Der Neologismus „Pathosformel“, den Aby Warburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägt, verweist bereits namentlich auf zwei wichtige Strukturmerkmale. Pathos ist in der rhetorischen Theorie ein Komplex, der „ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen passiver Seelenerfahrung und aktiver Gefühlsäußerung“ ergibt. Hinsichtlich des ersten Strukturmerkmals wird Pathos mit einer Semantik aufgeladen, die wir unter dem Begriff der Passion fassen können, der „ursprünglich einen Seelenzustand, in dem man sich passiv leidend und nicht aktiv wirkend vorfindet“ meint und den Analysekern bezüglich der Pathosformel entsprechend fokussiert. Das zweite Merkmal verweist demnach auf eine Codierung der passiven Leidenssemantik, d.h.: „Es handelt sich nicht um eine unvermittelte, gleichsam natürwüchsige Artikulation von Affekten und Leidenschaften, sondern um eine kulturell überformte und codierte Inszenierung derselben (…).“ Als Codierung wird Pathos also als Mittel zur Ausdruckssteigerung verwandt und für Aby Warburg bildet dies den Kern antiker Kunst, deren formale Eigenschaften in der Renaissancekunst wieder auftauchen, indem spezielle Ausdrucksgebärden nach antikem Muster vergleichsweise heftiger werden und demnach einen entgrenzteren Leidenscode aufgreifen. Warburgs kunsthistorische Frage besteht daher in der Bedeutung des antiken Einflusses in der Renaissance, den diese Arbeit nach Warburg analysiert und darüber hinaus sein psychologisch konnotiertes Pathos-Konzept hinsichtlich seiner Beurteilung der Affekte konturiert.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitende Themenanalyse
2. Aby Warburgs Konzept des Nachlebens der Antike
2.1. Pathosformeln
2.2. Mnemosyne, Sophrosyne und Energetische Inversion
2.3. Das Kollektivgedächtnis: vom Linearen zum Zyklischen
3. Memoria: vom kollektiven Unbewussten zum kulturellen Gedächtnis
3.1. memoria und das kollektive Gedächtnis
3.2. Kulturelle Speichermedien als Archive
4. Schlussbetrachtung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitende Themenanalyse
Der Neologismus „Pathosformel“, den Aby Warburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägt, verweist bereits namentlich auf zwei wichtige Strukturmerkmale. Pathos ist in der rhetorischen Theorie ein Komplex, der „ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen passiver Seelenerfahrung und aktiver Gefühlsäußerung“[1] ergibt. Hinsichtlich des ersten Strukturmerkmals wird Pathos mit einer Semantik aufgeladen, die wir unter dem Begriff der Passion fassen können, der „ursprünglich einen Seelenzustand, in dem man sich passiv leidend und nicht aktiv wirkend vorfindet“[2] meint und den Analysekern bezüglich der Pathosformel entsprechend fokussiert. Das zweite Merkmal verweist demnach auf eine Codierung der passiven Leidenssemantik, d. h.: „Es handelt sich nicht um eine unvermittelte, gleichsam natürwüchsige Artikulation von Affekten und Leidenschaften, sondern um eine kulturell überformte und codierte Inszenierung derselben (…).“[3] Als Codierung wird Pathos also als Mittel zur Ausdruckssteigerung verwandt und für Aby Warburg bildet dies den Kern antiker Kunst, deren formale Eigenschaften in der Renaissancekunst wieder auftauchen, indem spezielle Ausdrucksgebärden nach antikem Muster vergleichsweise heftiger werden und demnach einen entgrenzteren Leidenscode aufgreifen. Warburgs kunsthistorische Frage besteht daher in der Bedeutung des antiken Einflusses in der Renaissance, den diese Arbeit nach Warburg analysiert und darüber hinaus sein psychologisch konnotiertes Pathos-Konzept hinsichtlich seiner Beurteilung der Affekte konturiert.
2. Aby Warburgs Konzept des Nachlebens der Antike
Aby Warburgs kunsthistorische Fragestellung ist ikonologisch, d. h. er untersucht die Frage,
„ (…) warum ein bestimmtes Thema von einer bestimmten Person (Künstler oder Auftraggeber) an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit gewählt wurde und warum dieses Thema auf eine bestimmte Art und Weise dargestellt wurde. (…) Bei dieser Annäherungsweise erscheint das Kunstwerk somit als Dokument seiner Zeit.“[4]
Methodisch geht er jedoch zunächst ikonographisch vor und untersucht demnach die im Werk expliziten, also die vom Künstler intendierten Bedeutungen. Diese fasst er ebenso kulturwissenschaftlich und erweitert ihre Brisanz in der ikonologischen Interpretation zum kulturellen Symbol, zur tieferen Bedeutung, „die vom Künstler nicht explizit gemeint, aber dennoch in seinem Werk enthalten ist.“[5] In seiner Dissertation zu Botticelli (1893) münden diese Untersuchungen in der Feststellung des Bildthemas von Botticellis „Primavera“ als einer „Mischung aus antiken und zeitgenössischen Quellen.“[6] Das Aufgreifen der Venus, sowie der Nymphen und des Merkur sowie ihre Realisierung macht Warburg zum Anlass der Frage nach dem Einfluss der Antike generell, wobei er insbesondere dem „bewegten Beiwerk“ ihre antike Konstitution attestiert.[7] Insgesamt sind nicht nur in der Kunst des Quattrocento, sondern auch im zeitgenössischen kulturellen Diskurs der Renaissance die Rekurrenzen zur Antike auszumachen, so dass im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit traditionelle und pagane Strömungen „kompatibel“ werden.[8] Rebel klassifiziert daher den Reiz von Dürers Werk wie folgt:
„Antike Mythologie und christliche Andachtsmotivik, Naturschilderung und literarischer Witz, sakrale und profane Sphären, solch immer wieder anders inszeniertes, anspielungsreiches Mischprogramm begeisterte den Geschmack des humanistisch gebildeten Publikums in den Städten Europas.“[9]
Das Prinzip der Kompabilität wird von Warburg zum Kern seiner Untersuchung gemacht: indem er bspw. in der von Domenico Ghirlandaio gestalteten Grabkammer des Kaufmanns Francesco Sassetti ein Altarbild analysiert, das die Geburt Christi inmitten römischer Ruinen inszeniert, wird die Antike „nicht aus der Kirche verbannt. Sie erhält vielmehr in dem typologischen Geschichtsbild einen genau bestimmten Platz zugewiesen.“[10] Allgemein hat er damit das Nachleben der Antike festgestellt, jedoch erweitert er diesen Gegenstand um die Frage nach ihrer Strukturbeschaffenheit, d .h. um die ikonologische Fragestellung nach der Motivation der Renaissancekünstler, die sich an antiken Darstellungskonventionen orientieren.
2.1 Pathosformeln
Aby Warburgs Konzeption der Pathosformeln findet sich bei ihm zuerst in seiner 1906 erschienenen Studie Dürer und die italienische Antike: anhand von Dürers Der Tod des Orpheus und eines Kupferstichs aus dem Umfeld Andrea Mantegnas, der Dürers Orpheus-Darstellung nachweislich inspirierte, kritisiert er das kunsthistorische Versäumnis, dass der Tatsache, „daß schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die italienischen Künstler in dem wieder entdeckten Formenschatz der Antike ebenso eifrig nach Vorbildern für pathetisch gesteigerte Mimik wie für klassisch idealisierende Ruhe suchten“[11], keine Beachtung geschenkt wird. Beide Werke gehen jedoch „unzweifelhaft auf ein verloren gegangenes antikes Werk“ zurück, das die gleiche Bildthematik aufweist und ihre Stilistik vorprägt. Nach Warburg greift Dürer die antike Bildthematik derart auf, dass die „typische pathetische Gebärdensprache der antiken Kunst“ im Tod des Orpheus „unmittelbar stilbildend“ einwirkt.[12] Das Einschlagen der Mänaden auf den am Boden liegenden Orpheus entspricht dem Darstellungstyp der griechischen Vase, und somit benennt Warburg diesen „formelhaften Darstellungstypus einer emotionsgeladenen Geste“[13] mit der Pathosformel: dieses diachrone Verfolgen der Bildmotive führt in der Analyse von Domenico Ghirlandaios Geburt Johannes des Täufers zu der Feststellung, dass die am rechten Bildrand eintretende Korbträgerin als „Ninfa“ zu begreifen ist. Dieser Bildtopos greift ebenso die antiken Mänaden auf, und wird in Davide Ghirlandaios als Judith, die Holofernes Kopf trägt, und in Filippo Lippis Tanz der Salome in der gleichen Art und Weise der dionysischen, orgiastischen Hingabe (s. u.) realisiert. In Domenico Ghirlandaios Darstellung repräsentiert die Ninfa eine „explosive Beweglichkeit“, die als heidnisch-römischer Fremdkörper die christlich-würdevoll geprägte Gesamtkomposition invadiert, „(…) ihre heidnisch-römische Abkunft verräth sich in dem gebauschten Gewand, in dem stilisirten Faltenwurf, an den sogar mit Sandalen bekleideten Füssen.“[14] Die Beobachtung dieser Ähnlichkeitsstrukturen in der Darstellung von Mimik, Köpersprache und Proxemik in emotionalen Extremsituationen, die Warburg zwischen antiker, paganer Kunst und der christlichen Frührenaissance in Europa konstatiert, führt ihn zu der Konklusion, dass das künstlerische Ideal dieser Epoche in der Eingliederung der „echt antiken Formeln gesteigerten körperlichen oder seelischen Ausdrucks in den Renaissancestil bewegter Lebensschilderung“[15] bestand; die organisierte stilistische Dimension dieses Ideals erfüllt sich in den Pathosformeln, die als antik vorgeprägte Bildsymbole heftige Leidenschaften codieren und in der Renaissance von den Künstlern benutzt und aktualisiert werden, „aus den Vorprägungen ihrer eigenen Vergangenheit.“[16] Warburg attestiert Dürer dabei eine ästhetische Widerstandkraft gegenüber dem, was er als den Kern pathetischer Darstellung herausdestilliert: „die in erhabener Tragik stilisierte Form für Grenzwerte mimischen und physiognomischen Ausdrucks.“[17] Dürer gelingt nach Warburg nämlich eine differenzierte Eingliederung des antiken Konzepts in sein künstlerisches Schaffen, und nicht ein passives Erliegen gegenüber dem antiken Formenschatz. Mit anderen Worten: die Pathosformel codiert „(…) ein spezifisches Erleidnis der Seele, die Leidenschaft oder den Affekt als vorübergehende heftige seelische Erschütterung oder Erregung“[18] im Bildmedium und Warburgs Stilkriterium zur Bewertung definiert sich über den Umgang mit dem Code: „Führte dabei der ‚Einfluss der Antike’ zu gedankenloser Wiederholung äusserlich gesteigerter Bewegungsmotive, so liegt das nicht an ‚der Antike’ (…), sondern an dem Mangel künstlerischer Besonnenheit der bildenden Künstler.“[19] Diese Kritik Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ und „Primavera“ verweist grundlegend auf die Neutralität der Pathosformel, und so wie er Botticelli kritisiert, lobt er andererseits Dürer für seinen besonnenen Umgang mit dem antiken Pathos. „Die Tradition als solche trägt die Formen und Symbole der Vergangenheit mit sich, und für die Nachgeborenen ist ihr Wert weder ausschließlich positiv noch ausschließlich negativ.“[20] Die Verwendung der Pathosformel entspringt somit dem Bedürfnis „superlative Formen“ zu verwenden, d. h. „ physiognomische Grenzwerte im Augenblick der höchsten Erregung (pathos) oder tiefster Versenkung (ethos).“[21] Die Gefahr in der Verwendung besteht nach Warburg daher in der unbesonnen Verwendung der antiken Pathosformeln, z. B. in Ghirlandaios Fresko „Der bethlehemitische Kindermord“, in dem
„die Sensationslust superlativistischer Sprache (…) die ästhetische Distanz des Künstlers überwältigt und ihn zu einer Anhäufung von Schrecken und Gewalt verführt (…). Zu schnell der Verführungskraft paganen Einflusses nachzugeben, enthält die Gefahr, daß das Pathos hohl und die Bewegung theatralisch wird.“[22]
Leidenschaften werden gemäß dieser Konzeption eindeutig als passiv betrachtet und von Warburg ausschließlich negativ bewertet. Dass die Pathosformel überhaupt einen Reiz für Künstler späterer Epochen darstellt wirft die Frage nach ihrer Überlebenskraft auf, die für Warburg im kulturellen Kontext begründet ist; ihre Durchsetzungsfähigkeit begründe sich in der „mit Energien aufgeladenen, leidenschaftlichen Erregung der Kulte (…), in denen sie geprägt wurden und von der Empfänglichkeit späterer Zeiten für ähnliche, dem Mythos entstammende Selenschichten.“[23] Auch Benjamin verweist auf die Ursprünglichkeit des Kunstwerks „im Dienste des Rituals“[24] und damit gewinnt die „Gefahr“ ihre eigentliche Brisanz, denn im Ritual stecke die kulturelle Essenz des archaischen Menschen.
[...]
[1] Bär, J. A.: Pathos. In Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 2003. S. 689-717. Hier: S. 690.
[2] Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Frankfurt am Main 1982. S. 73.
[3] Port, Ulrich: „Pathosformeln“ 1906-1933 – Zur Theatralität starker Affekte. In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Hg. v. Erika Fischer-Lichte. Stuttgart; Weimar 2001. S. 226-251. Hier: S. 229.
[4] Von Straten, Roloef: Einführung in die Ikonographie. 3. Aufl. Berlin 2004. S. 24f.
[5] Ebd.: S. 28 (Vgl.: von Straten, S. 15-34. Von Straten unterteilt die Ikonographie in Anlehnung an Panofsky in drei Phasen: prä-ikonographische Beschreibung, ikonographische Beschreibung und ikonographische Interpretation. Die Ikonologie macht konstituiert zwar ein eigenes Feld. Als vierte Phase kann sie aber an den ikonographischen Dreischritt als Frage nach den symbolischen Bedeutungen ergänzen.).
[6] Bredekamp, Horst: Sandro Botticelli – Primavera. Berlin 2002. S. 24.
[7] Warburg, Aby M.: Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ und „Frühling“ (1893). In: Aby Warburg - Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hg. v. Dieter Wuttke. 3. Aufl. Baden-Baden 1992. S. 11-64. Hier: S. 13.
[8] Vgl.: Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg – Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main 1984. S. 214.
[9] Rebel, Ernst: Druckgrafik. Stuttgart 2003. S. 32f.
[10] Aby Warburg – Eine intellektuelle Biographie, S. 226.
[11] Warburg, Aby M.: Dürer und die italienische Antike (1906). In: Aby Warburg - Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hg. v. Dieter Wuttke. 3. Aufl. Baden-Baden 1992. S. 125-136. Hier: S. 125.
[12] Ebd.: S. 126.
[13] Kany, Roland: Mnemosyne als Programm. Tübingen 1987. S. 168.
[14] Zitiert nach: Kany, S. 181.
[15] Ebd., S. 127.
[16] Saxl, F.: Die Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst (1932). In: Aby Warburg - Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hg. v. Dieter Wuttke. 3. Aufl. Baden-Baden 1992. S. 419-431. Hier: S. 428.
[17] Dürer und die italienische Antike, S. 129.
[18] Pathos, S. 689.
[19] Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ und „Frühling“, S. 49.
[20] Aby Warburg – Eine intellektuelle Biographie, S. 242.
[21] Warburg, zitiert nach: Aby Warburg – Eine intellektuelle Biographie, S. 230.
[22] Ebd., S. 234.
[23] Mnemosyne als Programm, S. 169.
[24] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 2003. S. 16.
- Quote paper
- Nils Wiegand (Author), 2005, Die Pathosformel und die kulturellen Archive, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49698
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