Psychohygiene in der Sozialen Arbeit. Methoden zur Prävention von psychischen Erkrankungen


Fachbuch, 2020

123 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Relevanz für die Soziale Arbeit
1.2 Aufbau der Arbeit

2 Teil I: Theoretische Grundlagen zur Psychohygiene
2.1 Definition
2.2 Ursprung des Begriffs
2.3 Geschichte der Psychohygiene
2.4 Psychohygiene im Kontext der Rassenhygiene im Dritten Reich
2.5 Soziale Berufszweige mit besonderem Risiko einer hohen psychischen Belastung
2.6 Mögliche Ursachen für psychische Belastung von Sozialarbeitern
2.7 Maßnahmen der Psychohygiene zur Prävention von psychischer Belastung
2.8 Mögliche Folgen bei Nicht-Anwendung von psychohygienischen Maßnahmen
2.9 Zwischenfazit

3 Teil II: Empirische Studie zur Verbreitung von beruflicher Überlastung und Angeboten zum Schutz vor Überlastung
3.1 Erkenntnisinteresse und Fragestellung
3.2 Begründung der Wahl der Forschungsmethode
3.3 Durchführung
3.4 Umfrageergebnisse
3.5 Auswertung und Interpretation

4 Fazit und Diskussion

5 Handlungsempfehlungen

Literaturverzeichnis

Anhang

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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Impressum:

Copyright © Social Plus 2020

Ein Imprint der GRIN Publishing GmbH, München

Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany

Covergestaltung: GRIN Publishing GmbH

Abstract

Die vorliegenden Arbeit beschäftigt sich mit den Methoden der Psychohygiene und versucht daher zunächst, einen Einblick in die vielfältigen Belastungen, welchen Sozialarbeiter im Beruf ausgesetzt sind, zu geben und im Anschluss eine Methodensammlung vorzustellen, die dabei helfen kann, diesen Belastungen entgegenzuwirken. Dafür wird zunächst die Psychohygiene sowie ihre geschichtliche Entwicklung vorgestellt. Anschließend wird auf die Faktoren eingegangen, die psychische Belastungen bei Sozialarbeitern verursachen können und verschiedene Theorien und Konzepte dargelegt, um diese Belastungen zu erklären und sie zu veranschaulichen. Im dauauffolgenden Abschnitt werden die Methoden der Psychohygiene, deren Auswirkungen auf den beruflichen Alltag und der aktuelle Forschungsstand zu den jeweiligen Methoden vorgestellt. Dabei wird auch auf die Durchführbarkeit und eventuelle Problematiken eingegangen. Im letzten Abschnitt des theoretischen Teils werden außerdem die Folgen von psychischer Belastung behandelt, auf deren Verbreitung bei Sozialarbeitern eingegangen und deren gesellschaftliche und persönliche Konsequenzen aufgezeigt.

Im zweiten Abschnitt der vorliegenden Arbeit wird versucht mithilfe eines anerkannten Instruments zur Messung des Stressempfindens herauszufinden, welches Ausmaß die psychische Belastung bei Sozialarbeitern derzeit annimmt und welchen Stellenwert Methoden zur Prävention eben dieser Belastungen einnehmen, d.h., es wird deren Verbreitung untersucht und analysiert. Im Zuge dessen wird auch die Korrelation zwischen ausgewählten Stressbewältigungsmaßnahmen und dem individuellen Stressempfinden dargelegt, um die Forschungsfragen zu beantworten und auf Grundlage dieser Informationen Handlungsempfehlungen für Sozialarbeiter zu erarbeiten.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Stressempfinden nach Berufsgruppen

Abbildung 2: Dramadreieck

Abbildung 3: Elemente des Kohärenzgefühls

Abbildung 4: AU-Tage und -Fälle der Diagnosegruppe Z73 nach Berufen im Jahr 2011, AOK-Mitglieder

Abbildung 5: Die negative Triade

Abbildung 6: Prävalenz von Depressionen in unterschiedlichen Industriezweigen

Abbildung 7: Gesundheitliche Beschwerden bei Überstunden

Abbildung 8: Stressempfinden bei Sozialarbeitern in Abhängigkeit von der Häufigkeit von Intervision bzw. kollegialer Beratung

Abbildung 9: Stressempfinden bei Sozialarbeitern in Abhängigkeit von der Häufigkeit von Einzelsupervision

Abbildung 10: Stressempfinden bei Sozialarbeitern in Abhängigkeit von der Häufigkeit von Teamsupervision

Abbildung 11: Stressempfinden bei Sozialarbeitern in Abhängigkeit von der Häufigkeit von Coaching

Abbildung 12: Stressempfinden bei Sozialarbeitern in Abhängigkeit von der Häufigkeit von Sport

Abbildung 13: Stressempfinden bei Sozialarbeitern in Abhängigkeit von der Häufigkeit von Entspannungsübungen und Meditation

Abbildung 14: Stressempfinden bei Sozialarbeitern in Abhängigkeit von der Häufigkeit von individuellen Methoden zum Stressabbau

Abbildung 15: Stressempfinden bei Sozialarbeitern in Abhängigkeit von der Wochenarbeitszeit

Abbildung 16: Stressempfinden bei Sozialarbeitern in Abhängigkeit vom Alter

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Bereiche der Psychohygiene

Tabelle 2: Negative Folgen psychischer Belastung

“Leicht wird die Last, wenn mit Geschick man sie trägt.”

(Ov. am. 1,2,10, Holzberg 2014, Seite 41)

1 Einleitung

1.1 Problemstellung und Relevanz für die Soziale Arbeit

Schon seit langem nimmt der Beruf in Deutschland - wie auch in den meisten europäischen Ländern - bei Weitem nicht mehr allein die Funktion der Sicherung des Lebensunterhalts ein. Für eine wachsende Anzahl an - gerade in sozialen Berufen tätigen - Menschen treten zunehmend auch Aspekte wie die Selbstverwirklichung und die Entfaltung der Persönlichkeit in den Vordergrund. In die Berufswahl fließen daher neben der schulischen Bildung und gesellschaftlichen Aspekten zum Beispiel die eigenen Interessen und Talente mit ein. Umso überraschender ist daher die beängstigende Entwicklung, dass immer mehr Menschen psychische Erkrankungen erleiden und vorzeitig aus dem Berufsleben austreten müssen. Besonders der Beruf der Sozialen Arbeit bringt vielfältige Anforderungen mit sich, welchen nicht jeder Sozialarbeiter gewachsen zu sein scheint. Der richtige Umgang mit den Klienten sowie der eigenen Person ist ausschlaggebend für den beruflichen Erfolg, denn auch in der Sozialen Arbeit müssen Ergebnisse sichtbar sein, damit eine Intervention als Erfolg zu werten ist. Für ein professionelles Handeln sind somit Kompetenzen erforderlich, die weit über Empathie und Fürsorglichkeit hinausreichen, denn sogar diese charakterlichen Eigenschaften, die bei Sozialarbeitern normalerweise als sehr positiv bewertet werden, können für die Beziehung zwischen dem professionellen Helfer und dem Klienten in vielen Situationen hinderlich sein, wenn sie zu stark vertreten sind. Um Belastungen und berufliche Probleme zu vermeiden, müssen also jene Kompetenzen erlernt werden, die dabei helfen, einen der jeweiligen Situation angemessenen Umgang mit den Klienten unter Berücksichtigung der eigenen persönlichen Bedürfnisse des Helfers zu pflegen. Dazu gehört insbesondere ein gutes Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz zum Klienten, aber auch die ständige Reflexion des eigenen Handelns.

Während meines Studiums der Sozialen Arbeit hörte ich von meinen Kommilitonen häufig die Aussage, dass die Entscheidung für das Studium daraus entstanden sei, dass sie “irgendwas mit Menschen” machen oder einfach nur “anderen helfen” wollten, wobei Studienwahl manchmal aber auch aufgrund einer ideologischen bzw. politischen Einstellung gefallen zu sein schien und sich weniger an persönlichen Interessen und Talenten orientierte. Meiner Meinung nach birgt dies die Gefahr in sich, dass die Soziale Arbeit weniger als Profession, sondern vielmehr als Möglichkeit zum Ausdruck eigener politischer und gesellschaftlicher Standpunkte genutzt wird, beispielsweise als Protest gegen soziale Ungerechtigkeit oder den Kapitalis­mus. Dabei treten die Anforderungen im Beruf und die Notwendigkeit des Erlernens von Kompetenzen in den Hintergrund. Möglicherweise kommt es so aber auch zu einer Unterschätzung der Anforderungen und in der Folge zu psychischen Belastungen bzw. Überlastungen im Arbeitsalltag. Doch auch übersteigerte Motivation und übermäßiges Fokussieren auf die Bedürfnisse des Klienten können eine solche Gefahr in sich bergen. In der vorliegenden Arbeit geht es mir daher auch keinesfalls darum, Kritik an der Sozialen Arbeit an sich zu üben, sondern das Professionsverständnis zu stärken und zu erweitern.

Die Bedeutung psychohygienischer Maßnahmen ist für das professionelle Handeln in der Sozialen Arbeit, wie auch in anderen sozialen Berufsgruppen, nicht zu unterschätzen, woraus auch mein Interesse an dieser Thematik resultierte. Daher hat diese Bachelorarbeit zum Thema, wie sich Sozialarbeiter vor Stresssituationen und allzu großer Belastung im Beruf schützen können, indem sie gezielt Maßnahmen einsetzen, die für die Soziale Arbeit im professionellen Kontext unerlässlich sind und von jedem Sozialarbeiter angewendet werden sollten.

Ausgehend von der Annahme, dass Sozialarbeiter ihren Beruf nur dann professionell ausüben können, wenn sie selbst weitgehend frei von Belastungen sind, werde ich die Frage beantworten, wie sich professionelle Helfer vor psychischen Belastungen schützen können, um so die Last des beruflichen Alltags geschickt zu tragen.

Um eine optimale Lesbarkeit zu gewährleisten, wurde auf die Verwendung einer genderneutralen Ausdrucksweise verzichtet. Dennoch ist bei der Nennung von Berufs- oder sonstigen Gruppen immer auch die weibliche Form mit eingeschlossen, die ausschließliche Nennung der männlichen Sprachform hat hierbei keinen wertenden Charakter.

1.2 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil behandelt die theoretischen Grundlagen der Psychohygiene. Dieser ist in sieben Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt wird geklärt, was unter Psychohygiene zu verstehen ist und eine Definition erarbeitet. Der zweite Abschnitt setzt sich mit der Entstehung und der Geschichte der Psychohygiene auseinander. Im dritten Abschnitt werden die möglichen Faktoren, die bei der Entstehung von psychischen Belastungen bei Sozialarbeitern ursächlich sind, beleuchtet. Im vierten Abschnitt geht es um die sozialen Berufszweige, die ein besonders hohes Risiko mit sich bringen, in psychisch belastende Situationen zu geraten. Der fünfte Abschnitt befasst sich mit den Maß­nahmen der Psychohygiene, die diesen Belastungen entgegenwirken sollen. Im sechsten Abschnitt werden die Faktoren beschrieben, die einen schützenden Einfluss auf die psychische Gesundheit haben. Im siebten Abschnitt geht es um die Folgen, die auftreten können, wenn keine schützenden Maßnahmen ergriffen werden.

Der zweite Teil ist eine empirische Studie, die einen Einblick in die Verbreitung von psychischer Belastung bei Sozialarbeitern sowie Angeboten zur Entlastung gibt. Am Schluss werden einige Handlungsempfehlungen auf Grundlage des theoretischen Teils und der Studienergebnisse vorgestellt, die jeder Sozialarbeiter beachten sollte, und ein abschließendes Fazit gezogen.

Diese Arbeit soll lediglich einen Überblick über die möglichen Ursachen von psychischer Belastung bei Sozialarbeitern und die Methoden der Psychohygiene zur Prävention derselben geben, sie erhebt daher keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit.

2 Teil I: Theoretische Grundlagen zur Psychohygiene

2.1 Definition

1893 definierte Isaac Ray, ein Mitbegründer der noch heute existierenden American Psychiatric Association, die Psychohygiene erstmals als "die Kunst, den Geist vor allen Vorfällen und Einflüssen zu schützen, die dazu führen können, seine Qualitäten zu verschlechtern, seine Energien zu beeinträchtigen oder seine Bewegungen zu stören. Das Management der körperlichen Kräfte in Bezug auf Bewegung, Ruhe, Nahrung, Kleidung und Klima, die Gesetze der Fortpflanzung, die Regierung der Leidenschaften, die Sympathie mit den gegenwärtigen Emotionen und Meinungen, die Disziplin des Intellekts - all dies kommt in den Bereich der geistigen Hygiene” (Rossi 1962, Seite 79).

Eine weitere Definition bezeichnet die Psychohygiene als “[...] ein komplexes Geschehen, dass auf verschiedenen Ebenen zu inneren Auseinandersetzungen und innerer Heilung führen kann. Dies wiederum kann zu einer veränderten Haltung im Umgang mit der Außenwelt führen” (Reddemann 2003, Seite 85). Dabei geht es in erster Linie um den achtsamen und liebevollen Umgang mit sich selbst und um das Wahr- und Ernstnehmen der eigenen Bedürfnisse. Psychohygiene ist dieser Definition zufolge nichts anderes als Selbstfürsorge und muss - in den meisten Fällen - erlernt werden.

Unter dem Begriff Psychohygiene bzw. psychische Hygiene werden sämtliche Maßnahmen vereinigt, die dazu dienen, die psychische Gesundheit zu fördern und zu erhalten (Kulbe 2017, Seite 175). Die Psychohygiene ist somit keine eigenständige Methode, sondern vielmehr ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Methoden und Maßnahmen. Diese sollen dabei helfen, mit den Belastungen des beruflichen (und auch privaten) Alltags besser zurechtzukommen und eine Entlastung bzw. einen Stressabbau bewirken.

Es existiert damit zwar keine eindeutige Definition, allerdings haben alle Definitionen miteinander gemein, dass sie Psychohygiene als förderlich für die psychische Stabilität und psychische Gesundheit beschreiben. Folglich sind alle Methoden, die die psychische Gesundheit fördern und psychischen Erkrankungen vorbeugen, Methoden der Psychohygiene. Die Psychohygiene vereint demnach die Konzepte Prävention und Gesundheitsförderung.

2.2 Ursprung des Begriffs

Der Begriff Psychohygiene leitet sich ab aus dem griechischen Wort für Psyche, das übersetzt soviel wie Seele bzw. Gemüt bedeutet, und dem griechischen Wort für Hygiene, das “der Gesundheit dienend” heißt. Wörtlich übersetzt bedeutet Psychohygiene “der seelischen Gesundheit dienend”.

2.3 Geschichte der Psychohygiene

Die Psychohygiene, auch psychische Hygiene, war zwischen 1910 und 1960 insbesondere in den USA, aber auch in Deutschland und in anderen Ländern, eine sehr einflussreiche Bewegung innerhalb der Psychiatrie, das sogenannte Mental Hygiene Movement. Heutzutage ist der Begriff Psychohygiene kaum noch verbreitet, die Methoden und Lehren sind jedoch immer noch aktuell und ihr Einfluss in vielen Bereichen weiterhin vorhanden, unter anderem in Antonovskys Konzept der Salutogenese (siehe Kapitel 9.4.1).

Die Psychohygiene nahm ihren Anfang in den USA unter dem Begriff “Mental Hygiene”. Dort wurde der Begriff erstmals im Jahre 1843 von William Sweetser verwendet (Mandell 1995, online). Die Grundidee der Psychohygiene stammte jedoch vom schweizerisch-US-amerikanischen Psychiater Adolf Meyer. Dieser sah psychische Krankheiten und Störungen als Resultat der Interaktionen von Individuen mit ihrer Umgebung; eine ähnliche Sichtweise ist auch in der systemischen Therapie zu finden. Daraus folgerte er, dass psychische Krankheiten bzw. Störungen auf ein Ungleichgewicht zwischen den Individuen und deren Umgebung schließen ließen, und dass präventive Maßnahmen und Behandlungen ernsthafte Probleme verhindern könnten (Parry 2010, Seite 2356 f.).

1909 wurde in den USA das National Committee for Mental Hygiene gegründet, eine gemeinnützige Organisation, welche heute als Mental Health America bekannt ist. Eines der Gründungsmitglieder war Clifford W. Beers, der in seiner Autobiographie A Mind That Found Itself aus dem Jahre 1908 die miserablen Bedingungen in den Psychiatrien beschrieb, in welchen er selbst Patient war. Aus diesem Grund verfolgte er mit dem Committee das Ziel, die psychiatrische Ausbildung und die Bedingungen in den Psychiatrien zu verbessern und in die Forschung zur Vermeidung der Entstehung psychischer Krankheiten zu investieren; der Gedanke der Prävention psychischer Krankheiten war geboren. Trotz des Fokusses auf die Psychiatrie zeigten auch Sozialarbeiter, Lehrer, Psychologen, Soziologen und Angehörige anderer Professionen Interesse an der Psychohygiene und ließen sich von dieser inspirieren, sodass die Psychohygiene alsbald interdisziplinär wurde (Cohen 1983, Seite 123-149; Franklin 1994, Seite 11 ff.; Pols 2004, Seite 595 f.; Warren 1998, Seite 537-555).

Während der 1920er Jahre wurde Sigmund Freuds Theorie der Psychoanalyse sehr populär. Diese hatte auch Einfluss auf das Mental Hygiene Movement. Freuds Lehre, dass psychische Krankheiten ihren Ursprung in der Kindheit haben, wurde auf die Psychohygiene übertragen. Die Vertreter des Mental Hygiene Movements waren in der Folge der Ansicht, dass die Psychohygiene insbesondere bei Kindern und Personen, die in besonders engem Kontakt zu Kindern stehen - Lehrer und Eltern - angewendet werden sollte, um der Entstehung von psychischen Krankheiten bereits im Kindesalter entgegenzuwirken. Der Fokus auf die Alltagsprobleme von Kindern wurde mit der Zeit weiter verstärkt, sodass in den 1930er Jahren von führenden Vertretern des Mental Hygiene Movements sogar Bildungsprogramme für Schulkinder entworfen wurden, die auf die Förderung der psychischen Gesundheit abzielten und möglichst viele Kinder erreichen sollten. Daraufhin wurde während der 1930er Jahre die Ausbildung der Lehrkräfte um die Entwicklungspsychologie erweitert. Auch Bildungsreformisten interessierten sich zunehmend für die Psychohygiene, da die Erziehungsmethoden zu dieser Zeit zum Teil noch sehr repressiv waren und vorwiegend aus Bestrafungen bestanden, die zu Gehorsamkeit und “richtigem”, also erwünschtem Verhalten führen sollten. Als sich die Bildungsreform schließlich durchsetzte, wurde die Entwicklung der Persönlichkeit zu einer der Hauptaufgaben der Bildung (Cohen 1983, Seite 123–148).

2.4 Psychohygiene im Kontext der Rassenhygiene im Dritten Reich

Am 16. Juli 1933 wurde der Vorstand des Deutschen Verbandes für psychische Hygiene, welcher 1925 vom deutschen Psychiater Robert Sommer gegründet wurde, vom schweizerisch-deutschen Psychiater und Eugeniker bzw. Rassenhygieniker Ernst Rüdin übernommen. Robert Sommer, der bis dato noch den Vorstandssitz innehatte, wurde genötigt, seinen Posten zu verlassen. Gleichzeitig wurde der Verband umbenannt in Deutscher Verband für psychische Hygiene und Rassenhygiene und damit seine Funktion geändert (Gerrens 1996, Seite 67 ff.). Die Psychohygiene wurde im Zuge der Gleichschaltung so zu einem Instrument der Nationalsozialisten, das dazu diente, ihre Weltanschauungen zu verbreiten. Das Aufkommen des Nationalsozialismus und der darauf folgende Zweite Weltkrieg läuteten somit das Ende der Blütezeit der Psychohygiene ein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Idee der Psychohygiene besonders durch das Interesse von Eltern, insbesondere Müttern, an Erziehungsratgebern bestimmt. Kritiker sahen darin die Gefahr, dass Mütter dadurch unbegründeterweise übermäßig besorgt um die psychische Gesundheit ihrer Kinder würden. Gleichzeitig nahm der Einfluss der Psychohygiene auf die Bildung von Kindern ab, da diese zunehmend durch die Lehre akademischer Fähigkeiten ersetzt wurde. Nach und nach wurde der Begriff Mental Hygiene durch den - auch heute noch gängigen - Begriff Mental Health ersetzt (Bertolote 2008, Seite 115 f.).

2.5 Soziale Berufszweige mit besonderem Risiko einer hohen psychischen Belastung

Soziale Berufe sind alle Berufe, die sozial sind und dementsprechend “dem Gemeinwohl, der Allgemeinheit dienen[...]; die menschlichen Beziehungen in der Gemeinschaft regeln[...] und fördern[...] und den (wirtschaftlich) Schwächeren schützen[...]” (Duden 2017, online). Soziale Berufe erfordern daher ein hohes Maß an Engagement für die Mitmenschen und die Gesellschaft.

Die Ergebnisse einer Studie der Universität St. Gallen lassen jedoch erkennen, dass Personen, die soziale Berufe ausüben, selbst einer hohen psychischen Belastung ausgesetzt sind. So erleben Personen der Berufsgruppe “Soziale und kulturelle Dienstleistungsberufe”, zu welchen auch Sozialarbeiter gezählt werden können, vergleichsweise häufig Stress (siehe Abb. 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Stressempfinden nach Berufsgruppen

Übernommen aus Böhm et al. 2017, Seite 26

Außerdem gaben 57 Prozent dieser Berufsgruppe an, dass ihnen ihre Arbeit emotional viel abverlange. Darüber hinaus gab mehr als ein Drittel (37.7 Prozent) an, dass die Menge der zu erledigenden Aufgaben zu hoch sei (Böhm et al. 2017, Seite 37). Nur 43.1 Prozent der Beschäftigten dieser Berufsgruppe konnten in ihrer Freizeit ihre Arbeit vergessen, fast zwei Drittel der Befragten (64,5 Prozent) nutzte Informations- und Kommunikationsmittel auch in der Freizeit, d.h. es besteht nur eine geringe Abgrenzungsfähigkeit zwischen Beruf und Freizeit (Böhm et al. 2017, Seite 43).

Eine amerikanische Studie aus dem Jahre 2014 untersuchte in den Jahren 2002 bis 2005 im westlichen Pennsylvania Unterschiede in der Prävalenzrate von Depressionen in verschiedenen Industriezweigen. Der Studie zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit, an einer (nach der klinischen Modifikation der ICD-9 diagnostizierten) Depression zu erkranken, bei Sozialarbeitern bei rund 14,6 Prozent. Damit steht diese Berufsgruppe auf Rang drei der untersuchten Berufe mit dem höchsten Risiko, eine Depression zu entwickeln. Weitere soziale Berufe mit erhöhter Wahrscheinlichkeit, eine Depression zu entwickeln, sind Berufe im Gesundheitswesen mit 11,42 Prozent. Beide Berufsgruppen wurden der Kategorie Health care and social assistance, dem Sozial- und Gesundheitswesen, zugeordnet. Untersucht wurden insgesamt 56 Berufsgruppen, der Durchschnitt aller Berufsgruppen lag bei 10,45 Prozent (Wulsin, Alterman, Bushnell, Li & Shen 2014, Seite 1805-1821).

Auf Grundlage dieser Daten liegt die Vermutung nahe, dass Sozialarbeiter bei der Ausübung ihres Berufes in sehr hohem Maße einer psychischen Belastung ausgesetzt sind, welche sich unter anderem in einer hohen Anzahl an Depressionen äußert; die Ursachen für die hohe psychische Belastung bei Sozialarbeitern können dabei sehr vielfältig sein, wie das folgende Kapitel aufzeigen wird. Es ist demzufolge naheliegend, dass Maßnahmen zur Erhaltung der psychischen Gesundheit für Sozialarbeiter und Personen in sozialen Berufen von großer Bedeutung sind.

Dies erkannte bereits Alice Salomon, eine Pionierin der Sozialen Arbeit als akademische Disziplin, zu Beginn des 20. Jahrhunderts und schreib dazu in ihrem Buch “Leitfaden der Wohlfahrtspflege”: "Der Sozialarbeiter muß sich selbst ein erfülltes Leben schaffen, [...] sich entwickeln, reicher werden, wenn er dauernd Kraft auf andere übertragen soll. Er muß mit seiner Kraft haushalten, nicht mehr unternehmen, als er bewältigen kann. Das ist nicht nur um seiner selbst willen notwendig, sondern ist Teil seiner Berufspflicht gegenüber der Gesamtheit, gerade, weil er es dauernd mit Menschen zu tun hat, deren Kraft versagt” (Salomon 1928b, Seite 183).

2.6 Mögliche Ursachen für psychische Belastung von Sozialarbeitern

Als psychische Belastung wird die “Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und auf ihn psychisch einwirken”, verstanden (Richter 2000, Seite 2). Aus dieser Belastung heraus kann psychische Beanspruchung resultieren, deren Folgen sowohl positiv als auch negativ sein können. Die positiven Folgen äußern sich durch einen anregenden Effekt. Zu den negativen Folgen zählen sowohl Unter- als auch Überforderung (ebd., Seite 2 f.). Häufig wird in diesem Kontext auch von Stress gesprochen, wenn die psychische Belastung, die aus den Einflüssen der Umwelt resultiert, nicht mit den vorhandenen individuellen Ressourcen bewältigt werden kann und zu negativen Folgen führt (Folkman 2013, Seite 1913). Die Ursachen von psychischer Belastung in der Sozialen Arbeit können vielfältig sein; im folgenden Kapitel werden die wichtigsten Ursachen erläutert.

2.6.1 Das “Helfersyndrom”

Das sogenannte Helfersyndrom ist keine empirisch belegte und medizinisch oder psychologisch anerkannte Symptomgruppe, sondern vielmehr ein Modell bzw. eine Theorie, die die seelischen Probleme, die gehäuft in sozialen Berufen auftreten, zu beschreiben und zu erklären versucht. Es ist daher in keinem Klassifikationssystem zu finden. Der Begriff geht zurück auf den deutschen Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, der ihn 1977 erstmals in seinem auch heute noch aktuellen und immer wieder neu aufgelegten Buch Die hilflosen Helfer verwendete.

Das Modell geht von einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur aus, die eine Person anfällig für das Helfersyndrom macht. In erster Linie gehört dazu ein niedriges Selbstbewusstsein, welches dazu führt, dass der Betroffene seine gesamte Aufmerksamkeit und Energie darauf verwendet, eine Helferrolle auszufüllen und unbedingt gebraucht zu werden; das Helfen dient somit der Unterdrückung eigener Probleme (Schmidbauer 2013b, Seite 19 f.). Es kommt zu einem Verhalten, das die Symptome einer Sucht aufweist; der Klient wird hierbei als “Suchtmittel” missbraucht (ebd., Seite 58). Als Ursache dafür gelten ungelöste Konflikte in der Kindheit, die zu einem geringen Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl führten und so bis ins Erwachsenenalter getragen wurden (Schmidbauer 2013a, Seite 57). Durch das Gebraucht-werden wird das Selbstwertgefühl zwar nicht real gesteigert, der Betroffene empfindet es jedoch als Selbstbestätigung und erlangt somit ein “künstliches” Selbstwertgefühl. Da Verhaltensweisen wie das Zurückstellen der eigenen Person zugunsten Anderer (insbesondere zugunsten von Familienmitgliedern), Umsorgen, Beschützen und passive, indirekte Äußerung von Aggressionen allgemein dem klassischen weiblichen Rollenverständnis bürgerlicher Gesellschaftsschichten entsprechen, ist das Helfersyndrom bei Frauen weit weniger augenfällig als bei Männern (ebd., Seite 204).

Diese Konstellation führt dazu, dass Personen, die diese Persönlichkeitsstruktur aufweisen, ihre Berufswahl danach ausrichten, welchem Ausmaß sie im jeweiligen Beruf anderen Menschen helfen und dafür Bestätigung erlangen können. Dies ist in (nahezu) allen sozialen Berufen der Fall, insbesondere bei Sozialarbeitern und pflegenden Berufen wie Kranken- oder Altenpfleger, aber auch bei Psychotherapeuten, Psychologen, Ärzte etc. Personen mit dem Helfersyndrom neigen also dazu, diese oder artverwandte Berufe zu wählen. Im schlimmsten Falle kommt es hier zu einer übermotivierten Hilfe, die nicht dem professionellen Verständnis von Hilfe zur Selbsthilfe entspricht, sondern dem Hilfebedürftigen die Selbstständigkeit vollständig verweigert und alle Aufgaben übernimmt. Der Helfer schafft auf diese Weise ein Abhängigkeitsverhältnis (ebd., Seite 126). Damit ist dem Hilfebedürftigen jedoch nur kurzfristig oder sogar gar nicht geholfen, da er für zukünftige Probleme keine Problemlösungsstrategien an die Hand, sondern nur fertige Lösungen “serviert” bekommt (Thomas 2006, Seite 52 ff.). Der Betroffene kann seine Hilfe anderen auch aufzwingen, ohne dass diese notwendig oder erwünscht wäre. Das Helfersyndrom und die damit verbundene Missachtung einer professionellen Arbeitsweise schädigt nicht nur den Hilfesuchenden, sondern auch den betroffenen Helfer selbst und dem gesamten Berufsstand (Heiner 2004, Seite 92-111). Der Betroffene vernachlässigt oder ignoriert seine eigenen Bedürfnisse sowie die seines Partners, seiner Familie und anderer sozialer Kontakte; in der Folge kommt es zu Erschöpfungszuständen, Burnouts und Depressionen (Fengler 2008, Seite 47).

Im Falle des Helfersyndroms lässt sich die Beziehung zwischen Helfer und Hilfebedürftigen mithilfe des sogenannten Dramadreiecks beschreiben (siehe Abb. 2). Das Dramadreieck ist ein Konzept, welches im Jahre 1968 von Stephan Karpman entworfen wurde und aus der Transaktionsanalyse stammt. Das Konzept geht von einer Dreiecksbeziehung zwischen Helfer, Hilfebedürftigem (Opfer) und Täter (Verfolger) aus (Karpman 1968, Seite 40). Der Helfer nimmt darin allzu schnell die Rolle des Retters ein, sodass aus der anfänglich bestehenden Opfer-Verfolger-Beziehung eine Dreiecksbeziehung entsteht und dem Opfer so jede Chance verwehrt wird, sich selbst zu helfen (Thomas 2006, Seite 52 ff.). Personen mit dem Helfersyndrom finden sich auffallend häufig in solchen Beziehungsmustern wieder. Innerhalb solcher Dreiecks- beziehungen kommt es häufig zu Missbrauch (L'Abate, Cusinato, Maino, Colesso & Scilletta 2010, Seite 213). Im Falle einer professionellen Hilfe bleibt die Zweierbeziehung zwischen Opfer (V) und Verfolger (P) bestehen und der Helfer (R) ist lediglich ein Berater, der dem Opfer unterstützend zur Seite steht und ihm Hilfe zur Selbsthilfe gewährt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Dramadreieck

Übernommen aus Karpman 1968, Seite 40

2.6.2 Empathie

Empathie ist keine Emotion, sondern die Fähigkeit, die Emotionen unserer Mitmenschen erkennen, verstehen und nachempfinden zu können (Ekman 2003, Seite 67). Empathiefähigkeit ist daher eine Eigenschaft, die grundsätzlich bei allen Sozialarbeitern und Personen in sozialen Berufen erwünscht ist bzw. von diesen erwartet wird und aus diesem Grund eine elementare Rolle im Selbstverständnis der Sozialen Arbeit spielt. Der Stellenwert von Empathie in der Sozialen Arbeit ist sogar so hoch, dass sie im Ethikkodex Ethics in Social Work, Statement of Principles der International Federation of Social Workers, kurz IFSW, und der International Association of Schools of Social Work, kurz IASSW, aufgenommen wurde. Dort heißt es: “Social workers should act in relation to the people using their services with compassion, empathy and care”, zu Deutsch: “Sozialarbeiter sollten in Bezug auf die Menschen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, mit Mitgefühl, Empathie und Sorgfalt handeln” (IFSW & IASSW 2004, online).

Eine Studie aus Illinois legt jedoch nahe, dass ein Übermaß an Empathie auch krank machen kann - zumindest im Hinblick auf die Eltern von Kindern zwischen 13 und 16 Jahren. Der Studie zufolge steigen die Entzündungswerte im Blut der Eltern proportional zu dem Maß an Empathie an, die sie für ihre Kinder aufbrachten. Dies deutet auf ein geschwächtes Immunsystem und ein erhöhtes Stresslevel hin (Manczak, DeLongis & Chen 2015, Seite 211-218). Empathie kann also auch Schattenseiten haben. Obwohl die Studie selbstverständlich nicht ohne Weiteres auf die Soziale Arbeit übertragen werden kann, liegt der Verdacht nahe, dass diese Ergebnisse in ähnlicher Weise auch für Sozialarbeiter gelten.

2.6.3 Gefühl von Machtlosigkeit

In der Sozialen Arbeit bestehen keine “machtsterilen Verhältnisse” - wenngleich die Existenz von Machtstrukturen in der Sozialen Arbeit allgemein verurteilt oder gar geleugnet wird - denn überall, wo soziale Ordnungen gebildet werden, existieren Machtstrukturen (Kraus & Krieger 2013, Seite 29 ff.). Infolgedessen sind auch in der Sozialen Arbeit Machtstrukturen vorhanden - zwischen Sozialarbeitern und Ämtern, Sozialarbeitern und Klienten, Institutionen und Klienten usw.

Strukturelle Machtlosigkeit beispielsweise kann sich problematisch auswirken, wenn sich Interventionen der Sozialen Arbeit als nur bedingt wirksam gegenüber gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, Ausgrenzung, Repression und Unterdrückung erweisen. Einzelfallhilfen und die soziale Gruppenarbeit, die einen Großteil sozialarbeiterischer Interventionen ausmachen, sind weitestgehend einflusslos gegenüber gesellschaftlichen Strukturen (Knopp 2007 Seite 101 f.). So lassen sich beispielsweise Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Existenzängste nicht allein durch Einzelfallhilfen beheben, wenn ein kompletter Stadtteil oder eine ganze Region unter mangelnder Infrastruktur und einem Unterangebot an Arbeitsplätzen zu leiden hat.

Immer wieder kommt es vor, dass sozialarbeiterische Interventionen ihre Ziele verfehlen oder Klienten von ihren Hilfen scheinbar nichts wissen wollen, insbesondere, wenn diese nicht freiwillig, sondern unter Zwang ihre Dienste in Anspruch nehmen (müssen). Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn es darum geht, sozial unerwünschtes Verhalten zu korrigieren. Dies kann natürlich - für beide Parteien - sehr ernüchternd sein und führt nicht selten dazu, dass die Interventionen wirkungslos werden, da eine produktive Arbeit nur dann möglich ist, wenn der Sozialarbeiter auf die Mitwirkung und die Motivation des Klienten zählen kann (Gehrmann & Müller 2010, Seite 16). Sind solche Konstellationen die Regel, führen sie alsbald dazu, dass sich der betroffene Sozialarbeiter als machtlos erfährt. Die Folge davon ist häufig Frustration.

Die Soziale Arbeit unterliegt außerdem besonders stark politischen Machtstrukturen. Diese können strukturelle Rahmenbedingungen wie unsichere Arbeitsbedingungen, stark begrenzte finanzielle Mittel, hohen zeitlichen Druck sowie vermehrte Bürokratisierung hervorrufen, die die Zwangslage der Sozialen Arbeit verschärfen und ein Gefühl von Machtlosigkeit intensivieren (Keller, Gojová & Baum 2013, Seite 212). Gleiches gilt für ein hohes Pensum gleichzeitig zu erledigender Aufgaben, wie es auch bei einer großen Anzahl an Fallzuständigkeiten gegeben ist (Richter 2000, Seite 5). Diese Problematik ist jedoch keinesfalls neu. Alice Salomon äußerte sich im Jahre 1928 hierzu bereits folgendermaßen: “Die ungeheure Ueberlastung vieler Beamtinnen liegt n ic h t in der Natur der Aufgabe. Sie entsteht dadurch, daß viele Sozialbeamtinnen für eine zu große Zahl von Individuen zu sorgen haben, durch weite Entfernungen, die sie täglich zurücklegen müssen, durch zu kurz bemessene Urlaubszeiten, die wohl für Beamte des Innendienstes, aber nicht für Fürsorger im Außendienst zur Entspannung und Kräftigung ausreichen. Es ist die Aufgabe der Berufsorganisationen, sich für Wandel einzusetzen; Aufgabe der anstellenden Behörden, einsichtsvoll die Erfordernisse des neuen Berufsstandes zu begreifen und zu berücksichtigen” (Salomon 1928a, Seite 199).

Zur Einschätzung von Belastungs- und Beanspruchungsfaktoren des Arbeitsumfeldes sowie zur Förderung der Gesundheit des arbeitenden Menschen kann das Job Demand-Control Model (Anforderungs-Kontroll Modell) des US-Soziologen Robert Karasek herangezogen werden. Hierbei geht Karasek davon aus, dass starke Arbeitsbelastung durch eine Kombination der beiden Faktoren Arbeitsanforderungen („Job Demands“) und Arbeitsplatzautonomie („Job Decision Latitude“) entstehen; sind die Arbeitsanforderungen hoch und mit einem geringen Handlungsspielraum (geringe Autonomie) verbunden, kommt es zu starken Belastungen (Karasek 1979, Seite 289 ff.).

Die nach Karasek durch hohe Arbeitsanforderungen entstehende Handlungsenergie („potential energy“) wird in dem Maße in Arbeitsmotivation transformiert bzw. freigesetzt, in dem der Arbeitende Entscheidungen selbstständig treffen kann. Demgegenüber kommt es zu Stress-Symptomen bedingt durch psychische Belastung, wenn der Handlungsspielraum begrenzt ist und die Handlungsenergie in Folge dessen nicht in Form von Handlungen freigesetzt werden kann. Dies kann sich dann laut Karasek begünstigend auf Depressionen auswirken (ebd. 1979, Seite 287).

1988 erfuhr das Modell durch Johnson und Hall eine Erweiterung zum Job Demand-Control-Support (JDCS) Modell. Hier werden fehlende soziale Unterstützung und Isolation als Faktoren identifiziert, die das Ausmaß der psychischen Gefährdung weiter erhöhen können. Andere Faktoren wie soziale Unterstützung wirken hierbei positiv und können die psychische Belastung verringern (Johnson & Hall 1988, Seite 1341).

Der Zusammenhang zwischen Anforderungen und Kontrolle wurde bereits empirisch untersucht. So konnte mittels sogenannter Strukturgleichungsanalysen bereits nachgewiesen werden, dass hohe Anforderungen im Beruf gepaart mit hoher Kontrolle dazu führen, dass bei den untersuchten Personen Produktivität und Kompetenz gestärkt und Bewältigungsstrategien gefördert wurden. Wenig Kontrolle hingegen führt zu verringerter Produktivität sowie Unzufriedenheit (Dollard, Winefeld, Winefeld & De Jonge 2000, Seite 506 ff.).

2.6.4 Mangelnde Wertschätzung und Anerkennung

Insbesondere in sozialen Berufen stellt ein Mangel an Wertschätzung und Anerkennung für das berufliche Engagement einen bedeutenden Faktor für berufliche Belastung dar. Der Schweizer Medizinsoziologe Johannes Siegrist entwickelte hierzu im Jahre 1996 das sogenannte Modell beruflicher Gratifikationskrisen (engl.: effort-reward imbalance model). Hierbei werden die arbeitsbedingten Anforderungen, resultierend aus extrinsischen Bedingungen (Anforderungen) und intrinsischer Leistungsmotivation, Belohnungen in Form von Anerkennung, Status, Karrieremöglichkeiten, Gehalt und Arbeitsplatzsicherheit gegenübergestellt. Werden die belohnenden Faktoren subjektiv geringer als die Anforderungen empfunden, entsteht ein Ungleichgewicht, das sich in Form einer Gratifikationskrise äußert (Siegrist 1996, Seite. 29 ff.). Auf Grundlage dieses Modells wurde von Sigrist ein standardisierter Fragebogen entwickelt, in dem anhand von 22 Items nicht nur die beiden Faktoren „Verausgabung“ und „Belohnung“, sondern zudem der dispositionale, intrapsychische Faktor „übersteigerte berufliche Verausgabungsbereitschaft“ erfasst wird (Rödel, Siegrist, Hessel & Brähler 2004, Seite 229).

Dieses empirisch gut untersuchte Modell fand bei Beschäftigten, welche eine Gratifikationskrise durchlebten, ein fast sechsfach höheres Risiko für die Entwicklung depressiver Symptome (Larisch, Joksimovic, Knesebeck, Starke & Siegrist 2003, Seite 227). Ebenfalls belegt sind Korrelationen zu emotionaler Erschöpfung, psychosomatischen Beschwerden und zu koronaren Herzerkrankungen (de Jonge, Bosma, Peter & Siegrist 2000, Seite 1321 ff.).

Die extrinsische Belastung (“Job strain”) wird in diesem Modell, ähnlich wie beim Job Demand-Control Modell von Karasek (1979), dem Kontroll- und Entscheidungsspielraum des Arbeitnehmers gegenübergestellt. Beide Modelle eignen sich augenscheinlich zur Vorhersage des Risikos von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das Effort-reward imbalance Modell hingegen scheint zur Vorhersage psychischer Erkrankungen etwas besser geeignet zu sein als das JDC-Modell (Wahrendorf et al. 2012, Seite 471).

2.6.5 Störung des Gleichgewichts von Nähe und Distanz zu Klienten

Sicher ist: Das Gelingen des Balanceakts zwischen Nähe und Distanz ist von großer Bedeutung für die meisten sozialarbeiterischen Interventionen und daher ein allgegenwärtiges Problem, das es zu lösen gilt. Ist die Nähe zum Klienten zu groß, besteht die Gefahr, dass keine arbeits- und handlungsfähige Beziehung entsteht und die Hilfe im Vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Wird jedoch zu große Distanz gewahrt, verschließt sich der Klient dem Helfer möglicherweise und lässt keine Unterstützung zu, da er keine vertrauensvolle Beziehung zu ihm aufbauen kann. Wie viel Nähe und wie viel Distanz für die professionelle Soziale Arbeit notwendig ist, ist allerdings nicht genau definiert, lässt sich schwer messen und ist zudem vom jeweiligen Arbeitsfeld abhängig.

Im Hinblick auf die Psychohygiene soll der Aspekt der fehlenden Distanz zum Klienten näher beleuchtet werden. Dazu muss jedoch zuerst geklärt werden, was die Begriffe “Nähe” und “Distanz” im Hinblick auf die Soziale Arbeit im Einzelnen bedeuten. Der Begriff Nähe wird wie folgt beschrieben: „Eine Bindung wird zumeist angestrebt, das Bedürfnis nach Zwischenmenschlichem, sozialen Interessen, Geborgenheit, Zärtlichkeit, ebenso nach Bestätigung und Harmonie, Mitgefühl und Mitleid, Selbstaufgabe“ (Thomann & Schulz von Thun 2000, Seite 149). Eine solche Nähe besteht daher in der Regel nur zwischen Familienmitgliedern, Partnern oder langjährigen Freunden. Distanz hingegen äußert sich in dem „[...] Wunsch nach Abgrenzung von anderen Menschen […]. Die Betonung liegt auf der Einmaligkeit, der Freiheit und Unabhängigkeit, Unverbundenheit und Autonomie.“ (ebd.). Eine derart ausgeprägte Distanz wäre für ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Sozialarbeiter und Klienten jedoch nicht zuträglich.

In diesen beiden Definitionen zeigt sich die Gegensätzlichkeit, die dem Begriffspaar Nähe und Distanz zugrunde liegt; dabei sind absolute Nähe und absolute Distanz die “Pole” eines Kontinuums. Gewinnt die Nähe zu sehr an Gewicht, besteht die Gefahr, dass ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Klient und Helfer entsteht; dies gilt insbesondere für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, wenn eine “Bemutterung” des Klienten durch den Helfer stattfindet. Im extremsten Falle kann es zu Verführung, Nötigung und Vertrauensmissbrauch kommen (Thiersch 2012, Seite 38). Eine Abgrenzung ist dann nicht mehr möglich bzw. vorhanden.

Hier zeigt sich das große Dilemma der Sozialen Arbeit, denn insbesondere die Arbeit mit Drogenabhängigen erfordert ein hohes Maß an Nähe und Empathie, um die Zielgruppe erreichen zu können; dazu gehört auch, etwas mehr von sich selbst preiszugeben, als dem professionellen Verständnis nach als angemessen gilt. In diesem speziellen Fall wäre es dem Erfolg der Intervention möglicherweise sogar abträglich, wenn der betreffende Sozialarbeiter besonders darauf achten würde, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zu schaffen bzw. zu wahren. Dies gilt auch für viele Sozialarbeiter anderer Tätigkeitsfelder, zum Beispiel den Streetworkern.

2.6.5.1 Klienten als persönliche Kontakte in sozialen Netzwerken

Soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter, Instagram und Co. sind mittlerweile fester Bestandteil des Alltags vieler Menschen und erfreuen sich durch die Einfachheit des unabhängigen Austauschs mit Freunden, Familienmitgliedern und anderen Menschen auch über große Distanzen hinweg steigender Beliebtheit. In der Regel gehören soziale Netzwerke jedoch der Privatsphäre an, persönliche Accounts werden daher selten beruflich genutzt. Es kommt jedoch auch vor, dass Sozialarbeiter über ebensolche Netzwerke mit Klienten in Kontakt treten; eine solche Kontaktaufnahme kann entweder vom Klienten selbst oder - in seltenen Fällen - auch vom Sozialarbeiter ausgehen. Dies bringt allerdings mit sich, dass die Grenzen zwischen zuvor privat genutztem Raum und der Arbeitswelt verschwimmen; es besteht keine klare Abgrenzung mehr zwischen beruflichem und privatem Kontakt (Harbeck Voshel & Wesala 2015, Seite 67-76). Dabei liegt es in der Verantwortung des Sozialarbeiters, eine professionelle Beziehung, zu der auch ein gewisser Grad an Distanz gehört, zum Klienten herzustellen und auch aufrecht zu erhalten (Halabuza 2014, Seite 27). Gleiches gilt natürlich ebenso für sogenannte Messengerdienste wie Whatsapp oder das Speichern beruflicher Kontakte auf dem privaten Handy oder Smartphone.

Kommt es zu einer solchen Verschmelzung, fällt es schwer, sich in der Freizeit gedanklich nicht mit dem Berufsalltag und beruflichen Problemstellungen zu beschäftigen, da man ständig mit diesen konfrontiert wird. Als Beispiel: Ein Sozialarbeiter befindet sich im Urlaub und möchte seinen Freunden Urlaubsbilder über soziale Netzwerke schicken. Dabei lässt es sich nicht vermeiden, dass er auch die Beiträge und Nachrichten von Klienten liest; infolgedessen sinkt der Erholungswert des Urlaubs mitunter drastisch. Darüber hinaus bestehen datenschutzrechtliche Bedenken, die die Nutzung sozialen Netzwerken und Messengerdiensten für berufliche Zwecke nicht empfehlenswert machen.

2.6.5.2 Räumliche Nähe zum Arbeitsplatz

Ein Arbeitsplatz in Wohnortnähe oder gar das Wohnen direkt am Arbeitsplatz ist zunächst etwas Positives, denn beides wird mit vielen Vorteilen assoziiert: kurze oder keine Anfahrtszeiten, weniger Mobilitätskosten oder sogar vollständiger Wegfall derselben, größere Flexibilität, weniger Stress, mehr Freizeit usw. Insbesondere für Studenten, denen nach Abschluss des Studiums ohnehin ein Umzug bevorsteht, ist es mehr als naheliegend, eine Wohnung zu wählen, die möglichst in die Nähe des zukünftigen Arbeitsplatzes liegt. Doch gerade in sozialen Berufen kann sich eine zu zu geringe Distanz zum Arbeitsplatz auch nachteilig auswirken, insbesondere, wenn es sich beim Arbeitsplatz um eine stationäre Wohneinrichtung handelt. In diesem Fall kann zu Begegnungen mit Klienten in der Freizeit kommen, beispielsweise beim Einkaufen oder Spazieren gehen. Dabei wird der Sozialarbeiter immer wieder aufs Neue mit seinem Berufsalltag konfrontiert. Den Klienten ist an dieser Stelle möglicherweise nicht bewusst, dass der Sozialarbeiter privat unterwegs ist, und nehmen mit ihm Kontakt auf; möglicherweise sehen sie ihn sogar als ständig verfügbaren Ansprechpartner, kommen mit ihren Anliegen zu ihm und sprechen ihn auf akute Probleme an.

Ist dies nur selten der Fall, bestehen keine Bedenken hinsichtlich einer psychischen Belastung, wird dies jedoch zur Normalität, kann es zu Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit kommen, denn die Wohnung und ihr Umfeld sind per Definition im Normalfall der “Ort eines Großteils des außerberuflichen Lebens. Ihr Grundriß, ihre Ausstattung und ihre Lage im sozialräumlichen Gefüge der Siedlung organisieren mehr oder weniger direkt dieses Leben” (Häußermann & Siebel 2000, Seite 11). Die Wohnung als solche und ihre Lage fungieren somit als ein Rückzugsort, dessen Funktion beeinträchtigt werden kann, wenn sich dieser Ort in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz befindet. Zudem kann der Heimweg vom Arbeitsplatz auch dazu genutzt werden, sich auf die Freizeit einzustimmen und “abzuschalten”; fällt dieser weg, ist es schwieriger, eine Grenze zwischen privater und beruflicher Zeit zu ziehen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 123 Seiten

Details

Titel
Psychohygiene in der Sozialen Arbeit. Methoden zur Prävention von psychischen Erkrankungen
Autor
Jahr
2020
Seiten
123
Katalognummer
V500104
ISBN (eBook)
9783963550072
ISBN (Buch)
9783963550089
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziale Arbeit, Stressempfinden, Burnout, Depression, Stressbewältigungsmaßnahmen
Arbeit zitieren
Nicole Scherm (Autor:in), 2020, Psychohygiene in der Sozialen Arbeit. Methoden zur Prävention von psychischen Erkrankungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/500104

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