Was darf Satire? Die Platen-Polemik in Heinrich Heines Reisebild "Die Bäder von Lucca"


Hausarbeit, 2018

24 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffserklärung
2.1. Satire
2.2. Polemik

3. „Die Bäder von Lucca“ – Satire oder Polemik?
3.1. Eine satirische Bädererzählung (Kapitel I- IX)
3.2. Von der Satire zur Polemik? Das Schwellenkapitel (X)
3.3. Die Platen-Polemik (Kapitel XI)

4. Auswirkung des Skandals auf das Heine bzw. Platen-Bild
4.1. Beurteilung des Skandals von Zeitgenossen
4.2. Bewertung des Streits in der Heine bzw. Platen-Forschung

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Will der Herr Graf ein Tänzchen wagen,

So mag ers sagen,

Ich spiel ihm auf.

Figaro. (DHA VII/I. Seite 82)1

Mit diesem Zitat wurde eine der berühmtesten literarischen Fehden des Vormärz eingeleitet. Obwohl die Geschichte der Literatur ebenso eine ihrer Skandale ist, erregte kaum einer mehr Aufsehen, als die Kontroverse zwischen Heinrich Heine und Graf August von Platen-Hallermünde2, welche in Heines Reisebild „Die Bäder von Lucca“ ihren Höhepunkt fand. Zwar waren dem rezipierenden Publikum des späten Vormärz derartige literarische Auseinandersetzungen nicht fremd, aber die Art und Weise wie Platen von Heine angegriffen wurde, ging über bisherige satirischen Spitzen hinaus und warf die Frage auf, was Satire eigentlich darf?

Auslöser der Literaturfehde waren einige Xenien von Karl Leberecht Immermann. Heine, der seit 1822 in einer freundschaftlichen Beziehung zu diesem stand, druckte einige Distichen Immermanns im Anhang zur dritten Abteilung seiner Nordsee ab. Die Xenien3 kritisierten den forcierten Orientalismus, der in Anlehnung an Goethes „Divan“ vor allem in Platens Ghaselen vorzufinden ist.4 Der durch diese Zeilen gekränkte Platen holte mit seiner Komödie, Der romantische Ödipus, zum Gegenschlag gegen die beiden Literaten Immermann und Heine aus. In dem Lustspiel tritt Immermann als Gestalt des „Nimmermann“ auf und wird als literarischer Versager abgekanzelt. Heine hingegen gerät vor allem wegen seiner jüdische Abstammung ins Visier. Es ist die Rede vom „Samen Abrahams“, dessen Küsse „Knoblauchgeruch“ absondern, um nur einige Beispiele zu nennen.5 Diesen Angriff auf seine Person zum Anlass nehmend rächte sich Heine mit der Platen-Polemik im 11. Kapitel seiner „Bäder von Lucca“. In diesem outete er Platen als „warmen Freund“ und betont den Ekel am homosexuellen Akt, indem er die „päderastische Aberration“ mit Abführmittel, Durchfall und Klogeruch gleichsetzt.6 Durch seine gnadenlose Deutlichkeit und Schärfe, in der Heine Platen schonungslos aufs Persönliche angreift, verletzte er geschriebene und ungeschriebene Anstandsregeln bisheriger literarischer Fehden und entfachte eine bis heute andauernde Kontroverse über diesen literarischen Skandal.

Das skandalöse dieser literarischen Fehde war dabei weniger das Thema als Art und Weise, wie der Kontrahent bloßgestellt wurde, an dem sich zeitgenössische Rezipienten störten.7 Was Satire darf oder eben nicht darf, soll Schwerpunkt dieser Arbeit sein. Um weiter der Frage nach zu gehen, ob Satire dazu genutzt werden darf den Gegner aufgrund von sexuellen Neigungen gesellschaftlich zu ächten und persönlich anzugreifen, soll zunächst eine theoretische Grundlage gebildet werden. Vor allem die Bedeutung und Tradition von Satire soll zunächst umfassend erschlossen werden, bevor eine Abgrenzung zur Polemik erfolgt. In einem nächsten Schritt wird dann in Form einer Textanalyse sich intensiv mit Heines drittem Reisebild „Die Bäder von Lucca“ auseinandergesetzt, hierbei bilden vor allem das zehnte und elfte Kapitel einen Schwerpunkt. Letztlich soll sich noch mit der Auswirkung auf das Heine bzw. Platen-Bild befasst werden, indem sowohl die direkte Beurteilung von Zeitgenossen, wie auch Aussagen der heutigen Heine bzw. Platen-Forschung berücksichtigt werden, bevor die Arbeit mit einem Fazit schließt.

2. Begriffserklärung

Für die Untersuchung von satirischen bzw. polemischen Elementen in Heines Reisebild ist es wichtig, die beiden Begriffe zunächst zu definieren und voneinander abzugrenzen. Diese begriffliche Einordnung basiert dabei auf dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.

2.1. Satire

Satire wird definiert als „Angriffsliteratur mit einem Spektrum vom scherzhaften Spott bis zur pathetischen Schärfe“ und kann sowohl ein Genre als auch ein gattungsübergreifendes Verfahren bezeichnen.8 Kennzeichnend für Satire ist das grundlegende Merkmal der Negativität, mit der eine Wirklichkeit als Mangel, Missstand und Lüge kenntlich gemacht wird wobei die traditionelle Berufung auf Wahrheit und Tugend eingehalten werden muss.9

Etymologisch geht das Wort auf lat. satura, eine Ableitung von satur ‚satt‘, ‚voll‘ zurück und wird im literarischen Zusammenhang erstmalig um 200 v. Chr. bei Ennius als Titel für eine Sammlung verschiedenartiger Gedichte verwendet. Bereits in der Spätantike sind neben satura auch die Schreibweisen satyra und satira bekannt, die sich im Lateinischen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit durchsetzten und später auch in die Nationalsprachen gelangen. Im Deutschen wird Satyra zum Sammelbegriff für Schimpf-, Stachel-, Straf- und Scherzgedichte.10

Dabei kann literarische Satire sich in alle Formen verwandeln oder in ihnen erscheinen und ist daher uneindeutiger und vielgestaltiger als andere literarische Gattungen. Zu ihrer Nutzung gehört ein Repertoire an vorgegebenen Mustern und Stilen und setzt folglich einen gewissen Stand der Schriftkultur voraus.11 Im Laufe der Jahre haben sich epochenspezifische Untergattungen wie u.a. Ständesatire, Narrensatire oder Menippeische Satire gebildet. Eine intensivere Auseinandersetzung mit den einzelnen Untergattungen würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Entscheidend ist, dass in der Restaurationszeit Satire politisch wird. Sie richtet sich als Literatur der ‚Bewegung‘ gegen die erstarrten Verhältnisse und gegen staatliche Zensur. War Kritik bis dato auf Gelehrtenwelt und bürgerliche Moral beschränkt, wird sie in der satirischen Literatur des Vormärz auf Staatsformen und Lebensformen ausgeweitete. Die in der Satire vermittelte Kritik erhebt dabei immer den Anspruch auf Allgemeines, sie zielt weniger auf einen persönlichen, als auf einen größeren gesellschaftlichen Rahmen ab.12

2.2. Polemik

Polemiken sind „aggressiv formulierte Texte oder Textteile, die Bestandteil eines meist personalisierten Streits sind“.13 Anders als bei Satire handelt es sich bei Polemik um keine Gattungsbezeichnung, vielmehr ist sie ein Typ der Argumentation. Daher können Verfahren der Polemik in verschiedenen Genres verwendet werden, was es erschwert den Begriff trennscharf von Pasquill, Schmäh- oder Streitschrift und Pamphlet abzugrenzen. Hinzukommt, dass es an einer systematischen Darstellung von Geschichte und Form der Polemik in deutscher, wie auch in anderen Sprachen fehlt.14

Dennoch lassen sich strukturell einige wesentliche Merkmale festhalten:

Zum einen ist ein polemischer Angriff immer persönlich und unterscheidet sich in seiner sprachlichen und stilistischen Radikalität von der ‚einfachen‘ Kritik. Trotz aller Aggressivität und rhetorischer Stilisierung von Ironie, Pathos und Witz kann bei der Polemik nicht auf eine argumentative Struktur verzichtet werden. Dabei muss beachtet werden, dass bei der Polemik nicht der direkte Kontrahent, vielmehr das rezipierende Publikum der Adressat ist. Durch eine Überspitzung antagonistischer Positionen soll durch die Polemik nicht der Gegner von der eigenen Position überzeugt, sondern das Publikum zu „spontaner Exkommunikation“ des Gegners veranlasst werden. Letztlich soll der Gegner durch argumentierende Kritik in einem Streit bloßgestellt und moralisch oder intellektuelle vernichtet werden.15

Ein entscheidender Unterschied von Polemik und Satire liegt in ihrem Grad der Fiktionalisierung. Ganz im Sinne des allgemeinen Anspruchs der Kritik, werden die angegriffenen realen Personen in der Satire wie literarische Figuren behandelt, die nicht explizit für die Person, sondern vielmehr auf das Kollektiv anzuwenden sind. Bei der Polemik wird die reale Person hingegen direkt mit dem Ziel angegriffen dieser explizit zu schaden bzw. diese zu denunzieren.16

3. „Die Bäder von Lucca“ – Satire oder Polemik?

„Die Bäder von Lucca“ sind das zweite italienische Reisebild, das im dritten Teil von Heines „Reisebildern“ publiziert wurde. Während die „Reise von München nach Genua“ in chronologischer Reihenfolge einen Teil Heines realer Reise beschreibt, lässt sich bei dem zweiten Reisebild kaum noch von einem realen Reisebericht sprechen, viel mehr findet der Leser sich in einer novellistisch konzipierten Bädererzählung wieder.17

Die Szenerie spielt in dem Apennin-Bad, in Bagni di Lucca, indem sich Heine selbst im September 1828 zur Kur aufgehalten hatte. Obwohl die Handlung im italienischen Badeort spielt, ist zunächst das ferne restaurative Deutschland häufig Thema der Erzählung.18 Die ursprünglich novellistische Bädererzählung ergänzte Heine letztlich um ein essayistisches Kapitel über Platen. Das abschließende Kapitel und die darin enthaltene Polemik gegenüber Platen sollten zugleich Antwort auf dessen antisemitischen Angriff in seinem „Romantischen Ödipus“ sein und gleichzeitig diesen als literarischen Kontrahenten deklassieren.19

Sein zweites italienisches Reisebild widmete Heine seinem Freund Immermann „als Zeichen freudigster Verehrung“ (DHA VII/I. Seite 83). Neben der Widmung bedient sich Heine auch zweier Mottos, die das Thema und den Gusto des nachfolgenden Textes vorgeben, ein Motiv, wessen sich Heine in seinen Reisebildern schon öfter bedient hat.20 Bei dem einen Motto handelt es sich um ein isoliertes Bruchstück aus einer Ghasele Platens. Der Auszug „Ich bin wie Weib dem Manne“ (DHA VII/I. Seite 82) lässt ahnen, welches Thema in dem zweiten Reisebild angeschnitten wird und verdeutlicht die austauschbaren Rollen von Frau und Mann. Damit ist es eine erste Andeutung auf Platens Homosexualität, die im Weiteren noch näher thematisiert wird.21 Auch das zweite Motto kann auf das erste bezogen werden, so muss davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem „Grafen“ um den Grafen Platen handelt, wird dieser doch als Autor des ersten Mottos mit Namen und Stand angegeben. Inhaltlich lässt das Motto mehrere Interpretationsansätze zu. So kann es einerseits als persönliches Motto von Heine gesehen werden, der auf die antisemitischen Anfeindungen in Platens Romantischen Ödipus reagiert und zum literarischen Gegenschlag ausholt. Anderseits bezieht Paul Dierks das Motto auf die gesellschaftliche Stellung Platens und versteht das Motto vielmehr als einen revolutionären Impuls des Aufbegehrens des Volkes gegenüber dem Adel, ganz im Sinne von Beaumarchais‘ „Hochzeit des Figaro“ und suggeriert, dass dem Grafen trotz seines Titels und seinem gesellschaftlichen Status ebenso Leid zugefügt werden kann.22 Die beiden Mottos bilden den Rahmen und Auftakt der folgenden elf Kapitel, in denen das Thema der gräflichen Homosexualität behandelt wird. Wie sich der literarische Totschlag Heines gegenüber Platen nun äußert und inwieweit dabei noch von Satire in Heines Reisebild gesprochen werden kann, wird nun im Folgenden untersucht. Hierzu erfolgt eine Teilung des Textes, dazu werden zunächst die Kapitel eins bis neun und dann die Kapitel zehn und elf isoliert voneinander untersucht werden.

3.1. Eine satirische Bädererzählung (Kapitel I- IX)

Das erste Kapitel dient als eine Einführung in die novellistische Bädererzählung, in der sich der autodiegetische Erzähler, welcher sich als Doktor Heine zu erkennen gibt, überraschend auf die Engländerin Mathilde trifft. Auf das unverhoffte Wiedersehen folgt kurz darauf die nächste Überraschung, Mathildes Diener kündigt den Markese Christophoro di Gumpelino23 an. Der Markese wird als Mann mit „vortrefflichen Eigenschaften“ vorgestellt, zu denen neben seinem „gesunden Verstand“ vor allem sein Vermögen gehört. Allerdings warnt Mathilde den Doktor, „sich nicht an sein[em] Aeußere[m] [zu stoßen], besonders nicht an seine[r] Nase“ (DHA VII/I. Seite 88, Zeile 1ff ). Diese Warnung sieht der Erzähler „hinlänglich gegründet“ und scherzt „wenig fehlte, so hätte er mir wirklich ein Auge damit ausgestochen“ (DHA VII/I. Seite 88, Zeile 22f).

Die ‚Nasensatire‘ nutzt der Erzähler um die Figur des Gumpelino detaillierter zu beschreiben und wird auch in den Kapiteln zwei und drei fortgesetzt. Während die Größe Anlass zum Spott gibt, ist die Form der Nase ein zuverlässiges Erkennungsmerkmal der Zugehörigkeit jüdischer Religionsgemeinschaft. So ist die allgemeine zeitgenössische Meinung, dass „diese langen Nasen eine Art Uniform [sein], [an] [denen] der Gottkönig Jehovah seine alten Leibgardisten erkennt“ (DHA VII/I, Seite 88, Vers 40). Doch nicht nur Spott bezüglich des äußeren Erscheinungsbildes und religiöse Stigmatisierung gehen mit der ‚Nasensatire‘ einher, vielmehr steht die Nase Gumpelinos auch als ein Erotikon für dessen sexuelles Begehren.24 Dies äußert sich vor allem im zweiten Kapitel, Mathilde vergleicht ihre „Lieblingsnase“ mit den schönsten Blumen „dieser Erde“ (DHA VII/I. Seite 89, Zeile 6f). Geschmeichelt stellt Gumpelino jedoch fest, dass er anders als eine tatsächliche Blume, seine Nase nicht „an den schönen Busen legen“ kann (DHA VII/I. Seite 89, Zeile 9). Diesen Vergleich dennoch zum Anlass nehmend, erweist er seine Aufwartung mit einer Tulpe. Statt sich über die Blume zu erfreuen, erschreckt Mathilde und verwünscht nicht nur die Nase des Markese, sondern auch die Tulpe (DHA VII/I. Seite 89, Zeile 16-21). Der Vergleich von Tulpe und Nase wählte Heine bewusst. Die Tulpe, ein häufiges Symbol in Platens Poesie, kann in diesem Fall als eine erste Anspielung auf den Grafen bzw. Gleichsetzung des Grafs Platen mit der Figur des Gumpelino gesehen werden.

Ausgehend vom Aufsatz von Jeffrey L. Sammons25, ist nach der Interpretation von Paul Derks daher die Tulpe in diesem Fall kein Zeichen der Liebe, sondern vielmehr Zeichen der Perversion und die Nase wird zur sexuellen Bedrohung.26 Die Reaktion von Mathilde kann folglich als eine Abwehr eines homosexuellen Angriffs gedeutet werden. Der Bezug von Nase und Genitalien stützt Heine sich hierbei auf literarische Traditionen der Antike und Renaissance.27

Mit dem Eintreffen Gumpelinos und des Erzählers bei Signora Laetizia im fünften Kapitel, wird die Sexualisierung der Nase noch einmal betont und verstärkt. Die Signora, eine „fünfzigjährige Rose“, lag „bäuchlings […] wie ein Sphinx […] auf ihre beiden Arme [gestemmt], […] zwischen diesen […] ihr Busen [wogte]“ auf dem Bett (DHAVII/I, Seite 96, Zeile 23/ Seite 97, Zeile 39ff./ Seite 98, Zeile 3ff.). Das Oxymoron gleich zu Beginn der Beschreibung verdeutlicht die innere Widersprüchlichkeit der Situation, die sich in vielen Details äußert. Die erotisch sinnliche Situation ist allein aufgrund des Alters der Signora fragwürdig und bizarr. Weiter wird auch die Position, in der sie die beiden Herren empfängt als nicht fraulich bezeichnet, da die Signora statt wie eine Dame auf dem Rücken, „bäuchlings“ vor ihnen liegt. In der Betonung der nicht fraulichen Haltung verweist der Erzähler auf die Austauschbarkeit der Geschlechter. Indem die Signora ihr Hinterteil in die Luft reckt versteckt sie nicht nur das weibliche Geschlecht, sondern präsentiert gleichermaßen den Anus. Es folgt letztlich die Einführung des Anus als Ersatz-Genital, was in den folgenden Kapiteln, explizit im zehnten und elften nochmals voll entfaltet wird.28 Ist die beschriebene Situation unangenehm, so gipfelt aber die Perversion der Situation in dem vermeintlich unschuldigen Stirnkuss, durch welchen „die Nase, im rothen Meere herumruderte“ (DHA VII/I, Seite 98, Zeile 25). Die Nase, die zuvor schon mit dem Genital gleichgesetzt wurde, findet nun ihren Weg zwischen die „Busenfurche“ und versinnbildlicht eine ‚perverse‘ Form des Koitus.29 Sprachwitz und Spott lassen schon ahnen, wohin ‚die Reise‘ gehen soll, wobei sich die Kritik noch ganz im Sinne der Satire hinter scherzhaftem Spott versteckt.

Während sich Gumpelino der Signora Laetizia hingibt, bzw. seine Nase in ihrem Busen abtaucht, entsagt sich die Figur des Doktors Heine dieser bizarren Situation. Stattdessen übt er Kritik an der deutschen Juristerei und kann sich auch einen Hieb gegenüber Göttingen nicht verkneifen (DHA VII/I. Seite 99ff). Erst mit dem Auftritt der Signora Franscheska erwacht die Libido des Doktors. Ab dem ersten Moment ist er von der „schönen Tänzerin“ fasziniert und verliebt sich in diese (DHA VII/I. Seite 101-108). Sowohl von ihrer Wirkung und ihrem Auftreten, als auch vom Äußeren bilden die beiden Frauen ein Kontrastpaar und können metaphorisch jeweils für das Alte bzw. das Neue stehen. Ganz im Sinne der Tradition von Satire verkörpern sie jeweils eine gesellschaftliche Haltung. Die Wahl und Zuneigung der beiden Männer zu jeweils einer der beiden Frauen zeigt nicht nur ihre persönliche Präferenz, vielmehr ist die Wahl Ausdruck ihrer politischen Haltung. Die Verehrung des Markese Gumpelino von der „fünfzigjährige[n] Rose“ Signora Laetizia kann somit gleichgesetzt werden mit der Verehrung des Alten, der Antike und letztlich wie Jost Hermand es ausdrückt, des „ästhetisch Abgelebten“30. Der autodiegetische Erzähler hingegen strebt vielmehr die „befreiende Zersplitterung“ an, was sich durch die Wahl der jungen Tänzerin und Ablehnung der Signora Laetizia verdeutlicht.31 Auf satirische Art und Weise verspottet Heine somit all diejenigen, die sich an der ‚alten‘ Welt festklammern, statt sich für das ‚Neue‘ zu öffnen. So findet sich im zweiten Reisebild neben der Nasensatire und Anspielungen auf erotische Vorlieben auch eine Kritik an Politik und Gesellschaft. In diesem Fall ist es vor allem der offensichtliche Antagonismus von Sein und Bewusstsein, welche sich zu einer Ideologie verfestigt, der von Heine kritisiert wird. Hierzu bedient er sich der Personalsatire am Beispiel des Gumpelino über die hinaus aber ebenso ein Charakteristikum der Epoche getroffen werden soll.32

Neben der ‚Versteifung‘ auf alte Herrschaftsordnungen, ist es ebenso das Kunst- und Bildungsgehabe des Markese und seines Dieners Hyazinth, welches von Heine kritisiert wird. Besonders beim Markese äußert sich dieses in seiner von egozentrischer Unempfänglichkeit geprägten Liebe zu Julie Maxfield, welche er in Anlehnung an die Shakespeare’sche Tragödie inszeniert.33 Die narzisstische Verblendung von Gumpelino findet dabei ihren Höhepunkt in der Gleichsetzung seiner selbst mit der Rolle der Julia (!). Durch seine groteske Shakespeare Nachahmung wird das erste Motto des Reisebildes aufgegriffen. Gumpelino, in einer Art egozentrischen Liebeswahn bildet sich ein er „wäre selbst die Julia“ (DHA VII/I. Seite 119, Zeile 11.), der einem Treffen mit „[seinem] Romeo oder [seinem] Gumpelino“ (DHA VII/I. Seite 119, Zeile 11f.) ergo sich selbst entgegenfiebert. Demnach wird nicht nur ein Rollentausch angestrebt, wodurch es zur Erfüllung des Mottos kommt und Gumpelino „wie Weib dem Manne“ würde, vielmehr noch treibt er Sodomie mit sich selbst.34 Die Imitation gipfelt letztlich darin, dass er gegen die „Gemüthsbeschwerden“ (DHA VII/I. Seite 120, Zeile 18) ein Glas Glaubersalz zu sich nimmt, entsprechend der Schlussszene in der Julia ihren Schlaftrunk einnimmt. Doch statt mit dem Scheintod hat er nun mit Durchfall zu kämpfen, was ihn letztlich um die Gelegenheit bringt eine Liebesnacht mit Julie Maxfield zu haben. Da durch handelt der Bildungsphilister Gumpelino nicht nur gegen die klassische Vorstellung der Einheit von Natur und Kunst, sondern richtet auch den bürgerlichen Liebesmythos zugrunde.35 Im neunten Kapitel lässt sich schon ein leichter Stimmungswandel erkennen, die Kritik verschärft sich und wird bissiger, bevor die Szenerie abbricht.

[...]


1 Heines Werke werden, soweit nicht anders angegeben, im Text zitiert nach der von Manfred Windfuhr editierten Ausgabe: Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag, 1986. (=Düsseldorfer Ausgabe). Band VII/I. Seite 82ff. (DHA Band. Seitenzahl, Zeile).

2 Im weiteren Text nur noch als Platen bezeichnet.

3 „Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Shiras stehlen, Essen sie zuviel, die Armen, und vomieren dann Ghaselen.“ (Vgl. DHA Band VI. Seite 165ff.).

4 Vgl. Gutleben, Burkhard: Heinrich Heine und seine Beziehungen zu Zeitgenossen und Zeitgeschichte. Frankfurt (Main): R. G. Fischer, 1992. Seite 23f.

5 Vgl. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart: Metzler, 1997. Seite 244.

6 Vgl. Hermand, Jost: Mehr als ein Liberaler. Über Heinrich Heine. Frankfurt (Main) u.a.: Lang, 1991. Seite 43f.

7 Vgl. Ebd. Seite 45.

8 Vgl. Brummack, Jürgen: Satire. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Jan-Dirk Müller. Band III P-Z. Berlin: de Gruyter 2007. Seite 355.

9 Vgl. Brummack, Jürgen: Satire. Seite 355f.

10 Vgl. Ebd. Seite 356.

11 Vgl. Ebd. Seite 357.

12 Vgl. Ebd. Seite 358.

13 Vgl. Scheichl, Sigurd Paul: Polemik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Jan-Dirk Müller. Band III P-Z. Berlin: de Gruyter 2007. Seite 117.

14 Vgl. Scheichl, Sigurd Paul: Polemik. Seite 117ff.

15 Vgl. Ebd.

16 Vgl. Ebd. Seite 118f.

17 Vgl. Ziegler, Edda: Heinrich Heine. Leben, Werk, Wirkung. Zürich: Artemis & Winkler, 1993. Seite 96f.

18 Vgl. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Seite 237f.

19 Vgl. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Seite 237f.

20 Vgl. DHA VI. Seite 82 (Harzreise). Andere Reisebilder weisen ebenfalls Mottos auf.

21 Vgl. Derks, Paul: Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750-1850.Berlin: Verlag Rosa Winkel, 1990. Seite 532.

22 Vgl. Ebd. Seite 533.

23 Im weiteren als Markese oder Gumpelino bezeichnet.

24 Vgl. Derks, Paul: Die Schande der heiligen Päderastie. Seite 535.

25 Sammons beschäftigte sich intensiv mit der Tulpen-Symbolik in Platens Poesie. Er deutete die Tulpe einerseits als ein Symbol für Platens Sehnsucht nach Erfüllung kunstvoller Schönheit und anderseits als Symbol für die Suche nach einer nicht-sinnlichen homoerotischen Beziehung. (Vgl. Sammons, Jeffrey L.: Platen’s Tulip Image. In: Monatshefte Vol. 52, Nr. 6 (November 1960), Seite 293-301).

26 Vgl. Derks, Paul: Die Schande der heiligen Päderastie. Seite 535f.

27 Vgl. Ebd. Seite 535.

28 Vgl. Ebd. Seite 538f.

29 Vgl. Ebd. Seite 537.

30 Vgl. Hermand, Jost: Der frühe Heine. Ein Kommentar zu den „Reisebildern“. München: Winkler Verlag, 1976. Seite 159ff.

31 Vgl. Ebd.

32 Vgl. Würffel, Stefan Bodo: Der produktive Widerspruch. Heinrich Heines negative Dialektik. Bern: Francke Verlag, 1986. Seite 172.

33 Vgl. Ebd. Seite 172.

34 Vgl. Derks, Paul: Die Schande der heiligen Päderastie. Seite 541.

35 Vgl. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Seite 241.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Was darf Satire? Die Platen-Polemik in Heinrich Heines Reisebild "Die Bäder von Lucca"
Hochschule
Universität Trier
Note
1,3
Jahr
2018
Seiten
24
Katalognummer
V498682
ISBN (eBook)
9783346025111
ISBN (Buch)
9783346025128
Sprache
Deutsch
Schlagworte
satire, platen-polemik, heinrich, heines, reisebild, bäder, lucca
Arbeit zitieren
Anonym, 2018, Was darf Satire? Die Platen-Polemik in Heinrich Heines Reisebild "Die Bäder von Lucca", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/498682

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