Anhänger der teleologischen Auffassung der Filmgeschichte werfen Georg Méliès oft vor, er habe in seinen Filmen die Narration vernachlässigt und kann somit nur als primitiver Vorläufer des Films nach Griffith betrachtet werden. Diese Sicht hat die Wahrnehmung der Besonderheiten des frühen Kinos im Ganzen und der Filme Méliès’ im Einzelnen verhindert und die Rezeption des Eigentümlichen dieser Filme verzerrt. Um Méliès zu erforschen, sollte man seine Arbeit im Rahmen einer Mikrogeschichte des frühen Films untersuchen, anstatt seine Rolle in der Makrogeschichte, die den Film als Ganzes von seinen Anfängen bis zur Gegenwart sieht, zu definieren. Denn die Mittel und Parameter zur Erforschung des "Kinos der Attraktionen" sind ganz andere, als zur Erforschung des späteren Films. Die Erforschung des frühen Kinos verlangt eine andere Sichtweise als die, die die durch das narrative Kino geschulten Zuschauer gewohnt sind. Unter Berücksichtigung dieser Rahmenbedingungen werden die Werke Méliès’ in dieser Arbeit analysiert und Eigentümlichkeiten seiner Filme entdeckt, die wegen der teleologischen Auffassung der Filmgeschichtsschreibung nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt wurden.
Was das frühe Kino ausmacht, ist laut Tom Gunning die Nutzbarmachung des Visuellen. Es ist nicht das Ziel des frühen Kinos, Geschichten zu erzählen. In erster Linie ging es den Filmemachern darum, den Zuschauern das Wunder der bewegten Bilder zu präsentieren. Die Filmvorführung an sich war eine Attraktion, die viel mehr an die Tradition des Rummelplatzes, als eines – aus heutiger Sicht – konventionellen Kinos erinnert. Die Kinokette Hale’s Tours, die bis zum Beginn der 1910er Jahre betrieben wurde, zeigte Filme, die aus nichtnarrativen Sequenzen bestanden, die von Fahrzeugen aus aufgenommen worden waren. Zur Erstellung sogenannter Phantom Rides wurde eine Filmkamera an die Spitze einer Lokomotive montiert, welche die Fahrt als Point-of-View-Shot aufzeichnete. Der Projektionssaal war in Form eines Eisenbahnwaggons gestaltet, ein als Schaffner verkleideter Mann entwertete die "Fahr"-Karten. Geräuscheffekte, die ratternde Räder und zischende Bremsen simulierten, dienten der Verstärkung der Illusion einer Bahnreise. Im Grunde genommen entsprechen derartige Vorführungen aus der heutigen Sicht eher dem Begriff Virtual Reality als Kino.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 1.1 New Film History und Neubewertung des frühen Films
- 1.2 Georges Méliès und sein Platz in der Mikrogeschichte des frühen Kinos
- 2. Analyse der Darstellungsformen in Filmen Méliès'
- 2.1 Theatralität: Theaterästhetik oder filmische Originalität?
- 2.2 Schauspiel
- 2.2.1 Anerkennung der Illusion
- 2.2.2 >Aufteilung der Aufgaben‹
- 2.3 Bühnenbild
- 2.3.1 >Es ist nicht so gewesen‹
- 2.3.2 Moving panoramas – Illusion der Bewegung
- 2.3.3 Unbeweglichkeit der Kamera, Beweglichkeit der Bühnenbilder
- 2.4 Requisiten und Kostüme
- 2.4.1 Schwarzweiß wird bunt
- 2.4.2 Requisit als Metapher
- 2.5 Narrativität
- 2.5.1 Funktion des Drehbuchs
- 2.5.2 Montage >Magic in the editing room‹
- 3. Zusammenfassung und Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Filme von Georges Méliès im Kontext der "New Film History" und widerlegt die gängige Auffassung, seine Werke seien lediglich "abgefilmtes Theater". Die Analyse fokussiert auf die spezifischen Darstellungsformen Méliès', um seine filmische Originalität aufzuzeigen und die Eigenheiten des frühen Kinos hervorzuheben.
- Neubewertung des frühen Films im Kontext der New Film History
- Analyse der filmischen Darstellungsformen bei Méliès (Schauspiel, Bühnenbild, Requisiten, Kostüme)
- Untersuchung der Narrativität und des Schnitts in Méliès' Filmen
- Widerlegung der These vom "abgefilmten Theater"
- Hervorhebung der filmischen Originalität Méliès'
Zusammenfassung der Kapitel
1. Einleitung: Dieses einführende Kapitel etabliert den theoretischen Rahmen der Arbeit. Es diskutiert die "New Film History" als Gegenströmung zur teleologischen Betrachtung der Filmgeschichte und positioniert Méliès innerhalb dieser Debatte. Die einseitige Fokussierung früher Filmhistoriker auf die narrative Entwicklung des Kinos wird kritisiert, und Gunnings Konzept des "Kinos der Attraktionen" wird als alternative Perspektive eingeführt. Das Kapitel betont die Notwendigkeit, Méliès' Werk im Kontext der spezifischen Bedingungen des frühen Kinos zu analysieren, und skizziert den Forschungsansatz der Arbeit, der auf einer mikrohistorischen Betrachtungsweise basiert und die Eigenheiten seiner filmischen Praxis hervorhebt. Die Arbeit will die Annahme widerlegen, dass Méliès' Filme lediglich "abgefilmtes Theater" seien.
2. Analyse der Darstellungsformen in Filmen Méliès': Dieses Kapitel analysiert verschiedene Aspekte der filmischen Darstellung in Méliès' Werken. Es untersucht die Unterschiede zwischen dem Theaterschauspiel und Méliès' neuartiger Schauspielführung, beleuchtet die Besonderheiten seiner Bühnenbilder (inkl. Moving Panoramas), Requisiten und Kostüme, und hebt die kreative Nutzung von Schwarz-Weiß- und Farbeffekten hervor. Die Analogien zum Theater werden anerkannt, gleichzeitig wird jedoch die filmische Originalität von Méliès betont. Der Einsatz von Montagetechniken und die Funktion des Schnitts bei der Erzeugung von Spezialeffekten werden detailliert betrachtet, was die Vielschichtigkeit und Innovation seiner filmischen Praxis verdeutlicht. Die Kapitel unterstreicht, wie Méliès die technischen Möglichkeiten des Mediums Film nutzte, um neue, filmische Ausdrucksformen zu schaffen.
Schlüsselwörter
Georges Méliès, Frühes Kino, New Film History, Kino der Attraktionen, Theatralität, Filmische Originalität, Schauspiel, Bühnenbild, Requisiten, Kostüme, Montage, Tricktechnik, Mikrogeschichte, Narrativität.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zu: Analyse der Darstellungsformen in Filmen Georges Méliès'
Was ist der Gegenstand dieser Arbeit?
Diese Arbeit analysiert die Filme von Georges Méliès im Kontext der "New Film History" und widerlegt die gängige Auffassung, seine Werke seien lediglich "abgefilmtes Theater". Der Fokus liegt auf der Analyse der spezifischen Darstellungsformen (Schauspiel, Bühnenbild, Requisiten, Kostüme, Montage) um Méliès' filmische Originalität und die Eigenheiten des frühen Kinos aufzuzeigen.
Welche theoretischen Ansätze werden verwendet?
Die Arbeit stützt sich auf die "New Film History" als theoretischen Rahmen, die eine Gegenströmung zur teleologischen Betrachtung der Filmgeschichte darstellt. Das Konzept des "Kinos der Attraktionen" von Tom Gunning wird als alternative Perspektive herangezogen. Die Analyse verwendet eine mikrohistorische Betrachtungsweise, um die Eigenheiten von Méliès' filmischer Praxis hervorzuheben.
Welche Aspekte der filmischen Darstellung werden untersucht?
Die Analyse umfasst die Untersuchung des Schauspiels (im Vergleich zum Theaterschauspiel), der Besonderheiten der Bühnenbilder (inklusive Moving Panoramas), der Requisiten und Kostüme (inkl. der kreativen Nutzung von Schwarz-Weiß- und Farbeffekten), sowie der Montagetechniken und der Funktion des Schnitts bei der Erzeugung von Spezialeffekten. Es wird der Einfluss des Theaters anerkannt, aber gleichzeitig die filmische Originalität Méliès' betont.
Wie wird die These vom "abgefilmten Theater" behandelt?
Die Arbeit widerlegt explizit die These, dass Méliès' Filme lediglich "abgefilmtes Theater" seien. Durch die detaillierte Analyse der verschiedenen Darstellungsformen wird gezeigt, wie Méliès die technischen Möglichkeiten des Mediums Film nutzte, um neue, filmische Ausdrucksformen zu schaffen, die über eine einfache Übertragung theatralischer Ästhetik hinausgehen.
Welche Kapitel umfasst die Arbeit und worum geht es in ihnen?
Die Arbeit besteht aus drei Kapiteln: Kapitel 1 (Einleitung) etabliert den theoretischen Rahmen und den Forschungsansatz. Kapitel 2 (Analyse der Darstellungsformen) untersucht detailliert die verschiedenen Aspekte der filmischen Darstellung in Méliès' Werken. Kapitel 3 (Zusammenfassung und Fazit) fasst die Ergebnisse zusammen und zieht Schlussfolgerungen.
Welche Schlüsselwörter beschreiben die Arbeit?
Georges Méliès, Frühes Kino, New Film History, Kino der Attraktionen, Theatralität, Filmische Originalität, Schauspiel, Bühnenbild, Requisiten, Kostüme, Montage, Tricktechnik, Mikrogeschichte, Narrativität.
Welche Zielsetzung verfolgt die Arbeit?
Die Arbeit zielt darauf ab, Méliès' Filme neu zu bewerten und seine filmische Originalität aufzuzeigen. Sie will die gängige, reduktionistische Sichtweise auf seine Werke korrigieren und seinen Beitrag zum frühen Kino im Kontext der "New Film History" würdigen.
- Arbeit zitieren
- Uladzimir Zhyhachou (Autor:in), 2017, (K)ein abgefilmtes Theater. Die Besonderheiten des frühen Kinos am Beispiel von Georg Méliès, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/501734