Tätowierungen bei jungen Frauen

Analysen aus körper- und gendersoziologischer Sicht


Masterarbeit, 2018

104 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1 Forschungsstand
1.2 Aufbau der Arbeit

2. Die Geschichte der Tätowierung
2.1 Tätowierungen im Ursprung
2.2 Tätowierungen im 15. bis 19. Jahrhundert
2.3 Tätowierungen vom 20. Jahrhundert bis heute
2.4 Die Geschichte der Tätowierung im Überblick

3. Körper- und Geschlechtssoziologie
3.1 Gegenstand der Körpersoziologie
3.2 Der Geschlechtskörper als soziales Konstrukt
3.2.1 Der Körper als geschlechtliches Ordnungsmerkmal
3.2.2 Der Geschlechtskörper als soziales Ordnungsmerkmal
3.3 Exkurs: Sex und gender in der Theorie Judith Butlers
3.4 Der Körper als soziales Konstrukt

4. Schönheit, Schönheitshandeln und Attraktivität
4.1 Gesellschaftliche Relevanz von Schönheit und Körperlichkeit
4.2 Selbstdarstellung und Theatralität

5. Die Individualisierung des Körpers in der Nachmoderne
5.1 Macht und Habitus als individualitätsbegrenzende Faktoren
5.1.1 Begrenzungsfaktor Macht
5.1.2 Begrenzungsfaktor Habitus
5.2 Körper und Identität
5.2.1 Der Körper als Identitätsressource
5.2.2 Der Körper als Symbol der Geschlechtsidentität

6. Jugend und Körper
6.1 Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz in der Nachmoderne
6.2 Die Bedeutung des Geschlechts in der Adoleszenz
6.3 Die weibliche Adoleszenz
6.4 Der adoleszente Körper

7. Körpermodifikationen in der nachmodernen Gesellschaft
7.1 Piercings
7.2 Dehnungen
7.3 Schmucknarben

8. Tätowierungen bei jungen Menschen
8.1 Motive junger Menschen für Tätowierungen
8.1.1 Identitätszeichen
8.1.2 Zugehörigkeit, Abgrenzung, Stigma
8.1.3 Individualitätszeichen
8.1.4 Schönheitszeichen
8.1.5 Nachahmung
8.1.6 Ritualkompensation
8.1.7 Stärkesymbol
8.1.8 Tätowierungen als sexuelles und Geschlechtssymbol
8.1.9 Weitere (vermeintliche) Motive
8.2 Zusammenfassung der Beweggründe
8.3 Studien zur Geschlechterdifferenz von Tätowierungen
8.4 Tätowierungen bei jungen Frauen

9. Fazit

10. Literatur- und Quellenangaben

1. Einleitung

In der postmodernen Gesellschaft existiert eine umfangreiche Auswahl an Modellierungsmöglichkeiten für den eigenen Körper. Kleidung, Frisuren, Schmuck, Makeup, Maniküre oder Pediküre – die Reihe der sog. Körpermodifikationen lässt sich nahezu unendlich fortführen. Als eines der wichtigsten Themen beschäftigen sich vor allem Jugendliche mit der Ausgestaltung ihres Erscheinungsbildes, wobei nicht nur solche alltäglichen Gestaltungsmöglichkeiten Anwendung finden. Derweil ist es die Körpermodifikation der Tätowierung, die sich einer immer größer werdenden Beliebtheit erfreut. Dass Tätowierungen auf den Körpern des männlichen Geschlechts regen Einsatz finden, ist hierbei keine Neuigkeit. Jedoch mag einem auch der Gedanke an tätowierte Frauen kaum mehr befremdlich erscheinen. Insbesondere junge Frauen sind nicht selten Trägerinnen von Tätowierungen und in alltäglichen Kontexten anzutreffen. Während Frauen in stammeskulturellen Gesellschaften bereits vor Jahrhunderten ihre Haut mit Tätowierungen verzierten, ist dies in westlichen Gesellschaften hingegen als eine noch recht neuzeitliche Erscheinung zu verbuchen. Bis vor einigen Jahrzehnten bedienten sich Frauen hierzulande nur in den seltensten Fällen des Hautstichs. Dies steht in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, denen westliche Gesellschaften in besonderem Maße unterliegen. Gegenstand dieser Arbeit soll daher die Thematik der Tätowierung bei weiblichen Adoleszenten unter der Berücksichtigung von körper- und gendersoziologischen Aspekten darstellen. Die hier zu beantwortende Kernfrage lautet diesbezüglich, durch welche Umstände und Beweggründe sich die Tätowierung bei jungen Frauen einer zunehmend größeren Beliebtheit erfreut, während der Erwerb einer solchen bis vor einigen Jahren fast ausschließlich dem Mann vergönnt war beziehungsweise1 von diesem getragen wurde. Daneben sollen die Fragen nach der Funktion von Tätowierungen in der postmodernen Gesellschaft sowie nach den Motiven junger Menschen, bei denen Tätowierungen besonderen Anklang finden, sich mit solchen versehen zu lassen, geklärt werden.

1.1 Forschungsstand

Die Tätowierung hat sich aktuell ihren Weg in die Mitte postmoderner Gesellschaften bahnen können und stößt dort auf große Resonanz. Vor allem unter Jugendlichen erfreut sich der Hautstich seit geraumer Zeit zunehmender Beliebtheit, was sich an dem häufigen Erwerb eines solchen in dieser Lebensphase zeigt. Nach der Annahme der Körperthematik durch die Soziologie seit den 1980er ist nun auch die Tätowierung von zunehmendem soziologischem Interesse. Damit gehen zahlreiche Publikationen von Monographien und Aufsätzen einher, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Phänomen des Tattoos auseinandersetzen. Als Beispiel seien hier die Autoren Bammann (2006, 2008, 2011), Kächelen (2004), Kasten (2006), Lobstädt (2011) oder Vandekerckhove (2006) genannt, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeitgenössische Beiträge zur Tätowierung veröffentlicht haben. Frühere Abhandlungen und Forschungsschwerpunkte bestehen bereits aus psychologischer und kriminologischer Sichtweise, die Tätowierungen im Zusammenhang mit pathologischem Verhalten oder Kriminalität untersuchen. Neuere Untersuchungen hingegen finden im Kontext „der zeitgenössischen Tätowierungspraxis“ (Kächelen 2004: 3) statt und beschäftigen sich mit den Beweggründen sowie dem Vorkommen von Tätowierungen. Dabei werden oftmals bereits Verknüpfungen zwischen Tattoos und der Lebensphase Jugend hergestellt. Aufgrund des historischen Hintergrundes der Tätowierung hierzulande sowie des Umstandes, dass sich die Jugendforschung bisher stärker der Untersuchung männlicher Jugendlicher gewidmet hat, erfolgt auch die Betrachtung von Tätowierungen bei Adoleszenten oftmals unter Bezugnahme auf das männliche Geschlecht (vgl. Kächelen 2004: 14, 42 und 107 / King 2013: 34). Junge Frauen erfahren demgegenüber häufig nur randständig Beachtung. Daraus resultiert eine Forschungslücke, deren Ergänzung angesichts der immensen Verbreitungszunahme des Tattoos auf den Körpern junger Frauen, wie dies aus diversen, wenn auch nur begrenzt generalisierbaren Studien hervorgeht, als sinnvoll (s. Kap. 8.3). Durch die genauere Betrachtung von jungen Frauen als Trägerinnen von Tätowierungen soll diese Arbeit unter der Einnahme einer körper- und gendersoziologischen Sichtweise folglich zur Erhellung dieses Gegenstandes beitragen. Auch der trotz der Vielzahl an Veröffentlichungen bisher nur ungenügenden Klärung der Motivationen für Tätowierungen, soll dies zweckdienlich sein.

1.2 Aufbau der Arbeit

Zur Begriffserklärung des Tattoos und zur Erläuterung ihres Werdegangs wird in Kapitel 2 zunächst die Geschichte der Tätowierung von ihren Anfängen, über ihren Einsatz bei Insulanern2 und Stammesgesellschaften bis hin zur ihrem heutigen Einsatz als Körpermodifikation westlicher Gesellschaften, erläutert. In diesem Kapitel wird deutlich werden, dass die Tätowierung in westlichen Gesellschaften keine weitreichenden tradierten Wurzeln besitzt. Hierzulande ist sie vielmehr in den jeweiligen zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Um die derzeitige Verbreitungszunahme des Tattoos auch auf weiblichen Körpern erklären zu können, sind die in den letzten Jahrzehnten aus der Soziologie und den Körper- und Geschlechterdiskursen hervorgegangenen Körperanschauungen von nicht zu vernachlässigender Bedeutung. Zum einen werden daher in Kapitel 3 die aktuellen Körperkonzepte vorgestellt, von denen die Betrachtungsweisen des Körpers derzeit gerahmt werden. Zum anderen werden die heutigen Konzepte des Körpers als Geschlechtskörper erläutert, da das Geschlecht bzw. der Geschlechtskörper, insbesondere jener der Frau, in dieser Arbeit eine herausragende Stellung erhalten soll. Bevor die Betrachtungen junger Frauen als Trägerinnen von Tätowierungen erfolgen, soll anhand dieses Kapitels eine Verständnis- und Wissensgrundlage dafür geschaffen werden, was es bedeutet, in der Postmoderne als biologische Frau und folglich mit einem weiblichen Körper aufzuwachsen. Dabei wird geklärt, welche Rolle Geschlecht und Geschlechtskörper in der Postmoderne besitzen und inwiefern das biologische Geschlecht noch als Weg- und Platzanweiser in dieser dient. Weiterhin erfolgt in Kapitel 4 eine Erläuterung der Konzepte von Schönheit, Schönheitshandeln und Attraktivität als Maximen vor allem weiblichen Aussehens. Zudem soll in diesem Kapitel die Relevanz eines schönen körperlichen Erscheinungsbildes für private wie berufliche Kontexte sowie die Funktion des Äußeren als Projektionsfläche des Selbst und als Kommunikationsmedium in der postmodernen Inszenierungsgesellschaft verdeutlicht werden. Anknüpfend an jene Selbstdarstellungsthematik wird in Kapitel 5 die Entwicklung des Körpers zu einem individuell gestaltbaren und zu gestaltenden Medium unter Berücksichtigung der Einflussfaktoren von Macht und Habitus beleuchtet. Überdies befasst sich dieses Kapitel mit dem aus der (körperlichen) Individualisierung hervorgehenden Thematik der Identität und dem Körper als identitätsverbürgende Ressource. Da das Hauptaugenmerk dieser Arbeit auf Frauen jüngeren Alters bzw. weibliche Adoleszente liegt, erfolgt in Kapitel 6 anschließend die Darlegung der Rolle des Körpers in der Jugend und inwiefern die in den vorangegangenen Kapiteln behandelten Thematiken von zeitgenössischen Geschlechts- und Körperkonzepten, von Schönheit, Individualität und Identität bereits in jener Lebensphase in Erscheinung treten. Kapitel 7 beinhaltet die kurze Darlegung von Körpermodifikationen, die sich neben jener der Tätowierung in den letzten Jahrzehnten in postmodernen Gesellschaften etablieren konnten und ebenfalls unter jungen Menschen der Tätowierung ähnlichen Zuspruch erhalten. Anschließend erfolgt in Kapitel 8 die Auflistung einiger Motive, die bei jungen Menschen häufig zum Erwerb von Tätowierungen führen. Darauf aufbauend findet am Ende des Kapitels schließlich die gesonderte Betrachtung junger Frauen als Trägerinnen von Tätowierungen statt. Unter Rückgriff auf die vorangegangenen Kapitel wird hier versucht, die Ursachen für die Verdrängung der langjährigen Unterrepräsentanz von Frauen durch die stetige Zunahme dieser als Konsumentengruppe von Tätowierungen zu klären. In Kapitel 9 werden die einzelnen Themenstränge als Fazit noch einmal zusammengeführt und ein Über- sowie Ausblick über die Thematik der Tätowierung als eine von Frauen angewandte Körpermodifikation gegeben.

2. Die Geschichte der Tätowierung

Obwohl die Thematik der Tätowierung in der heutigen Zeit der Nachmoderne eine hohe Aktualität besitzt, wie im Verlauf dieser Arbeit noch deutlich werden wird, sind die historischen Wurzeln dieser Form der Körpermodifikation ausgesprochen tiefgreifend. Dabei weist sie in ihrer derzeitigen Art und Verwendung oftmals Parallelen zu ihren tradierten Einsatzzwecken auf. Im Folgenden werden zunächst einige Stadien in der Entwicklungsgeschichte der Tätowierung betrachtet und verdeutlicht, wie sie sich ihren Weg auch in die westliche Gesellschaft gebahnt hat.

2.1 Tätowierungen im Ursprung

Die älteste, als Tätowierung identifizierbare Entdeckung konnte bisher an dem als Ötzi bezeichneten Leichnam eines Mannes im Jahre 1991 gemacht werden. Der gefrorene und mumifizierte Körper des Mannes wurde in den Ötztaler Alpen vorgefunden und auf ein Alter von ca. 5300 Jahren geschätzt (vgl. Lobstädt 2011: 98). Auf seiner Haut konnten Stichgruppen und kreuzförmige Zeichen festgestellt werden. Die Herstellungsweise dieser Symbole bzw. das Einbringen dieser in die Haut erfolgte durch das Einritzen ebendieser und das anschließende Einarbeiten einer Mischung aus pulverisierter Holzkohle und Speichel in die erzeugten Hautschnitte (vgl. ebd.). Bezüglich des Sinn und Zwecks der Tätowierungen kann eine Funktion als reine Schmuckverzierung nahezu ausgeschlossen werden, da sich die Symbole an Körperstellen befanden, die von Kleidung verdeckt und demnach nur selten sichtbar gewesen sein dürften (vgl. ebd.). Weitere Mumienfunde, einer davon datiert auf das Jahr 400 v. Chr., die bereits in den Jahren vor dem Fund des Ötzi erfolgt waren und Tätowierungen im Nacken- bzw. Lendenwirbelbereich aufwiesen, erhärten hingegen die Vermutung, dass Tätowierungen ursprünglich bisweilen therapeutische Zwecke erfüllten (vgl. ebd.: 99). Auch heute noch werden genau jene Stellen, an denen auch der Ötzi tätowiert gewesen ist, in der chinesischen Heilpraxis bei Wirbel- und Beingelenksschmerzen akupunktiert (vgl. ebd.). Wiederum hat der Fund zweier weiblicher tätowierter Mumien aus dem Jahre um 2000 v. Chr. jedoch zusätzlich auch die Funktion von Tätowierungen als Körperverzierung bestätigt. So waren sowohl ihre Körper als auch ihre Extremitäten, also deutlich sichtbare Stellen, mit dauerhaften Hautmalereien versehen (vgl. Lobstädt 2011: 99). Zwar nicht mit Tätowierungen im eigentlichen Sinne, jedoch ebenfalls anhand von Markierungen der Haut in Form von Brandmalen, nutzten die alten Römer und Griechen die Modifikation der Haut zudem zur Kennzeichnung bzw. als Stigmatisierungsmerkmal für Verbrecher, Leibeigene oder Kriegsgefangene (vgl. ebd.).

Demnach erfüllten Tätowierungen bzw. Modifikationen der Haut bereits lange v. Chr. unterschiedliche Funktionen, wie jene der Therapie, die der Zierde oder der Stigmatisierung von Untertanen bzw. Randgruppen. Von dem anschließenden Entwicklungsverlauf der Tätowierung im Mittelalter sowie in der frühen Neuzeit ist nur wenig zu berichten. Ob dies mit dem von der christlichen Kirche im britannischen Northumberland verabschiedeten Tätowierverbot aus dem Jahre 787 v. Chr. und möglichen Auswirkungen auf ganz Europa in Zusammenhang zu bringen ist, ist dabei fraglich (vgl. ebd.: 101).

2.2 Tätowierungen im 15. bis 19. Jahrhundert

Das Bestehen von Tätowierungsverboten seitens der Kirche hat sich zumindest für das 15. und 16. Jahrhundert auch in Deutschland bestätigt, sodass der Hautstich zu jener Zeit hierzulande in den Hintergrund gerückt war (vgl. Lobstädt 2011: 101). Das 17. Jahrhundert nahm hingegen einen umso bedeutsameren Einfluss auf die Geschichte der Tätowierung. So trafen europäische Seefahrer im Zuge ihrer geografischen Erkundungen im ausgehenden 17. Jahrhundert bei der Vereinnahmung neu entdeckter Kulturen vor allem im Raum des Pazifischen Ozeans zunehmend auf tätowierte Eingeborene (vgl. Lobstädt 2011: 102 / Kasten 2006: 44). Diese machten sich Tätowierungen ebenfalls für verschiedene Zwecke zu Nutze, für die sie bisweilen auch heute noch bei Naturvölkern eingesetzt werden. Zum einen dienen sie abermals der Zierde des Körpers sowie der Unterstreichung der Sexualität; zum anderen sind innerhalb der Stammesgesellschaften Tätowierungen ein Teil ritueller Handlungen, indem deren Erwerb den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt kennzeichnet und dieser festlich zelebriert wird (vgl. Kasten 2006: 17). Oftmals werden Stammeszugehörige bereits in ihrer ersten Lebensdekade erstmalig einem Tätowiervorgang unterzogen, wobei die während des Tätowiervorgangs erlittenen Schmerzen den ersten Schritt vom Kind zum Erwachsenen markieren (vgl. ebd.). Auf der Insel Polynesien beispielsweise, die als Ursprungsort der Tätowierung gilt, werden Mädchen bereits zwischen dem achten und zehnten Lebensjahr zum ersten Mal tätowiert, um attraktiv in den nächsten Lebensabschnitt der Pubertät einzutreten (vgl. ebd.: 18 und 43). Die Jungen erhalten im Alter von elf bis 12 Jahren ihre erste Tätowierung (vgl. ebd.: 18). Weiterhin zeigen die Tattoos die Stammeszugehörigkeit und den sozialen Status des Trägers an (vgl. ebd.: 43). Auch wohnt den rituellen Tätowierungen der Glaube inne, mit ihnen Dämonen fernhalten zu können (vgl. ebd.). Um die Farbe aus Asche oder Pflanzensäften unter die Haut zu bringen, werden Nadeln aus Knochen, Dornen oder Muschelschalen verwendet (vgl. ebd.: 18 und 43). Als der Seefahrer James Cook schließlich im Jahre 1769 im Zuge der Vereinnahmungen die Insel Tahiti entdeckte, deren Einwohner ebenfalls tätowiert waren, ließen sich erstmals einige der Seeleute als Andenken von den Insulanern mit Tätowierungen verzieren (vgl. Lobstädt 2011: 104). Aus dieser Übernahme des Hautstichs sowie aus dem Entstehen einer beinahe ‚paradiesischen‘ Vorstellung Tahitis, das in den Augen der Europäer eine Gegenwelt zu ihrer eigenen darstellte, entwickelte sich die Tätowierung zu einem „Symbol der Freiheit des Wilden“ (ebd.: 103 f.). Durch das Erlernen der Technik des Tätowierens durch die Südseeinsulaner, ließen sich nun auch jene Matrosen von den Tätowierungen der von der Insel zurückgekehrten Seeleute inspirieren, die zuvor selbst nie eine Südseeinsel gesehen hatten (vgl. Kasten 2006: 20 / Lobstädt 2011: 104). Während dabei Vorlagen von originalen Südseetätowierungen fehlten, bildeten die in Europa tätowierten Motive anstatt der Tatsachen bzw. der traditionellen Symboliken hingegen die westlichen Vorstellungen der Seeleute über die Südseetätowierungen ab (vgl. Lobstädt 2011: 104). Dies waren vor allem Schlangen, nackte Südseefrauen und Palmen (vgl. ebd.). Dass dabei insbesondere Inhaftierte bzw. bereits mit dem Gesetz in Konflikt Geratene häufig tätowiert gewesen waren, könnte damit in Zusammenhang stehen, dass die hart arbeitenden Seeleute, unter denen sich die Tätowierungen so schnell ausgebreitet hatten, bei Landgang gelegentlich einen ausschweifenden Umgang mit Alkohol und Prostitution pflegten (vgl. Kasten 2006: 20). Das Image des kriminellen Tätowierten hielt sich darüber hinaus hartnäckig noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts (vgl. ebd.: 21).

Während zur Zeit der Seefahrertätowierung eine starke Verbreitung des Tattoos unter den Seefahrern stattfand, wie ebenso schließlich unter den Soldaten, erhielt der Hautstich gleichzeitig den Namen tattaw: „Das Wort ,tattaw‘ tauchte 1774 erstmals in Cooks Reisebericht als Name für die tahitianische Sitte der Körperzeichnung auf“ (ebd.: 103 f.). Abgeleitet wurde diese Bezeichnung von dem polynesischen Wort tatatau, welches für „richtig schlagen“ (ebd.: 103) steht. Auch hält sich die Vermutung, der Name Tatau führe auf das Geräusch des Tätowierens zurück, wobei mit feinen Schlägen auf die Tätowiernadel die Farbe unter die Haut gebracht wurde (vgl. Kasten 2006: 18). In ähnlicher Form wird die ursprüngliche Betitelung auch heute noch im Deutschen verwendet, nur wandelte sich der Begriff tattaw schließlich um zu den Bezeichnungen tatauieren sowie tätowieren (vgl. Lobstädt 2011: 103). Während sich der Name für den Hautstich von den Südseeinsulanern ableitete und die Tätowierungen im europäischen Raum wesentlich von diesen beeinflusst wurden, weisen Tätowierungen ebenso bei vielen anderen Völkern – wie zum Beispiel3 denen in Asien oder den Eskimos – eine tiefgehende Geschichte auf (vgl. Kasten 2006: 44). Dort wurden Tätowierungen auch als Auszeichnung genutzt, die sich beispielsweise Krieger durch das Töten eines Feindes verdienen konnten (vgl. ebd.). Abb. 1 zeigt ein Beispiel für ein historisches Bildnis eines Tataus (vgl. ebd.: 18) im Gesicht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Tataurierung im Gesicht eines Mannes. Aus: Kasten 2006: 18.

Die Begeisterung für Tätowierungen als Körperschmuck oder Andenken hielt im europäischen Raum jedoch nicht lange an. So kehrte sich im 19. Jahrhundert „[d]er europäische Blick auf die Körperschriften des zeitweise als edel angesehenen und überhöhten Wilden (…) ins Gegenteil“ (Lobstädt 2011: 105) um. Die polynesische Tätowierung wurde zunehmend als unzivilisiert empfunden und ein tattoofreies Erscheinungsbild stieg zur neuen Körpernorm auf. Dies resultierte aus der beginnenden Vorstellung, der Körper repräsentiere die Persönlichkeit, sodass das Aussehen eines Menschen Rückschlüsse auf dessen Charakter erlaube (vgl. ebd.: 106). Durch die zu jener Zeit existenten negativen Attributionen, gehörten Tätowierungen folglich nicht zu einem Gestaltungsmedium, welches positive Assoziationen mit dem Selbst einer Person weckten und demnach gemieden wurden. Aufgrund dieser Umstände zeugen heute nur wenige Quellen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Tätowierung als europäisches Brauchtum (vgl. ebd.: 105). Während Tätowierte in der Folge aus gesellschaftlichen Kontexten ausgegrenzt wurden, dienten sie im Rahmen von Zirkussen, dem Anatomischen Theater, Völkerausstellungen oder Freakshows der Zurschaustellung und zugleich der Vergewisserung der eigenen Normalität nicht tätowierter Personen (vgl. ebd.: 107).

Bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr die Tätowierung jedoch erneut einen wachsenden Zuspruch und eine zunehmende Verbreitung. Der deutsche Literaturwissenschaftler Stephan Oettermann (1979) vermutet, dass dies mit dem Verfall der identitätsstiftenden Gesellschaftsordnung durch die Verstädterung der Landbevölkerung und der Auflösung der Zünfte einhergegangen sein könnte (vgl. ebd.). Erscheinungsbilder differenzierten sich in Folge aus, körperliche Unversehrtheit verlor ihre Bedeutung als Körpernorm und der Körper avancierte zur Oberfläche von Experimentierfreudigkeit (vgl. Kasten 2006: 12). Mit der Erfindung der ersten elektrischen Tätowiermaschine im Jahre 1891 durch den amerikanischen Tätowierer Samuel O’Reilly wurde der Körperschmuck zudem nun auch für untere soziale Schichten zunehmend erschwinglich (vgl. Kasten 2006: 44 / Lobstädt 2011: 107). Vor allem in der Arbeiterklasse fand die Tätowierung dadurch erneut ihren Zuspruch, da in dieser der Hautstich aufgrund der Milieunähe zu den Seefahrern oder Soldaten bereits Bekanntheit erlangt hatte. Demnach stellten wiederum maritime wie militärische Zeichen, nackte Frauen und Totenköpfe bevorzugte Bildmotive dar, die häufig unter die Haut gebracht wurden (vgl. Kasten 2006: 44). Neben der Verbreitung in den unteren sozialen Schichten gewann die Tätowierung jedoch ebenso zeitweise in den Oberschichten an Anziehungskraft. Als Reiseandenken ließen sich neben den Seefahrern nun auch Seeoffiziere mit – vorzugsweise japanischen – Tätowierungen versehen. Sogar bei Persönlichkeiten aus adeligen Kreisen, wie dem englischen Thronfolger Prinz George oder der österreichischen Kaiserin Elisabeth, stieß der Hautstich auf Zuspruch (vgl. Lobstädt 2011: 108 f.). Während Prinz George sich als japanisches Andenken mit dem Bildnis eines Drachen verzieren ließ, diente die Tätowierung der Kaiserin Elisabeth vermutlich als Erinnerung an eine Griechenlandreise (vgl. Lobstädt 2011: 109). So beschreibt auch der belgische Soziologieprofessor Lieven Vandekerckhove (2006), dass „[d]ie westliche Kulturgeschichte […] ganz gewiss ein paar flüchtige Perioden auf[weist], in denen Tätowierung ausgerechnet in den oberen sozialen Klassen populär gewesen ist“ (Vandekerckhove 2006: 55). Der Vorstoß der Tätowierung als Körperschmuck höherer sozialer Schichten hielt jedoch abermals nicht lange an und ebbte schließlich rasch wieder ab (vgl. ebd.: 61 und 101 f.).

Der nun unter der Bezeichnung tattau weit verbreitete sowie bisweilen in allen Gesellschaftsschichten anerkannte Hautstich wurde schließlich zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse (vgl. Lobstädt 2011: 109). Diese hielten sowohl Einzug in die Medizin also auch in die Ethnologie und die Kriminologie, im Rahmen derer Tätowierungen in Zusammenhang mit Pathologie oder Verbrechertum gebracht und diskutiert wurden (vgl. ebd.).

2.3 Tätowierungen vom 20. Jahrhundert bis heute

Zur Zeit des Dritten Reiches gerieten Tätowierungen derartig in Verruf, dass diese zum Anlass von Deportationen und Hinrichtungen der Träger wurden (vgl. Lobstädt 2011: 110). Aus dem Jahre 1945 sind sogar Fälle bekannt, bei denen in einem Konzentrationslager ermordete tätowierte Personen gehäutet und die bebilderten Hautstellen zu Lampenschirmen und Bucheinbänden weiterverarbeitet wurden (vgl. ebd.). Gleichzeitig waren die Tätowierungen den Nationalsozialisten für die Erfüllung zweierlei Funktionen dienlich: Zum einen fanden sie Einsatz als Stigmatisierungszeichen, indem den Insassen des Konzentrationslagers Auschwitz ab 1942 die Lagernummern unter die Haut gebracht wurden; zum anderen fand sie durch die Blutgruppentätowierung der Waffen-SS Verwendung als Treueschwur und Herrschaftszeichen gleichermaßen (vgl. ebd.).

Bis in die Sechzigerjahre verharrten Tätowierungen überwiegend in ihrer Position als Stigmatisierungszeichen durch ihre Markierung von Randgruppen wie Gefängnisinsassen oder Personen der untersten Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie (vgl. Kächelen 2004: 1). So gelten zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Strafvollzugsanstalten als jene Orte, an denen am häufigsten Tätowierungen vor allem durch Laien erworben werden (vgl. Kasten 2006: 45). Erst in den Siebzigerjahren erfuhr die Tätowierung eine erneute Popularität, sodass das Wechselspiel zwischen Auf- und Abwertung des Hautstichs auch im 20. Jahrhundert seine Fortsetzung fand (vgl. Lobstädt 2011: 111). Der Wechsel zu einer abermals zunehmenden Begeisterung für Tätowierungen erfolgte vor allem unter Einflussnahme der Subkultur amerikanischer Motorradfahrer, wie beispielsweise durch den aus Kriegsheimkehrern bestehenden Motorradclub Hells Angels (vgl. ebd.). Mit ihren typischen Tätowierungen, die zum Beispiel Dolche oder Totenköpfe darstellten, drückten sie ihre proletarische Herkunft sowie ihre Ablehnung der Erwerbsgesellschaft aus (vgl. ebd.: 111 f.). So zeigt das Logo der Hells Angels einen grinsenden Totenschädel mit Flügeln (vgl. ebd.). Diesen außergewöhnlichen und provokanten Stil unterstrichen sie zudem durch Nasenpiercings sowie bunt gefärbte Bärte (vgl. ebd.: 112). Ihre durch Provokation und Aggression gekennzeichneten Einstellungen und Verhaltensweisen führten in Verbindung mit ihrem expressiven Äußeren zu polizeilichen Repressionen sowie zu öffentlicher Stigmatisierung (vgl. ebd.: 113). Nach diesem amerikanischen Vorbild gründeten sich auch in Deutschland ab 1972 die ersten Motorradclubs (vgl. ebd.). Vor allem jüngere Mitglieder griffen in Eigenregie zu Nähnadeln, um sich den traditionellen Zeichen zu bedienen und diese mit Tusche unter die Haut zu bringen (vgl. ebd.). Dies führte häufig zu fleckigen Abbildungen von dem klassischen Symbol des Totenkopfes, gekreuzten Motorkolben als Motiv der Motorradkultur oder dem Namen der Freundin (vgl. Lobstädt 2011: 113). Häufig wurden diese amateurhaften Hautstiche zu späterer Zeit mit professionellen Tätowierungen überdeckt. Aus dieser Praxis entwickelte sich schließlich auch die bis heute existente und nicht selten in Anspruch genommene Dienstleistung des Cover-ups, wobei fehlerhafte, unsaubere oder an Zuspruch verlorene Tätowierungen mit einem neuen Bildnis überdeckt werden (vgl. ebd.: 114). Zudem gingen aus den Motorradclubs in den Folgejahren die ersten Tattooconventions hervor (vgl. ebd.). Die Conventions sind öffentlich zugängliche Tattoo-Messen, auf denen sich zahlreiche Tätowierer aus dem In- sowie Ausland treffen, um sich bei ihrer Arbeit zuschauen zu lassen sowie neue Ideen anzuregen und zu sammeln (vgl. Feige & Krause 2004: 56).

Während sich die Hells Angels lediglich aus Männern zusammensetzten, unter denen die Tätowierungen als Zugehörigkeits- und Abgrenzungssymbol gleichermaßen zur Anwendung kamen, schienen Tätowierungen gegen Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch innerhalb der Gesamtgesellschaft vor allem eine Männersache zu sein. Zumindest geht aus einigen Quellen das Bestehen eines Geschlechtergefälles bezüglich des Erwerbs von Tätowierungen hervor. Diese legen Bericht davon ab, dass zur damaligen Zeit im Regelfall Frauen seltener Tätowierungen trugen als Männer und dahingegen der Körpermodifikation des Piercens eher zugeneigt waren (vgl. Trattner 2008: 15). Davon zeugt eine im Jahr 1990 erfolgte Niederschrift von den Berufserfahrungen des amerikanischen Tätowierers Samuel M. Steward, in welcher er schildert, während seiner Berufstätigkeit deutlich mehr Männer als Frauen tätowiert zu haben (vgl. Steward, 1990, zit. n. Vandekerckhove 2006: 54). In diesem Zusammenhang erklärt er, dass es sich zur damaligen Zeit nicht gehört hätte, sich als ‚Lady‘ tätowieren zu lassen (vgl. ebd.). Ebenso ermittelten in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts durchgeführte Studien häufiger und mehr Tätowierungen bei Männern als bei Frauen (s. Kap. 8.3) (vgl. Kasten 2006: 184). Diesem festgestellten Geschlechtergefälle zum Trotz erhält die Tätowierung in Deutschland vor allem seit den 1990ern eine wachsende Resonanz in der Bevölkerung (vgl. ebd.: 45). Autor und Psychologe Erich Kasten (2006) führt an, dass mittlerweile jeder fünfte Deutsche zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr tätowiert ist (vgl. ebd.: 43). Das Tätowieren selbst erfährt zunehmend Anerkennung als künstlerische Ausdrucksform, sodass Tätowierer in zunehmendem Maße als „Künstler“ (Vandekerckhove 2006: 126) betrachtet und deren Tätowierungen als Kunstwerke honoriert werden (vgl. ebd.: 129). Zwar wird Tätowierungen nach wie vor längst nicht immer gänzlich ohne Unbehagen und Ablehnung begegnet. Beklagt werden bisweilen der Verlust des „guten Geschmacks“ (Villa 2011: 24) sowie andererseits durch ihre zunehmende Verbreitung der Rückgang der Tätowierung als Distinktionszeichen und eindeutiger Anzeiger der Zugehörigkeit zu einer ästhetischen, sexuellen oder politischen Subkultur (vgl. ebd.). Auch halten sich pathologische, psychologische sowie kriminologische Diskurse hartnäckig, die tätowierte Personen in Zusammenhang mit kriminellem Verhalten oder psychopathologischen Auffälligkeiten bringen (vgl. Vandekerckhove 2006: 19). Diese Umstände ziehen nach sich, dass Tätowierungen fortwährend mit einem gewissen Stigma belegt sein können, sodass von einer umfassenden Gesellschaftsfähigkeit des Hautstichs auch heute noch nur in Teilen ausgegangen werden kann (vgl. ebd.: 8, 19, 98 und 114). Bezüglich des kriminologischen Diskurses bestätigt auch Vandekerckhove, dass „[d]ie Aufnahme des Tätowierungsphänomens in die kriminologische Darlegung […] gerade die implizite Bestätigung des Stigmas [beinhaltet], mit dem es behaftet ist“ (ebd.: 19). Trotz der Beständigkeit gewisser negativer Assoziationen hat die Tätowierung durch ihre Verbreitungszunahme an Zeichenhaftigkeit als Ausdruck von Rebellion und Provokation verloren (vgl. Kasten 2006: 24); sie hat sich als eine „persönliche Ausdrucksform (…) im Massengeschmack etabliert und erregt heute kaum noch Anstoß“ (ebd.: 43). Insbesondere die Verbreitungszunahme unter den Jugendlichen seit Mitte der 1990er erlaubt im soziologischen Sinne die Wertung des Tattoos als nahezu konformes Verhalten (vgl. ebd.: 24). Auch von Erwachsenen erhalten Tätowierungen vermehrten Zuspruch, wobei einer der Gründe dafür aus dem Emporsteigen jugendlicher Subkulturen zu Trends und dem Nacheifern dieser durch die Eltern- bzw. Erwachsenengeneration besteht (vgl. Kasten 2006: 13). Dadurch gehören Tattoos als Teil einer „popkulturell geprägten Welt“ (Trattner 2008: 41) heute nicht nur zur Alltagskultur der Jugend, sondern auch zu derer der Eltern und Erwachsenen. Stattdessen haben sich in westlichen Gesellschaften nun auch weitere, außergewöhnliche Körpermodifikationen eingefunden wie beispielsweise4 die der Dehnungen oder Schmucknarben (s. Kap. 7). Mit diesen wird wiederum eine Abgrenzung durch ein möglichst primitives Äußeres anvisiert (vgl. Kasten 2006: 13 f. und 25).

Dass die Tätowierung aktuell ein weiteres Mal in einem derartigen Ausmaß sowohl in der Jugend- als auch der Erwachsenengeneration Anwendung findet, ist zum Teil5 dem Umstand geschuldet, dass der Körper in der westlich-modernisierten „Freizeitgesellschaft“ (Kasten 2006: 12) seine Funktion als Arbeitskraft zum Überleben weitestgehend abgelegt hat und stattdessen zum vorrangigen Ausdrucksmittel avanciert ist (vgl. Trattner 2008: 15). Feld- oder Produktionstätigkeiten werden überwiegend von Maschinen übernommen, sodass sich dem Körper als „Fun-Faktor“ (Kasten 2006: 12) und gestaltbaren Objekt zugewandt werden kann. Zudem hat sich durch die Verbreitung von Tätowierungen in den sozialen Medien, der Werbung oder dem Fernsehen eine „Geschmacksstandardisierung“ (Lobstädt 2011: 119) sowie eine „ästhetische Sichtweise der Tätowierung“ (ebd.) entwickelt, welche der ansteigenden Akzeptanz von Tätowierungen zuträglich sind (vgl. ebd.: 118). Dadurch hat sich die Tätowierung von den Randgruppen und Unterschichten, in denen sie zuletzt eine starke Verbreitung zu verzeichnen hatte, abermals zur Mitte der Gesellschaft vorarbeiten können (vgl. Eberhard 2012: 17). Gleichzeitig ist der Erwerb von Tätowierungen durch die Eröffnung entsprechender Studios selbst in den Hauptgeschäftsstraßen von Kleinstädten und den Abbau räumlicher Barrieren für nahezu jedermann erreichbar geworden (vgl. Kasten 2006: 23 / Vandekerckhove 2006: 59).

Trotz der Wandlung der Tätowierung vom Gegenstand der Provokation zu einem Teil der Alltagskultur westlicher Gesellschaften ist durch häufig wechselnde Trends und persönliche Stilempfindungen die Tattooentfernung zu einem Thema der Nachmoderne geworden (vgl. Lobstädt 2011: 121 ff.). Bereits im Jahr 1991 zeigte sich, dass sich viele Jugendliche im Nachhinein nicht mehr mit ihren Tätowierungen identifizieren können (vgl. Kasten 2006: 47). Ein Beispiel für den schnellen Trendverfall stellen die Tribal-Tätowierungen oberhalb des Steißbeins dar6 (s. Abb. 2) (vgl. Lobstädt 2011: 124 f.). Diese im Regelfall von Frauen getragenen geometrischen bzw. scherenschnittartigen Ornamente an ebendieser Körperstelle waren ab 1982 lange Zeit hoch im Trend (vgl. Feige & Krause 2004: 276). Im Laufe der Zeit wurden diese jedoch immer mehr zum Gegenstand von Scham und Ablehnung.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Beispiel einer Hüfttätowierung. Aus: Kasten 2006: 189

Zur Entfernung dieser und anderer unliebsamer Tätowierungen werden häufig Lasersysteme eingesetzt. Dabei absorbieren die pigmentreichen Strukturen des Tattoos das Licht des Lasers und wandeln sich in Hitze um (vgl. Feige & Krause 2004: 152). Durch die nur minimale Erhitzung umliegender Hautpartien kann heutzutage oftmals eine Narbenbildung verhindert bzw. minimiert werden (vgl. ebd.). Neben der Lasertechnik existieren derweil noch weitere Entfernungsmethoden (s. hierzu ebd.: 76). Trotz verschiedener Möglichkeiten zur Tattooentfernung können das Zurückbleiben von Pigmentresten oder Narben sowie eine starke Depigmentierung dennoch nicht garantiert ausgeschlossen werden (vgl. Kasten 2006: 47). Zudem ist die Entfernung von Tätowierungen meist teurer als das Anbringen derselben (vgl. ebd.). Ein Dermatologe berichtet derweil, dass „[d]ie Bitte, eine Tätowierung entfernen zu lassen, […] oft von Leuten [kommt], die auf der sozialen Stufenleiter aufsteigen“ (zit. n. Vandekerckhove 2006: 97). Daran zeigt sich, dass die Tätowierung ihren Zuspruch derzeit vor allem in der Unter- und der Mittelschicht erhält und in der Oberschicht weiterhin ein tattoofreier Körper die Norm darzustellen scheint.

2.4 Die Geschichte der Tätowierung im Überblick

Bei einem zusammenfassenden Blick auf die Geschichte der Tätowierung wird deutlich, dass diese keineswegs eine Erscheinung der Neuzeit ist. Es konnte nachgewiesen werden, dass der Hautstich bereits einige Jahrtausende v. Chr. Anwendung gefunden hat. Einen besonderen Einfluss auf die Entwicklungsgeschichte der Tätowierung in Europa hat jedoch erst die Entdeckung der tätowierten Südseeinsulaner durch die Seefahrer im 18. Jahrhundert genommen. Diese trugen Tattoos als Zierde und zur Steigerung der Attraktivität, als Zeichen der Stammeszugehörigkeit und des sozialen Status oder als in rituelle Handlungen eingebettetes Symbol des Übergangs in einen neuen Lebensabschnitt. Die von den Seeleuten schließlich nach Europa überlieferte Tätowierung bot eine unstetige Entwicklung, die bis in die heutige Zeit hineinreicht. Demnach verliefen Anerkennung und Verbreitung der Tätowierung im europäischen Raum nach ihrem Erreichen dessen nicht in einem stetigen Anstieg, sondern vielmehr phasenweise, mit Zeiten der zu- sowie der abnehmenden Resonanz und Akzeptanz. Auch ihre Trägerschaft sowie ihr symbolischer Gehalt in der europäischen Kultur könnten mannigfaltiger kaum sein. Vom Einsatz als Stigmatisierungszeichen über das selbstgewählte Emblem bewusster Abgrenzung von der Allgemeinheit bis hin zur Verwendung als bloßer Körperschmuck hat die Tätowierung bisher zahlreiche Funktionen eingenommen. Heutzutage haben sich Tätowierungen abermals in postmodernen Gesellschaften in die Mitte ebendieser vorarbeiten können und finden vor allem bei jungen Menschen und bisweilen ebenfalls bei der Eltern- bzw. Erwachsenengeneration wachsenden Anklang. Demnach gehört das Tattoo derzeit zu einer weit verbreiteten Art der Körpermodifikation und ist mehr oder minder zum Teil des gängigen Gestaltungsrepertoires avanciert.

3. Körper- und Geschlechtssoziologie

Aus der Geschichte der Tätowierung wird deutlich, dass der Hautstich in der westlichen Gesellschaft weniger auf einem kulturellen Erbe, als vielmehr auf der Abstrahierung des in anderen Regionen der Welt mit einer Vielzahl von Bedeutungen beladenen und tradierten Symbols basiert. Die Popularität der Tätowierung unterliegt einer stetigen Auf- und Abwertung, unter anderem7 abhängig davon, was aktuell gesellschaftlich bzw. in einzelnen Gesellschaftsgruppen im Trend ist und folglich auf große Resonanz und Beliebtheit trifft. Während die Tätowierung dabei immer wieder in Subkulturen zurückgedrängt wurde, ist sie heute abermals und umfassender als je zuvor in der Bevölkerung westlicher Gesellschaften vertreten. Wie einleitend bereits erwähnt, stellen die heutige Sicht auf den Körper und seine gegenwärtigen Funktions- und Bedeutungszuschreibungen Einflussfaktoren bei dieser erneut starken Verbreitung des Tattoos dar. Welche Ereignisse dabei entscheidend zu einem Umdenken in Bezug auf den Körper des Menschen beigetragen haben und welche reformativen Annahmen über den Körper wie auch über das Geschlecht in Folge aus der Soziologie hervorgegangen sind, soll zunächst genauer betrachtet werden.

3.1 Gegenstand der Körpersoziologie

Als Untersuchungsgegenstand hält der Körper erst in den 1970er und 1980er Jahren Einzug in die Soziologie. Zwar war der Körper auch in früheren Zeiten keine gänzlich der Ignoranz ausgesetzte Kategorie, sodass der französische Ethnologe und Soziologe Marcel Mauss mit seinem Buch über die Techniken des Körpers bereits im Jahr 1936 einen der bedeutendsten Klassiker im Bereich der Körpersoziologie verfasst hat (vgl. Knoblauch 2005: 93 f.). In diesem Werk beschreibt er alltägliche körperliche Verhaltensweisen wie schwimmen oder gehen als „kulturelle Muster“ (ebd.: 93), die vom Individuum angeeignet werden müssen und demnach keine natürlich vorgegebenen, sich automatisch und instinktiv ausbildenden Fähigkeiten des Menschen sind (vgl. ebd.). Dennoch war der Körper bis dahin keine zentrale Thematik der Soziologie. Dies ist dem Umstand zu schulden, dass der Körper bis vor einigen Jahrzehnten per se als naturgegeben und unveränderbar angesehen wurde und daher nicht in erster Linie als Thema der Soziologie in Frage kam (vgl. Schroer 2005: 15). Die im Zuge unterschiedlicher Bewegungen wie der Studenten-, Ökologie- oder Frauenbewegung um 1970 stattgefundenen sozialen, technologischen und ökonomischen Reformen haben jedoch die Aufmerksamkeit zunehmend auf den Körper gelenkt (vgl. Klein 2010: 458). Während zu diesem Zeitpunkt noch einige Jahre vergingen, bis der Körper zum Mittelpunkt des soziologischen Interesses vorrückte und die Körperaufwertung zunehmend voranschritt, gab der englische Soziologe Bryan S. Turner der spätmodernen Gesellschaft schließlich im Jahre 1996 den Titel der „somatic society“ (Turner, 1996, zit. n. Meuser 2000: 211), zu Deutsch: „somatische Gesellschaft“ (Schroer 2005: 7). Zu einem späteren Zeitpunkt benannte der Sportsoziologe Robert Gugutzer (2006) zumindest für den deutschsprachigen Raum die veränderte Sichtweise auf den Körper zudem mit der Bezeichnung „body turn“ (Klein 2010: 461). Damit gingen eine Reihe empirischer Forschungen sowie die Entstehung neuer theoretischer Grundpositionen einher, die die Körpersoziologie weiter voranbrachten (vgl. Klein 2010: 461). Als Themengebiet der Körpersoziologie bildeten sich schließlich speziell die körperlichen Dimensionen des Handelns bzw. die Körperlichkeit des Sozialen und die Körperlichkeit der sozialen Praxis heraus, worunter z. B. Gestik, Mimik oder Begrüßungsrituale zu verstehen sind (vgl. ebd.: 457). Aus körpersoziologischer Sicht wurde nun der Körper als Medium der Inszenierung sichtbar. Er verkörpert das Geschlecht, das Alter, die soziale Stellung wie auch die ethnische Zugehörigkeit. Der Körper wurde von nun an in der Soziologie als Repräsentant betrachtet, durch welchen diese Faktoren materialisiert werden (vgl. ebd.: 457 ff.).

3.2 Der Geschlechtskörper als soziales Konstrukt

Als eine der entscheidendsten Bewegungen für die Veranlassung einer genaueren Betrachtung des Körpers ist die Frauenbewegung zu benennen. Im Zuge dieser wurde in den 1970er Jahren insbesondere der weibliche Körper in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und avancierte schließlich zum Gegenstand politischer wie wissenschaftlicher Diskussionen (vgl. Meuser 2005: 274 / Klein 2010: 467). Auch für die Geschlechterpolitik hat der Feminismus einen wesentlichen Beitrag geleistet und ist diesbezüglich als wichtigste Bewegung zu bezeichnen (vgl. Connell 2013: 187). Mit feministischen Körperdiskursen einhergehend, wurden erstmalig die dualistischen Zuschreibungen des Körpers von männlich und weiblich in Frage gestellt, welche auf der Attribution der Verletzungsmächtigkeit des Mannes und der Verletzungsoffenheit der Frau basieren (vgl. Meuser 2006: 95 ff. / Höppner 2011: 31). Diese Determination der Geschlechterdifferenz bedingt in der Praxis die Herausbildung einer entsprechenden, vom jeweiligen Geschlecht abhängigen, körperbezogenen Selbst- und Fremdwahrnehmung im Laufe der Entwicklung eines Menschen (vgl. Meuser 2006: 104). Dadurch bilden sich geschlechtsspezifische Verhaltens-, Kleidungs- oder Lebensstile heraus, die als etwas dem biologischen Geschlecht natürlich Anhaftendes empfunden werden. Im Zuge der Infragestellung solcher geschlechtsabhängigen Zuschreibungsprozesse wandte sich die Frauenforschung der Geschlechtersoziologie zu, wobei sich erste Zweifel am Körper als natürlich gegebenes Objekt sowie an der damit verbundenen Annahme von einer Biologie des Geschlechts herausbildeten (vgl. Schroer 2005: 31 / Meuser 2010: 146). Die Existenz eines naturgegebenen Geschlechts, welches dem Individuum für gewöhnlich spätestens zum Zeitpunkt der Geburt jeweils durch die Zuordnung von Verletzungsmächtigkeit oder -offenheit anhand der Orientierung an den Geschlechtsmerkmalen zuteilwird, wurde nun mit Skepsis betrachtet. Dies bewirkte die Etablierung des sog. gender als dazugehöriges Pendant. Dieser Begriff fasst jene Verhältnisse zusammen, die die Zuschreibung des jeweiligen Geschlechts zum Individuum überhaupt erst bedingen, wodurch das Geschlecht vor allem als soziales Konstrukt auf diskursiver Grundlage verstanden werden soll (vgl. Meuser 2010: 146 f.). Jene Forschung, die diesbezüglich die „alltäglichen Praktiken der Geschlechterunterscheidung“ (ebd.: 151) fokussiert, hat diesen Begriff durch das doing gender komplettiert (vgl. ebd.). Das doing gender beinhaltet den Einsatz verschiedenster Symboliken durch das Individuum. Darunter sind z. B. der Kleidungsstil oder verschiedene Körperpraxen in Form von Gestik oder die Auswahl bestimmter Accessoires zu verstehen (vgl. ebd.). Diese in sozialen Situationen angeeigneten Handlungsmerkmale deuten auf die Eigenleistung des Individuums hin, durch die sein gender, neben den Einflussfaktoren durch seine soziale Umwelt, selbst hergestellt wird und folglich die soziale Wahrnehmung seines Geschlechts bedingen (vgl. Klein 2010: 468 / Höppner 2011: 27). Neben dem biologisch gegebenen Körper hat damit die soziale Praxis auf Grundlage jeweils aktueller Diskurse eine Bedeutung als relevante Größe bei der Entwicklung einer Geschlechtsidentität erhalten, während der Naturkörper an Gewicht eingebüßt hat.

3.2.1 Der Körper als geschlechtliches Ordnungsmerkmal

Die Entnaturalisierung des Geschlechtskörpers sowie neoliberale8 Transformationsprozesse der Gesellschaft legen die Vermutung nahe, dass der Weg zu einer Neuausrichtung der Geschlechterverhältnisse geebnet sei (vgl. Höppner 2011: 21). So zeichnet sich im Rahmen jener Prozesse z. B. eine „Übernahme eher männlich kodierter Eigenschaften in Zeiten des Neoliberalismus durch Frauen nach“ (ebd.). Von einer gänzlichen Geschlechtsneutralität kann dennoch bisher nicht die Rede sein. Trotz der dekonstruktivistischen Sichtweise sind Geschlechterdifferenzen fortwährend substanziell, sodass sich das biologische Geschlecht als „erste und bedeutendste Einflussgröße“ (Schaufler 2003: 91) als beständig erweist (vgl. Meuser 2010: 145). Dies geschieht nicht durch die biologisch-körperliche Differenz per se, sondern anhand dessen, dass das Individuum auch heute noch anhand seiner Geschlechtsmerkmale bei der Geburt als ,weiblich‘ oder ,männlich‘ klassifiziert wird (vgl. Maier 2000: 125 / Schaufler 2003: 91 f.). Die anatomische Unterscheidung der Sexualorgane hält sich als unbezweifelbare Grundlage bei der Konstruktion der Geschlechterdifferenz und der Zuordnung des Individuums zur Kultur des Weiblichen oder der des Männlichen (vgl. Schaufler 2003: 92 / Meuser 2005: 275). Da der Körper anhaltend als stärkster „Geschlechtsnachweis“ (Meuser 2005: 272) gilt, ist diese Kultur vor allem auch eine körperliche, in die das Mädchen bzw. der Junge schließlich hineinwächst und somit die parallele Existenz zweier Körperkulturen im Regelfall weiterhin zeitlebens fortführt (vgl. Schaufler 2003: 92). Während das biologische Geschlecht also vorgelagert bleibt und der Körper als Synthese aus diesem und seiner sozialen Formung interpretiert wird, hält sich die Sichtbarkeit von traditionell geschlechtsspezifischen Zuschreibungen (vgl. Klein 2010: 462 / Höppner 2011: 21). Sowohl mit einer stimmigen Verkörperung seines Geschlechts und damit dem Gerecht werden seiner Körperkultur als auch durch Sprache und Verhalten ermöglicht das Individuum eine eindeutige geschlechtliche Zuordnung (vgl. Meuser 2005: 272 / Höppner 2011: 28). Mit den jeweiligen Körperstrategien verbürgt das Individuum sein Geschlecht zum einen für sich selbst und bewirkt damit gleichzeitig eine Komplexitätsreduktion für seine Umwelt (vgl. Maier 2000: 125 / Meuser 2005: 272). Kann das Gegenüber nicht eindeutig zugeordnet bzw. sein Körper nicht klassifiziert werden, sorgt dies oftmals für Verunsicherungen (vgl. Nollmann 2005: 151). Zwar wird das männliche Geschlecht als fraglose Gegebenheit durch die feministische Kritik in Zweifel gezogen, jedoch haben die feministischen Diskurse jene der bürgerlichen Gesellschaft nicht vollends verdrängt (vgl. Meuser 2000: 215). Einige Annahmen über die Unterschiede zwischen dem weiblichen und männlichen Geschlecht halten sich hartnäckig. So gelten Männer häufig nach wie vor als „geschlechts- und körperlose Wesen“ (ebd.: 214), die im Gegensatz zu den Frauen nicht dem „Diktat des Körperlichen“ (ebd.) unterworfen sind. Dies kommt jedoch nicht nur tradierten Annahmen zu Schulden, sondern erscheint auch als Nebenprodukt des vorwiegend auf den Frauenkörper fokussierten Geschlechterdiskurses (vgl. Meuser 2005: 279). Gegenüber der in diesem Kontext vor allem anhand ihres Körpers definierten Frau, erscheint der Mann als Gegenstück als ebendieses kulturell produzierte körper- und geschlechtslose Wesen (vgl. ebd.). Dies zieht nach sich, dass weniger in Bezug auf das Geschlecht an sich, als vielmehr in Bezug auf die Frau eine Naturalisierung vollzogen wurde (vgl. Meuser 2005: 279). Eine Folge ist die unterschiedliche Betroffenheit von Männern und Frauen hinsichtlich der gestellten Anforderungen an ihren Körper und deren Erscheinungsbild (s. Kap. 4).

3.2.2 Der Geschlechtskörper als soziales Ordnungsmerkmal

Auch für das postmoderne gesellschaftliche Ordnungs- und Struktursystem fungiert das Geschlecht als eines der entscheidenden Merkmale und erzeugt innerhalb dessen anhaltend soziale Ungleichheiten (vgl. Meuser 2010: 145). Im beruflichen Kontext zeichnet sich ab, dass Frauen dort nach wie vor als benachteiligt anzusehen sind. Aufgrund der Zuschreibung weiblich konnotierter Eigenschaften, wie der eines größeren Maßes an Empathie, Herzlichkeit oder sozialer Kompetenz, mündet die berufliche Laufbahn von Frauen häufig in Arbeitsbereichen mit fürsorglichem, sozialem oder pflegerischem Hintergrund. So haben diese bei der Besetzung von Stellen wie Grundschullehrämtern oftmals die Oberhand, wohingegen höhere Berufsränge wie Professuren an Universitäten hingegen überwiegend von Männern besetzt werden (vgl. ebd.). Jedoch bleiben traditionelle Geschlechternormen auch im Privaten als soziale Platzanweiser bestehen, sodass die Kindererziehung häufig im Zuständigkeitsbereich der Frau verbleibt (vgl. ebd.). Auch dieser Umstand bewirkt, dass Frauen seltener in höhere berufliche Positionen streben bzw. aufsteigen können. Institutionelle Arrangements sowie eine „Konfiguration von Praktiken“ (ebd.: 150) bewirken ein Fortdauern der gesellschaftlichen Dominanz der Männer über die Frauen, welche die australische Soziologin Raewyn Connell auch als ‚hegemoniale Männlichkeit‘ beschreibt (vgl. ebd.). Soziologe Erving Goffman hebt mit dem Begriff der „institutionellen Reflexivität“ (Goffman, zit. n. Meuser 2010: 152) zudem den institutionellen Aspekt hervor, der dazu führt, dass sich die Geschlechterdifferenz nicht nur aus der Situation heraus ergibt, sondern geradezu staatlicherseits abgesichert wird (vgl. Meuser 2010: 152).

3.3 Exkurs: Sex und gender in der Theorie Judith Butlers

Die Erkenntnisse über die Bedeutung sozialer Einflussfaktoren auf die Entwicklung einer Geschlechtsidentität stellen eine große Relevanz für die – zumindest theoretische bzw. diskursive – Entkopplung der sozialen von der körperlichen Geschlechtsidentität dar. Während sich gezeigt hat, dass die Praxis davon bisher weitestgehend nur begrenzt tangiert wird, existiert eine weitere, recht populäre und daher hier genannte Theorie zu dem Verhältnis von sex und gender, nämlich die der amerikanischen Philosophin Judith Butler. Mit ihrer Theorie erweitert bzw. bezweifelt sie jene Errungenschaft der feministischen Diskussion (vgl. Macha & Fahrenwald 2003: 34). Aus ihrem Blickwinkel ergibt sich ein weiterführendes Verständnis von dem biologischen Geschlecht sex und dem sozialen Geschlecht gender. Obgleich der Körper im allgemeinen Genderdiskurs zumindest als eine Art vorgelagertes Objekt erscheint, welchem erst anschließend durch diskursive Zuschreibungen ein Geschlecht überstülpt wird, ist nach Butler der Leib an sich bereits ein mit kulturellen Bedeutungen erfülltes und keineswegs passives Medium (vgl. Butler 1991: 26 / Schroer 2005: 32). Der Körper wird ebenso als bereits durchdrungen von abgelagerten Diskursen verstanden (vgl. Tuider 2003: 49). Mit dem Begriff der Performativität beschreibt Butler sowohl Geschlecht und Identität als auch den Körper an sich als Effekte von Einschreibungsprozessen (vgl. Macha & Fahrenwald 2003: 34). Diese finden durch Wiederholung und Einübung habitueller sprachlicher sowie ritueller Inszenierungen, durch den Versuch, normative Ideale zu erfüllen, statt und führen zur Essentialisierung des Geschlechts als soziale Gegebenheit (vgl. Macha & Fahrenwald 2003: 34 / Tuider 2003: 50). Weder erkennt Butler also das soziale Geschlecht als Teil der Kultur noch das biologische Geschlecht als Teil der Natur an, wodurch sich die Distinktion des gender, der Geschlechtsidentität einer Person, über die „kulturelle Interpretation des Geschlechts“ (Butler 1991: 24) als nichtig ergibt. Damit lehnt Butler auch die Existenz eines vordiskursiven und natürlich gegebenen Geschlechtskörpers ab und entzieht damit dem sex die Grundlage einer biologischen Vordefinition von Körpern (vgl. Butler 1991: 24 / Macha & Fahrenwald 2003: 34). Keineswegs stellt Butler jedoch eine körperliche Existenz an sich in Abrede. Materialität wird hier lediglich als diskursiv hergestellt verstanden (siehe oben9 ) (vgl. Tuider 2003: 49). Eine wichtige Rolle hierbei spielt die Sprache, die eine realitätsgenerierende, also performative Macht besitzt (vgl. ebd.: 51). Dieser hegemonialen Macht unterwirft sich das Subjekt bzw. wird das Subjekt unterworfen, sodass die Annahme eines Geschlechts qua Natur als existent erscheint (vgl. ebd.: 50 ff.). Butler enttarnt dies jedoch als Resultat der erzwungenen Konventionen (vgl. ebd.: 50).

Aus jener Perspektive werden nicht nur für das gender, das soziale Geschlecht, „gesellschaftliche Vorgaben für Konstruktionsprozesse der geschlechtstypischen Identität“ (Macha & Fahrenwald 2003: 16) als konstitutiv betrachtet. Auch das sex verliert hier seinen Status als natürlich vorgegebene und festgeschriebene Größe und wird ebenso als ein diesen Vorgaben untergeordneter Faktor, als ebenso kulturell konstruiert verstanden wie das gender selbst (vgl. ebd.: 16 und 33). Mehr noch erfährt das gender bei Butler eine Aufwertung, indem es als „vordiskursive Gegebenheit“ (Butler 1991: 24) der Annahme des Geschlechts als vorangestellt interpretiert wird. Während im Genderdiskurs das soziale Geschlecht an das körperliche anknüpft, ergibt sich bei Butler demnach ein umgekehrtes Bedingungsverhältnis, welches der Soziologe Markus Schroer (2005) wie folgt zusammenfasst:

[...]


1 folgend bzw. abgekürzt

2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit soll auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet werden. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.

3 folgend z. B. abgekürzt

4 folgend bspw. abgekürzt

5 folgend z. T. abgekürzt

6 Ugs. unter dem Begriff „Arschgeweih“ (Lobstädt 2011: 124 f.) bekannt

7 folgend u. a. abgekürzt

8 Der Begriff des Neoliberalismus ist die Bezeichnung für „eine politisch-ökonomische Doktrin, die im Wettbewerbssystem den Garanten für sozialen Fortschritt und individuelle Freiheit sieht“ (Rammstedt 2007: 455 f.). Im Fokus des neoliberalen Denkens steht das Prinzip des Marktwettbewerbs. Durch diesen sollen wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit und wirtschaftliche Effizienz sowie individuelle Freiheiten und Wohlfahrtsgewinne verwirklicht werden. Individuen sollen dabei nach neoliberalem Verständnis als freie Akteure auf dem Markt aus freiem Antrieb und selbstverantwortlich handeln.

9 folgend s. o. abgekürzt

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Tätowierungen bei jungen Frauen
Untertitel
Analysen aus körper- und gendersoziologischer Sicht
Hochschule
Universität Siegen
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
104
Katalognummer
V502257
ISBN (eBook)
9783346044938
ISBN (Buch)
9783346044945
Sprache
Deutsch
Schlagworte
tätowierungen, frauen, analysen, sicht
Arbeit zitieren
Caroline Siems (Autor:in), 2018, Tätowierungen bei jungen Frauen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/502257

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Titel: Tätowierungen bei jungen Frauen



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