Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Rekonstruktion des Gleichnisses von Platon
3. Interpretation des Gleichnisses von Platon
4. Vergleich mit der Position Immanuel Kants
5. Schluss
1. Einleitung
Im Folgenden setze ich mich mit der Frage auseinander, wie sich das von Platon ausgearbeitete Höhlengleichnis deuten lässt und welche Verknüpfungen sich zu an- deren seiner Positionen herstellen lassen. Dabei möchte ich auch Bezug auf Imma- nuel Kants Schrift zur Aufklärung nehmen.
2. Rekonstruktion des Gleichnisses von Platon
Zuerst rekonstruiere ich das Gleichnis, auf das ich mich in dieser Hausarbeit beziehe. Grundlage für meine Überlegungen bietet das Buch „Politeia“ von Platon. Genauer gesagt beziehe ich mich dabei auf das siebte Buch der Schrift.
Das Gleichnis ist in vier Zustände aufgeteilt. Der erste Zustand stellt die Situation in der Höhle dar, der zweite den Aufstieg aus der Höhle, der dritte die Situation außer- halb der Höhle und der vierte die Rückkehr in die Höhle.
Eine Gruppe von Menschen ist seit ihrer Geburt in einer unterirdischen, dunklen Höh- le gefangen. Sie wurden so angekettet und gefesselt, dass ihr Blick nur an die ge- genüberliegende Wand gerichtet ist. Währenddessen tragen Gaukler Figuren von Menschen und Tieren (Artefakte) hinter den Menschen vorbei. Da in der Höhle auch ein Feuer brennt, sehen die Menschen zumindest die Schatten dieser künstlichen Gegenstände, aber auch der Gaukler, an der Wand. Zudem hören sie den Widerhall derer Stimmen. Alles, was sie wahrnehmen, halten die Gefangenen für die einzig existierende Wirklichkeit.
„Stelle dir Menschen vor, etwa in einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung mit einem Ausgang, der sich über die ganze Breite der Höhle zum Tageslicht hin öffnet; in dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an Schenkeln und Nacken, so dass sie an Ort und Stelle bleiben müssen und nur geradeaus schauen können; den Kopf können sie wegen der Fesseln nicht herumdrehen; Licht erhalten sie durch ein Feuer, das hinter ihnen weit oben in der Ferne brennt; zwischen diesem Feuer und den Gefesselten führt oben ein Weg; an ihm entlang stelle dir einen niedrigen Mau- eraufbau vor, ähnlich wie Schranken bei den Gauklern vor den Zuschauern errichtet werden, über die hinweg sie ihre Kunststücke zeigen. […] Stelle dir nun längs dieser Mauer Menschen vor, die allerlei Geräte vorbeitragen, die über diese Mauer hinaus- ragen, Statuen von Menschen und anderen Lebewesen aus Holz und Stein und alle möglichen Erzeugnisse menschlicher Arbeit, wobei die Vorbeitragenden, wie es ja natürlich ist, teils reden, teils schweigen.“
- Platon: Politeia
Nun wird ein Gefangener von seinen Fesseln befreit. Dabei empfindet er Schmerzen, da er sich erst an diese neu gewonnene Freiheit gewöhnen muss. Auch den darauf folgenden Blick ins Höhlenfeuer nimmt er nur schmerzend wahr. Als er schließlich aus der Höhle geführt wird, versucht der Befreite sogar ständig zu flüchten, weshalb er erst zum Aufstieg genötigt werden muss.
„Wenn einer von den Fesseln befreit und gezwungen würde, plötzlich aufzustehen, seinen Nacken zu wenden, zu gehen und zum Licht emporzuschauen und wenn er bei all diesem Tun Schmerzen empfände und wegen des gleißenden Lichts jene Ge- genstände nicht anschauen könnte, von denen er vorher nur den Schatten gesehen hat, was glaubst du würde er wohl antworten, wenn ihm jemand sagte, er hätte vor- her nur eitlen Schein gesehen, nun aber sei er dem Seienden viel näher und sehe richtiger, weil er sich dem Seienden mehr zugewandt habe? […] Wenn man ihn dann […] mit Gewalt von dort wegschleppte, den steilen und schwierigen Anstieg hinauf und ihn erst losließe, wenn man ihn ans Licht der Sonne gebracht hätte, würde er da nicht leiden und unwillig werden, weil man ihn hinaufgeschleppt hat?“
- Platon: Politeia
Als der Befreite oben ankommt, wird er zunächst vom Sonnenlicht geblendet, ähnlich wie ihm das Feuer in der Höhle beim Betrachten in den Augen schmerzte. Philoso- phen sagen ihm oben, dass er nach seiner Befreiung nun die Wahrheit bzw. Wirk- lichkeit sieht und er vorher nur Schatten beobachtet hat. Der Befreite jedoch glaubt das nicht, er erkennt oben weiterhin erstmal nur die Schatten der dort vorhandenen natürlichen Gegenstände und hält sie für die Realität. Mit der Zeit sieht er jedoch nach und nach mehr, zuerst die Spiegelungen der Gegenstände im Wasser, dann die Gegenstände selbst und zuletzt auch die Sonne, die alles erleuchtet und sichtbar macht. Zunehmend erkennt er sein Glück, endlich im wahren Leben angekommen zu sein, womit auch Mitleid für die immer noch in der Höhle Gefangenen einhergeht.
„Er müsste sich also, denke ich, erst daran gewöhnen, wenn er die Dinge dort oben sehen wollte. Zuerst würde er wohl am leichtesten die Schatten erkennen und dann die Spiegelbilder der Menschen und der anderen Dinge im Wasser und später erst sie selbst. […] Zuletzt aber könnte er, denke ich die Sonne, nicht ihr Spiegelbild im Wasser und anderswo, sondern sie selbst in ihrer richtigen Gestalt und an ihrem rich-tigen Platz schauen und sie so betrachten, wie sie wirklich ist.“
- Platon: Politeia
Dann kehrt er in die Höhle zurück, weil er den anderen, die immer noch dort gefan- gen sind, davon berichten möchte, wie schön es außerhalb der Höhle ist. Die Gefan- genen bekommen aber nur mit, dass seine Sehfähigkeit jetzt gar nicht mehr für den Raum innerhalb der Höhle geeignet ist, und legen ihm das negativ aus. Sie nehmen ihn überhaupt nicht ernst, glauben ihm nicht, lachen ihn aus und töten ihn schließlich sogar. Die Gefangenen bleiben weiterhin der Ansicht, dass die Schattenwelt in der Höhle die einzig mögliche Welt ist und sehen jede andere Welt als Gefahr an, in die sich unter keinen Umständen begeben wollen.
„Wenn er dort wieder mit jenen stets Gefesselten im Beurteilen der Schatten in Wett- streit treten müsste, während seine Augen noch geblendet sind und sich noch nicht umgestellt haben – diese Zeit der Umgewöhnung dürfte ziemlich lange dauern -, würde er da nicht zum Gespött werden und zu hören bekommen, er sei von seinem Aufstieg mit verdorbenen Augen zurückgekehrt und dass es sich nicht lohne, den Aufstieg auch nur zu versuchen? Und wer versuchen wollte, sie von ihren Fesseln zu befreien und hinaufzuführen, den würden sie töten, wenn sie seiner habhaft würden und dazu imstande wären?“
- Platon: Politeia
Dieses Gleichnis bietet Platon dann die Möglichkeit zu einer umfassenden Interpreta- tion und Erklärung, welche ich im Folgenden Abschnitt genauer ausarbeiten werde.
3. Interpretation des Gleichnisses von Platon
Mit dem Höhlengleichnis möchte Platon den Zustand aller Menschen in Hinsicht auf Bildung und Unbildung abbilden. Das Gefesseltsein in der Höhle repräsentiert das Gefesseltsein aller Menschen an Gewohnheiten, Illusionen und Vorurteilen. Die Ge- fangenen selbst stellen somit eine unwissende Masse dar. Das Feuer ist eine künst- liche Lichtquelle, die quasi analog zur Sonne in der realen Welt funktioniert. Die Tat- sache, dass die Artefakte, von denen die Gefangenen nur die Schatten sehen, selbst nur Figuren von Menschen und Tieren sind, reklamiert einen doppelten Abbildungs- charakter für sich. Die Schatten stehen dabei für einzelne vergängliche, materielle Gegenstände.
Der Aufstieg aus der Höhle schildert dann eine Art schwierigen Bildungs- bzw. Erzie- hungsprozess, einen Weg zur Gerechtigkeit, also dem bei Platon äußerst wichtigen Ziel der Seele bzw. des Staates. Man spricht daher auch von einem Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis bzw. einem Stufengang der Erkenntnis. Es ist eine Befreiung von alten Gewohnheiten und Vorurteilen, für die man einen Pädago- gen bzw. Philosophen benötigt. Für den Befreiten handelt es sich um eine Umwen- dung: Er schaut sich die Überzeugungen an, nach denen er seine Urteile trifft, tut es aber nur äußerst ungern und widerwillig, da dies nicht ohne Kosten bzw. Schmerzen abgeht. Dabei wird die alltägliche Erkenntnishaltung in eine philosophische umge- wandelt, um schließlich zur Idee des Guten zu gelangen. Letzteres ist bei Platon auch die natürliche Bestimmung des Menschen. Trotz dieser Umstände ist es theore- tisch aber auch möglich, dass sich einer der Insassen selbst zur Befreiung nötigt.
Oben spürt der Befreite natürlich Schwierigkeiten, von seinen angeeigneten Sicht- weisen loszulassen. Die Sonne zeigt ihm die Wahrheit und die Dinge, wie sie wirklich sind, ihr Licht dient als Metapher für den gesamten Erkenntnisweg. Dennoch ist der Mensch von diesem Licht der Erkenntnis zunächst eher geblendet. Die Sonne stellt dabei die Herrscherin der Wahrheit und Vernunft dar und verkörpert die Idee des Gu- ten und somit auch den Ursprung aller Wahrheit. Damit ist nicht nur die Erkenntnis des ethisch Guten, sondern auch des kosmischen gemeint. Die sogenannte ganz- heitliche Wirklichkeitssicht Platons unterscheidet nämlich nicht zwischen ethischer Wahrheit und Kosmologie. Schließlich erlebt der Befreite oben die vollständige Er- kenntnis, die er unten in der Höhle nie hätte erleben können, und wird somit selbst zum Philosophen. Man spricht dabei von einer Selbsterkenntnis der Gerechtigkeit jenseits aller Vorurteile. Das führt den Befreiten in jedem Fall zu einem besseren Le- ben und sorgt dafür, dass er es nicht mehr missen und auf keinen Fall in die frühere Befangenheit des Höhlenlebens zurück möchte.
„In der Welt des Erkennbaren ist Idee des Guten die Höchste, und sie kann man nur mit Mühe schauen; hat man sie einmal geschaut, so muss man daraus folgern, dass sie für die ganze Welt die Ursache alles Rechten und Schönen ist; in der sichtbaren Welt bringt sie das Licht und dessen Herrn hervor, in der Welt des Erkennbaren ist sie selbst Herrin und verschafft uns Wahrheit und Einsicht, und jeder muss sie schauen, der im privaten oder öffentlichen Leben vernünftig handeln will.“
- Platon: Politeia
An dieser Stelle hilft das Höhlengleichnis Platon auch, das Primärziel der Politeia, also seine Vorstellungen eines gerechten Idealstaates zu entwickeln, voranzutreiben. Als erklärter Gegner der Demokratie bevorzugt er nämlich das Modell der Philoso- phenherrschaft. Dabei wird die herrschende Klasse ausschließlich von mehreren so- genannten Philosophenkönigen gestellt, die die Aufgabe haben, die Angelegenheiten des Staates nach dem Vorbild des Guten zu ordnen, und zu diesem Zweck die un- umschränkte Macht genießen. Um zu diesem elitären Kreis gehören zu können, ist es laut Platon notwendig, nach Wahrheit und Erkenntnis zu streben bzw. bereits die Idee des Guten erkannt zu haben, weil Weisheit und Macht unmittelbar miteinander verbunden sind. Der Bildungsweg dorthin, also der Aufstieg zu den Ideen, wird vom Höhlengleichnis versinnbildlicht. Erziehung ist somit die Grundlage des gesamten Staatswesens, weshalb der herrschende Stand von Platon auch als Lehrstand be- zeichnet wird. Philosophenkönige werden dann Menschen, die mindestens fünfzig Jahre alt sind und sich bis dahin ihr Leben lang im philosophischen Betrieb bewährt haben. Dies bedeutet aber auch, dass theoretisch jeder, der fleißig, mutig und ziel- strebig seine philosophische Ausbildung verfolgt, laut Platon irgendwann mal zu den Herrschern des Staates gehören kann.
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