Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das aristotelische Theater
3. Brechts episches Theater
4. Verfremdungseffekt als Unterbrechung der Handlung
5. Formen der Verfremdungseffekte und ihre Funktion am Beispiel Die heilige Johanna der Schlachthöfe
5.1 Brecht-Songs
5.2. Lachen als V-Effekt
6. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Bertolt Brecht reformierte mit seinen neuen Methoden und Techniken das Theater. Ein Aspekt dieser Theaterreform sind die Verfremdungseffekte, welche in verschiedenen Formen in Erscheinung treten können. Im Folgenden soll kurz erläutert werden, welche Neuerungen und Unterschiede Brecht mit seiner Theaterform einsetzt und welche Funktionen die Verfremdungseffekte dabei besitzen. Die Funktionen des Verfremdungseffekts sollen anhand von zwei Beispielen – dem Gestus des Lachens und den Brecht-Songs – an Brechts Werk Die heilige Johanna der Schlachthöfe untersucht werden.
2. Das aristotelische Theater
Brechts epische Form des Theaters unterscheidet sich deutlich von der damals gängigen dramatischen Theaterform, die auch als aristotelisches Theater bezeichnet werden kann. Dieses aristotelische Theater „konzentriert sich […] auf die dialogische Interaktion sprachmächtiger Figuren auf der Bühne, wahrt die Einheit von Zeit, Ort und Handlung und zeichnet sich durch Kohärenz und Stringenz der Handlungsführung […] aus“1, weshalb es zu der „geschlossenen Form“2 des Theaters zählt. In dieser Form durchläuft der Protagonist eine stringente, chronologische Handlung, die in der Regel in fünf Akte aufgeteilt ist. Die Handlung verläuft linear. Eine neue Szene beginnt erst, nachdem die vorherige abgeschlossen wurde. Hauptsächlich wurden mit dieser Form zwischenmenschliche Tragödien dargestellt, die meist in einer Katastrophe z.B. dem Tod des Protagonisten enden. „Der Zuschauer soll sich in die dargestellten Figuren einfühlen und sich mit ihrer Rolle identifizieren, um so über die Katastrophe zur Katharsis, einer durch Mitleid hervorgerufenen Läuterung zu gelangen“3. Er wird gar „in Trance versetzt“4 und fungiert lediglich als außenstehender, mitfühlender Zuschauer.
3. Brechts episches Theater
Brecht revolutionierte das Theater, indem er die Bühne und das Publikum aufwertete. Dies geschah unter anderem durch die Auflösung der vierten Wand, die zwischen dem Publikum und den Schauspielern Distanz herstellte. Die Bühne fungiert nicht mehr als „Bannraum“5, die ihr Publikum als „eine Masse hypnotisierter Versuchspersonen“6 ansieht, sondern als einen „Ausstellungsraum“7 für „Interessenten, deren Anforderungen sie zu genügen hat“8. Durch die aufgehobene Distanz zwischen Schauspielern und Publikum ist es möglich, das Publikum in verschiedenen Formen mit in das Geschehen einzubinden. Die Handlung findet nun nicht länger ausschließlich auf der Bühne statt, sondern auch in der unmittelbaren Nähe des Publikums. So ist es beispielsweise möglich, dass ein Schauspieler, der zuvor die Bühne verlassen hat, im hinteren Teil des Saals wieder auftritt und durch die Gänge, in Richtung Bühne geht. Durch dieses Mittel wird vor allem die vierte Wand aufgelöst, die im aristotelischen Theater die Distanz zwischen Bühne und Publikum verantwortlich war.
„Das Bühnengeschehen wird nicht einfach vorgeführt, sondern systematisch reflektiert und unterbrochen, um das Publikum zum ›eingreifenden Denken‹ zu bewegen“9. Der Zuschauer setzt sich mit dem auf der Bühne vorgeführten Theaterstück auseinander und hinterfragt, beziehungsweise reflektiert dessen Inhalt kritisch. In seinem Theater „demonstriert […] [Brecht die] gesellschaftliche[n] Verhältnisse als veränderbar“10, wodurch es dem Zuschauer möglich ist, „seine Einstellung zum Leben und zur Umwelt zu überdenken und zu ändern, wenn ihm bessere Alternativen aufgezeigt werden“11.
Doch mit welchen Mitteln erreicht Brecht, dass der Zuschauer über die dargestellten Verhältnisse nachdenkt und aktiv wird, diese gegebenenfalls zu ändern? „Das zentrale Verfahren […] ist der Verfremdungseffekt (V-Effekt)“12. Durch diese Verfremdung wird die Handlung unterbrochen. Die Unterbrechungen haben das Ziel „das Vertraute in einen neuen [für den Zuschauer] ungewohnten Kontext zu rücken und selbstverständliche Zusammenhänge aufzusprengen“13. Das epische Theater nach Brecht „umfasst Dramen und theatralische Konzepte, die sich vom aristotelischen Modell abgrenzen“14 und zählt zu der offenen Dramenform, da im Gegensatz zu der oben beschriebenen geschlossenen Dramenform, „keine kausal-kontinuierliche Handlung“15 vorhanden ist. Ferner existiert kein stringent chronologisch abfolgender Handlungsstrang. Es sind „diverse gleichberechtigte Stränge“16 zu beobachten. Dieses Prinzip beschreibt Schößler als „Polymythie“17. Brecht lebte in einer Zeit, in der die Welt durch Kriege, wirtschaftliche Krisen, aber auch wissenschaftlichen Fortschritt geprägt war. Er „setzte sich zum Ziel, ein Theater für das »wissenschaftliche Zeitalter« zu schaffen“18, bei dem das Publikum „gesellschaftliche Verhältnisse als veränderbar“19 wahrnimmt. Diese Anregung zum „eingreifenden Denken“20 war mit der stark illusionistischen, aristotelischen Theaterform nicht möglich, weil diese das Publikum dazu anregte, sich mit den Figuren auf der Bühne zu identifizieren und mit ihnen mitzufühlen. Durch den technischen Fortschritt war es Brecht möglich das Theater neu zu gestalten. Diese ‚neue Zeit‘ brauchte eine neue Form von Theater, welche Technik und Requisiten auf eine andere Art und Weise einsetzt.
4. Verfremdungseffekt als Unterbrechung der Handlung
Wie bereits oben erläutert, basiert Brechts neue Theaterform auf Unterbrechungen der Handlung. In Brechts epischer Theaterform wird „[kaum] an das Einfühlungsvermögen der Zuschauer […] appelliert“21. Anstelle der Einfühlung und Identifikation des Publikums mit den Figuren auf der Bühne, welche im aristotelischen Theater im Vordergrund steht, legt das epische Theater den Schwerpunkt auf die Verfremdung22. Das Publikum soll „statt [sich] in den Helden einzufühlen […] das Staunen über die Verhältnisse lernen, in denen er sich bewegt“23. Dem Zuschauer werden vertraute und für ihn „selbstverständliche Zusammenhänge […] in ihrem Verlauf gestoppt und damit beobachtbar“24, wodurch die Möglichkeit entsteht diese Zusammenhänge auf alltägliche Situationen zu projizieren und sie kritisch zu hinterfragen. Brecht beschreibt in seinem Werk Kleines Organon für das Theater die „verfremdende Abbildung“25 der Verhältnisse als „eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber doch zugleich fremd erscheinen läßt“26. Brecht definiert diese Technik als Verfremdung. „Diese […] Verfremdung von Zuständen vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Abläufen“27, die das Ziel besitzt, „das Vertraute in einen neuen ungewohnten Kontext zu rücken und selbstverständliche Zusammenhänge aufzusprengen“28. Als Beispiel für eine solche Verfremdung beschreibt Walter Benjamin folgendes Szenario:
Das primitivste Beispiel: eine Familienszene. Plötzlich tritt ein Fremder ein. Die Frau war gerade im Begriff, eine Bronze zu ergreifen, um sie nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen, um nach einem Schutzmann zu rufen. In diesem Augenblick erschein in der Tür der Fremde. […] der Fremde wird mit dem Zustand konfrontiert: verstörte Mienen, offenes Fenster, verwüstetes Mobiliar.29
Der Zuschauer wird mit einer ihm bekannten Szene – dem Familienstreit – konfrontiert. Die Handlung wird durch den Eintritt des Fremden unterbrochen und wirkt aufgrund dessen auf ihn bizarr und aus dem Kontext gerissen. Dem Zuschauer werden also Situationen, Zusammenhänge und Verhältnisse vorgeführt, die er als bekannt wahrnimmt, aber auf ihn befremdlich wirken. Durch die Verfremdung erreicht Brecht, dass diesen bekannten Vorgängen der „Stempel des Vertrauten“30 entfernt wird. Das Publikum wundert sich eher, als „daß es hypnotisch suggeriert in Trance versetzt“31 wird, wie es im aristotelischen Theater der Fall ist. Ferner soll sich der Zuschauer, mit Hilfe der auf der Bühne dargestellten Vorgänge und Situationen, bewusst machen, dass er die dargestellten Zu- und Missstände nicht einfach als gegeben und unveränderlich hinnehmen muss, sondern er selbst in der Lage ist, diese zu verändern, wenn er sich aktiv mit ihnen auseinandersetzt. Jan Knopf definiert die Verfremdung folgendermaßen:
Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen. […] Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen. Dasselbe kann natürlich auch mit Zeitgenossen geschehen, auch ihre Haltungen können als zeitgebunden, historisch, vergänglich dargestellt werden.32
Die Verfremdung kann auch als eine „verfremdende Abbildung“33 verstanden werden, die
den vertrauten Gegenstand als ein Fremde[n] abrücken, das Gewohnte als ungewöhnlich erscheinen lassen, das Nichterkannte erkennbar, das Bekannte durch eine neue überraschende Seite zum Erkannten machen [muss].34
5. Formen der Verfremdungseffekte und ihre Funktion am Beispiel Die heilige Johanna der Schlachthöfe
In diesem Abschnitt werden Typen der V-Effekte und ihre Funktion am Beispiel des Dramas Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1929/1930) (im Folgenden auch abgekürzt als Johanna bezeichnet) thematisiert.
5.1 Brecht-Songs
Die sogenannten Brecht-Songs sind ein Kennzeichen für das epische Theater nach Brecht. Sie fungieren als „Hauptmittel der Verfremdung“35. Die Wirkung der Verfremdung wird durch den „Wechsel der Form“36 verstärkt. Brecht postuliert, dass der Wechsel von Schauspiel und Handlung zu Song bzw. Gesang explizit zu trennen ist, sodass eine „Verschmelzung der Künste“37 ausgeschlossen wird. Dieser Prozess der Verschmelzung der Künste, könnte den Zuschauer erfassen38 und somit illusionistisch auf ihn wirken. Auf der Bühne wird die Trennung der Elemente unter anderem durch den Beleuchtungswechsel gewährleistet. Dadurch ist es möglich, beispielsweise einen Song strikt von der vorangegangenen und der darauffolgenden Handlung zu trennen. Wichtig sei es vor allem, dass der „Schauspieler auch den Singenden“39 zeigt, er also seinen Gestus verändert. Denn „er muß deutlich machen, daß er eine andere Ebene betritt, so daß keinesfalls das gehobene Reden und Singen als eine Steigerung des nüchternen Redens empfunden wird“40. Der Schauspieler muss somit einen, für den Zuschauer sichtbaren, „Funktionswechsel“41 durchführen.
[...]
1 Kittstein, Ulrich: Episches Theater. Nicht-aristotelisches Theater. In: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Peter W. Marx. Stuttgart: Metzler 2012. S. 296
2 Ebd.
3 Schwier, Julia; Möhlmann u.a.: Der Brecht-Effekt. Das epische Theater bei Bertolt Brecht. München: ScienceFactory 2013. S. 35
4 Müller, Joachim: Verfremdungen im epischen Theater Brechts. In: Verfremdung in der Literatur. Hrsg. von Hermann Helmers. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges. 1984. S. 139
5 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. S. 520
6 Ebd.
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Schößler, Franziska: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2012. S. 67
10 Ebd. S. 68
11 Schwier, Julia: Der Brecht-Effekt. S. 36
12 Schößler, Franziska: Einführung in die Dramenanalyse. S. 68
13 Ebd.
14 Kittstein, Ulrich: Episches Theater. S. 296
15 Schößler, Franziska: Einführung in die Dramenanalyse. S. 64
16 Ebd.
17 Ebd.
18 Kittstein, Ulrich: Episches Theater. S. 298
19 Schößler, Franziska: Einführung in die Dramenanalyse. S. 68
20 Ebd.
21 Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater? In: Episches Theater. Hrsg. von Reinhold Grimm. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch. 1966. S.90
22 Vgl. Kittstein, Ulrich: Episches Theater. S. 301
23 Ebd.
24 Schößler, Franziska: Einführung in die Dramenanalyse. S. 68
25 Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater. In: Verfremdung in der Literatur. Hrsg. von Hermann Helmers. Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges. 1984. S. 133
26 Ebd.
27 Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater? S. 90
28 Schößler, Franziska: Einführung in die Dramenanalyse. Brechts episches Theater. S. 68
29 Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater? S. 90
30 Ebd.
31 Müller, Joachim: Verfremdung im epischen Theater Brechts. S. 139
32 Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1996. S. 383
33 Müller, Joachim: Verfremdung im epischen Theater Brechts. S. 139
34 Ebd.
35 Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes. In: Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft. Nürnberg: Verlag Hans Carl Nürnberg. 1965. S. 59
36 Ebd.
37 Ebd.
38 Vgl. Ebd.
39 Müller, Joachim: Verfremdung im epischen Theater Brechts. S. 144
40 Müller, Joachim: Verfremdung im epischen Theater Brechts. S. 145
41 Ebd.