Welche Funktion hat der Opferstatus heute und welche der Sündenbock, wer profitiert davon? Warum ist das Opfer-sein mittlerweile regelrecht begehrt obwohl es gemeinhin als nicht erstrebenswert gilt und neben Identifikation und Mitleid gleichermaßen Ausgrenzung und Hass hervorrufen kann? Ich beschränke mich in meinen Ausführungen, wie auch die Autorin Kirstin Breitenfellner, auf die westliche Kultur. Ich möchte zunächst in aller Kürze einen historischen Abriss auf Grundlage des Buches skizzieren um einen Überblick für den Rest der Arbeit zu ermöglichen und die Begriffe klar zuzuordnen. Anschließend werde ich konkrete Beispiele der heutigen Zeit anführen und untersuchen, inwieweit die Auswüchse der Opferpraxis auch unsere heutige Gesellschaft unterwandern, um schließlich Breitenfellners Lösungsansätze aufzugreifen und eigene Schlussüberlegungen zu formulieren.
In dem Buch "Wir Opfer – Warum der Sündenbock unsere Kultur bestimmt" von Kirstin Breitenfellner wird unsere Zeit und Kultur auf den Opferbegriff hin untersucht und das Vorhandensein einer Opferkultur attestiert. Besonders in den Medien sind wir laut Breitenfellner längst nicht über den archaischen Opferkult hinweg. Kriege, Mord und Terror stehen im Fokus der westlichen Gesellschaft wie scheinbar nie zuvor. Ist der Ritus nun auch subtiler geworden, so ist die Spaltung zwischen Täter und Opfer und damit zusammenhängende Zuschreibungen und Projektionen gängige Praxis unserer Kultur.
Der Sündenbock und das Opfer
Einleitung
Um eine Gemeinschaft jedweder Art zusammenzuhalten und zu stärken braucht es den außenstehenden „Anderen“. Um Neid und die Gemeinschaft unterwandernde Konflikte im Keim zu ersticken und zu vermeiden, soll der Eindruck der (potenziellen) Gleichheit unter den Mitgliedern entstehen. Innergemeinschaftliche Konflikte werden entweder über einen internen Sündenbock ausgetragen - meist das schwächste Glied, Personen die keinen besonderen Schutz genießen und deren Opfersein keine Rache befürchten lässt) - oder ins Außen verlagert. So werden Konflikte durch Krieg außerhalb der Grenzen des eigenen Landes beschwichtigt, Spannungen aufgegriffen und destruktives Potenzial gelenkt, welches so keine Gefahr mehr für den Erhalt der Gemeinschaft darstellt und von notwendigen Veränderungen — meist zu Ungunsten der mächtigsten Gruppenmitglieder - ablenkt. Das funktioniert am besten, wenn von der zu bekämpfenden Gruppe eine Gefahr ausgeht. Wenn also Leib und Leben oder Wertevorstellungen einer Gemeinschaft bedroht sind. Was primitiv, durchschaubar und viel zu einfach klingt, ist als Mechanismus der permanenten Produktion von Opfern und Sündenböcken historisch und kulturell übergreifend tief verankert. Ausschließlich die Praxis an sich hat sich immer wieder dem Zeitgeist angepasst. Da offen ausgetragene Gewalt und Mord mittlerweile gesellschaftlich geächtet sowie gesetzlich verboten sind, sind die Methoden immer subtiler und in ihren Auswirkungen komplexer geworden.
Opfer und Sündenbock in der Geschichte
Der Opferritus kann als Begründungsmerkmal von Kultur ausgelegt werden. Sigmund Freud führte bereits in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ aus, wie es, um den Schutz einer Gemeinschaft zu genießen und somit in der Gruppe größere Überlebenschancen zu haben, für das Individuum notwendig wird, seine Triebe zu unterdrücken und destruktive Potentiale kontrolliert zu lenken bzw. abzuspalten — zu Ungunsten der seelischen Gesundheit. Daraus lässt sich ableiten, dass das destruktive Potenzial im Menschen gottgegeben ist — eine Tatsache, die bis heute die Menschheit zu überfordern und zu beschäftigen scheint. Breitenfellner legt entsprechend die Opferpraxis in frühen Gesellschaftsformen zunächst nicht zum Nachteil des Menschen aus, der einfach um des Tötens Willen töten will, sondern sieht darin einen Versuch, das als übermenschlich empfundene, destruktive Potenzial zugunsten von Frieden und Harmonie zu lenken und den dadurch entstehenden Schaden so klein wie möglich zu halten. Nach Girards mimetischer Theorie lautet die durch die Unstillbarkeit menschlichen Begehrens begründete Abwandlung demnach: Anstatt Alle gegen Alle — Alle gegen Einen.1 Dem Opferritus an sich geht die Auswahl eines Sündenbocks hervor (altgr. auch: Pharmakon) durch einen entsprechend qualifizierten Vorstand der Gemeinschaft. Dieser bereitet das auserwählte Opfer auf sein bevorstehendes Geschick vor. So besteht die Chance der Willkür einen übergeordneten Zweck zuzuordnen, sowohl für die Gemeinschaft, als auch für den zu Opfernden. Um die Tötung gerechtfertigt erscheinen zu lassen — denn das Erwählen eines Opfers erfolgte in der Regel aus unschuldigen, schutzlosen Mitgliedern der Gemeinschaft — wurden ihm teilweise Taten gegen das Wohl der Gemeinschaft unterstellt oder das Opfer wurde angetrieben, diese vor der Opferung zu begehen. Das Opfer wurde jedoch mitnichten nach der Tötung verdammt. Ganz im Gegenteil stieg das Opfer zum Heiligen empor, da es schließlich die Gemeinschaft — temporär — von kollektiven Spannungen und Gewalttendenzen befreit hat. Es erfüllt einen Heiligen, in der Religiosität des Menschen verankerten Zweck. Später sollten tatsächlich — teilweise bis heute — nur noch Böcke bzw. Tiere geopfert werden. Das Menschenopfer kommt in manchen Teilen der Welt trotz allem noch vor.2
Eine grundlegende Wandlung erfuhr die Opferpraxis mit der Hinwendung zum Christentum. Ist das alte Testament noch ganz im archaischen Jargon des Tötens und getötet Werdens gehalten, so sollte Jesus Christus das letzte Menschenopfer sein und eine neue Ära der Gewaltlosigkeit einleiten. Die Unschuld des Opfers wurde erstmalig nach den Mythen der Antike anerkannt. Tatsächlich wurde die Opferpraxis nach innen verlagert, im Individuum selbst sollte nun der Keim der Zerstörung aufgespürt und eliminiert werden. Die Gewalt wurde zwar somit vom Nächsten abgewandt, aber innerlich tobte und brodelte es weiter bis hin zu den Kreuzzügen, wo das Missverständnis des Neuen Testaments seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht haben dürfte.3 Einen weiteren Beweis des kläglichen Scheiterns brachten spätestens die beiden Weltkriege, in der im Ersten junge Männer wieder einen Sinn fanden im Töten und sich Opfern durch potenzielles Heldentum und schließlich im Holocaust, in dem alle scheinbaren Errungenschaften des
Christentums sich regelrecht anschickten mit den Opfern zu verbrennen. Der Rückfall in das archaische Erklärungsmuster: Wir oder der Andere wird offenbar. Der Andere bedroht uns durch sein So-Sein und zwingt uns ihn zu töten. Viele Nazis gaben preis den Holocaust durchaus nicht genossen zu haben, sondern für einen höheren Zweck, nämlich die bessere Zukunft für die Nachkommen ihrer sich von den Juden unterscheidenden Art zu bereiten. Blinder Obrigkeitsgehorsam sowie die erfolgreich propagierte Identifikation mit Regierung, Heer und Nation lies auch die letzten Regungen von „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ in ein inneres Eisfach entschwinden4. Somit wurde der Nationalismus mit seinem aggressiven Imperialismus zur säkulären Religion des 19. und 20. Jahrhunderts5. In der „friedlichen“ Demokratie der Nachkriegszeit angekommen verlagern sich diese Konflikte und Regungen zunehmend in den privaten Raum — der immer mehr auch zum öffentlichen Raum wird - und gipfeln erfolgreich im kleinbürgerlichen Vergnügen des Neidens6, gepaart mit Schadenfreude, sollte das Subjekt des Beneidens scheitern. Und je mehr eigentlich auf Gleichheit in der Gesellschaft abgezielt wird, desto mehr scheinen wir uns in das genaue Gegenteil zu verstricken und müssen sehen, das wir de facto keine Gleichheit wollen.
Die im Grunde gut gemeinte Idee von Karl Marx, die Ungleichheit in der Gesellschaft aufzuheben und somit die Gewalt unter den Menschen auszumerzen, gipfelte in noch mehr Gewalt, wie die Geschichte des Kommunismus in der Welt. preisgibt. Das Bestreben nach sozialem Aufstieg, Gerechtigkeit und Kampf gegen Feinde für das eigene Volk mündeten in exekutive Gewalt. Ähnlich dem Christentum wurde die tatsächliche Intention umgemünzt in das, was den Menschen in sich immanent beherrscht. Darin unterscheiden sich totalitäre Systeme nicht im Geringsten voneinander, die eine Lösung für alle parat zu haben glauben. Denn der Staat funktioniert da als geduldeter Stellvertreter der eigenen Missgunst gegenüber dem feindlichen Anderen, wo er gut genug ist das eigene Unbehagen zu mindern7. So erweisen sich Nazismus als auch Marxismus als „quasi mythische Verfolgungssysteme“, die versuchen durch sakrifizielle Gewalt den Frieden für eine geschlossene Gemeinschaft wieder herzustellen8. Das Prinzip des eingangs beschriebenen Opferritus wiederholt und hält sich auch hier als übergeordnetes Prinzip innerhalb eines scheinbar modernen Versuchs der Lösung, in dem Gleichheit wichtiger wird als das Streben nach Freiheit.9
„Aus soziologischer Sicht stellen Opfer eine Art Sicherheitsventil dar. Sie leiten Angst und Aggressionen ab, schweißen die Gemeinschaft zusammen und stellen damit eine Schwundstufe vom Einigungspotenzial dar einer Gesellschaft, die nurnoch durch Konsum und Lust zusammengehalten zu werden scheint, einen Orientierungspunkt in einer Situation, wo neimand mehr so ganz genau weiss was Gut und was Böse ist,weil es keine gemeinsamen Werte und vor allem keine unantastbaren Begründungen dafür gibt.Auch deswegen müssen Opfer Opfer und Täter Täter bleiben. (...) Opfer geben die Illusion die Sache im Griff zu haben, die man Leben nennt, und die sich heute immer als noch komplizierter erweist als einem recht sein kann.“ Breitenfellner 2013 S. 178f.
Der Opferbegriff wird im englischen Sprachraum besser ausdifferenziert als im Deutschen. Im Englischen gibt es das passive Opfer (etwa von einer Gewalttat), bezeichnet als victim, und das aktive, selbstgewählte sacrifice. Letzteres und die Bereitschaft dazu nimmt laut Breitenfellner immer weiter ab. Somit rückt das passive Opfer in den Vordergrund und dominiert unser Verständnis und unser Weltbild. Die hiesigen (Massen-) Medien hegen und pflegen eine Obsession mit Opfern — und präsentieren sie bereitwillig bevor die Frage nach einem - oft nur potenziellen — Täter laut wird. Der Opferstatus, ist er erst einmal zuerkannt, macht in gewisser Weise unangreifbar. Laut Breitenfellner umgibt das Opfer eine gewisse Aura. Mitleid ist eine politisch unkorrekte Empfindung, die man sich zunehmend offiziell verkneift. Respekt ist das neue Wort. Ist Opfersein ein Verdienst, eine neue Art sich gesellschaftliche und private Anerkennung zu verschaffen?10
Opferneid
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Exponat aus der aktuellen Ausstellung des MMK Frankfurt „I am a problem“
„Sind die Primärbedürfnisse einmal gestillt — zuweilen sogar schon vorher -, ist der Mensch von intensiven Wünschen beseelt, weiß aber nicht genau, was er wünscht: Er begehrt das Sein — jenes Sein, das ihm nach seinem Gefühl nach fehlt und von dem ihm scheint, ein anderer besitze es.“
René Girard in Breitenfellner 2013, S. 38
Dem steht direkt offensichtlich entgegen, das Hab und Gut seines Nächsten nicht zu begehren. Jedoch wird gegen kein anderes christliches Gebot derart selbstverständlich und vehement verstoßen, als gegen dieses. Der Neid — ständig angetrieben durch die „einzige komplizierte Maschinierie zur Neiderzeugung“11, der Werbung, will nicht zugegeben werden, dominiert jedoch das westliche Gesellschaftssystem des Kapitalismus -, das sich auf Rivalität und das Ausstechen des Anderen regelrecht gründet und damit den Grundgedanken der Demokratie aussticht. Befeuert von der Illusion, jeder könne alles haben, kehrt kaum mehr Ruhe ein in die Ermächtigungsphantasien durch mehr und mehr Besitz, Prestige und Macht. Es ist ein unstillbares Unterfangen, denn es wird immer jemanden geben, der mehr hat und dessen Attribute wir begehren, uns regelrecht einverleiben wollen. Dieser Bogen spannt sich konsequent von der aufgeklärten Welt der Postmoderne bis zu den Anfängen der Menschheit.
[...]
1 Vgl. Breitenfellner 2013, S. 48 ff.
2 Ebenda, S. 54
3 Ebenda, S.61
4 Ebenda, S. 93
5 Ebenda, S. 83
6 Kierkegaard in Breitenfellner 2013, S. 203
7 Vgl. ebenda S. 104
8 Girard in Breitenfellner 2013, S.105
9 Vgl. ebenda, S. 104
10 Vgl. Breitenfellner S.
11 Epstein in Breitenfellner 2013, S. 202
- Arbeit zitieren
- Janina Castellano (Autor:in), 2017, Opferpraxis und Sündenbock im Medienzeitalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/502393
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.