Wissenschaft und wissenschaftliche Arbeit in Mary Shelleys "Frankenstein or The Modern Prometheus"


Seminararbeit, 2005

30 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Wissenschaft in Frankenstein
2.1. Wissenschaft um 1800
2.2. Die wissenschaftliche Arbeit Victor Frankensteins
2.3. Wissenschaft und Verantwortung

3. Schlußbemerkung

Bibliographie

Eigenständigkeitserklärung

1. Einleitung

Nach der erstmaligen Publikation von Mary Shelleys Roman Frankenstein or, The Modern Prometheus im Jahre 1818 veröffentlichten vier der bekanntesten Literaturmagazine Englands Rezensionen zu diesem Werk, dessen Autorin seinerzeit anonym bleiben wollte und welches aufgrund des von ihm verfaßten Vorwortes zunächst Percy Shelley zugeschrieben wurde. Nicht nur zeichnen sich diese Kritiken mehrheitlich durch eine negative Bewertung des Romans aus, auch der wissenschaftliche Aspekt des Textes erfährt keinerlei Beachtung.[1] An diesem Umstand ändert sich auch im darauffolgenden Jahrhundert kaum etwas. Weder die Literaturkritik noch die in regelmäßigen Abständen erscheinenden Biographien über das Leben und Werk Mary Shelleys werden sich mit diesem Thema in irgendeiner Form auseinandersetzen. Muriel Spark ist die erste Kritikerin, die im Jahre 1951 zumindest eingesteht, daß die Wissenschaft einen integralen Bestandteil des Romans darstellt – „(...) regarding it as a necessary ingredient to a story of this nature“[2] –, ohne diese Feststellung jedoch einer weiteren Analyse zu unterziehen. Zwei Jahre später ist es Elizabeth Nitchie, die in ihrer Shelley-Biographie Mary zumindest zugesteht, über ein gewisses Maß an wissenschaftlicher Grundkenntnis verfügt zu haben.[3] Erstmals in der langen Rezeptionsgeschichte Frankensteins wird der Wichtigkeit des wissenschaftlichen Hintergrunds jedoch erst Rechnung getragen in einem 1972 erschienen Artikel von Patrick J. Callahan, in welchem dieser mit Unverständnis auf die bisherige Ignoranz dieses Aspekts reagiert:

„He is disturbed that the critics who „take endless interest in the Miltonic or Promethean echoes of Frankenstein’s speeches“ have never taken it upon themselves to „stress“ that “Frankenstein is an empirical scientist, with all the progressivist prejudices of the Enlightenment obvious in his narrative.””[4]

In der vorliegende Arbeit wird, ausgehend Mary Shelleys Erstlingswerk, zunächst eine Übersicht über die damalige Situation der Wissenschaften im allgemeinen und an der Universität in Ingolstadt im besonderen gegeben. Anschließend erfolgt eine konkrete Untersuchung der wissenschaftlichen Arbeit Victor Frankensteins, an deren Ende die Frage geklärt werden soll, ob es sich bei diesem um einen Alchemisten oder einen modernen Naturwissenschaftler gehandelt habe. Abschließend wird dessen wissenschaftliches Handeln in Bezug auf die Problematik der Verantwortung einer genaueren Betrachtung unterzogen, wobei analysiert werden soll, ob Frankenstein im Zuge seines Experiments seiner Verantwortung sich und den Menschen in seiner Ungebung gegenüber gerecht geworden ist.

2. Wissenschaft in Frankenstein

2.1. Wissenschaft um 1800

Bereits im Vorwort zu der von ihr überarbeiteten Auflage Frankensteins (1831) verwendet Mary Shelley in der Erläuterung der Entstehungsgeschichte ihres Werkes, beinahe wie nebenbei, einige wissenschaftlich-technische Termini. Dort ist die Rede von einer Unterhaltung zwischen ihrem mittlerweile verstorbenen Gatten Percy Shelley und Lord Byron, die sich über vermeintlich stattgefundene Experimente Erasmus Darwins und die Anwendung von Galvanismus austauschten.[5] Dieser Umstand deutet darauf hin, daß Mary Shelley ihre seinerzeit als reine Schauergeschichte abgeurteilte Erzählung durchaus auf der Basis eines wissenschaftlicheren Fundaments als bisher angenommen konzipierte. Nicht nur war sie als Tochter der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und des Schriftstellers und Philosophen William Godwin selber eine ungewöhnlich belesene junge Frau, auch der Mann an ihrer Seite, Percy Shelley, begeisterte sich seit seiner Jugend für die Naturwissenschaften[6] und die Annahme liegt nahe, daß Mary an seinen wissenschaftlichen Kenntnissen partizipierte. Ein weiterer Ansprechpartner für die Erläuterung wissenschaftlicher Fragestellungen könnte der Arzt John Polidori[7] gewesen sein, der wie die Shelleys den Sommer des Jahres 1816 in der Byronschen Villa Diodati am Genfer See in der Schweiz verbrachte. Während jener Beisammenkunft hatte Mary, wie alle Anwesenden von Lord Byron zur Erfindung einer Geistergeschichte animiert, in einem Traum die Idee zu ihrem Roman.

Eine bestimmte technische Neuerung scheint dabei besonderen Eindruck auf sie gemacht zu haben: die Entwicklung von Maschinen zur „Herstellung“ von Elektrizität. In ihrer Einleitung beschreibt Mary Shelley, wie bereits in ihrem Traum die Kreatur mittels einer Maschine – „some powerful engine“ (S. 9) – zum Leben erweckt wird. Vermutlich wurde sie zu dieser „Eingebung“ inspiriert durch die seinerzeit hochaktuelle Fragestellung, ob in der Elektrizität die Quelle des Lebens zu finden sei. Diese Möglichkeit wurde bereits damals in Versuchen mit menschlichen Leichen untersucht:

„The use of human bodies to ascertain whether or not electricity was the source of the spark of life was, while not common, still done and knowledge of such things could very well have been part of the discussions at Diodati. This is particularly true since Polidori had so recently graduated from the medical schools at Edinburgh and would have of necessity been familiar with all the latest research.”[8]

Und nicht nur läßt Shelley die Frankensteinsche Schöpfung mittels eines „spark of being“ (S. 55) lebendig werden, auch an anderen Stellen finden sich Anspielungen auf elektrische Phänomene, zumeist in der Form von Blitzen, die seit den Experimenten Franklins mit Elektrizität gleichgesetzt wurden.[9] So sind es die Beobachtung eines Blitzeinschlags in eine alte Eiche und die anschließenden Erläuterungen eines Wissenschaftlers, die in Victor das Interesse für die Naturwissenschaften wecken:

„On this occasion a man of great research in natural philosophy was with us, and excited by this catastrophe, he entered on the explanation of a theory which he had formed on the subject of electricity and galvanism, which was at once new and astonishing to me.“ (S. 39)

Seine Entdeckung der Ursache des Lebens – „the cause of generation and life“ (S. 50) – beschreibt er mit den Merkmalen eines plötzlichen Blitzeinschlags[10] und auch für die Beschreibung seines Zustandes nach der Ermordung Williams und Justines bedient er sich entsprechender Bildsprache: „But I am a blasted tree; the bolt has entered my soul“. (S. 155)

Auf seinem Weg in die Schweiz verläßt er während eines Gewitters seinen Wagen, um von einem Berg aus den Sturm zu beobachten und sich dabei feierlich von seinem Bruder zu verabschieden:

„During this short voyage I saw the lightnings playing on the summit of Mont Blanc in the most beautiful figures. (…) vivid flashes of lightning dazzled my eyes (…). This noble war in the sky elevated my spirits; I clasped my hands and exclaimed aloud: ‘William, dear angel! This is thy funeral, this is thy dirge!’” (S. 72f)

Und wiederum ist es das Licht eines Blitzes, das ihm einen Moment später die von ihm geschaffene Kreatur erstmals wieder vor Augen führt: „A flash of lightning illuminated the object and discovered its shape plainly to me.“ (S. 73)

Doch auch wenn das Thema Elektrizität einen gängigen Topos in der Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts darstellte,[11] so gab es zu „Beginn des 19. Jahrhunderts (...) die Naturwissenschaften im heutigen Sinn als universitäre Disziplin noch nicht. (...) Die erkenntnistheoretischen Grundlagen für naturwissenschaftliche Forschung – Experiment und empirisches Vorgehen – waren seit Francis Bacon gegeben, wurden aber nur zögerlich und unsystematisch umgesetzt.“[12] Daher äußert sich Wolfram Sailer erstaunt über den „avancierte(n) Charakter, den wissenschaftliche Forschung und Lehre bei Mary Shelley angenommen haben.“[13]

Die Wahl der Universität Ingolstadt als Studienort Victor Frankensteins ist somit keineswegs zufällig, galt diese doch schon damals „als Reformuniversität, die den neuen Wissenschaften aufgeschlossen gegenüberstand“ und verfügte „ab 1745 (...) über ein anatomisches Institut, „das in Deutschland nicht seinesgleichen hatte““.[14] Von einem derart fortschrittlichen Standard, wie ihn Shelley beschreibt, konnte allerdings erst einige Zeit später die Rede sein:

„Mary shows us Ingolstadt, a typical Germany university of a century later in which the curriculum has been reformed and drastically changed. Science and all of its related subjects have taken over.“[15]

Auch Franz Anton Mesmer hatte in Ingolstadt ein Studium der Mathematik und Physik absolviert.[16] Mesmers Magnetismustheorie versuchte sich in der Beantwortung der Frage, „wie die psychische Struktur des Geschöpfes konstituiert werden konnte.“ Dieser zufolge wurde „das unbeseelte menschenähnliche Geschöpf (...) durch die Weltenergie Elektrizität mit psychischen Strukturen geladen und erst durch diesen „Funken des Seins“ animiert.“[17] Wolfram Sailer formuliert aufgrund dieser unübersehbaren Parallelen die Vermutung, daß Mesmer von „den Studienfächern wie auch von dem Studienort (...) ein Vorbild für die Figur Frankensteins gewesen“[18] ist. Informationen über Mesmer und dessen Forschungen könnte Mary Shelley wiederum von John Polidori erhalten haben, der aus „vielerlei Quellen (...) recht gut mit dem Mesmerismus vertraut (war) und (...) diese Kenntnisse in Gesprächen in Genf wohl auch häufiger thematisiert“[19] hat.

Weitere Bekanntheit gewann Ingolstadt außerdem „seit 1776 als Zentralort der Illuminatenverschwörung“[20] unter der Führung Adam Weishaupts. Diese „antijesuitisch und rationalistisch eingestellte Gruppe“ hatte es sich zum Ziel gesetzt, „eine neue “socialische Moral“ herbei(zu)führen“[21] und hatte in Percy Shelley einen glühenden Anhänger gefunden. Dieser „hatte sich schon seit Jahren intensiv mit (...) dieser Kaderpartei der Aufklärung auseinandergesetzt“[22] und verfolgte „den großen Plan, in England eine den Illuminaten vergleichbare Bewegung auf die Beine zu stellen“.[23] An Informationen über diesen Geheimbund wird es Mary Shelley daher mit Sicherheit nicht gemangelt haben. Als für jedes Mitglied des Ordens verbindliche Studienfächer nennt Wolfram Sailer „Physik, unter die auch der Magnetismus zu zählen war, Medizin, zu der neben Anatomie und Chirurgie auch die Chemie zählte, Mathematik, Naturgeschichte, Politik, die Freien Künste und die okkulten Wissenschaften“ und erkennt im Vergleich mit dem Stundenplan Victor Frankensteins in diesem „die Verkörperung eines Ingolstädter Illuminaten“.[24]

Doch auch wenn Ingolstadt als eine Hochburg des Fortschritts gelten kann, so lag doch die Abkehr von alchemistischen Überzeugungen noch keineswegs lange Zeit zurück.[25] Dieser Übergang läßt sich in Frankenstein besonders anschaulich nachvollziehen und bis heute sind sich die Kritiker uneins darüber, ob die Forschungen Victor Frankensteins als die eines Alchemisten oder eines modernen Naturwissenschaftlers einzuordnen sind.[26]

Im folgenden sollen die spezifischen Merkmale dieser beiden Strömungen dargelegt und versucht werden, anhand des Textes sowohl den von Shelley skizzierten „Entwicklungsstand“ der Universität Ingolstadt als auch Hinweise auf die diesbezügliche Geisteshaltung des jungen Wissenschaftlers Frankenstein zu finden.

Dessen Begeisterung für die alchemistischen Lehren hat ihren Ursprung während eines Ferienaufenthaltes im Kreise seiner Familie, als dem dreizehnjährigen Jungen zufällig die Werke Cornelius Agrippas in die Hände fallen. Zunächst desinteressiert, schlagen ihn dessen Theorien doch schnell in ihren Bann und erfüllen ihn mit Begeisterung:

“I opened it with apathy; the theory which he attempts to demonstrate and the wonderful facts which he relates soon changed this feeling into enthusiasm.“ (S. 37)

Fatalerweise jedoch nimmt er Agrippas Lehrsätze für bare Münze – „I took their word for all that they averred“ (S. 37) – und wird auch von seinem Vater, der seine neue Entdeckung lediglich mit der Bemerkung: „My dear Victor, do not waste your time upon this; it is sad trash.“ (S. 37) kommentiert, nicht darüber aufgeklärt, daß dessen Lehren längst veraltet und durch modernere Systeme ersetzt wurden. Mit brennendem Enthusiasmus verschlingt er in der darauffolgenden Zeit das gesamte Werk seines neuen Lehrmeisters, sowie die Schriften Paracelsus’ und Albertus Magnus.[27] Doch worin bestand die alchemistische Lehre, von der sich die moderne Naturwissenschaft derart radikal abwandte? Eine pointierte Zusammenfassung formuliert Samuel Vasbinder:

„In its narrowest sense alchemy is, in the words of the pseudo- (sic!) Roger Bacon, „a Science teaching how to transform any kind of metall into another.“ In its broadest sense, however, it was thought to be the true key to Nature that would unlock the secrets of heaven and earth.””[28]

Doch ist darauf hinzuweisen, daß dabei “gleichzeitig eine Läuterung der Seele des Adepten (stattfindet): Mikro- und Makrokosmos werden beim Gelingen des >Großen Magisteriums< der Transmutation wieder eine mystische Einheit. Die Veredelung der Stoffe sei mit der Läuterung der Seele verknüpft.“[29] Sailer nennt außerdem als „zentrale Bedeutung (...) die Einstellung des Forschers zum Gegenstand; Alchemie verlangt also Reflexion über und verantwortlichen Umgang mit dem Gegenstand der Forschung und sich selbst.“[30]

Die Ziele der alten Gelehrten begeistern den jungen Frankenstein, der sich selber in der Kunst der Alchemie versucht, verführt von dem Gedanken, in eigener Regie Geister oder Teufel zu beschwören und sich zu Diensten zu machen:

„The raising of ghosts or devils was a promise liberally accorded by my favourite authors, the fulfilment of which I most eagerly sought; and if my incantations were always unsuccessful, I attributed the failure rather to my own inexperience and mistake than to a want of skill or fidelity in my instructors.” (S. 39)

Doch bald richtet sich sein Hauptaugenmerk auf das Elixier des Lebens, von dessen Entdeckung er sich weniger Reichtum denn vor allem Ruhm und Anerkennung verspricht:

„(...) search of the philosopher’s stone and the elixir of life; but the latter soon obtained my undivided attention. Wealth was an inferior object, but what glory would attend the discovery if I could banish disease from the human frame and render man invulnerable to any but a violent death.” (S. 38f)

Seine gesamten Erkenntnisse gewinnt er im Selbststudium, weder sein Vater noch seine Lehrer lenken seinen Wissensdurst oder belehren ihn eines Besseren.[31] Autonomer Wissenserwerb scheint damals sowohl üblich als auch, aufgrund der mangelnden Möglichkeiten, unumgehbar gewesen zu sein. Auch Robert Walton ist bei seinen Studien vor allem auf sich selbst gestellt:

„(...) devoted my nights to the study of mathematics, the theory of medicine, and those branches of physical science from which a naval adventurer might derive the greatest practical advantage.” (S. 15)

Erst zwei Jahre später, Victor ist mittlerweile 15 Jahre alt, bewirken das Erleben des Blitzeinschlags und die Erläuterungen des Naturwissenschaftlers bezüglich Elektrizität und Galvanismus einen Sinneswandel in ihm. Ganz plötzlich und impulsiv wendet er sich von seinen bisherigen Idolen ab und konzentriert sich auf das Studium der Mathematik und der ihr zugehörigen Wissenschaftszweige:

„(...) I at once gave up my former occupations (…). In this mood of mind I betook myself to the mathematics and the branches of study appertaining to that science”. (S. 40)

Weitere zwei Jahre später beschließen seine Eltern, ihren ältesten Sohn an einer deutschen Universität im bayrischen Ingolstadt studieren zu lassen, damit dieser seinen Erfahrungshorizont auch auf die Gebräuche anderer Länder ausdehnen kann.[32]

Eine liberale Ausbildung („a liberal education“ (S. 43)) verspricht sich Victor von dieser Universität, welche das Studium von „natural philosophy“ anbietet und an der die naturwissenschaftliche Forschung bereits auf den Grundsätzen Newtons basiert. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen:

„In the methods of new science, any hypothesis that was selected for study was subjected to the rigorous trial of experiment. (…) An experiment was usually conducted a number of times, and if the same results were obtained each time under identical conditions, then an inference could be drawn. This inference (…) could then be used to derive a law about the manner of operation of an extremely isolated and limited bit of natural phenomena. Rule two of Newton’s method of natural philosophy is firm in its statement that “to the same natural effect we must, in so far as possible, assign the same natural causes””.[33]

Bereits in den ersten Tagen seiner Anwesenheit in Ingolstadt macht Victor die Bekanntschaft jener beiden Professoren, die seine Universitätskarriere während der kommenden Jahre begleiten und fördern werden: Krempe und Waldman. Schon die ersten Zusammentreffen zwischen Victor und den beiden Professoren zeichnen ein anschauliches Bild des in Ingolstadt vorherrschenden fortschrittlichen Klimas und sollen im folgenden genauer analysiert werden.

Am ersten Tag nach seiner Ankunft wird Victor zunächst vorstellig bei Professor Krempe. Als dieser ihn nach den bisherigen Schwerpunkten seiner Studien befragt, nennt ihm Victor beinahe trotzig eben jene Alchemisten, deren Lehren er noch bis vor zwei Jahren mit kindlicher Begeisterung studiert hat. Unerwähnt läßt er hingegen, daß er sich bereits von diesen ab- und den modernen Wissenschaften zugewandt hat. Erschrocken und überrascht reagiert der Wissenschaftler mit folgenden Worten auf Victors Aufzählung:

„Every minute, (...) every instant that you have wasted on those books is utterly and entirely lost. You have burdened your memory with exploded systems and useless names.” (S. 44)

Er kann es kaum glauben, in diesem fortschrittlichen Zeitalter – „this enlightened and scientific age“ – einem Adepten jener alten Gelehrten zu begegnen und bezeichnet deren Phantasien – „these fancies“ – als verstaubt und seit 1000 Jahren überholt: „a thousand years old and as musty as they are ancient.“ (S. 44)

Abschließend überhändigt er seinem neuen Studenten eine Bücherliste und bereitet ihn darauf vor, mit seinen Studien gänzlich von vorne beginnen zu müssen. Außerdem verweist er ihn an seinen Kollegen Waldman, der ab der folgenden Woche den Unterricht in Chemie übernehmen wird. Victor jedoch steht einem Besuch dieser Vorlesungen, überhaupt dem gesamten Studiengang, äußerst ablehnend gegenüber. Er ist abgestoßen von dem äußeren Erscheinungsbild Krempes[34] und konnte sich offenbar bis zu diesem Tag nicht mit den Errungenschaften der modernen Naturwissenschaften anfreunden. Zu wenig haben diese ihm in seinen Augen im Vergleich mit den Zielen der Alchemisten zu bieten:

„It was very different when the masters of the science sought immortality and power; such views, although futile, were grand; but now the scene was changed. (...) I was required to exchange chimeras of boundless grandeur for realities of little worth.” (S. 45)

Er ist sich keineswegs sicher, ob er seine Studien auf diesem Gebiet weiterführen möchte – „I returned not at all the more inclined to recur to these studies in any shape” (S. 44) – und nimmt schließlich lediglich aus Neugier und Eitelkeit[35] an der Einführungsveranstaltung Professor Waldmans teil. Dieser hingegen weiß den Nerv des jungen Mannes vollends zu treffen. Bereits dessen Äußeres wirkt auf Victor ansprechender als das seines Kollegen, und seine Stimme bezeichnet er gar als die süßeste Stimme, die er je gehört hat– „his voice the sweetest I have ever heard.“ (S. 45)

Waldman beginnt seine Einführungsansprache mit der Erwähnung der alten Gelehrten und bezeichnet deren Vorhaben und Versprechen als unerfüllbar. Anschließend stellt er ihnen die modernen Wissenschaftler gegenüber, die zwar mit weitaus bescheideneren Methoden zu Werke gingen, jedoch in der Lage seien, wahre Wunder – „miracles“[36] – zu vollbringen. Bei der Beschreibung dieser neuen Möglichkeiten steigert er den Rahmen von der mikroskopischen Untersuchung bis hin zur künstlichen Erzeugung eines Erdbebens. Und es erinnert durchaus an die Versprechen der Alchemisten, wenn er davon spricht, die moderne Naturwissenschaft verfüge mittlerweile über nahezu grenzenlose Macht – „almost unlimited powers“. Es entsteht der Eindruck, als würde zwischen Alchemie und Naturwissenschaften ein fließender Übergang bestehen. Wolfram Sailer merkt diesbezüglich an, daß Waldman zwar „die alten Lehrer seiner Wissenschaft, die Alchemisten, als unfähig abqualifiziert“, jedoch „in wesentlichen Aspekten ihren Traditionen verhaftet“ bleibt, da er sich durch einen „bedingungslosen Glauben an die grenzenlosen Möglichkeiten der Wissenschaft“[37] auszeichnet. Fred Botting formuliert Waldmans Haltung mit den schönen Worten: „Waldman constructs a novel combination of alchemical dreams and scientific power“.[38]

[...]


[1] „No one has made a serious attempt to expose the scientific learning present in the novel, preferring to believe that Mary picked up detached pieces of scientific gossip and was able to miraculously piece them together into a coherent whole.” (Vasbinder, Samuel: Scientific Attitudes in Mary Shelley’s Frankenstein, S. 7, UMI Research Press, Michigan, 1976)

[2]Vasbinder, S. 12 (sich beziehend auf: Spark, Muriel: Child of Light, Essex, 1951)

[3] „No young woman could have written so effectively of Frankenstein’s scientific career unless she had shared it to some degree.“(Nitchie, Elizabeth: Mary Shelley, S. 26f, New Brunswick, N. J., 1953)

[4]Vasbinder (S. 25) zitierend aus:

Callahan, Patrick J.: Frankenstein, Bacon and the Two Truths, Extrapolation 14, No. 1, December 1972

[5]Shelley, Mary: Frankenstein or, The Modern Prometheus, S. 8, Penguin Books, London, 1994, basierend auf der Auflage von 1831

– alle folgenden Zitate aus Frankenstein werden durch Seitenangaben im Text angegeben –

[6] „Schon als Jugendlicher hatte er mittels einer galvanischen Batterie die Frostbeulen seiner Schwester behandelt. Als Schüler in der Syan House Academy hatte er sich eine Galvanisiermaschine gekauft und damit einem wenig beliebten Lehrer (...) eine Elektrisierbehandlung zukommen lassen. Er hatte aber auch furchtlos, ja sorglos Benjamin Franklins Experiment mit dem blitzanziehenden Drachen wiederholt, den er während eines Gewitters aufsteigen ließ. Seine elektrischen Experimente beschränkten sich jedoch nicht auf die naturwissenschaftlichen Aspekte; sie waren aufs engste mit seinen philosophisch-weltanschaulichen Vorstellungen verknüpft. (...) Percy Shelley glaubte, in der Elektrizität allerdings auch die Lebensenergie entdeckt zu haben.“

(Sailer, Wolfram: Wissen, Arbeit und Liebe in Mary Shelleys Frankenstein: Studien zur romantischen Mythendeutung, S. 112f, Verlag Die Blaue Eule, Essen, 1994)

[7] „A person who was so well grounded in contemporary science must have been able to teach Mary some of the concepts and theory of eighteenth-century science when she needed help and clarification. What she could not get from Shelley, who was in Rieger’s words an “accomplished chemist”, she could have made up by “consulting with Polidori.”” (Vasbinder, S. 81)

[8]Vasbinder, S. 81

[9] “(…) Mary is aware of a number of problems of the new science as applied to the relatively new field of electricity: lightning and electricity are seen to be one and the same;” (Vasbinder, S. 68);

“Anyone who knows Frankenstein at all will remember how important electricity is, both as informing idea and as a symbol of creative and destructive power”. (Vernon, Peter: Frankenstein: Science and Electricity, S. 276f, in: Études Anglaises 3, S. 270-282, Didier Érudition, Paris, 1997)

[10] „(…) until from the midst of this darkness a sudden light broke in upon me“. (Shelley, S. 50)

[11] „In short, Bossi concludes, the idea of electricity as a living fire, a reanimating force, health, youth and desire, is a common theme in the literature at the end of the eighteenth century.“ (Vernon, S. 277)

[12]Sailer, S. 118

[13]Sailer, S. 119

[14]Sailer, S. 120 (er zitiert Rudolf Koller: Ingolstadt. Stadt an der Donau; S. 58, Ingolstadt)

[15]Vasbinder, S. 74

[16]Sailer, S. 154

[17]Sailer, S. 154

[18]Sailer, S. 154

[19]Sailer, S. 156

[20]Sailer, S. 161

[21]Sailer, S. 152

[22]Sailer, S. 157

[23]Sailer, S. 159

[24]Sailer, S. 162f

[25] “The generation before Mary Shelley wrote Frankenstein was responsible for the final transition from Alchemical notions to the establishment of the scientific principles of Chemistry and Physics.”

(Vernon, S. 271)

[26] „A comment frequently made about Victor Frankenstein is that he is not a scientist in the modern sense of the word but a magician and alchemist whose construction of an artificial man had a strong basis in the occult and pseudosciences.” (Vasbinder, S. 51)

[27] Interessanterweise merkt Wolfram Sailer an, dass sich die „Mesmerschen Theorien (...) teilweise auf Paracelsus zurückführen“ lassen. (Sailer, S. 154)

[28]Vasbinder (S. 56) zitierend aus Read, John: Prelude to Chemistry: An Outline of Alchemy, S. 34, NY, 1937 sowie aus Debus, Allen G.: The Chemical Dream of the Renaissance, S. 7, Cambridge, 1968

[29] Brockhaus, Band 1, S. 297, Wiesbaden, 1966

[30]Sailer, S. 132

[31] „(...) but while I followed the routine of education in the schools of Geneva, I was, to a degree, self-taught with regard to my favourite studies. My father was not a scientific, and I was left to struggle with a child’s blindness, added to a student’s thirst for knowledge.” (Shelley, S. 38)

[32] „(...) but my father thought it necessary for the completion of my education that I should be made acquainted with other customs than those of my native country.“ (Shelley, S. 41)

[33]Vasbinder, S. 65

[34] „M. Krempe was a little squat man with a gruff voice and a repulsive countenance; the teacher, therefore, did not prepossess me in favour of his pursuits.” (Shelley, S. 44)

[35] „partly from curiosity and partly from idleness” (Shelley, S. 45)

[36]Shelley, S. 46 – auch alle folgenden Zitate aus der Rede Waldmans finden sich auf S. 46

[37]Sailer, S. 121

[38]Botting, Fred: Making Monstrous. Frankenstein, criticism, theory, S. 173, Manchester University Press, Manchester, 1991

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Wissenschaft und wissenschaftliche Arbeit in Mary Shelleys "Frankenstein or The Modern Prometheus"
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)  (Kulturwissenschaftliche Fakultät)
Veranstaltung
HS "Die Unwesen - Doppelgänger, Chimären und Gespenster in der englischen und amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts"
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
30
Katalognummer
V50182
ISBN (eBook)
9783638464536
ISBN (Buch)
9783656250203
Dateigröße
598 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wissenschaft, Arbeit, Mary, Shelleys, Frankenstein, Modern, Prometheus, Unwesen, Doppelgänger, Chimären, Gespenster, Literatur, Jahrhunderts
Arbeit zitieren
Angela Schaaf (Autor:in), 2005, Wissenschaft und wissenschaftliche Arbeit in Mary Shelleys "Frankenstein or The Modern Prometheus", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50182

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