungen des Polizeidienstes und daraus resultierende psychischen Erkrankungen oder Störungen möglicherweise zu einer erhöhten Mortalität durch Selbstverletzung bei Polizeibeamten führen und welche Schlussfolgerungen daraus für die Verbesserung von Prävention von Suiziden abgeleitet werden können.

1.2 Begriffsbestimmung psychosoziale Belastung

Psychosoziale Belastung oder auch psychische Belastung ist nach der Norm EN ISO 10075-1 „die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken“ (2018, 1a).

Die Commission universitaire pour la santé et la sécurité au travail romande (2005) definiert die Risiken im Zusammenhang mit psychosozialer Belastung am Arbeitsplatz als jene, welche

sich aus der Interaktion zwischen einzelnen Menschen und aus der Interaktion des einzelnen Menschen mit seiner Arbeit ergeben. Man bezeichnet diese Risiken im Allgemeinen als «psychosoziale Risiken». […] Der Begriff der «psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz» deckt alle Risiken ab, denen man im beruflichen Umfeld begegnen kann und die die psychische, aber auch die physische Gesundheit des Einzelnen beeinträchtigen können. (S.2)

Lazarus und Folkmann definieren psychische Belastung als „eine Beziehung zwischen Person und Umwelt, die von der Person als Überbeanspruchung oder Überschreitung ihrer Ressourcen und als Angriff auf ihr Wohlbefinden wahrgenommen wird“ (Lazarus & Folkmann, 1984, S.19).

Im Rahmen des Polizeidienstes bedeutet dies sowohl die Belastung durch Geschehnisse innerhalb eines Einsatzes wie die Konfrontation mit Leichen, schwersten Verletzungen oder der eigenen Erfahrung körperlicher Gewalt als auch den dienstlichen Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten.

1.3 Begriffsbestimmung Gesundheit/Krankheit

Die WHO definiert psychische Gesundheit (2005) als „Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen. (WHO, 2005, S.4)“

1972 definierte das Bundessozialgericht Krankheit als „ein[en] regelwidrige[n] körperliche[n], geistige[n] oder seelische[n] Zustand, der Arbeitsunfähigkeit oder Behandlung oder beides nötig macht“ (zitiert nach dem medizinischen Dienst der Krankenversicherung, 2018).

„Folglich umfassen psychische Erkrankungen laut WHO psychische Gesundheitsprobleme und –belastungen, Verhaltensstörungen in Verbindung mit Verzweiflung, konkreten psychischen Symptomen und diagnostizierbaren psychischen Störungen wie Schizophrenie und Depression.“ (Teltscher, 2004, S.6)

2 Suizidrate / -problematik der Polizei

2.1 Absolute Suizidzahlen

Im Vergleich zu Untersuchungen der Suizide von Polizeibeamten anderer Länder, wie etwa den USA, sind statistische Analysen für die deutschen Polizeien des Bundes und der Bundesländer weniger vertreten. Aus einer Ausarbeitung des Ausschusses für den kirchlichen Dienst der Polizei der Evangelischen Kirche von Nordrhein-Westfalen (2016) geht hervor, dass sich in den Jahren von 1983 bis 2015 insgesamt 287 Polizeibeamte das Leben nahmen. Dies entspricht einem Durchschnitt von 8,7 Suiziden pro Jahr.

Laut Umfrage des Statistikportals Statista (2016) betrug die Anzahl der Polizisten im Jahr 2016 insgesamt 40.202 im aktiven Dienst. Dementsprechend begingen rund 0,22‰ der Polizeibeamten Selbstmord.

Im Vergleich hierzu stehen die Zahlen der Bevölkerung wie folgt:

Laut Landesbetrieb Information und Technik Nordrhein-Westfalen (2015) hatte das Land Nordrhein-Westfalen am 31.12.2015 insgesamt 17.865.516 Einwohner. Ebenfalls aus einer Statistik des o.g. Landesbetriebes geht hervor, dass im selben Jahr 1.533 Menschen sich das Leben nahmen.

Umgerechnet entspricht das einer Suizidrate von 0,08‰ der Bevölkerung.

Setzt man diese Raten in Bezug zueinander ergibt sich ein Verhältnis von 2,75 zu 1. Hervorzuheben ist hier wiederum, dass diese Zahlen lediglich auf den Suizidzahlen der Gesamtbevölkerung eines Jahres basieren. Nichtsdestotrotz ist hier tendenziell eine Differenz zu erkennen.

Fraglich bleibt allerdings, sowohl bei Polizeibeamten als auch bei der Gesamtbevölkerung, wie hoch eine etwaige Dunkelziffer einzuordnen ist, da beispielsweise Tablettenintoxikationen unter Umständen als <<natürlicher Tod>> eingestuft werden könnten.

Obgleich ich während meiner Recherchen zu dieser Arbeit mehrfach auf Diskussionen gestoßen bin, in welchen eine vorhandene oder nicht vorhandene erhöhte Suizidalität von Polizeibeamten strittig ist, ist die Tatsache, dass sich die oben dargestellten Raten faktisch errechnen lassen gegeben und weisen zumindest eine tendenziell erhöhte Suizidalität von Polizeibeamten in jüngster Zeit aus.

2.2 Entwicklungen der letzten Jahre

Die unten aufgeführte Abbildung des Kirchlichen Dienstes in der Polizei der Evangelischen Kirche von Westfalen (2016) stellt die jeweiligen Anzahlen von Suiziden pro Jahr zwischen 1983 und 2015 dar. Da insbesondere die Jahre 1990, 1999 und 2000 Jahre mit überdurchschnittlich hohen Suizidraten pro Jahr waren, betrachten wir die letzten, augenscheinlich unterdurchschnittlichen, Jahre von 2006 bis 2015.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Anzahl Suizide Polizei NRW

Insgesamt nahmen sich in diesen Jahren 67 Polizisten das Leben. Dies entspricht einer Suizidquote von 0,16‰. Zwar ist diese Quote wesentlich niedriger als die Gesamtquote der Jahre 1983-2015, dennoch ist sie noch immer doppelt so hoch, wie die Quote der Gesamtbevölkerung des Landes NRW.

Ob die zuletzt abnehmende Rate an Suiziden der Prädiktor einer weiterhin sinkenden Suizidzahl bei Polizeibeamten ist, oder nur eine kurzfristige Beruhigung darstellt, bevor sich wieder Jahre mit einer höheren Suizidalität abzeichnen, ist allerdings auf Grundlage der vorliegenden Daten nicht zu bestimmen.

2.3 Psychologische Störungen

Wie zuvor dargestellt ist die Suizidrate von Polizeibeamten wesentlich höher als selbige vom Rest der Bevölkerung des Landes NRW.

Inwiefern diese Problematik durch dienstlich bedingte Traumata gefördert wird, soll in dieser Arbeit untersucht und dargestellt werden. Hierzu formulierte Gschwend: „Häufig entstehen auch in Folge traumatischer Erfahrungen psychische Störungen wie z.B. eine (chronische) Posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, Süchte, und/oder somatische und psychosoziale Folgeschäden, die sich stark lebensbeeinträchtigend auswirken.“ (Gschwend, 2012, S.11)

Gesamtheitliche Erfassungen von psychischen Störungen von Polizeibeamten gibt es nur wenige. Empirische Studien beziehen sich meist ausschließlich auf das Auftreten einer PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung), diese werden im weiteren Verlauf dargestellt. Die Tatsache, dass verlässliche Zahlen über etwaige andere Störungen nicht zu erlangen sind, könnte vor allem darin begründet liegen, dass viele Polizeibeamte, aus Angst vor einer etwaigen Dienstunfähigkeit, ihre psychischen Störungen entweder unterbewusst unterdrücken oder gar bewusst verschweigen.

2.4 Verfügbarkeit von Mitteln

Nebst psychologischen Aspekten die die Polizisten in einen Suizid führen können, dürfen bei der Polizei auch rein faktische, den Umständen des Polizeidienstes geschuldete Faktoren nicht außeracht gelassen werden.

In der Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3311 (2015) werden alle bekannten Suizidfälle von Polizeibeamten des Landes Nordrhein-Westfalen der Jahre von 2010 bis 2014 aufgeführt. Aufgeführt wird hier unter anderem, um welche Todesart es sich bei jedem Suizid handelte. In den fünf dargestellten Jahren nahmen sich insgesamt 41 Polizeibeamte das Leben. Lediglich 11 dieser Suizide wurden nicht mittels einer Schusswaffe ausgeführt und nur zwei der verbleibenden 30 Suizide wurden nicht mit der Dienstwaffe vollzogen.

Insgesamt wurden also insgesamt rund 73% der Suizide von Polizeibeamten mit Schusswaffen durchgeführt.

Im Vergleich hierzu kann der Statistische Bericht des Landesbetriebes Information und Technik Nordrhein-Westfalen (2015) herangezogen werden. Demnach kam es 2015 in Nordrhein-Westfalen insgesamt zu 1533 Suiziden, von welchen lediglich 86 mittels Handfeuerwaffen vollzogen wurden. Dies entspricht nur rund 5,6% der Suizide der Allgemeinbevölkerung. Die Rate der Suizide mittels Schusswaffen seitens der Polizeibeamten ist also um mehr als das Dreizehnfache höher als bei der Gesamtbevölkerung.

Da die Dienstwaffe zu den Führungs- und Einsatzmitteln eines jeden Polizeibeamten gehört, ist der Zugriff auf selbige zumindest während der Ausübung des Dienstes schwerlich einzuschränken.

Insgesamt 22 der 30 oben erläuterten Suizide (IT-NRW, 2015) wurden nicht in Diensträumen vollzogen. 12 dieser 22 Fälle allerdings wurden im öffentlichen Raum durchgeführt, wobei aus der Statistik nicht eindeutig zu entnehmen ist, ob sich die Betroffenen im Dienst oder in ihrer Freizeit befanden.

Ungeachtet dessen, ist gemäß RdErl. d. Ministeriums für Inneres und Kommunales (MIK) über den Besitz und das Führen dienstlich zugewiesener Schusswaffen und Reizstoffsprühgeräte (RSG) durch Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte außerhalb des Dienstes jeder „Polizeivollzugsbeamtin[..] und -beamte […] ermächtigt, über Pistolen und Revolver, mit denen sie dienstlich ausgestattet sind (Dienstwaffen) und persönlich zugewiesene RSG außerhalb des Dienstes die tatsächliche Gewalt auszuüben (Besitz) und diese zu führen“ (MIK, 2011, Nr.1).

Unter Außerachtlassung weniger Ausnahmen ist es daher jedem Polizeibeamten gestattet, die Dienstwaffe auch nach dem Dienst mitzuführen.

Eine Schusswaffe als solche ist, insbesondere bei Personen, welche über eine Schießausbildung verfügen und daher genauere Kenntnisse von Trefferwirkungen haben, ein äußerst wirksames Mittel. Zusätzlich tritt der Tod bei dieser Art des Suizides unverzüglich ein, im Regelfall muss der Suizident keine Qualen fürchten, wodurch eine gegebenenfalls vorhandene Hemmschwelle verringert wird.

3 Vulnerabilitäts-Stress-Modell

1973 formulierten Zubin und Spring das Vulnerabilitäts-Stress-Modell mit dem Ziel, die Entstehung schizophrener Störungen präziser als die bis dahin bekannten Konzepte zu erklären. Dieses Modell gilt noch heute als ein generelles Modell zur ansatzweisen Erklärung der Entstehung diverser Störungen Die wesentliche Aussage des Modells wird nach Brunnhuber, Frauenknecht und Lieb (2005) wie folgt definiert:

Durch verschiedene genetische/entwicklungsbiologische Faktoren kommt es zu neuropathologischen und/oder biochemischen Veränderungen im Gehirn, die schon lange vor Ausbruch der Erkrankung bestehen. Diese stellen eine „Verletzbarkeit“, eine „Vulnerabilität“ für die Entstehung einer Schizophrenie dar, reichen für die Auslösung der manifesten Erkrankung aber nicht aus. Zusätzlich müssen noch Umweltfaktoren („Stress“) wirksam werden, die eine Belastung auf das Gehirn ausüben. Infolgedessen kommt es zum Ausbruch der Erkrankung, da die Kompensationsmechanismen des schon vorgeschädigten Gehirns nicht mehr ausreichen, um die Erkrankung zu verhindern. (Brunnhuber et al., 2005, S. 176-177)

3.1 Vulnerabilität

Laut Möller, Laux und Deister ist Vulnerabilität die „Individuell unterschiedliche Verletzbarkeit und Bereitschaft für das Auftreten psychischer Störungen (insbesondere Psychosen).“ (Möller et al., 1996, Seite 562)

Nach Teltscher (2006) sind psychische Störungen multifaktoriell bedingt und sowohl Lebens- als auch Psychische-Krankheitsgeschichte von Patienten eng miteinander verbunden. Psychische Störungen entwickeln sich in einem Prozess mit direktem Zusammenhang von Fähigkeiten und Erfahrungen des Individuums. Neben lebenserfahrungsgeschichtlichen Einflüssen ist laut Teltscher die Vulnerabilität auch abhängig von genetischen Faktoren und Schädigungen im Mutterleib.

Mit Bezug zu Posttraumatischen Belastungsstörungen deuten nach Grabe (2015) erste psychologische Forschungsergebnisse darauf hin, dass bestimmte genetische Polymorphismen in Zusammenwirkung mit Traumata das Erkrankungsrisiko eines Individuums nachhaltig bestimmen. „Insgesamt wird eine multifaktorielle Ätiopathogenese angenommen, bei der traumaspezifische Faktoren mit genetischen, biologischen und psychosozialen Faktoren interagieren“ (Grabe, 2015, S.84).

Inwiefern wiederum ein sozialer Aspekt Einfluss auf die Vulnerabilität nimmt, ist umstritten. Laut Teltscher (2006) gibt es sowohl die Auffassung, dass die Zugehörigkeit zu einer unteren sozialen Schicht die Entstehung einer Störung fördert, als auch, dass die Störung selbst den Betroffenen in eine untere Schicht abrutschen lässt.

3.2 Stressoren

Nach Müller-Hohmann wird unter Stress ein Zustand der körperlichen oder seelischen Belastung verstanden. Die Begrifflichkeit wird in der Fachliteratur und durch den häufigen Gebrauch in der Alltagssprache unspezifisch verwendet. Stress als Synonym für Anspannung und Druck umfasst im umgangssprachlichen Gebrauch sowohl die auslösenden Faktoren, die in der Fachsprache Stressoren genannt werden und auch das Ergebnis der Einwirkung der Stressoren. Das Resultat der Einwirkung der Reize auf den Organismus wird in der Fachsprache als „Stress“ bezeichnet. (Müller-Hohmann, 2008, S. 15)

Stressoren sind nach Teltscher (2006) in psychologische und stoffliche Stressoren zu unterscheiden. Insbesondere psychologische Stressoren sind höchst Individuell. So kann die gleiche Situation für den einen Menschen keinen Stress, für den anderen wiederum unerträglich erscheinende Gefühle auslösen. Ein solcher individueller Stress kann etwa ein Vortrag vor einer größeren Zuhörerschaft sein. Stoffliche Stressoren wiederum sind nach Teltscher (ebd) Alkohol und andere Drogen, welche einen negativen Einfluss auf die Vulnerabilität des Individuums haben.

Schon hier zeigt sich die Komplexität der Bildung einer psychischen Störung. Sowohl die Bereiche der Vulnerabilität von Polizeibeamten als Individuen als auch das Auftreten von Stressoren und der Umgang mit selbigen wird in späteren Abschnitten erneut aufgegriffen.

4 Auswahl Psychischer- und Verhaltensstörungen

4.1 Akute Belastungsreaktion

Laut ICD-10 (zitiert nach dem deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2016b) handelt es sich bei einer akuten Belastungsreaktion um eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt, und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt. Die individuelle Vulnerabilität und die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Coping-Strategien) spielen bei Auftreten und Schweregrad der akuten Belastungsreaktionen eine Rolle. Die Symptomatik zeigt typischerweise ein gemischtes und wechselndes Bild, beginnend mit einer Art von "Betäubung", mit einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Aufmerksamkeit, einer Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und Desorientiertheit. Diesem Zustand kann ein weiteres Sichzurückziehen aus der Umweltsituation folgen […] oder aber ein Unruhezustand und Überaktivität […]. Vegetative Zeichen panischer Angst wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten treten zumeist auf. Die Symptome erscheinen im Allgemeinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis und gehen innerhalb von zwei oder drei Tagen, oft innerhalb von Stunden zurück. Teilweise oder vollständige Amnesie […] kann vorkommen. Wenn die Symptome andauern, sollte eine Änderung der Diagnose in Erwägung gezogen werden. (F43.0)

Es handelt sich hierbei also um eine häufig zu beobachtende, <<normale>> Reaktion auf ein akut belastendes Erlebnis. Auch auf Seiten der Polizeibeamten kann eine solche Reaktion häufiger auftreten, eine intensive Beobachtung der weiteren Entwicklung kann hier erforderlich werden, um frühzeitig intervenieren zu können, sollte die Belastungsreaktion nicht abklingen.

4.2 PTBS

4.2.1 Einführung und Epidemiologie

Eine der für den Polizeidienst wichtigsten psychischen Störungen ist die Posttraumatische Belastungsstörung (kurz: PTBS).

Nach Bering (2005) handelt es sich bei einer PTBS um eine besondere Form jener Störungen, bei welchen das auslösende Ereignis ein katastrophales Ausmaß hat und im unmittelbaren Zusammenhang mit den psychischen Folgeschäden steht.

Breslau, Kessler, Chilcoat, Schultz, Davis und Andreski (1998) belegten mit einer Studie, dass die Lebenszeitprävalenz einer PTBS innerhalb der Allgemeinbevölkerung bei ca. 7,8% liegt.

Derartige Zahlen mit ausschließlichem Bezug auf die Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen oder auf andere deutsche Polizeien sind vergleichsweise rar gesät.

Latscha führte 2005 in seiner Dissertation eine Sammlung von Untersuchungen zur Epidemiologie von PTBS unter Polizeibeamten auf. Ein aus den dort aufgeführten Ergebnissen ermittelter Durschnitt ergibt, dass 18,4% aller 1865 befragten Polizisten aus vier verschiedenen Ländern (inkl. Deutschland) ein Vollbild einer PTBS aufwiesen. Selbst bei dieser Prävalenz, wobei ein Teilbild einer PTBS außeracht gelassen wurde, wird deutlich, dass die situative Prävalenz bei Polizeibeamten mehr als doppelt so hoch ist, als die Lebenszeitprävalenz der deutschen Allgemeinbevölkerung. Anzumerken ist allerdings, dass nicht jeder auf ein katastrophales Erlebnis hin eine Belastungsstörung entwickelt. Weiterhin variiert die Prävalenz bei unterschiedlichen Traumata.

Bering stellte 2005 hierzu unter Bezugnahme auf Ergebnisse weiterer Studien folgendes dar:

Bei sexuellem Missbrauch liegt sie nach Resnick et al., (1993) bei 57%; nach Gewaltverbrechen liegt sie nach einer Übersichtsarbeit von McFarlane und De Girolamo (1996) bei über 25%. Kuch et al. (1996) berichtet über Patienten nach Verkehrsunfällen und errechnen eine Ein-Jahres-Prävalenz von ca. 10%. Unfälle mit Todesfolge bei den betroffenen Angehörigen zu schockartigen Verlusterlebnissen. Langfristig finden sich bei über 30% der Angehörigen depressive und psychosomatische Beschwerdebilder, z.T. mit chronischen, irreversiblen Folgen (Mayou & Radanow, 1996). (S.23)

Weiterhin ist familiäre Gewalt nach Bering (2005) das in Deutschland häufigste Gewalterlebnis mit traumatischen Folgen. In Anbetracht der Tatsache, dass sich allein in Nordrhein-Westfalen jährlich rund 80.000 Kriminalitätsopfer von Gewaltdelikten finden, sieht Bering hier Handlungsbedarf.

Pielmaier und Maercker führten 2015 aus:

Nach der Exposition gegenüber einem potenziell traumatisierenden Ereignis treten bei den meisten Personen anfänglich akute Belastungsreaktionen auf. […] Im günstigsten Fall kommt es nachfolgend zu einer Wiederherstellung der prätraumatischen Gesundheit und zur Integration des Erlebten oder es entwickelt sich eine manifeste posttraumatische Belastungsreaktion. Posttraumatische Faktoren, die zur Gesundung oder aber zur Manifestation beitragen, werden allgemein auch als Aufrechterhaltungsfaktoren bezeichnet. (S.80f.)

Als Aufrechterhaltungsfaktoren werden nach Pielmaier und Maercker (2015) solche Faktoren bezeichnet, welche zu einer Manifestation der Traumareaktion beitragen. Hierzu zählen insbesondere Lebensereignisse, welche eine zusätzliche Belastung für denjenigen bedeuten, welcher eine traumatische Situation erlebt hat.

Aus diesem Grund kann die weitere Dienstausübung eines Polizeibeamten nach der Konfrontation mit einem potentiell traumatischen Ereignis die Belastungssymptomatik zusätzlich verstärken. Dies kann insbesondere dann auftreten, wenn der Polizeibeamte kurz nach dem Ursprungsereignis erneut in eine ähnliche, oder aber auch in eine anders gelagerte, dennoch psychisch stark belastende Einsatzsituation gerät.

Weiterhin ist anzumerken, wie 2012 von Gschwend dargestellt, dass ein Trauma eines Betroffenen ebenfalls den Helfer „anstecken“ kann, der Helfer also die gleichen Gefühle erfährt, wie der Geschädigte selbst. Dieser Aspekt wird unter Punkt 6.3 dezidierter erläutert.

4.2.2 Diagnostische Kriterien

Die wesentlichen Definitionen der Posttraumatischen Belastungsstörung finden sich im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (kurz: DSM) und in der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD), von welcher die ICD-10 die aktuell gültige Ausgabe ist.

Laut ICD-10 (zitiert nach dem deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2016b)) entsteht eine Posttraumatische Belastungsstörung als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. […] Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über. (F43.1)

Nach der American Psychiatric Association (2013) werden die sechs wesentlichen diagnostischen Kriterien einer PTBS wie folgt definiert: Das A-Kriterium umfasst das traumatische Erlebnis. Bei diesem muss die Person den tatsächlichen oder drohenden Tod oder zumindest die ernsthafte Gefahr für körperliche oder seelische Gesundheit von sich selbst oder einer anderen Person erleben oder beobachten. Zusätzlich wurden in der Aktualisierung vom DSM-IV auf DSM-V zusätzlich aufgenommen, dass die Person erfährt, dass eine ihm nahestehende Person ein Trauma erlitt oder die Person eine extreme Konfrontation mit aversiven Details des traumatischen Ereignisses durchlebt. Letztere wurde insbesondere unter Bezugnahme auf die Traumatisierungen während der Berufsausübung von Hilfsorganisationen als Kriterien aufgenommen, um diesen Aspekten mehr Beachtung zu schenken.

Die B C und D Kriterien umfassen die Symptomatik einer PTBS. Hierbei ist es erforderlich, dass das traumatische Ereignis wiedererlebt wird. Dies kann unter anderem durch wiederkehrende Erinnerungen und Träume geschehen oder auch durch körperliche Reaktionen auf Hinweisreize, welche einen Aspekt des Ursprungsereignisses ähneln.

Als weiteres Kriterium ist eine Vermeidung gefordert, welche anhand der Vermeidung von Gedanken, Gefühlen deutlich wird. Auch eine Entfremdung, Vermeidung von Aktivitäten oder Orten ist unter anderen symptomatisch für dieses Kriterium.

Das D-Kriterium fordert ein gesteigertes Erregungsniveau, welches sich unter anderem in Einschlafschwierigkeiten, Wutausbrüchen, Konzentrationsschwierigkeiten und übersteigerten Schreckreaktionen verdeutlicht.

Das E-Kriterium fordert, dass die Störungsbilder der B C und D Kriterien länger als einen Monat anhalten und das F-Kriterium ist erfüllt, sofern ein klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen oder anderen Funktionsbereichen vorliegt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Die Suizidalität von Polizeibeamten. Wie wirkt sich die psychosoziale Belastung des Polizeidienstes auf das Selbstmordrisiko aus?
Jahr
2019
Seiten
49
Katalognummer
V493916
ISBN (eBook)
9783960956709
ISBN (Buch)
9783960956716
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Polizeivollzugsdienst, Suizid, Polizei, FHÖV, Suizidalität, PTBS, PVD, Stressor, Vulnerabilität, Trauma, Depression, Resilienz
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Die Suizidalität von Polizeibeamten. Wie wirkt sich die psychosoziale Belastung des Polizeidienstes auf das Selbstmordrisiko aus?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/493916

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