Analyse von Arbeitswelt und Verkehr in Franz Kafkas "Der Verschollene"


Seminararbeit, 2005

18 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Das Amerikabild in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts

2. Darstellungen des Verkehrs

3. Darstellung der Arbeitswelt
3.1. Der Onkel als Erziehungsinstanz
3.2. Die Arbeitswelt im Kontor des Onkels
3.3. Die Arbeitswelt im Hotel occidental
3.4. Hierarchische Strukturen

4. Georg Simmels Ansichten im Roman Der Verschollene
4.1. „Blasiertheit“ des Großstadtmenschen
4.2. Funktion des Geldes im großstädtischen Leben

5. Zeitlosigkeit des Amerika-Diskuses

Bibliographie

1. Das Amerikabild in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Mit Der Verschollene hat Franz Kafka einen Roman geschrieben, der die Lebensverhältnisse in der modernen amerikanischen Gesellschaft thematisiert und somit einen Beitrag zum Amerika-Diskurs seiner Zeit geleistet. Schon einige Zeit vor der Entstehung des Romans, etwa um 1900 kristallisierten sich in Deutschland die grundlegenden Positionen gegenüber „Amerika und den Ausprägungen der modernen Massenkultur“[1] heraus. Schon im 19. Jahrhundert war das Amerikabild in der deutschen Literatur kontrovers diskutiert worden. Das entstehende Spannungsfeld wird durch Ernst Willkomms amerikafreundlichen Roman Die Europamüden (2 Bde., 1838) und der Gegenpolemik des Amerika-Müden (1855) von Ferdinand Kürnberger verdeutlicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist ein deutlicher Anstieg der Auseinandersetzungen mit der Neuen Welt auszumachen, der durch den fortschreitenden Modernisierungsprozess sowie der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Annährung zwischen Deutschland und den USA bedingt ist. Dabei lässt sich eine Funktionsverschiebung des Amerika-Bildes erkennen: Während im 19. Jahrhundert die beengenden europäischen Lebensverhältnisse eine Begeisterung für den unbegrenzt weiten Raum der Neuen Welt hervorriefen, gewann im 20. Jahrhundert immer mehr das Amerikaverständnis als Vorwegnahme der europäischen Zukunft an Bedeutung. Daraus entwickelte sich in der Folge eine Furcht vor schädlichem Einfluss der amerikanischen Kultur auf Europa, was verschiedene Publikationen aus diesem Zeitraum belegen. So sprachen Max Pranger in Die amerikanische Gefahr (1902) und Hugo Knebel Doebritz in Besteht für Deutschland eine amerikanische Gefahr? (1904) ihre Befürchtungen offen aus. Ein Zurücksinken auf eine niedrigere Kulturstufe und die „völlige entseelung der menschheit“[2] wurden mit dem Begriff der „Amerikanisierung“ verbunden. Amerika diente also durchaus als Projektionsfläche für alle Begleiterscheinungen des modernen Lebens und seiner Erscheinungsformen wie Kapitalismus, Technologisierung, Urbanisierung und Industrialisierung, um die sozialen und kulturellen Umwälzungen in Europa zu thematisieren[3].

Ich werde in meiner Arbeit zunächst den Straßenverkehr und die Arbeitswelt im Kontor des Onkels sowie im Hotel occidental analysieren. Die Arbeitsbedingungen, denen Karl und Robinson als „Diener“ im Hause Bruneldas unterworfen sind, werden nicht Gegenstand näherer Betrachtungen sein, da ich mich auf die Beschreibung der Phänomene der Arbeit in Betrieben des „kapitalistischen“ Amerika beschränken werde. Anschließend werde ich versuchen, einen Zusammenhang zwischen Kafkas Roman und den Gedanken Georg Simmels herzustellen.

2. Straßenverkehr

Der Autor schildert in seinem Roman sehr detailliert den Verkehr in den Großstädten New York und Ramses. In beiden Städten herrscht ein homogener Verkehrsfluss, der den Neuankömmling Karl sofort in den Bann schlägt. Für ihn stellt es ein Vergnügen dar, die Sinneseindrücke des New Yorker Straßenlebens auf sich einprasseln zu lassen. Diese Impressionen sind auch Gegenstand seiner Träume:

S.40: Und morgen wie abend und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der von oben gesehn sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte […]

Karl spricht weiterhin davon, dass die Quantität der für ihn als Europäer ungewohnten Eindrücke sein Auge betört (S.40). Der „immer drängende“ Verkehr resultiert aus der Eile, die allen Verkehrsteilnehmern aufgrund ihrer Pflichten geboten ist. Nicht zuletzt wird zudem auf die mit dem Verkehr verbundene Anonymität hingewiesen. Die einzelnen Menschen sind nicht mehr klar zu unterscheiden, sie stellen eine einzige verzerrte Masse dar. Das enorme Verkehrsaufkommen in dem als durchaus modern dargestellten New York charakterisiert sich durch eine allgemeine Hast, die die Menschen selbst in ihrer Freizeit antreibt. Karl beschreibt dieses Phänomen bei der Fahrt zu Herrn Pollunders Landhaus:

S.52: Aus den Straßen, wo das Publikum in großer unverhüllter Furcht vor Verspätung im fliegenden Schritt der Fahrzeuge, die zu möglichster Eile gebracht waren, zu den Theatern drängte […]

Auch in der zweiten beschriebenen Großstadt, Ramses, strömt der Verkehr „geradlinig“. Nicht nur die Autos, sondern selbst die Straßen „fliegen“ sternförmig von den großen Plätzen auseinander. Die Untergrundbahn wird genauso in atemberaubender Schnelligkeit „ohne jeden Widerstand hingerissen“, so dass die Fahrten „im Nu“ vergehen (S.135). Dabei geht der Verkehr nicht immer flüssig voran, was die Verkehrsteilnehmer mit einer unglaublichen Ruhe und Disziplin hinnehmen, die außer an großen Knotenpunkten keine polizeiliche Überwachung bedingen:

S.98: Über die allgemeine Ruhe staunte Karl am meisten. Wäre nicht das Geschrei der sorglosen Schlachttiere gewesen, man hätte vielleicht nichts gehört als das Klappern der Hufe und das Sausen der Antiderapants. Dabei war die Fahrtschnelligkeit natürlich nicht immer die gleiche. Wenn auf einzelnen Plätzen infolge allzu großen Andranges von den Seiten große Umstellungen vorgenommen werden mußten, stockten die ganzen Reihen und fuhren nur Schritt für Schritt, dann aber kam es auch wieder vor, daß für ein Weilchen alles blitzschnell vorbeijagte, bis es wie von einer einzigen Bremse regiert sich wieder besänftigte.

Der Verkehr wird als eine homogene Masse beschrieben, die gleichsam von nur einer einzigen Bremse gestoppt werden kann. Wegen des großen Verkehrsaufkommens auf den Hauptstraßen ist es oft ratsam, Umwege in Kauf zu nehmen und dadurch kostbare Zeit zu sparen (S.46). Nur in Extremfällen gerät das Verkehrssystem aus den Fugen wie bei der Demonstration der Metallarbeiter in den Vorstädten, wo „nur der notwendigste Wagenverkehr an den Kreuzungsstellen gestattet werden“ kann (S.52). Hier sind dann auch die polizeilichen Ordnungskräfte gefragt, die Situation zu kontrollieren. Langsamkeit im Verkehr bleibt nicht ohne negative Folgen: ein „Wagen der elektrischen Straßenbahn, der sich nicht rasch genug geflüchtet hatte“ steht nun „leer und dunkel“ da, während der Lokführer und der Schaffner ohne sinnvolle Beschäftigung auf der Plattform sitzen (S.53). Der Straßenbahnwagen ist nicht in Bewegung, womit er aus dem Bild, das Kafka vom amerikanischen Verkehr zeichnet, herausfällt.

Als weiteres zentrales Motiv wird der ewige Fluss der Fahrzeuge thematisiert. An vielen Stellen des Romans finden sich teils ausführliche Beschreibungen dieses unendlichen Verkehrsflusses. Dieser Eindruck entsteht beispielsweise dadurch, dass nie ein Wagen anhält und kein Passagier aussteigt, der den Verkehrsfluss beeinträchtigen könnte. Dies erkennt Karl auf seinem Marsch nach Ramses:

S.106: die […] Straße auf der immer wieder Automobile, wie schon während des ganzen Tags, leicht an einander vorübereilten, als wären sie in genauer Anzahl immer wieder von der Ferne abgeschickt und in der gleichen Anzahl in der andern Ferne erwartet. Während des ganzen Tags seit dem frühesten Morgen hatte Karl kein Automobil halten, keinen Passagier aussteigen gesehn.

Der „Kolonnen der Fuhrwerke“, die im Pendlerverkehr nach New York dringen „und die in fünf Reihen so ununterbrochen dahinzogen, daß niemand die Straße hätte überqueren können“ (S.98) beeindrucken Karl. Diesem Bild der undurchdringlichen Autoschlangen begegnet Karl auch nach seiner Entlassung aus dem Hotel Occidental. Es ist ihm völlig unmöglich die Straße zu überqueren, „da eine ununterbrochene Reihe von Automobilen stockend sich am Haupttor vorbeibewegte“. Die Auswüchse des Verkehrs erscheinen zunehmend grotesk:

S.185: Die Automobile waren, um nur so bald wie möglich zu ihrer Herrschaft zu kommen, geradezu ineinandergefahren, jedes wurde vom nachfolgenden vorwärtsgeschoben. Fußgänger, die es besonders eilig hatten auf die Straße zu gelangen, stiegen zwar hie und da durch die einzelnen Automobile hindurch, als sei dort ein öffentlicher Durchgang […]

Nicht ein Millimeter trennt die Stoßstange an Stoßstange stehenden Fahrzeuge, der Verkehr scheint zu einer riesigen unüberwindbaren Einheit anzuwachsen, vor der der einzelne Mensch kapitulieren muss. Hier nimmt der Verkehr durchaus schon bedrohliche Züge an. Dies lässt sich auch anhand anderer Äußerungen Karls festmachen, etwa über das „hoch sich aufbauende Automobil seines Onkels“ (S.45). Noch viel unheimlicher als der Wagen, der sich vor ihm aufbaut, scheint jedoch die Tatsache, dass das Gefühl geweckt wird, die Maschinen hätten sich verselbstständigt: Autos rauschen so schnell an Karl vorbei, dass es nicht möglich ist „auch nur das Vorhandensein von Insassen zu bemerken.“ (S.98), ihr Lärm scheint nicht mehr vom Menschen verursacht (S.52), kein Mensch steigt aus (S.106). Die Darstellung des Verkehrs ist im Roman immer mit dem Begriff der sich ständig bewegenden Masse und der Anonymität verbunden. Von einzelnen Menschen ist in diesem Zusammenhang nie die Rede, sie sind nur in der Masse wahrnehmbar.

3. Arbeitswelt

3.1 Der Onkel als Erziehungsinstanz

Karls Onkel, Edward Jakob, nimmt eine wichtige Rolle bei Karls Einführung in die amerikanische Gesellschaft ein. Er ist selbst „ein Mann von Principien“ (S.85) und möchte sein Lebenskonzept auf Karl übertragen. Die wichtigsten Tugenden für eine erfolgreiche Karriere in der amerikanischen Arbeitswelt sind demzufolge Fleiß und Disziplin. Der Onkel unterwirft sich auch selbst dem Regiment dieser Normen und führt Karl vor Augen, was man in Amerika erreichen kann, wenn man sie nur einhält:

S.48: „Und alles habe ich vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, musst Du wissen. Ich hatte damals im Hafenviertel ein kleines Geschäft und wenn dort im Tag fünf Kisten abgeladen waren, so war es viel und ich gieng aufgeblasen nachhause. Heute habe ich die drittgrößten Lagerhäuser im Hafen und jener Laden ist das Esszimmer und die Gerätkammer der fünfundsechzigsten Gruppe meiner Packträger.“

Edward Jakob ist also ein klassischer Self-Made-Mann, der sich einen „american dream“ erfüllt hat. Er stellt sich Karl als Vorbild dar und möchte durch eine strenge Erziehung seinen Neffen auf eine glänzende Karriere vorbereiten.

Schon die erste Beschreibung des Onkels zeigt ein charakteristisches Merkmal auf: „Er war in Civil und hatte ein dünnes Bambusstöckchen, das, da er beide Hände an den Hüften festhielt, auch wie ein Degen dastand.“ (S.16). Bei diesem Bambusstöckchen handelt es sich um nichts anderes als einen Rohrstock, also ein Instrument der Züchtigung[4], das Karl aus seiner Schulzeit in Europa wohl noch bekannt sein dürfte. Somit zeigt bereits der erste Eindruck die Grundhaltung des Onkels bezüglich Erziehungsfragen, nämlich die Erzwingung einer eisernen Disziplin, wenn nötig durch körperliche Züchtigung. Weiterhin ist bezeichnend, dass der Bambusstock mit einer Hiebwaffe, einem Degen, verglichen wird. Karls erste Amerikawahrnehmung überhaupt steht ja gleichfalls unter dem Eindruck einer verwandten Waffe, dem Schwert, das die „Freiheitsgöttin“ in den Himmel streckt (S.7). Dass die New Yorker Freiheitsstatue im Roman statt der Fackel ein Schwert in der Hand hält, könnte in diesem Zusammenhang als ein Zeichen für das Karl bevorstehende Leben unter Zwang und harter Arbeit im amerikanischen Gesellschaftssystem stehen.

[...]


[1] Heimböckel, S. 132.

[2] Vgl. Heimböckel, S.134.

[3] Absatz nach Heimböckel.

[4] Vgl. Nicolai, S.79.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Analyse von Arbeitswelt und Verkehr in Franz Kafkas "Der Verschollene"
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
18
Katalognummer
V49580
ISBN (eBook)
9783638459945
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Analyse, Arbeitswelt, Verkehr, Franz, Kafkas, Verschollene
Arbeit zitieren
Christian Werner (Autor:in), 2005, Analyse von Arbeitswelt und Verkehr in Franz Kafkas "Der Verschollene", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49580

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