Psychatriebezogene Sozialpädagogik unter Berücksichtigung bipolarer Störungen


Masterarbeit, 2017

114 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


VORWORT2

1 EINLEITUNG

2 GESCHICHTE UND DEFINITIONSVERSUCHE DER SOZIALPÄDAGOGIK
2.1 AUSZÜGE AUS DER GESCHICHTE DER SOZIALPÄDAGOGIK
2.2 HISTORISCHE DEFINITIONSVERSUCHE DES BEGRIFFES „SOZIALPÄDAGOGIK“
2.3 RESÜMEE ZUR DEFINITION DER SOZIALPÄDAGOGIK
2.4 ETYMOLOGISCHE BEDEUTUNG

3 SOZIALPÄDAGOGISCHES HANDELN
3.1 FORMEN DES SOZIALPÄDAGOGISCHEN HANDELNS
3.2 SOZIALPÄDAGOGIK ALS STRUKTURIERUNG VON ALLTAGSWELTEN
3.2.1 Alltägliche Lebensführung
3.2.2 Rekonstruktion alltäglicher Lebensführung
3.3 SOZIALPÄDAGOGISCHES HANDELN ALS AUSHANDELN
3.3.1 Das sozialpädagogische Arbeitsbündnis
3.3.2 Nähe und Distanz
3.4 GRUNDLEGENDE BEDINGUNGEN LEBENSWELTORIENTIERTEN HANDELNS

4 SOZIALPÄDAGOGIK IN DER PSYCHIATRIE
4.1 GESCHICHTE DER PSYCHIATRIE
4.1.1 Die Ideengeschichte des ‚Wahnsinns’ vom Altertum bis zum 18. Jahrhundert
4.1.2 Industrialisierung und Entstehung der Psychiatrie im 18. Jahrhundert
4.1.3 Psychiatrie in Deutschland im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts
4.2 PSYCHIATRISCHE VORSTELLUNGEN VON HILFE
4.2.1 Behandlungsbasis
4.2.2 Somatotherapeutische, psychotherapeutische und soziotherapeutische Verfahren56
4.3 SOZIALPÄDAGOGIK IN DER STATIONÄREN PSYCHIATRIE
4.3.1 Klinische Sozialarbeit
4.3.2 Problemlagen als Gegenstand sozialpädagogischer Arbeit
4.3.3 Sozialpädagogisches Handeln zwischen den Polen Hilfe und Kontrolle
4.3.4 Sozialpädagogisch-psychiatrische Fallbearbeitung
4.3.5 Sozialpädagogische Arbeitsbündnisse in psychiatrischen Kontexten

5 EXKURS: ANTIPSYCHIATRIE
5.1 ALLGEMEINER ÜBERBLICK ÜBER DIE GESCHICHTE DER ANTIPSYCHIATRIE
5.1.1 Die Vorläufer der Antipsychiatrie
5.1.2 Die Antipsychiatrie der Professionellen in England
5.1.3 Die Antipsychiatrie der Psychiatrie-Betroffenenbewegung

6 BIPOLAR-AFFEKTIVE STÖRUNGEN
6.1 ARBEITSBEGRIFFSBESTIMMUNG „BIPOLARE STÖRUNGEN“
6.1.1 Epidemiologie und Verlauf
6.1.2 Diagnostik und Klassifikation bipolarer Störungen
6.1.3 Komorbidität und pharmakologische Therapiemöglichkeiten
6.1.4 Mögliche Ursachen bipolarer Störungen
6.2 SOZIALPÄDAGOGISCHE HILFEN BEI BIPOLAREN STÖRUNGEN

7 CONCLUSIO & AUSBLICK

8 LITERATURVERZEICHNIS

9 ANHANG

Vorwort

Die vorliegende Master-Thesis sollte ursprünglich bei Prof. Dr. (em.) Herbert Colla als Erstgutachter und Prof. Dr. Dr. hc. H. K. als Zweitgutachter verfasst werden. Leider verstarb Herbert Colla am 24.08.2017 frühzeitig. Er begleitete mich mein gesamtes Studium über als Mentor, manchmal wirkte es so, als hätte ich während meiner Tätigkeit als studentische Hilfskraft mehr bei Herbert Colla gelernt, als in meinem gesamten Studium. Nun übernimmt dankenswerterweise Prof. Dr. Dr. hc. H. K. die Erstprüferschaft und Frau Dr. F. v. N. ist Zweitgutachterin. H. K. bin ich erstmals im 2. Semester begegnet. Durch seine Frohnatur, die mich mein ganzes Studium begleitet hat, war es mir möglich durch kritische und tiefgehende Diskussionen mit ihm, eine weitere Perspektive auf sozialpädagogische Interaktionen zu gewinnen. Friederike von Natzmer war eine ständige Begleiterin Herbert Collas und war mir stets eine professionelle Ansprechpartnerin in allen Belangen.

Dem größten Dank gilt meiner Verlobten Stella. Nur durch ihre Unterstützung habe ich mein Studium so bestreiten können, wie ich es getan habe. In schwierigsten Zeiten hat sie mir beigestanden und mich ermutigt mein Studium zu beenden.

Lüneburg, im September 2017

Christoph N. Schönfeldt

1 Einleitung

Der Titel meiner Arbeit lautet: Psychiatriebezogene Sozialpädagogik un- ter besonderer Berücksichtigung bipolarer Störungen und orientiert sich aus historischer Perspektive und aktuellen Theorien der Sozialpädagogik, der Psychologie und der Medizin an einer Handlungs- und Haltungsma- xime für bipolar-affektive Störungen.

Das Ziel dieser Masterarbeit ist die Darstellung von sozialpädagogischer Fachexpertise im Rahmen des stationären Aufenthalts manisch- depressiver Menschen in der Psychiatrie. Es wird sich aufgrund histori- scher Ideengeschichten eine Annäherung an heutige Verhältnisse ange- nähert, um ein Verständnis zu entwickeln, welche Aufgaben Sozialpda- gog*innen in Psychiatrien momentan haben und welche aufgrund der medizinischen Vorherrschaft abgegeben werden. Eher randständig wird auch erläutert, wie sich medizinisch-psychiatrische Hilfe der Ärzte und Psychologen auf die Arbeit von Sozialpädagog*innen auswirkt und wie die Sozialpädagog*innen ihr fachliches Handeln und Können trotz der vermuteten Konflikte zwischen Medizin und Sozialpädagogik ausüben. Anhand theoretischer Einblicke in die Arbeit von anti-psychiatrischen Einrichtungen werden kritische Positionen gegenüber der Psychiatrie deutlich gemacht. Die Anti-Psychiatrie wurde als eine Art Gegenpraxis zu gängigen Psychiatrien gesehen. Es wird dargestellt, wie sich antipsy- chiatrische Positionen realisieren lassen und welche möglichen Auswir- kungen diese auf die ursprünglich medizinischen Theorien haben.

Die Sozialpädagogik kämpft bereits seit ihrer historischen Entstehung be- reits für den Ausgleich von Ungerechtigkeit und Benachteiligung. Das Ziel ist – individuelle Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu er- reichen – unter Anleitung der Sozialpädagog *innen, die den Weg, ge- meinsam mit den Adressat*innen, unter Hinzunahme von Hilfeleistun- gen, weisen. Die Widerherstellung gesellschaftlicher Anerkennung und Akzeptanz sowie die (Selbst-) Gestaltung gesellschaftlicher Bezüge ist ein weiteres Ziel der Sozialpädagogik.

Anhand von medizinischer und psychologischer Fachliteratur wird das zugrunde gelegte Krankheitsbild beschrieben, denn es stellt sich bei der Recherche heraus, dass psychiatriebezogene Sozialpädagogik zwar all- gemein erklärt wird, aber die Differenzierung zwischen den unterschied- lichen Krankheitsbildern weitestgehend von der Medizin und der Psycho- logie definiert wird. Diese Eigenschaft kann dazu führen, dass es im Ge- gensatz zu Kindertagesstätten, Heimen und anderen sozialpädagogischen Feldern, keine klar definierten Handlungsempfehlungen aus rein sozial- pädagogischer Perspektive entstehen.

Die Master-Thesis widmet sich sowohl analytisch als auch kritisch den theoretisch-medizinisch/psychologischen Paradigmen unter denen Sozi- alpädagog*innen ihre professionelle Arbeit verrichten. Gleichzeitig wer- den theoretische Erkenntnisse akkumuliert, die sich als mögliche sozial- pädagogische Paradigmen erweisen können. Das zweite Kapitel „Sozial- pädagogik“ wird einen kurzen Überblick darüber geben, welche histori- schen und aktuellen Begebenheiten eine Relevanz für das hierzu bearbei- tende Thema darstellen. Neben einer Arbeitsbegriffsbestimmung werden sowohl die etymologische Betrachtung als auch die aktuellen Diskurse einfließen.

Kapitel 3 erläutert das sozialpädagogische Handeln, welches von Sozial- pädagog*innen in Psychiatrien angewandt wird. Ebenfalls wird die Le- bensweltorientierung als Strukturmoment eingeführt und das sozialpäda- gogische Arbeitsbündnis unter dem Dilemma von Nähe und Distanz. In Kapitel 4 wird in die Geschichte der Psychiatrie und die sozialpädagogi- sche Dimension psychiatrischen Handels eingeführt. Es wird außerdem das Konstrukt der Hilfen aus Sicht der Psychiatrie dargestellt, um schließlich dahin überzuleiten, welche Hilfestellungen aus Sicht sozial- pädagogischer Fachkräfte geleistet werden können.

Kapitel 5 beschäftigt sich mit dem Exkurs über die Antipsychiatrie, wel- cher zwangsläufig als kritisches Moment dieser Master-Thesis fungiert. Als wohl berühmtester Vertreter dürfte THOMAS S. SZASZ verstanden werden, der die Ungerechtigkeit und Erbärmlichkeit in den Psychiatrien der 70er Jahre klar benennt, herauskristallisiert und aufs Schärfste verur- teilt. Das sechste Kapitel führt in das exemplarische Krankheitsbild ‚Bi- polare Störungen’ ein. Dabei wird der Arbeitsbegriff medizinisch und psychologisch bestimmt. Neben den manischen Phasen sind depressive Phasen äußerst prägnant in diesem Krankheitsbild. Selbst verhältnismä- ßig kurze manische Phasen wirken sich drastisch auf das Leben nach der Manie aus. Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Zusammenführung sozialpädagogischer Ideen unter Hilfenahme psychologisch/medizinisch- therapeutischem Bezugswissen.

Im Ausblick, Kapitel 6, werden weitere Fragestellungen, die während der Ausarbeitung der Master-Thesis entstanden sind, formuliert. Außerdem wird der Versuch unternommen, sozialpädagogisch-fundierte Aussagen zu formulieren, die wiederum als Handlungswissen gelten können. Eben- so werden Schwierigkeiten benannt, die im Zusammenhang mit der Erar- beitung des Themas aufgetreten sind, um weiterführende Studien anzure- gen.

Kapitel 2: Geschichte und Definitions- versuche der Sozialpädagogik

Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verste- hen. Wer die Gegenwart nicht versteht, kann die Zukunft nicht gestalten “.

Hans-Friedrich Bergmann

2 Geschichte und Definitionsversuche der Sozial- pädagogik

In diesem Kapitel wird ein Überblick geschaffen, wie sich ausgewählte historische Errungenschaften der Sozialpädagogik auf die heutigen Defi- nitionen auswirken. Die historischen Definitionsversuche werden in Ka- pitel 2.2 in Kürze dargestellt. Es folgt ein eigener Versuch, Sozialpäda- gogik zu definieren. Den Abschluss des Kapitels bildet eine kurze etymo- logische Bestimmung.

2.1 Auszüge aus der Geschichte der Sozialpädagogik

Ende des Mittelalters versorgten Familien, Zünfte oder die Dorfgemein- schaft Menschen, die hilfebedürftig waren. Durch die zunehmende Ar- mut bildeten Kirchen und Ordensgemeinschaften eine Form von öffentli- cher Fürsorge unter dem Prinzip Caritas. Ein berühmter Vertreter dieser Art von Sozialethik ist THOMAS VON AQUIN. Die gottgewollte Armut wurde nun mit Hilfe von Almosen unterstützt. Durch die Almosen konn- ten sich Klöster finanzieren, die gebrechliche, alte, (psychisch/physisch) kranke Männer und Frauen, sowie Waisenkinder und Findelkinder in Hospitälern versorgten.

Eine tatsächliche Erziehung und Bildung fand in den Hospitälern nicht statt (vgl. SCHERPNER 1966:18). Mädchen und Jungen wurden lediglich darin ausgebildet, Almosen zu erbetteln um später für den eigenen Un- terhalt aufkommen zu können, und nicht in die Verwahrlosung zu gelan- gen.

Vom 12. Jahrhundert an entstand eine neue soziale Trennung von Armen und Reichen, da es zunehmend zu Verstädterung, neuen Produktionsfor- men sowie einer damit einhergehenden Kapitalisierung kam. Ab dem 16. Jahrhundert wurde das theozentrische Weltbild abgelöst. Die gottgewoll- te Ständegesellschaft wurde brüchig. Spätestens mit der Neubegründung von Arbeit durch LUTHER und CALVIN, der protestantischen Arbeitsethik, wurde die obengenannte Kapitalisierung begünstigt. Damit wurde sowohl Arbeit per sé als auch Erfolg und Effizienz gottgefällig. Armut wurde nun als Zustand gesehen, der von den Armen als selbstverschuldet galt. Arbeit wurde nun zur Pflicht und faules Verhalten war unmoralisch, so- gar unter Strafe gestellt. Von nun an galten eher die Traditionslinien des Humanismus (Erziehung und Eigenverantwortung) und der Marktwirt- schaft, verknüpft mit den Traditionen der Klöster (Beten, Disziplin und Arbeit). Damit einhergehend wurden Mädchen, Jungen und Jugendliche durch eine repressive Disziplinierung erzogen (vgl. BOCK/SEELMEYER 2001:986). BOCK/SEELMEYER (ebd.) fügen hinzu, dass die „ Erziehung zur Arbeit [...] nicht nur in Zucht- und Arbeitshäuser [stattfanden, Anm. C.N.S.], sondern auch in den ersten privaten, in der Regel religiös moti- vierten Fürsorgeeinrichtungen zum zentralen Zi el [wurde, Anm. C.N.S.]“. Während dieser Epoche entwickelte AUGUST HERMANN FRANCK (1663-1727), angelehnt an die Theorien von JUAN LUIS VIVES (1492-1540), Konzeptionen, die an das Waisenhaus angelehnt sind. Dis- ziplin und Arbeit wichen einer bedürfnisorientierten Erziehung und Bil- dung der Mädchen und Jungen, die auf das Leben abgezielten. SCHERPNER (1966:110) geht davon aus, dass die Idee der Implementie- rung des Erziehungsgedankens in der Armenfürsorge die Anfänge, so- wohl für die Jugendfürsorge, als auch für die Sozialpädagogik darstellt. Ziel war es also, Mädchen, Jungen und Jugendliche aus der Armenfür- sorge herauszunehmen, um somit einen autonomen Bereich der gesell- schaftlichen Hilfeleistungen zu schaffen.

JOHANN HEINRICH PESTALOZZI (1746-1827) war derjenige, der „[...] jun- ge Menschen durch die Vermittlung so elementarer Kenntnisse wie Le- sen, Schreiben und Rechnen und handwerklicher Fähigkeiten sowie der besseren Einsicht in die Strukturen, die sie umgaben, befähigen, aus ei- gener Kraft ihr Dasein zu verbessern “ (ROSENHAGEN 2000:271). Es ist jedoch erwähnenswert, dass Zwangsdisziplinierung nichtsdestotrotz bis ins 19. Jahrhundert hinein als ein Teil von Erziehung gesehen wurde. Das sogenannte Zwangserziehungsgesetz wurde 1871 ins Reichsstrafgesetz- buch aufgenommen (§56) (vgl. ebd. 2000:271). Bis Mitte des 19. Jahr- hunderts wurde die Fürsorgearbeit von kirchlichen, privaten und freien Trägern geleistet. Als prominentes Bespiel ist hier das ‚Rauhe Haus’ von JOHANN HEINRICH WICHERN zu nennen. BOCK/SEELMEYER (2001:986) führen aus, dass hier ein besonderer Stellenwert auf Freiwilligkeit, einen familienähnlichen Charakter und Freiheit gesetzt wurde, dem Gegenüber stand nach wie vor die Zwangserziehung. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Gesetze verabschiedet, die den Kinderschutz, das Pflegekinder- wesen und die Säuglingsfürsorge einführten. Damit griff der Staat unmit- telbar in die Jugendfürsorge und die Erziehung ein.

Neben der Einführung der Gesetze, ist die Entstehung des Terminus ‚So- zialpädagogik’ ebenfalls in dieser Zeit auszumachen. ROSENHAGEN (2000:271) führt weiter aus, dass ‚Sozialpädagogik’ für eine transzen- dalphilosophische Pädagogik stand und erstmals durch die Schulpädago- gen KARL MAGER (1810-1858) und ADOLF DIESTERWEG (1790-1866) gebraucht wurde. Zum Ende des 19. Jahrhunderts fand der Begriff immer häufiger Erwähnung in internen Diskussionen über die Pädagogik. PAUL NATORP war schließlich derjenige, der den Begriff systematisch entfalte- te und damit in die breitere wissenschaftliche Diskussion eingeführt hat. Die Sozialpädagogik war für NATORP die einzig wahre Pädagogik. Im Gegensatz zur Individualpädagogik, ist die Besonderheit an der Sozial- pädagogik, dass sie gesellschaftliche und gemeinschaftliche Strukturen implementiert (NIEMEYER 1998:84).

1922 wurde das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz verabschiedet, das für die Planung und Organisation der freien und öffentlichen Jugendhilfe eintrat. Durch diese gesetzlichen Neuerungen und der vorherigen Kritik an einer erstarrten und „[...] vernachlässigten Bildungs- und Erziehungsstruktur [...]“ (ROSENHAGEN 2000:271) entstanden in der Weimarer Republik vie- le sozialpädagogische Bewegungen. Zu Zeiten des sozialpädagogischen Aufbruchs war es HERMANN NOHL (1879-1960), der Grundlagen für eine erziehungswissenschaftliche und praxisorientierte, sozialpädagogische Theorie entwickelte. Diese galt es als eine hermeneutisch-pragmatische Wissenschaft zu verstehen. NOHL verstand seine Sozialpädagogik als um- fassenden Komplex, der die öffentliche Bildung und Erziehung (außer der Schulpädagogik) mit einbezog. Ziel war es zudem, dass die geistige und körperliche Entwicklung des Subjektes im Vordergrund stand und der Erzieher zu einer Art Interessensvertreter des Zöglings wurde. RO- SENHAGEN (2000:272) fügte hinzu, dass durch diese Erkenntnisse „[...] Konzepte zur Reform des Strafvollzuges bei Jugendlichen, der Heimer- ziehung, der Jugendgesetzgebung [...] entwickelt “ wurden. Mit dem Ende der Weimarer Republik war auch gleichzeitig die Beendigung dieser Entwicklungsphase verknüpft.

Die Zeit von 1933 und 1945 wird aufgrund ihrer nationalsozialistischen Grundsätze in dieser Master-Thesis nicht näher beschrieben, da auf The- orien dieser Zeit in der Definition nicht zurückgegriffen wird.

Während der Nachkriegszeit wurde die rechtliche und institutionelle Ba- sis wiederhergestellt. So wurde im Bereich der Fürsorge durch Nothilfe und mit der Hilfe der kirchlichen Träger daran gearbeitet, die unter- schiedlichen Institutionen zu unterstützen. Mithilfe des Jugendwohl- fahrtsgesetzes und des Bundessozialhilfegesetzes als grundlegende Ge- setzgebungen, konnte der sozialen Arbeit eine Möglichkeit gegeben wer- den, bestehende Theorien zu festigen sowie auch die Entwicklung von Reformmodellen fortzuführen. Die Verhältnisse von vor 1933 konnten allerdings nicht ohne Weiteres wiederhergestellt werden, da eine syste- matische Fortführung der erziehungswissenschaftlichen Sozialpädagogik nur ansatzweise gelang. Grund dafür war unter anderem, dass die Sozial- pädagogik während des Dritten Reiches kaum Anknüpfungspunkte an wichtige Bezugswissenschaften wie die Soziologie und die Psychologie hatte. Allenfalls KLAUS MOLLENHAUER (1928-1998), so ROSENHAGEN, nahm das Gedankengut einer geisteswissenschaftlichen Sozialpädagogik erneut auf. MOLLENHAUER vertrat stets NOHLS Theorien, die darauf auf- bauten, die Erziehungswirklichkeit auch aus ihrer Geschichte zu verste- hen (vgl. ROSENHAGEN 2000:273). Durch gesamtgesellschaftliche Ver- änderungen sind Problemlagen entstanden, die durch die Erziehungsträ- ger nicht zu bewältigen waren, daher wurde eine öffentliche Erziehung erforderlich. Die Sozialpädagogik hatte, laut MOLLENHAUER (1964:13), die Aufgabe, die Sozialisations- und Erziehungsleistungen von Schule und Familie zu unterstützen. Präventivmaßnahmen und kompensatori- sche pädagogische Arbeit sollten diese Unterstützung realisieren.

Die Sozialpädagogik war im weiteren Verlauf enormer Kritik ausgesetzt. Kritische Rationalisten attestierten eine fehlende Wissenschaftlichkeit und die kritische Theorie bemängelte die unzureichende wissenschafts- und gesellschaftskritische Funktion der Sozialpädagogik (vgl. ROSENHA- GEN 2000:273). Die Theorieentwicklung in den 70er Jahren war inzwi- schen einer Politisierung ausgesetzt. So verfasste CARL WOLFGANG MÜLLER einen Beitrag über ‚Die Rezeption der Gemeinwesenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland’. Dieser Beitrag repräsentierte „[...] den Versuch einer gesellschaftstheoretisch reflektierten Auseinandersetzung mit Praxisentwicklungen in der Sozialen Arbeit [...]“ (THO- LE/GALUSKE/GÄNGLER 1998:353). Das sogenannte doppelte Mandat, als Doppelauftrag der Sozialen Arbeit (Hilfe und Kontrolle), skizzierten schließlich LOTHAR BÖHNISCH und HANS LÖSCH. Ebenfalls Anfang der 70er Jahre, hat HANS-UWE OTTO einen Diskurs eröffnet, um die Frage nach der Professionalisierung der Sozialpädagogik zu klären. Durch so- zialwissenschaftliche Argumentationen legte OTTO mit seinem Artikel einen Grundstein der Debatte rund um die Professionalisierungsmöglich- keiten in der Sozialen Arbeit (vgl. ebd. 1998:354). HANS THIERSCH hin- gegen widmete sich der Diskussion bezüglich der Spezifika der Sozial- pädagogik und deren Konsequenzen. Die Lebensweltorientierung erhielt erstmals Einzug in Theorie und Praxis der Sozialpädagogik. Dieser Zeit- abschnitt und deren Theoretiker tragen zu einer gesellschaftstheoreti- schen, sozialpädagogischen Theoriediskussion bei und wurde mit der zu- nehmenden hochschulischen Bildung und derer Forschung aufgewertet (vgl. ebd.).

ROSENHAGEN (2000:274) attestiert der gegenwärtigen Sozialpädagogik, dass es nicht ausgeschlossen sei, wieder durch Bemühungen zu sich selbst zu finden. Gerade HANS THIERSCH ist dafür verantwortlich, dass „[...] durch eine das Primat der Sozialpädagogik wahrende Heranzie- hung mikrosoziologischer und hermeneutischer Theorien “ (ebd. 2000:274) sich die Sozialpädagogik ihrem ursprünglichen Gegenstand wieder annähert.

MÜLLER (1998:12) reflektiert die Begrifflichkeiten ‚Sozialpädagogik’ und Sozialarbeit und deren Differenzierung, einst war die Sozialarbeit eng verbunden mit der Armenpflege und die Sozialpädagogik mit der Wohlfahrtspflege. Er fügt hinzu, dass Sozialpädagogik und Sozialarbeit unter der Prämisse ‚Hilfe zur Selbsthilfe’ näher zusammenrückten. RO- SENHAGEN (2000:274) schlussfolgert weiterhin, dass die fehlende Ab- grenzung beider verschiedener Disziplinen dazu führen würde, zur Sozia- len Arbeit zu fusionieren „[...] und zum ausführenden Handwerk jeweils relevanter Sozialwissenschaften werden “.

2.2 Historische Definitionsversuche des Begriffes „Sozi alpäd a-gogik“

Der Begriff ‚Social-Pädagogik’ wurde erstmals im Jahr 1844 als sprach-liche Neubildung von KARL MAGER (1810-1858) verwendet.

Es ist gewiss, dass die neuere Pädagogik mit Locke, Rousseau, den Phi- lanthropisten, Pestalozzi, Herbart u.a. den Fehler hat, nur Individualpä- dagogik zu sein, und darum habe ich mehrmals darauf hingewiesen, dass jetzt die Wissenschaft weiter gefasst, dass sie durch die Staats- und Coll- ectivpädagogik vervollständigt, auch der Gesichtspunkt des Platon und des Aristoteles wieder genommen werden muss - freilich so, dass man sich in der Social-Pädagogik über die alten Ideen erhebt “ (MAGER; Zit. nach ROESSLER 1995:1211).

Demnach ist für MAGER der Begriff der ‚Social-Pädagogik’ als Gegen-satz zur Individualpädagogik zu verstehen. Er soll neue Aufgaben der Sozialpädagogik mit Problemen der Gesellschaft verbinden.

Im selben Jahr wie MAGER, sprach ADOLF DIESTERWEG (1970-1866) von ‚sozialen Pädagogen’. Er sprach von Volks- und Menschheitserzieher, „[...] welche sich bestreben, durch soziale (nicht direkt politische) Re- formen, Institutionen, Organisationen, Assoziationen usw. die verschie- denen Stände der Nation abzugliedern und dadurch auf die einzelnen und das Ganze einen naturgemäßen, sich von selbst gestaltenden [...] Einfluß zu beschaffen “ (DIESTERWEG; Zit. nach NIEMEYER, 1998, S. 81).

1894 veröffentlichte NATORP eine Biographie mit dem Titel „ Religion innerhalb der Grenzen der Humanität - Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik “ (NIEMEYER 1998:79). Dort wurde der bisher kaum entwickelte Begriff der Sozialpädagogik erstmals systematisiert. NATORP verband mit dem Begriff ‚Sozialpädagogik’ eine neue kategorische Ein- ordnung, indem nicht allein die Bildung des Individuums im Vorder- grund stand (vgl. NATORP 1894:62). Zusätzlich, so stellt NIEMEYER (1998:84) heraus, verstand NATORP den Begriff der Sozialpädagogik als ein Wechselverhältnis zwischen Individual- und Gemeinschaftserzie- hung. Damit widersprach er also MAGER und DIESTERWEG, denn Inhalt- lich erstrebte die Sozialpädagogik, nach NATORP, die Qualifikation aller Menschen zu einer sittlichen Humanität durch Zuhilfenahme der Sozial- pädagog*innen als deren Anwalt. Aufgabe der Sozialpädagog*innen ist zudem das idealistische Verständnis der menschlichen Gemeinschaft. Sozialpädagogik ist also für NATORP Bildung und Erziehung zur Ge- meinschaft durch die Gemeinschaft (vgl. NIEMEYER 1998:84f.). NATORPS Sozialpädagogikbegriff umfasste die gesamte Pädagogik.

Das außerschulische und außerfamiliäre Handlungsfeld der Jugendwohl- fahrtshilfe wurde durch HERMANN NOHL (1879-1960) in den Vorder- grund gehoben, da sich die Pädagogik kaum um diesen Teilbereich be- müht hat. Damit fokussierte sich NOHL auf die psychosoziale Problema- tik junger Menschen. Pointierend schrieb NOHL, dass „ [d]ie alte Erzie- hung [...] von den Schwierigkeiten [ ausging , Anm. C.N.S], die das Kind macht, die neue von denen, die das Kind hat “ (NOHL 1927:78). NOHL sagte „[…] der Sozialpädagogik als Gegenstand und somit als Aus- gangspunkt jeglicher theoretischen Bemühungen die Erziehungswirklich- keit zu [...]“ (ROSENHAGEN 2000:272), denn neben jeder Theorie findet praktische Erziehung statt, so NOHL. Es wurden, nach NOHL, keine nor- mativen Sätze zur Erziehung geschaffen, sondern Theorien, sowohl aus dem Sinnverstehen der Praxis als auch aus der Reflexion der gewonne- nen Erkenntnisse und deren Rückbezug in die Praxis. „ Als kleinste und gleichzeitig zentrale Kategorie dieser Bemühungen wurde der pädagogi- sche Bezug formuliert “ (ROSENHAGEN 2000:272).

KLAUS MOLLENHAUER (1928-1998) formulierte, dass „[...] das Entstehen von Sozialpädagogik abhängig sei von bestimmten Schwierigkeiten, die im allgemeinen pädagogischen Zusammenhang auftauchen; von der Un- zulänglichkeit der schulischen Erziehung, der Familienerziehung, der pädagogischen Leistungen der Berufswelt; von der mangelnden sozialen Bindung, dem Auftreten eines unkontrollierten Raumes im Leben der Ju- gend, den auftretenden Erziehungsschäden. Die Gesamtheit der instituti- onellen Mittel, die bereitgestellt wurden, um diese Diskrepanz auszuglei- chen, ihren praktischen und theoretischen Zusammenhang, nennen wir somit Sozialpädagogik, da diese mit der durch eine bestimmte besonders zugespitzte Problematik – der der industriellen Gesellschaft nämlich charakterisierten geschichtlichen Situation notwendig verbunden war und ist, von ihr ihren Anfang nahm und ihre Aufgaben erhielt “ (MOL- LENHAUER 1964:55).

Die Gesellschaft ist, in MOLLENHAUERS gesellschaftskritischer Sicht, durch ihre ständigen Veränderungen in einem wirtschaftlichen, kulturel- len und sozialen Wandel. Dadurch entstehen stets sozialpädagogische Problemlagen, denen durch neu angepasste Maßnahmen und Einrichtun- gen entgegengewirkt werden.

Seit den 70er Jahren entwickelt HANS THIERSCH (geb. 1935) das Konzept der Lebenswelt- und Alltagsorientierung. Seine Theorie gilt sowohl für die sozialpädagogische Praxis als Orientierung als auch für die sozialpä- dagogische Theorieentwicklung.

„Indem das Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit sich auf die Ungleichheiten und Erosionen in der heutigen Lebenswelt bezieht. ergeben sich auch von hier aus Begründungen für jene Aufgabenbestim- mungen der Sozialen Arbeit, die in den sozialpolitischen und sozialpäda- gogisch-sozialarbeiterischen Diskursen der 20er Jahre bereits angelegt sind [...] . Im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen verbindet eine zeit- gemäße Soziale Arbeit die traditionellen Aufgaben einer kompensieren- den Unterstützung in Armut und Not mit den neuen Aufgaben der Unter- stützung in den Krisen heutiger, risikoreicher Normalität [...] . In der Zu- nahme traditioneller sozialer Probleme und im wachsenden allgemeinen Bedarf an Hilfe bei der täglichen Bewältigung von Normalität bezieht sich Soziale Arbeit nicht mehr nur auf die Klassischen Zielgruppen ..., sondern vertritt eine Ausweitung ihrer Aufgaben als generelles Hilfsan- gebot für alle, als ‚Kunst der Hilfe’ zur ‚Kunst des Lebens’, also als le- bensweltorientierte Hilfe zur Lebensbewältigung [...]“ (GRUN- WALD/THIERSCH 2004:15f.).

Der Auftrag der Sozialpädagogik scheint mit der Konzeption der Le- bensweltorientierung neu ausgelegt zu werden, denn es wird eine spezifi- sche Form professionellen Selbst- und Arbeitsverständnisses aufgezeigt. THIERSCH verweist auf die Notwendigkeit einer konsequenten Adres- sat*innenorientierung, mit ihren individuellen Handlungsmustern. Dabei betont er die Relevanz von Lebensräumen und den damit verbundenen sozialen Bezügen, insbesondere den darin enthaltenen Ressourcen (vgl. GRUNWALD/THIERSCH 2011:857). THIERSCH sieht zwei zentrale Aufga- ben in der Sozialpädagogik. Zum einen die Förderung subjektiver Bil- dungs-, Entwicklungs-, und Lernperspektiven und zum anderen die (Wieder-)Herstellung der sozialen Gerechtigkeit bezüglich der Lebens- ressourcen (vgl. ebd. 2011:862).

LOTHAR BÖHNISCH (geb. 1945) schreibt in seiner Dissertation: „ Sozial- pädagogik ist nicht nur eine sozial- und erziehungswissenschaftliche Dis- ziplin im allgemeinen Sinne, sondern gleichzeitig auch eine Theorie be- sonderer Praxisinstitutionen - vor allem der Jugendhilfe und Sozialar- beit. Als erziehungswissenschaftliche Disziplin beschäftigt sich Sozialpä- dagogik mit jenen sozialstrukturell und institutionell bedingten Konflik- ten, welche im Verlauf der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen auftreten: Konflikte zwischen subjektiven Antrieben und Vermögen der Kinder und Jugendlichen und gesellschaftlichen und institutionellen An- forderungen, wie sie in Familie, Schule, Arbeitswelt und Gemeinwesen vermittelt sind. Sie versucht diese Konflikte aufzuklären, ihre Folgeprob- leme zu prognostizieren und in diesem Kontext die Grundlagen für erzie- herische Hilfen zu entwickeln “ (BÖHNISCH 1979:22).

Für BÖHNISCH ist die Sozialpädagogik einerseits eine wissenschaftliche Disziplin, die sowohl den Sozialwissenschaften als auch den Erzie- hungswissenschaften zugehörig ist und andererseits die Praxisinstitutio- nen theoretisch umfasst. Er hebt dabei das konfliktbehaftete Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft hervor. Innerhalb der Gesellschaft werden, je nach Anforderung, sozialpädagogische Institutionen oder Ak- tivitäten geschaffen, die wiederum die konfliktbehafteten Verhältnisse von Individuen bearbeiten. Gleichzeitig wird präventiv gegen das Entste- hen von Konflikten gearbeitet (vgl. HAMBURGER 2003:16ff.). Weiterhin weist BÖHNISCH auf die Doppelfunktion der Sozialpädagogik (Hilfe und Kontrolle), dem doppelten Mandat, hin. Die Analyse und Reflektion des Verhältnisses von Hilfe und Kontrolle in den Handlungssituationen bzw. Institutionen ist somit sowohl eine theoretische als auch eine praktische Aufgabe der Sozialpädagogik, denn die Praxis trägt zur Erarbeitung von Konfliktlösungen bei.

2.3 Resümee zur Definition der Sozialpädagogik

Der erste Abschnitt dieser Master-Thesis soll dazu dienen, sich der Ge- schichte und dem Begriff der Sozialpädagogik anzunähern. Eine beson- dere Auffälligkeit dürfte die Uneinheitlichkeit der Definitionen sein. Die Bedeutungsdimensionen des Terminus ,Sozialpädagogik’ geht über die bloße Identifikation von institutionellen Feldern hinaus, denn es wird gleichzeitig eine Realitätsperspektive aufgezeigt, die sich im Horizont differenzierter und spezifischer Denktraditionen entwickelt hat. So be- schreibt BÖHNISCH (1999:264): ,, Das Soziale [wird, Anm. C.N.S.] nun nicht länger vom Pädagogischen gesucht, sondern das Pädagogische vom Sozialen her strukturell herausgefordert [...]“ eine Denktradition, die sich entwickeln musste.

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, aus den vorgestellten De- finitionsversuchen eine eigene, für diese Arbeit geltende, Definition zu erstellen:

Ziel der Sozialpädagogik, im Sinne eines sozialphilosophischen Ansat- zes, ist die Erziehung und Bildung zur Gemeinschaft durch die Gemein- schaft. Die Sozialpädagogik umfasst dabei den gesamten Menschen über seine gesamte Lebensspanne, im Sinne lebensumspannender Integration- und Inklusionsshilfen – von der Wiege bis zur Bahre. Sozialpädagogik setzt dort an, wo gesellschaftsbedingte Problemlagen entstehen, die sozi- alpädagogischer Interventionen, Präventionsmaßnahmen oder begleiten- der Betreuung bedürfen. Die Sozialpädagogik hat sowohl einen individu- alistischen als auch einen sozial-gemeinschaftlichen Aspekt, denn sie be- zieht sich zum einen auf Hilfeleistungen für Adressat*innen, die ihren Möglichkeiten entsprechend, selbstbestimmt und selbstverantwortlich le- ben. Zum anderen leben die Adressat*innen in gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Kontexten, die sie selbst gestalten können. Die Auf- gaben der Sozialpädagogik sind weiterhin die soziale Eingebundenheit und die gesellschaftlichen Bedingungen problemzentriert zu analysieren, individuelle Möglichkeiten zur Selbsthilfe zu bestimmen, vorhandene Ressourcen zu erkennen und zu aktivieren und dementsprechende För- der- und Hilfsangebote anzubieten. Um zu einem gelingenderen Alltag zu verhelfen, ist die positive Beeinflussung und Gestaltung der Lebens- bedingungen im sozialen Umfeld der Adressat*innen, seitens der sozial- pädagogischen Fachkraft, als Ergänzung der Hilfeangebote, unabdingbar. Sozialpädagogik enthält ein gesellschaftskritisches Element, denn sie be- trifft vor allem Adressat*innen, die durch ihre Lebensumstände an ge- sellschaftliche Konfliktstellen geraten, diese müssen kritisch analysiert werden. Gleichzeitig ist eine, für die Adressat*innen, offensichtliche Par- teinahme ein konstitutives Erfordernis.

2.4 Etymologische Bedeutung

Der Begriff ‚sozial’ wurde Ende des 18. Jahrhunderts im Französischen (social) gebildet. Angelehnt ist ‚social’ am Begriff ‚socialis’ aus dem La- teinischen. Beide Wörter haben jedoch eine unterschiedliche Bedeutung. So wird ‚social’ übersetzt mit ‚die Gesellschaft betreffend’ oder ‚gesel- lig’ und socialis ist von der Bedeutung her ‚in Verbindung stehend’ oder ‚teilnehmend’ (vgl. KLUGE 2002:859).

Die Bestimmung des Begriffes ‚Pädagogik’ leitet sich aus dem Griechi- schen ab. Das Wort ‚paidagogós’ (paidos Kind und agogos führend) be- deutet übersetzt ‚Kinderführer’. Vom Ursprung her bezeichnet der Be- griff ‚Pädagoge’ diejenigen Sklaven, die die Kinder lehren. Es kam eben- so häufig vor, dass die Sklaven mit der Bildung und der Erziehung der Kinder betraut wurden. Daher auch der heutige Begriff ‚Betreuer’ oder ‚Lehrer’ (vgl. ebd. 2002:674).

Im Gegensatz zur Heimpädagogik oder der Kindheitspädagogik bindet die Sozialpädagogik das Wort ,Pädagogik‘ weder an den Ort, noch an die Zielgruppe. SIEGEL (1998:287) geht davon aus, dass das Wort ‚sozial’ den Bezug zur Gesellschaft (Sozialstruktur) oder die Rechtsform der Ge- sellschaft (Sozialstaat) aufzeigen kann. Ebenso ist eine gewisse Haltung mit dem Begriff verbunden (bspw. Nächstenliebe). Problematisch bei vo- rangegangenen etymologischen Begriffsbestimmungen ist, dass sich dar- aus keineswegs eine Definition entwickeln lässt; das liegt unter anderem daran, dass der Begriff ‚Sozialpädagogik’ im historischen Kontext ein jungerer Begriff ist und zusatzlich auf unterschiedlichste Art und Weise gebraucht wurde.

Kapitel 3: Sozialpädagogisches Handeln

Der Sozialpädagoge muss also versuchen, über eine problemverstellte Realität zur Lebenspraxis des Subjekts zu gelangen. Darin erhält die So- zialpädagogik ihre Handlungsperspektive: Subjektleistungen in der Aus- einandersetzung mit den problemverstellten Verhältnissen zu akzeptieren und zu unterstützen “.

Lothar Böhnisch

3 Sozialpädagogisches Handeln

Im folgenden Kapitel wird auf unterschiedliche Varianten sozialpädago- gischen Handelns eingegangen. „ Die Frage, was das Besondere des so- zialpädagogischen Handelns ausmacht, durchzieht die Geschichte des Nachdenkens über Sozialpädagogik und ihre Theorien “ (HAMBURGER 2003:174). Der Gegenstandsbereich der Sozialpädagogik eröffnet ein breites Feld. HAMBURGER (vgl. ebd.) nennt beispielsweise: Verwaltung, Sozialmanagement, Planen, öffentliches und politisches Handeln. Als „[...] ein Element staatlicher Sozial-, Gesundheits- und Bildungspoli- tik [...]“ (BOSSHARD/EBERT/LAZARUS 1999:68) ist sozialpädagogisches Handeln „[...] nicht nur einem gesellschaftlichen Auftrag Hilfe und Kon- trolle verpflichtet, sondern auch in ein verzweigtes Netz rechtlicher und bürokratischer Regelungen eingebunden “ (ebd.). Die rechtlichen und bü- rokratischen Strukturmerkmale wirken sich unmittelbar auf die sozialpä- dagogische Arbeit aus. Ein weiterer Teil des sozialpädagogischen Hand- lungsverständnisses, haben sich „[...] Methoden herausgebildet, die als gedankliche Modelle ein geplantes Vorgehen [...]“ (HAMBURGER 2003:175) ermöglichen sollen. Die oben aufgeführten Punkte werden nun differenziert dargestellt, um aufzuzeigen, welche Charakteristika sozial- pädagogisches Handeln innehat.

3.1 Formen des sozialpädagogischen Handelns

Um sich der umfangreichen Fülle an sozialpädagogischen Handlungsfel- dern zu nähern, ist eine Strukturierung dieser notwendig. BOSS- HARD/EBERT/LAZARUS (1999:54f.) konkretisieren eine solche Struktur sozialpädagogischer Tätigkeiten. Dabei kristallisieren sich vier spezifi- sche Aufgabenkomplexe heraus, die hier in verkürzter Form dargestellt werden.

1. Für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben werden Hilfen zur Sozialisierung angeboten. Diese Aufgaben sind entlang des Lebenszyk- lus’ angesiedelt (z. B. in Kindergärten, Jugendfreizeiteinrichtungen oder Familienbildungsstätten). Dabei handelt es sich um Angebote, die frei- willig in Anspruch genommen werden. Es werden Lern- und Entwick- lungsräume kreiert, die zur Entwicklung sozialer, emotionaler und kogni- tiver Kompetenzen beitragen.
2. Eine krisen- oder konflikthafte Lebenssituation bedarf einer begleiten- den, stabilisierenden und unterstützenden Hilfe von Sozialpäda- gog*innen. Als mögliche Beispiele gelten: Rollen- und Statusverände- rung (z. B. Pensionierung), entwicklungsbedingte/biologische Verände- rungen (z. B. Pubertät) oder kritische Lebensereignisse (z. B. Tod der Partner*innen). Hierbei handelt es sich um Angebote der Beratung, die ebenfalls freiwillig ist. Ziel der Beratung ist es, beispielsweise die eige- nen Problemlösekompetenzen zu fördern.
3. Adressat*innen, deren selbstbestimmte und selbstständige Lebensfüh- rung beeinträchtig ist, werden durch spezifische Maßnahmen wie z.B. die sozialpädagogische Familienhilfe oder psychosoziale Programme zur Wiedereingliederung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder psychisch erkrankten Menschen.
4. Die Verbesserung gesellschaftlicher und struktureller Rahmenbedin- gungen ist ebenso ein Aufgabenbereich der Sozialpädagogik. Dabei ist diese politische Dimension der Sozialpädagogik unter anderem für die Unterstützung sozialpolitischer Initiativen zuständig. Auch wird bei- spielsweise die kommunale Psychiatrieplanung oder die Jugendhilfepla- nung mit unterstützt.

Die Unterteilung der Formen sozialpädagogischen Handelns spiegelt die Anforderungen von Sozialpädagog*innen zu einem großen Teil wieder. Durch die Unterteilung lässt sich ein jeweiliges Arbeitsfeld differenzier- ter beschreiben. Als eine strikte Trennung dieser Aufgabenbereiche ist diese Auflistung allerdings nicht zu verstehen, denn häufig überschnei- den sich die unterteilten Arbeitsfelder miteinander (vgl. BOSS- HARD/EBERT/LAZARUS 1999:55).

3.2 Sozialpädagogik als Strukturierung von Alltagswelten

Den Alltag so zu gestalten, dass er gesellschaftlich akzeptiert wird, sowie insgesamt gelingt, ist eine unterstützende Hilfeleistung seitens der sozi- alpädagogischen Fachkräfte. Der folgende Abschnitt soll aufzeigen, wie die Begriffe ‚Alltag’ oder ‚alltägliche Lebensführung’ im sozialpädago- gischen Kontext genutzt werden.

3.2.1 Alltägliche Lebensführung

Die Adressat*innen befinden sich in einer ständigen Auseinandersetzung mit ihrer alltäglichen Umwelt. „ Alltag ist selbstverständlich, dem Subjekt selbst verständig, ohne Gegenstand besonderer Reflexionen zu sein oder immer wieder neuer Begründungen zu bedürfen “ (BOSS- HARD/EBERT/LAZARUS 1999:63). Diesem Alltag sind die Adressat*innen nicht passiv ausgesetzt, sondern sie haben Handlungs- und Entschei- dungsräume. BOSSHARD et al. bezeichnen es als sogenannte Optionen, die sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit beinhalten, die eigene Lebensführung zu gestalten. „ Alltägliche Lebensführung entsteht aus der Abfolge wiederkehrender Handlungen und Tätigkeiten, die im- mer nach den gleichen Mustern ablaufen und schließlich zur gewohnten Routine werden “ (ebd. 1999:64). Die Kontinuität von Handlungsweisen entlasten den Menschen und erschaffen gleichzeitig einen Lebenssinn. Unterschiedliche Lebensbereiche, wie z. B. Arbeitsplatz, Sportverein o- der Familie konstituieren sich in ihrer Gesamtheit sowohl zum äußeren Raum des individuellen Alltags als auch zum inneren Erfahrungsraum des subjektiven, täglichen Erlebens (vgl. ebd.). Die Bewältigung des täg- lichen Lebens ist durch die sogenannte subjektive Eigenlogik zu erklären – Eigenlogik, so die Verfasser, ist eine Verbindung von subjektiver Wahrnehmung und Erfahrung, gesellschaftlicher Wirklichkeit und indi- vidueller Interpretations- und Konstruktionsleistungen. Wiederholungen und Routinen gelten als statisch. Trotz des Vorhandenseins dieser stati- schen Elemente, ist die alltägliche Lebensführung kein statisches Kon- strukt. Innere und äußere Lebensbedingungen sind stets einer Verände- rung unterworfen. Diese Lebensbedingungen müssen also andauernd ausbalanciert werden. Eine tatsächliche Änderung der Lebensführung wird von den Adressat*innen nur dann zugelassen, wenn die Möglichkeit besteht, eine positivere Lebensführung zu erlangen (vgl. ebd. 1999:65).

3.2.2 Rekonstruktion alltäglicher Lebensführung

Die alltägliche Lebensführung ist für Adressat*innen der Sozialpädago- gik nicht immer selbstverständlich. Zum einen kann zu einer laienhaften Unterstützung gegriffen werden (Freunde, Familie, etc.), zum anderen kann auf die Unterstützung von Experten wie z.B. Sozialpädagogen ge- setzt werden. Anhand eines Beispiels versuchen BOSSHARD et. al. (vgl. 1999:66) Hilfe und Unterstützung zu illustrieren:

Ein*e Adressat*in hat sich bei einem Unfall das Bein gebrochen. Be- kannte, Freunde oder Nachbarn tätigen beispielsweise den Einkauf, der Arzt legt einen Gips an und verschreibt Schmerzmittel und der Rechts- anwalt klärt die rechtlichen Fragen mit der Versicherung. Die hier ange- sprochene alltägliche Lebensführung wird also kurz- bzw. mittelfristig beeinträchtigt, kann aber nach der Genesung wieder bewältigt werden. Sozialpädagogische Hilfe- und Unterstützungsleistungen werden in sol- chen Fällen wahrscheinlich erst dann angefragt, wenn es zur dauerhaften Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens kommt. Zum Beispiel, wenn der Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann und somit die materielle Ab- sicherung nicht mehr gegeben ist. Weiter oben wurde die sogenannte Ei- genlogik beschrieben – die alltägliche Lebensführung basiert darauf. Da- raus ergeben sich für Sozialpädagog*innen in ihrem Handeln einige Probleme. Die Gestaltung der Arbeit mit Adressat*innen muss sich dem- nach gestalten, dass sich diese auf das Angebot von Unterstützung und Hilfe einlassen. Die Adressat*innen sind in einer solchen Situation auf- grund ihrer Lebenslage enorm eingeschränkt, auch kommt es vor, dass ihre Abwehrhaltung gegenüber sozialpädagogischer Hilfen stark ist. Wenn Sozialpädagog*innen in solchen Kontexten alltagsorientierte Hil- fen leisten möchten, dann ist es notwendig, sich auf die Lebenswelt der Adressat*innen einzulassen und sich von den Vorbedingungen unterrich- ten zu lassen (vgl. ebd.). Das differenzierte Einlassen auf die Lebenswelt der Adressat*innen ist begleitet mit der Bewahrung der selbstkritischen Distanz. Dies kann „[...] nur gelingen, wenn sie:

- die objektiven Bedingungen und Gegebenheiten der alltäglichen Le- bensführung ihrer Klienten und des eigenen Berufsalltags mit den darin enthaltenen Grenzen und Freiheitsspielräumen erfassen;
- gesellschaftliche und kulturelle Deutungsmuster im eigenen und frem- den Handeln identifizieren können;
- sowohl die Logik des eigenen Handelns als auch die Eigenlogik ihrer Klienten durch einen dialogischen Prozess zu erhellen versuchen, wohl wissend, dass dies nie vollständig gelingt;
- die Wahrnehmung, Definition und Einschätzung des Klienten über den situativen Kontext und den Charakter der beruflichen Beziehung nicht zugunsten der eigenen Wahrnehmungen und Vorstellungen umdefinieren, sondern als Unterscheidung begreifen “ (BOSSHARD/EBERT/LAZARUS 1999:67).

3.3 Sozialpädagogisches Handeln als Aushandeln

Die Unterstützung durch Sozialpädagog*innen bedarf der Kooperation mit den Adressat*innen. Selbsthilfe- und Alltagskompetenzen müssen dabei gefördert werden. Einen gelingenderen Alltag zu erreichen, kann nur dann erreicht werden, wenn eine Basis des Miteinanders und des ge- meinsamen Handelns entsteht (vgl. BOSSHARD/EBERT/LAZARUS 1999:54). Sozialpädagogisches Handeln beinhaltet immer einen Prozess des Aushandelns, sofern nicht in den Konflikt zwischen Gesellschaft und Individuum eingegriffen wird (vgl. HAMBURGER 2003:176). Es wird sich also darüber verständigt, „[...] worum es eigentlich geht [...]“ (ebd.). Es stellt sich für die sozialpädagogische Fachkraft die Frage, welche Art der Unterstützung oder der Hilfeleistung angemessen ist. Dabei ist es unab- dingbar, sich mit dem jeweiligen Einzelfall auseinanderzusetzen.

Die Realisierung eines angemessenen Konzeptes von Hilfebedürftigkeit wurde bereits 1976 von BRUMLIK und KECKEISEN diskutiert. FRANZ HAMBURGER arbeitet die Grundlagen eines Konzeptes aus (2003:178f):

1. Der symbolische Interaktionismus prägt das persönlichkeitstheoreti- sche Handlungskonzept. Das zentrale Axiom des symbolischen Interakti- onismus besagt, dass der Aufbau der Person sowie die Entwicklung des Menschen ein stetiger Interaktionsprozess von Individuum und Gesell- schaft ist. Damit sind Hilfe und Unterstützung, die daraus resultierende Beziehung zwischen Sozialpädagog*innen und Adressat*innen und die sozialpädagogische Interaktion ein Teil der Persönlichkeitsentwicklung.
2. Es ist bei Adressat*innen, die durch eine vergangenheitsorientierte Di- agnose und Anamnese begutachtet werden, ein Risiko, die verdrängten Hoffnungen zu übersehen. Insbesondere bei Adressat*innen, „[...] bei denen abweichendes Verhalten, Devianz, Drogengebrauch oder andere Formen des »Ausstiegs« aus der Alltagswelt den Anlass der sozialpäda- gogischen Intervention darstellen “ (ebd. 2003:178). Es ist daher uner- lässlich, sich mit den utopischen Vorstellungen der Adressat*innen kri- tisch auseinanderzusetzen.
3. Die Definition von Hilfebedürftigkeit wird nicht ,wegdefiniert’, denn „ Diese Maxime unterstellt die Möglichkeit eines begründeten und weit- gehend sanktionsfreien Verhandelns über Ursachen, Folgen und eventu- elle Lösungsperspektiven von gemeinhin als hilfebedürftig gekennzeich- neten Zuständen bzw. als abweichend definiertem Verhalten und setzt somit beim >Klienten< zunehmende Einsicht und beim >Helfer< weit- gehende Offenheit und Vorurteilsfreiheit voraus “ (BRUMM- LIK/KECKEISEN zit. n. HAMBURGER 2003:179).

Es bedarf einer diskursiven Verständigung von Sozialpädagog*innen und Adressat*innen darüber, welcher Interventionsbedarf seitens der Adres- sat*innen vorhanden ist. MICHA BRUMLIK und WOLFGANG KECKEISEN (ebd.) bezeichnen diesen Diskussionsprozess als Beratung. Die Sozialpä- dagog*innen müssen ein umfassendes Verständigungs- und Unterstüt- zungsangebot aufweisen. Die Methode ‚Beratung’ setzt vollkommene Zurechenbarkeit und Handlungsfähigkeit aller Beteiligten voraus. „ Die Zustimmung des Klienten zur gemeinsamen Definition von Hilfebedürf- tigkeit ist das Kriterium für eine gelungene Kommunikation “ (Hamburger 2003:179).

Die Verständigung über die Interventionsbedürftigkeit ist kein abgrenz- bares Element der Interaktion, sondern begreift sich als übergreifendes Prinzip, welches den Arbeitsprozess gestaltet.

3.3.1 Das sozialpädagogische Arbeitsbündnis

Im vorangegangenen Abschnitt sollten der symbolische Interaktionismus, die damit verbundene Kommunikation zwischen Adressat*in und Sozial- pädagog*in bewusst gemacht werden. Dabei handelt es sich nicht um ein beliebiges Verständnis von Interaktion, sondern dass Probleme auf der einen Seite und Zuständigkeit auf der anderen Seite auszuhandeln sind. BURKHARD MÜLLER (1939-2013) entwickelte bereits 1985 das Konzept ‚Arbeitsbündnis’. Dieses beschreibt, wie die Kommunikation zwischen Sozialpdagog*innen und Adressat*innen entsteht und wie diese zu mo- dellieren ist. Zwei Vermittlungsaufgaben bilden den Ausgangspunkt die- ses Konzeptes:

1. Innerhalb der Alltagswelt der Adressat*innen ist sozialpädagogisches Handeln eingelassen. Ziel dieses Handelns ist die Beeinflussung der ‚so- zialen Sinnwelt’ der Adressat*innen. Des Weiteren benötigt das sozial- pädagogische Handeln eine wissenschaftsbasierte Reflexionsebene, um sich kontrollieren und begründen zu können.
2. Außerdem ist die Realisierung eines sozialpädagogischen Habitus (spontane, emotional gefärbte Authentizität) notwendig und zudem eine methodische Distanziertheit. Die Adressat*innen müssen sich mit der, von den Sozialpädagog*innen vorgeschlagenen, Problemlösestrategien identifizieren können, um Veränderungen in ihrer Situation anzustoßen. Die Bedingungen einer solchen Identifikation soll die sozialpädagogische Grundhaltung schaffen (vgl. MÜLLER 1985:88f.).

Das Konzept Arbeitsbündnis wird auf der Grundlage der Psychoanalyse entwickelt “, so HAMBURGER (2003:181). Die Psychoanalytiker*innen – Patient*innen – Beziehung basiert auf dem Verständnis, dass das Verste- hen um die Probleme der Patient*innen zum Gegenstandsbereich profes- sionellen Wissens wird. Die Übertragung des Modells in die Sozialpäda- gogik ist, unter Berücksichtigung zweier wesentlicher Gesichtspunkte, sinnvoll:

Das Verstehen bildet die Grundlage des Geschehens. Es wird in der pro- fessionellen Beziehung nicht das Verständnis an sich gesteigert, sondern die Reflexion dieser Kompetenz. Es geht also um die Befähigung der So- zialpädag*innen, die Wünsche an den Adressat*innen in Zweifel zu zie- hen und um die Fähigkeit, das eigene Nichtverstehen und das fremde Gegenüber auszuhalten (vgl. ebd.). Das Arbeitsbündnis stellt einen Rah- men für professionelle Handlungssituationen dar. Innerhalb dieses Rah- mens soll Macht begrenzt werden und ein Raum geschaffen werden, in dem sich die Adressat*innen entfalten können und die Rückgewinnung zu einem selbstbestimmten Leben erleichtert wird (vgl. HAMBURGER 2003:183; vgl. dazu auch BOSSHARD/EBERT/LAZARUS 2007:380ff.).

[...]

Ende der Leseprobe aus 114 Seiten

Details

Titel
Psychatriebezogene Sozialpädagogik unter Berücksichtigung bipolarer Störungen
Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
114
Katalognummer
V497301
ISBN (eBook)
9783346016225
ISBN (Buch)
9783346016232
Sprache
Deutsch
Schlagworte
psychatriebezogene, sozialpädagogik, berücksichtigung, bipolarer, störungen
Arbeit zitieren
Christoph Schönfeldt (Autor:in), 2017, Psychatriebezogene Sozialpädagogik unter Berücksichtigung bipolarer Störungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/497301

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