Ziel dieser Arbeit ist es, den Zusammenhang zwischen langfristigem Stress und dem Arbeitsgedächtnis zu untersuchen. Dabei wurde für die Messung von Stress sowohl ein Maß subjektiven Stressempfindens anhand der Perceived Stress Scale (PSS), als auch objektiv gemessener Stress anhand von Tagesprofilwerten der Alpha-Amylase im Speichel (sAA) herangezogen. Die Arbeitsgedächtnisleistung wurde anhand eines n-back Paradigmas operationalisiert.
Das Phänomen Stress ist für viele Menschen in unserer heutigen Gesellschaft in allen Lebensbereichen ein alltäglicher Begleiter, was mit weitreichenden Konsequenzen sowohl für den Körper als auch für die Psyche verbunden ist. Die soziologische Perspektive auf die heutige „Beschleunigungsgesellschaft“ (Schnabel, 2009) zeigt auf, wie wir im alltäglichen Leben ständig neuen Herausforderungen gegenübergestellt werden. Die Untersuchung der Einflüsse dieser dauerhaften Belastungen auf die Psyche und den Körper haben längst Einzug in das psychologische Forschungsfeld gefunden – unter dem Begriff Stressforschung.
Stress, oft negativ konnotiert, ist grundsätzlich eine gesunde Reaktion des Körpers, um durch autonome, endokrine und behaviorale Aktivierungsprozesse adaptiv mit herausfordernden oder bedrohlichen Situationen umzugehen. Es muss zwischen akuten adaptiven Stressreaktionen und den Konsequenzen chronischen Stresses unterschieden werden. Dieser kann durch alltägliche Belastungen oder einzelne einschneidende Lebensereignisse entstehen und hat gravierende Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit. Daher ist es wichtig, Stressreaktionen, deren Moderatoren und kurz- und langfristigen Konsequenzen zu erforschen, um ihre Wirkung besser zu verstehen und praktische Implikationen für erfolgreiche Prävention und Behandlung negativer Stresseffekte abzuleiten.
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
Abstract
Inhaltsverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Symbolverzeichnis
1 Theoretische Einbettung
1.1 Einleitung
1.2 Theoretischer Hintergrund
1.2.1 Das psychologische Konstrukt Stress
1.2.1.1 Stresstheorien
1.2.1.2 Physiologische Stressreaktion
1.2.1.3 Chronischer Stress
1.2.2 Das Enzym Alpha-Amylase
1.2.2.1 Tagesprofile
1.2.2.2. Alpha-Amylase und Stress
1.2.3 Das Arbeitsgedächtnis
1.2.3.1 Das Mehrkomponentenmodell des Arbeitsgedächtnisses
1.2.3.2 Physiologische Betrachtung des Arbeitsgedächtnisses
1.2.3.3 Arbeitsgedächtniskapazität
1.2.3.4 N-Back Test als Maß der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses
1.2.5 Stress und Arbeitsgedächtnis
1.3 Thematische Einordnung und Hypothesen der vorliegenden Arbeit
2 Methode
2.1 Stichprobe
2.2 Durchführung und Materialien
2.2.1 Online-Fragebogen
2.2.2 Labortestung
2.2.3 Erhebung der Alpha-Amylase Tagesprofile
2.3 Gemessene Variablen und Operationalisierung
2.3.1 Arbeitsgedächtnisleistung
2.3.2 Alpha-Amylase im Speichel als objektives Stressmaß
2.3.3 Subjektives Stressempfinden
2.3.4 Soziodemographische Daten
2.3.5 Kontrollvariablen
2.4 Studiendesign
2.5 Statistische Methoden
3 Ergebnisse
3.1 Datenaufbereitung
3.1.1 Voraussetzungsprüfung und Reliabilität
3.2 Deskriptive Statistik
3.3 Kontrollvariablen
3.4 Hypothesentestung...
3.4.1 Hypothese 1
3.4.2 Hypothese 2
3.4.3 Hypothese 3
3.4.4 Hypothese 4
3.5 Explorative Statistik
4 Diskussion
4.1 Zusammenfassung
4.2 Theoretische Einordnung der Ergebnisse
4.3 Limitationen
4.4 Implikationen
4.4.1 Forschungsperspektiven
4.5 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Zusammenfassung
Ziel: Das Phänomen Stress ist für viele Menschen in unserer heutigen Gesellschaft in allen Lebens- bereichen ein alltäglicher Begleiter, was mit weitreichenden Konsequenzen sowohl für den Körper als auch für die Psyche verbunden ist. Ziel dieser Arbeit war es, den Zusammenhang zwischen langfristigem Stress und dem Arbeitsgedächtnis zu untersuchen. Dabei wurde für die Messung von Stress sowohl ein Maß subjektiven Stressempfindens anhand der Perceived Stress Scale (PSS), als auch objektiv gemessener Stress anhand von Tagesprofilwerten der Alpha-Amylase im Speichel (sAA) herangezogen. Die Arbeitsgedächtnisleistung wurde anhand eines n-back Paradigmas ope- rationalisiert. Methode: Die Stichprobe bestand aus 57 Versuchspersonen (36 Frauen und 18 Män- ner, im Durchschnitt 22 Jahre alt). Zunächst wurde ein Online-Fragebogen mit soziodemographi- schen Daten und der PSS ausgefüllt, dann wurde in Einzelterminen der n-back Test (0-back bis 4- back) durchgeführt und zuletzt wurde von den Teilnehmenden an einem Tag acht Speichelproben entnommen. Als Maße der sAA wurde die Area under the Curve (AUC), der Abfall der sAA nach dem Erwachen und dieser Abfall relativ zum ersten Messzeitpunkt verwendet. Als Leistungsmaß im n-back Test wurden die relative Anzahl der richtigen Antworten in % herangezogen. Ergeb- nisse: Es zeigten sich negative aber nicht signifikante Korrelationen zwischen der sAA und den Leistungen im n-back Tests. Zwischen der PSS und der n-back Leistung sowie der PSS und der sAA wurden keine Zusammenhänge gefunden. Diskussion: Die Ergebnisse sind aufgrund der recht eindeutigen Befundlage zum negativen Einfluss von Stress auf das Arbeitsgedächtnis methodi- schen Limitationen oder Stichprobenmerkmalen zuzuschreiben. Trainingseffekte durch das Lernen in der Prüfungszeit könnten in der hauptsächlich studentischen Stichprobe die negativen Stressef- fekte kompensiert haben. Weitere Forschung sollte die dünne Befundlage zum Einfluss langfristi- gen Stresses auf die sAA erweitern und Einflussfaktoren auf den Zusammenhang zwischen Stress und Arbeitsgedächtnis ermitteln.
Stichwörter: Alpha-Amylase Tagesprofile, langanhaltender Stress, Arbeitsgedächtnis, n- back
Abstract
Objective: Stress is a daily companion in all areas of life for many people in today's society which has far-reaching consequences for both the body as well as the psyche. The aim of this study was to investigate the relationship between long-term stress and working memory. Stress was measured on a subjective basis by the Perceived Stress Scale (PSS) as well as objectively on the basis of diurnal profile values of alpha-amylase in saliva (sAA). The working memory performance was operationalized using an n-back paradigm. Method: The sample consisted of 57 subjects (36 women and 18 men, on average 22 years). First, the participants filled out an online questionnaire with sociodemographic data and stress questionnaires, then they performed the n-back test (0-back to 4-back) on individual laboratory sessions and finally they took eight saliva samples on one day. The measures of sAA were the Area under the Curve (AUC), the decline of the sAA after awaken- ing, and this decline relative to the first measurement point. The performance measure of the n- back task was the relative number of correct answers reported in %. Results: There were negative but no significant correlations between the sAA and the performance in the n-back task. No corre- lation was found between the PSS and n-back performance as well as PSS and sAA. Discussion: As previous findings consistently report the negative impact of stress on working memory, the results of this study are attributed to methodological limitations or sample characteristics. As most of the participants were students, training effects from studying during the exam period could have compensated for negative stress effects. Further research should complement the still rare insights on the impact of long-term stress on the sAA and identify influential factors on the relationship between stress and working memory.
Keywords : Alpha-Amylase diurnal profiles, daily stress, working memory, n-back
Abbildung s - und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1. Einflussfaktoren auf die Stressreaktion nach Anisman & Matheson(2005)
Abbildung 2. Durchschnittliche sAA Konzentrationen zu den acht Messzeitpunkten
Abbildung 3 . Durchschnittliche sAA Konzentrationen zu den acht Messzeitpunkten nach Aufteilung der Daten in zwei Gruppen.
Tabelle 1. Kennwerte der gemessenen Variablen
Tabelle 2. Korrelationen der Skalen durch Produkt-Moment-Korrelation nach Pearson
Tabelle 3. t-Test für abhängige Stichproben zwischen den vier Bedingungen des n-back Tests
Tabelle 4. Korrelationen der einzelnen sAA Maße mit den drei letzten n-back Bedingungen durch die Produkt-Moment-Korrelation nach Pearson
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Symbolverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Theoretische Einbettung
1.1 Einleitung
„Die Zeit wird uns wirklich knapp, und zwar aus drei Gründen: Erstens nimmt die technische Beschleunigung zu, […] wir produzieren immer mehr Güter und Dienst- leistungen in immer kürzerer Zeit. […] Dazu kommt, zweitens, der soziale Wandel. Leute wechseln ihre Arbeitsstelle in höherem Tempo als früher, ihre Lebenspartner, Wohnorte, Tageszeitungen, ihre Gewohnheiten. […] Und drittens ist insgesamt eine Beschleunigung des Lebenstempos zu beobachten. Wir versuchen, mehr Dinge in kürzerer Zeit zu erledigen. Wir essen Fast Food, […] machen Multitasking auf der Arbeit, power nap statt Mittagsschlaf oder lassen die Pausen gleich ganz weg.“ (Hartmut Rosa in: Schnabel, 2009)
Diese soziologische Perspektive auf die heutige „Beschleunigungsgesellschaft“ (Schnabel, 2009) zeigt auf, wie wir im alltäglichen Leben ständig neuen Herausforderungen gegenübergestellt werden. Die Untersuchung der Einflüsse dieser dauerhaften Belastungen auf die Psyche und den Körper haben längst Einzug in das psychologische Forschungsfeld gefunden – unter dem Begriff Stressforschung.
Stress, oft negativ konnotiert, ist grundsätzlich eine gesunde Reaktion des Körpers, um durch autonome, endokrine und behaviorale Aktivierungsprozesse adaptiv mit herausfordernden oder bedrohlichen Situationen umzugehen. Es muss zwischen akuten adaptiven Stressreaktionen und den Konsequenzen chronischen Stresses unterschieden werden. Dieser kann durch alltägliche Belastungen oder einzelne einschneidende Lebensereignisse entstehen und hat gravierende Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit (Leserman, Li, Hu, & Drossman, 1998). Daher ist es wichtig, Stressreaktionen, deren Moderatoren und kurz- und langfristigen Konsequenzen zu er- forschen, um ihre Wirkung besser zu verstehen und praktische Implikationen für erfolgreiche Prä- vention und Behandlung negativer Stresseffekte abzuleiten.
Auch im Bereich des Gedächtnisses kann Stress zu Veränderungen führen. In dieser Studie wird konkret das Arbeitsgedächtnis untersucht, was den exekutiven Funktionen zugeordnet wird. Es erfüllt wichtige kognitive Aufgaben, speichert und verarbeitet kurzzeitig Informationen, ver- knüpft sie mit dem Langzeitgedächtnis und steht mit weiteren höheren kognitiven Funktionen und fluider Intelligenz in Verbindung (Oberauer et al., 2007; Seiferth, Thienel, & Kircher, 2007). Stressbedingte Einflüsse auf das Arbeitsgedächtnis schränken nicht nur die Fähigkeit dieser kog- nitiven Komponente ein, sondern können negative Effekte auf weitere wichtige kognitive Funkti- onen haben. Es kann also durch langfristigen Stress zu Einbußen in alltäglicher oder beruflicher kognitiver Leistungsfähigkeit kommen.
Allgemein werden in der Stressforschung sowohl Selbstauskünfte als auch biophysiologi- sche Messungen herangezogen. Für letzteres werden so genannte biologische Marker, also „Sub- stanz[en] (Hormon[e], Enzym[e], Protein[e]), deren vermehrtes oder vermindertes Auftreten Hin- weis auf eine bestimmte Veränderung ist“ (Birbaumer & Schmidt, 2010) verwendet. Auch in der vorliegenden Studie werden sowohl subjektive als auch objektive Stressmaße verwendet, um sie mit der Leistung des Arbeitsgedächtnisses in Verbindung zu setzen.
1.2 Theoretischer Hintergrund
1.2.1 Das psychologische Konstrukt Stress. Hans Selye, einer der ersten und bekanntes- ten Stressforscher konstatierte 1973: „Everybody knows what stress is and nobody knows what it is“. Wie verschieden die theoretischen Blickpunkte auf Stress und seine Komponenten sind, wird in den folgenden Abschnitten dargestellt. Allgemein wird der Begriff Stress zunächst definiert als „Zustände der Beanspruchung, die aus Prozessen der Auseinandersetzung mit belastenden Bedin- gungen, den Stressoren (stressors) hervorgehen“ (Fröhlich, 2011).
1.2.1.1 Stresstheorien. Ursprünglich formulierte Walter Cannon 1926 ein Stressmodell der Homöostase, welches besagt, dass Stress eine kompensatorische physiologische Reaktion auf Si- tuationen ist, die das innere Gleichgewicht ins Wanken bringen. Daraus resultieren spezifisch ent- weder Flucht- oder Kampfreaktionen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Sterling und Eyer (1988) hingegen vertreten die Meinung, dass das Modell der Homöostase Stressreaktionen nicht vollständig erklären kann. Laut ihrem Modell der Allostase ist das Ziel der Stressreaktion nicht nur die kurzfristige Wiederherstellung des Ausgangszustands, sondern auch die langfristige Anpassung des Organismus an Stressoren. Alleine durch diese Anpassungsfähigkeit an neue Be- dingungen wird das Überleben und die Reproduktionsfähigkeit einer Spezies aufrechterhalten. Al- lerdings kommt es durch chronischen Stress auf Dauer zu einer Abnutzung der körperlichen An- passungssysteme, der so genannten allostatic load (Sterling, 2012).
1974 formulierte Selye eine Theorie, in der Stress als eine nicht-spezifische körperliche Reaktion auf äußere Stressoren aufgefasst wird, die nach einem bestimmten Muster- dem Allgemeinen Adaptationssyndrom- verläuft: zunächst kommt es zu einer Alarmreaktion, auf die eine adaptive Reaktion folgt. Anhaltende Stressoren resultieren langfristig in einer Phase der Er- schöpfung. Im Verlauf der Forschung zum Thema Stress wurde die Theorie Selyes durch weitere Erkenntnisse teilweise widerlegt beziehungsweise erweitert. So zeigten Studien, dass aus unter- schiedlichen Stressoren sehr wohl spezifische körperliche Reaktionen resultieren können (Miller, Chen, & Zhou, 2007; Pacak, 2000; Pacak et al., 1998).
Ab dem Ende der 60er Jahre rückte die Betrachtung der psychologischen Komponente von Stress mehr und mehr in den Vordergrund. Zunächst stelle Mason (1968) emotionale Faktoren, wie beispielsweise die Wahrnehmung von Neuheit, Kontrollierbarkeit, Erwartbarkeit oder Unvorher- sehbarkeit von Stimuli heraus, die gegeben sein müssen, damit es zu einer Stressreaktion kommt.
Lazarus & Folkman entwickelten 1987 das transaktionale Stressmodell, laut dem bei der Entstehung von Stress sowohl Umwelt- als auch Personenvariablen eine Rolle spielen. Besonders die kognitive Bewertung einer Situation steht hier im Vordergrund, da eine Stressreaktion laut des Modells erst dann entsteht, wenn eine Situation in einem ersten Schritt (primary appraisal) als bedrohlich bewertet wird. Außerdem müssen in einem zweiten Schritt (secondary appraisal) die Kontrollmöglichkeiten, also die emotions- oder problemfokussierten Ressourcen zur Bewältigung der Bedrohung, als unzureichend eingestuft werden, um eine Stressreaktion hervorzurufen (Lazarus & Folkman, 1987).
Eine weitere Gruppe von Theorien sieht den Umfang vorhandener Ressourcen als Grund- lage für die Entstehung und den Umgang mit Stress an. So geht Hobfoll (1989) in seiner Ressour- cenerhaltungstheorie davon aus, dass Menschen konstant versuchen, Ressourcen aufzuwenden, um neue Ressourcen dazuzugewinnen oder vorhandene aufrecht zu erhalten. Dabei wird der Verlust von Ressourcen allgemein stärker wahrgenommen als der Zugewinn neuer Ressourcen. Daraus resultiert, dass Menschen Stress empfinden, sobald die zur Verfügung stehenden Ressourcen ver- loren gehen, als bedroht angesehen oder über die Zeit hinweg ohne positive Effekte eingesetzt werden. Hobfoll gliedert Ressourcen in die Kategorien Objekte, Persönlichkeitsvariablen, Lebens- bedingungen und Energie (Hobfoll, 1989).
So unterschiedlich die Ansätze zur Erklärung von Entstehung und Manifestation von Stress sind, definieren sie alle Belastungen, also Stressoren, als übergeordnete Ursache für Stressreaktio- nen. Die Autoren Elliot und Eisdorfer (1982) kategorisieren unterschiedliche Stressoren nach Dauer und Verlauf. Die Einteilung erfolgt in (1) akute, zeitliche limitierte Stressoren wie zum Beispiel ein Stresstest, (2) kurze naturalistische Stressoren, wie eine Prüfungssituation, (3) Sequen- zen stressreicher Ereignisse, wie beispielsweise das Ende einer Beziehung, (4) Chronische Stres- soren, wie zum Beispiel Langzeitarbeitslosigkeit und (5) entfernte Stressoren, wie ein Trauma. Eine weitere Kategorisierung nimmt Wheaton (1999) vor, indem er Stressoren in (1) plötzliche Traumata, (2) lebensverändernde Ereignisse, (3) daily hassels, (4) non-events und (5) chronische Stressoren einteilt. Des weiteren unterscheidet er Mikrostressoren, also täglich auftretende Prob- leme auf der Ebene des Individuums, von Makrostressoren, die auf der Ebene des sozialen Zusam- menlebens entstehen.
Zusammenfassend stellen Anisman und Matheson (2005) in ihrem Übersichtsartikel detail- liert die Einflussfaktoren der Stressreaktionen dar (Abbildung 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1. Einflussfaktoren auf die Stressreaktion nach Anisman und Matheson (2005)
1.2.1.2 Physiologische Stressreaktion. Um Stressreaktionen und ihre akuten sowie lang- fristigen Konsequenzen auf Körper und Psyche zu verstehen, müssen die biophysiologischen Me- chanismen, die dem Phänomen Stress zugrunde liegen genauer betrachtet werden. Wie in Birbau- mer und Schmidt (2010) dargestellt, lassen sich zwei grundlegende physiologische Stressreaktio- nen unterscheiden. Beide laufen über unterschiedliche Regulationssysteme im menschlichen Körper ab. Sobald eine Person einen für sie relevanten Stressoren wahrnimmt, kommt es zunächst zu einer Aktivierung der der sympathetic adreno-medullary axis (SAM-Achse) durch das sympa- thische Nervensystem (SNS). Dies passiert durch eine Stimulation des Nebennierenmarks, das da- raufhin die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin freisetzt. Durch die unmittelbare Stimulie- rung des Herzschlags, der Atmung und anderer physiologischer Prozesse, die mit dem sympathi- schen Nervensystem verbunden sind, bezeichnet man diese erste Welle der Stressreaktion auch als „fight-or-flight-response“ (Birbaumer & Schmidt, 2010; Torres & Nowson, 2007).
Die zweite Welle der Stressreaktion verläuft zeitlich etwas versetzt über die Hypothalamus- Hypophysen-Nebennierenachse (HHNA). Dabei stimuliert der Hypothalamus durch das corticotro- pin-releasing Hormon (CRH) den Hypophysenvorderlappen, der daraufhin adrenocortikotrope Hormone (ACTH) freisetzt, was im weiteren Verlauf für die Freisetzung von Glucocorticoiden wie Cortisol in der Nebennierenrinde sorgt ( Birbaumer & Schmidt, 2010; Miller & O’Callaghan, 2002; Sapolsky, Romero, & Munck, 2000).
Cortisol ist ein Steroidhormon, das durch Bindung an Rezeptoren im Hippocampus und der Hypophyse die Freisetzung von CRH und ACTH verhindern und somit die Aktivität der HHNA selbst regulieren kann, um Homöostase aufrecht zu erhalten (Johnson, Kamilaris, Chrousos, & Gold, 1992). Man bezeichnet dies als negative Feedback-Schleife (Miller & O’Callaghan, 2002). Die Cortisolausschüttung verläuft nach einem typischen Tagesprofil mit einem starken Anstieg am Morgen und einem kontinuierlichen Absinken über den Tag verteilt. Verschiedene Arten von Stres- soren haben unterschiedliche Effekte auf die Stresssysteme - der Körper scheint auf verschiedene Herausforderungen also adaptiv zu reagieren. So ist das Cortisol Tagesprofil bei längerer körperli- cher Gefahr (zum Beispiel in Kriegssituationen) hoch und flach, bei sozialen Stressoren (wie einer Scheidung) eher hoch und steil zu bestimmten Tageszeiten (Miller et al., 2007).
Die beiden Stressreaktionen interagieren auf mehreren Ebenen miteinander, die in verschie- dene Kategorien von Effekten eingeteilt werden können (Munck, Guyre, & Holbrook, 1984; Sapolsky et al., 2000). So wird beispielsweise das kardiovaskuläre System zunächst durch das SNS aktiviert. Darauffolgend erhöht Cortisol, das Produkt der HHNA, die Rezeptorsensitivität für Ad- renalin und Noradrenalin. Dadurch verlängert es den aktivierenden Effekt der Katecholamine auf den Blutkreislauf, was die Autoren als permissiven Effekt bezeichnen (Sapolsky et al., 2000). So genannte suppressive Effekte sind auf der Ebene des Immunsystems zu beobachten. So hat die erste Welle darauf zunächst eine stimulierende Wirkung, um auf mögliche körperliche Bedrohungen adäquat reagieren zu können. Die zweite Welle der Stressreaktion schwächt die Ak- tivierung des Immunsystems allerdings im weiteren Verlauf ab, um eine langfristige Überaktivität des Immunsystems zu verhindern (Sapolsky et al., 2000). Eine dritte Kategorie von interaktionalen Effekten sind die so genannten stimulierenden Effekte. So aktiviert beispielsweise die erste Stress- reaktion auf der Stoffwechselebene zunächst die Bereitstellung von Glucose durch die Leber. Cor- tisol stimuliert dann seinerseits die Gluconeogenese, also die zusätzliche Herstellung von Glucose. Somit wird sowohl durch die Katecholamine, als auch durch das Cortisol der Blutzuckerspiegel bei Stress hochgehalten, um die Energie zur Stressbewältigung zu Verfügung zu stellen (Munck et al., 1984; Sapolsky et al., 2000). Auch auf der kognitiven Ebene sind Interaktionen der beiden Stressreaktionen zu beobachten. So übt die erste Stresswelle zunächst eine stimulierende Wirkung auf die Aufmerksamkeit und bestimmte Komponenten des Gedächtnisses aus, Cortisol aber blo- ckiert den Abruf des expliziten Gedächtnisses. Allerdings hat Cortisol keinen großen negativen Einfluss auf den Abruf impliziter, prozeduraler Gedächtnisinhalte und erhöht die Speicherungsfä- higkeit emotionaler Informationen. Dies hat die Funktion, gefährliche Situationen auch in Zukunft gut als solche erinnern zu können (Sapolsky et al., 2000). All diese Interaktionen stellen gesunde Reaktionen dar, die dem Organismus einen adäquaten Umgang mit Stresssituationen ermöglichen.
1.2.1.3 Chronischer Stress. Problematische Effekte haben die Reaktionen, wenn sie durch ununterbrochene Aktivierung durch langanhaltende Stressperioden aus der Balance geraten und der Körper nicht mehr in der Lage ist, diesen durch funktionale Regulationsmechanismen entge- genzuwirken.
In ihrer Metaanalyse stellen Miller et al. (2007) zusammen, dass sich zunächst beim Auf- treten lang anhaltenden Stresses eine dauerhafte Aktivierung der HHNA vollzieht; es kommt zu einer Erhöhung der Cortisolausschüttung über lange Zeiträume hinweg. Young, Akana, & Dallman (1990) beobachteten beispielsweise eine herabgesetzte negative Feedbackschleife der HHNA nach chronischer Stressexposition, was mit einer Überproduktion von Glucocorticoiden verbunden war. Durch die erhöhte Konzentration des Hormons werden auf Dauer Körpergewebe zerstört und es kommt zur Dysregulation weiterer biologischer Systeme (McEwen et al., 1995). Die Zeit seit dem Auftreten des Stressors ist zwar negativ mit der HHNA Aktivität assoziiert, traumatische Stresso- ren führen allerdings durch eine Überkompensation zu einer Unteraktivierung der HHNA, wie sich beispielsweise bei stressbasierten psychischen Erkrankungen wie der posttraumatischen Belas- tungsstörung (PTBS) beobachten lässt (Miller et al., 2007).
Resultierend aus der Dysregulation der Stresssysteme geht chronischer Stress mit Verän- derungen verschiedener Hirnstrukturen, besonders dem präfrontalen Cortex (PFC), Hippocampus und der Amygdala einher (McEwen, Nasca, & Gray, 2016; McLaughlin, Baran, & Conrad, 2009). PTBS wird beispielsweise mit einer Volumenabnahme des PFC und des Hippocampus assoziiert (Shin, 2006). Auch hat eine dysfunktionale Ausschüttung von Katecholaminen modulierende Ef- fekte auf die Funktionen des PFC (Arnsten, 1997). Diese Beeinträchtigung der Gehirnstrukturen durch dauerhafte Stressbelastung ist problematisch, da sowohl der PFC (Ziegler & Herman, 2002) als auch der Hippocampus (McEwen, 1991) wiederum eine zentrale Rolle in der Regulation der Stressreaktion spielt- etwa bei der funktionalen Regulation der HHNA. Eine Untersuchung von Gordis, Granger, Susman und Trickett (2008) zeigte, dass bei Kindern zwischen 9 und 14 Jahren mit Missbrauchserfahrungen ein geringer Zusammenhang zwischen der Stärke der Cortisolreaktion und der Stärke der Reaktion der Alpha-Amylase im Speichel (sAA, Marker der Stressreaktion des SNS) während einer Stresssituation gefunden wurde, die Stärke der beiden Reaktionen in der Kon- trollgruppe allerdings miteinander korrespondierten. Das bedeutet, dass langanhaltende stressrei- che Ereignisse zu einer Asymmetrie zwischen der SNS und der HHNA führen können. Das kör- perinterne Regulationssystem scheint also durch langanhaltenden Stress starken Veränderungen zu unterliegen.
Die Konsequenzen dieses dauerhaften Ungleichgewichts durch die HHNA Aktivierung sind weitreichend- sowohl für die Psyche als auch für den Körper. Chronischer Stress führt bei- spielsweise zu einer höheren Erkrankungswahrscheinlichkeit für psychische Krankheiten, chroni- sche körperliche Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes, Defiziten des Immunsystems, Übergewicht, vermindertem Wachstum bei Kindern und verzögertem Errei- chen sexueller Reife (Chrousos, 1992; Leserman et al., 1998; Miller et al., 2007).
1.2.2 Das Enzym Alpha-Amylase. Das Enzym Alpha-Amylase befindet sich im Speichel, ist dort für die Verdauung von Kohlenhydraten verantwortlich (Baum, 1993) und schützt die Mund- schleimhaut vor Bakterien (Scannapieco, Torres, & Levine, 1993). Produziert wird die sAA in den Azinuszellen, die durch das SNS von beta-adrenergen Rezeptoren aktiviert werden (Baum, 1987; Castle & Castle, 1998).
Die sAA Ausschüttung wird von beiden Zweigen des autonomen Nervensystems beein- flusst. In einem Experiment mit Ratten führte die Stimulation des SNS zu niedriger Speichelpro- duktion mit einhergehender hoher sAA Konzentration, während die Stimulierung des parasympathischen Nervensystems (PNS) in einer hohen Speichelproduktion mit dazu relativ nied- riger sAA Sekretion resultierte (Anderson et al., 1984). Allgemein wird das Enzym als wichtiger Marker für die Aktivität des SNS angesehen (Chatterton, Vogelsong, Lu, Ellman, & Hudgens, 1996; Van Stegeren, Rohleder, Everaerd, & Wolf, 2006). Beispielsweise führt körperliche Bewe- gung, durch die das SNS aktiviert wird, zu einem Anstieg der sAA (Gilman, Thornton, Miller, & Biersner, 1979; Ljungberg, Ericson, Ekblom, & Birkhed, 1997; Walsh, 1999). Allerdings zeigte sich in Untersuchungen, dass moderate physische Aktivitäten keinen hohen Anstieg der sAA Kon- zentration zur Konsequenz hatten (Nater, Rohleder, Schlotz, Ehlert, & Kirschbaum, 2007). Die Konzentration der sAA ist signifikant mit dem Noradrenalinspiegel im Blut korreliert (Chatterton et al., 1996; Rohleder, Nater, Wolf, Ehlert, & Kirschbaum, 2004; Thoma, Kirschbaum, Wolf, & Rohleder, 2012). Auch konnte gezeigt werden, dass die Einnahme von spezifischen oder unspezi- fischen Betablockern, die die Wirkung von Adrenalin und Noradrenalin herabsetzen, eine redu- zierte sAA Ausschüttung verursachte (Nederfors, Ericsson, Twetman, & Dahlof, 1994; Nederfors & Dahlöf, 1996.; Van Stegeren et al., 2006). Dies zeigt, dass die Messung der Aktivität des SNS über die sAA im Speichel erfolgen kann, was in der Forschungspraxis wesentlich leichter umzu- setzen ist als Messungen von Blutwerten. Es lassen sich zudem keine Zusammenhänge zwischen den Tagesprofilen von Cortisol als Marker für die HHNA und sAA als Marker für die SNS finden; vielmehr verlaufen sie genau entgegengesetzt (Chatterton et al., 1996; Granger et al., 2006; Nater et al., 2007). Dies spricht dafür, dass durch die beiden Parameter tatsächlich unterschiedliche Sys- teme der Stressreaktion gemessen werden können.
1.2.2.1 Tagesprofile . Um sAA Konzentrationen sinnvoll interpretieren zu können, muss man sie zunächst relativ zu ihren typisch verlaufenden Tagesprofilen betrachten. Viele Studien (Nater et al., 2007; Nater et al., 2006; Rohleder et al., 2004) fanden einen starken Abfall der sAA Konzentration nach dem Aufwachen, gefolgt von einem konstanten, aber weniger starken Anstieg über den Rest des Tages. In einem Übersichtsartikel stellen Nater et al. (2007) eine Zusammenfas- sung möglicher Determinanten der sAA Konzentration dar. Dabei wurde herausgestellt, dass das sAA Tagesprofil nicht vom Geschlecht, Zigarettenkonsum und Nahrungsaufnahme beeinflusst war. Der Anstieg von sAA über den Tag war bei Männern etwas geringer. Dieser Effekt war abhängig vom Alter der Teilnehmenden, wobei der Anstieg bei höherem Alter geringer war. Das Absinken der sAA Konzentration am Morgen war unabhängig von Alter und Geschlecht (Nater et al., 2007).
Andere Studien fanden keine Altersunterschiede bezüglich der Tagesprofile (Ben-Aryeh et al., 1986).
1.2.2.2. Alpha-Amylase und Stress. Viele Studien berichten, dass die sAA-Konzentration mit dem Auftreten physiologischen oder psychologischen Stresses steigt (Bosch et al., 1996; Chat- terton et al., 1996; Takai et al., 2004; Nater et al., 2007; Kang, 2010; Thoma et al., 2012). Nach einer akuten Stresssituation dauert es ungefähr 15 Minuten, bis das Level der sAA Baseline wieder erreicht ist (Rohleder et al., 2004).
Die Befundlage zu den Effekten chronischen Stresses auf sAA ist weniger eindeutig. In einer der wenigen Studien, die den Einfluss von chronischem Stress auf sAA Konzentrationen un- tersuchte, wurden Piloten der japanischen Luftwaffe während ihrer Kampfeinsätze untersucht (Ii- zuka, Awano & Ansai, 2012). Bei ihnen zeigten sich vor den Flugeinsätzen hohe sAA Werte im Vergleich zur Baseline im Einklang mit den Werten der State-Trait-Anxiety Inventory in der Kurz- version (STAI-S); an Ruhetagen zeigten sich allerdings große individuelle Unterschiede zwischen der sAA im Vergleich zu den STAI-S Werten auf. In einer anderen Studie wurden sAA Tagespro- file bei Kindern mit Asthma und gesunden Kindern verglichen (Wolf, Nicholls, & Chen, 2008). Es konnte festgestellt werden, dass Kinder mit Asthma, die chronischem Stress ausgesetzt waren, eine niedrigere sAA Ausschüttung aufwiesen. Außerdem fanden die Autoren heraus, dass sich bei Kin- der mit Asthma, deren Eltern ein niedrigeres Bildungsniveau aufwiesen, über den Tag verteilt ein geringeres sAA Level nachweisen ließ. Gesunde Kinder, die chronischem Stress ausgesetzt waren, oder deren Eltern ein niedrigeres Bildungsniveau aufwiesen, zeigten keine Unterschiede im sAA Output im Vergleich zu nicht gestressten Kindern oder Kindern, deren Eltern hohe Bildungsab- schlüsse angaben. Die Unterschiede lassen sich laut der Autoren durch veränderte Aktivität des SNS durch die Asthmaerkrankung erklären. Die Studie zeigt, dass sAA Ausschüttung abhängig von chronischen psychologischen Stressoren ist, dieser Effekt allerdings abhängig von der Funk- tion des SNS zu sein scheint (Wolf et al., 2008). Mielock, Morris, & Rao (2017) untersuchten stressbedingte sAA Veränderungen bei Frauen mit Gewalterfahrungen in der Vergangenheit. Diese zeigten in einem Stresstest weder vorher noch während des Tests einen signifikanten Anstieg der sAA Ausschüttung, wobei bei Frauen ohne Gewalterfahrungen vor dem Test ein Absinken und während des Tests ein Steigen der sAA Konzentration zu beobachten war. Die Autoren erklären die Ergebnisse durch eine traumabedingte Dysregulation der SAM-Achse oder der Dysregulation des Zusammenspiels des SNS und der HHNA. Bei Frauen mit vergangener Gewalterfahrung stieg in Erwartung an den Test der Cortisolspiegel höher an als bei Frauen ohne Gewalterfahrungen. Die Autoren schlussfolgern, dass die niedrige sAA Aktivität durch die Suppression der SAM-Achsen- Reaktion durch Cortisol zustande kam.
In einer Studie, in der Wettkampfstänzer*innen als chronisch gestresste Gruppe definiert wurden, konnten keine Unterschiede der sAA Level zu der Kontrollgruppe gefunden werden. Al- leine junge männliche Tänzer wiesen ein flacheres sAA Tagesprofil auf, was allerdings auch auf ältere Männer der Kontrollgruppe zutraf (Strahler, Berndt, Kirschbaum, & Rohleder, 2010).
Wiederholte tägliche Stressoren scheinen die Reaktivität der sAA zu erhöhen. So unter- suchten Vigil, Geary, Granger und Flinn (2010) Personen, die ihre Häuser nach dem Hurricane Katrina verloren hatten. Diese Personen zeigten eine höhere Stressreaktivität der sAA als die Kon- trollgruppe.
Die Werte des Stressmarkers spiegeln teilweise subjektives Stressempfinden wider. Eine signifikante Korrelation zwischen sAA und Maßen subjektiven Stressempfindens und der Kon- zentration von sAA konnte zum Beispiel für das STAI-S von Spielberger, Gorsuch, & Lushene (1970) nachgewiesen werden (Iizuka et al., 2012; Noto, Sato, Kudo, Kurata, & Hirota, 2005; Takai et al., 2004). Selbiges gilt für ein subjektives Maß chronischen Stresses, der Chronic Stress Scree- ning Scale, die dem Trierer Inventar zum chronischen Stress (Schulz, Schlotz, & Becker, 2004) entnommen wurde (Nater et al., 2007). Hier gingen höhere Werte in der Skala mit höheren Werten der sAA einher. Für ein weiteres subjektives Stressmaß, der Perceived Stress Scale (PSS, Cohen, Kamarck, & Mermelstein, 1983, 2014) und dem sAA Tagesprofil konnten keine Zusammenhänge gefunden werden (Nater et al., 2007). Allerdings zeigten Personen mit höheren Werten des PSS in einer Studie eine flachere Aufwachreaktion der sAA (Katz, Greenberg, Jennings, & Klein, 2016).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass akuter Stress eindeutig stimulierende Wirkung auf die sAA hat (Bosch et al., 1996; Chatterton et al., 1996; Takai et al., 2004; Nater et al., 2007; Kang, 2010; Thoma et al., 2012), Effekte langanhaltenden Stresses allerdings nicht eindeutig geklärt sind. Sie scheinen individuellen Unterschieden zu unterliegen (Iizuka et al., 2012) und abhängig von krankheitsbedingten Veränderungen des SNS und soziodemographischen Variablen zu sein (Wolf et al., 2008). Tendenziell trägt chronischer Stress zu einer erhöhten sAA Aktivität bei (Nater et al., 2007; Vigil et al., 2010), traumatische Erlebnissen scheinen allerdings eher zu abgeschwächteren sAA Reaktionen zu führen (Mielock et al., 2017).
1.2.3 Das Arbeitsgedächtnis. Das Konzept des Arbeitsgedächtnisses wurde von Baddeley & Hitch (1974) eingeführt, um das von Atkinson und Shiffrin (1968) entwickelte Modell des Kur- zeitgedächtnisses um die Komponente des Zusammenhangs zwischen dem Kurz- und Langzeitge- dächtnis zu erweitern (Baddeley, 2000). Die Funktion des Arbeitsgedächtnisses umfasst nicht nur die kurzfristige Speicherung, sondern auch die Verarbeitung von Informationen. Es beinhaltet bei- spielsweise Prozesse wie Lernen, Promblemlösen oder Schlussfolgern (Baddeley, 2003; Repovs & Baddeley, 2006). Daher wird es den exekutiven Funktionen zugeordnet, welche definiert werden als „kognitive Leistungen, die die Koordination, Steuerung und Kontrolle untergeordneter Denk- prozesse ermöglichen“ (Seiferth et al., 2007). Arbeitsgedächtnisleistung wird im Zusammenhang mit verschiedenen höheren kognitiven Funktionen gesehen (Oberauer et al., 2007).
Konkret speichert das Arbeitsgedächtnis für kurze Zeit Informationen aus dem sensori- schen Gedächtnis und verarbeitet diese, indem es sie mit schon gespeicherten Informationen aus dem Langzeitgedächtnis und den Motivationssystemen abgleicht. Dadurch wird entschieden, wel- che Informationen ins Langzeitgedächtnis übernommen, zur Handlungsvorbereitung verwendet oder verworfen werden. Es erfüllt also wichtige exekutive Funktionen (Repovs & Baddeley, 2006).
1.2.3.1 Das Mehrkomponentenmodell des Arbeitsgedächtnisses. Nach Baddeley & Hitch, (1974) wird das Arbeitsgedächtnis in vier verschiedene Komponenten aufgeteilt.
Die erste wird als phonologische Schleife bezeichnet und verarbeitet und speichert auditive Informationen für einige Sekunden. Dort sind zwei Funktionen zu unterscheiden: das Speichersys- tem und das System für artikulatorische Wiederholungen der Information (Baddeley, 2003). Dies ermöglicht es uns, Sprache zu verstehen und zu produzieren. Zur Messung der Speicherkapazität der phonologischen Schleife wird beispielsweise getestet, wie viel sequentielle Information (z.B. eine Reihe von Zahlen) direkt nach deren Präsentation wiedergegeben werden kann.
Das zweite Subsystem – der räumlich-visuelle Notizblock – kann ungefähr drei Reize kurz- fristig speichern und verarbeiten. Laut O’Regan (1992) lässt sich die vergleichsweise geringe Ka- pazität dieser Komponente dadurch erklären, dass visuell-räumliche Reize in der Umwelt, im Ge- gensatz zu auditiven Reizen, häufig stabil sind und daher nicht zwangsläufig gespeichert werden müssen, um die Information erfolgreich zu verarbeiten (Baddeley, 2003).
Die zentrale Exekutive ist die Kontrollinstanz des Arbeitsgedächtnisses. Sie kann die Auf- merksamkeit je nach Relevanz der Information fokussieren, zwischen konkurrierenden Aufgaben aufteilen und hin und her wechseln, hat an sich aber keine eigene Speicherkapazität (Repovs & Baddeley, 2006). Zwischen der Aufmerksamkeitsspanne und der Arbeitsgedächtnisleistung ließen sich starke Zusammenhänge finden (Kreitz, Furley, Memmert, & Simons, 2015).
Eine weitere, später hinzugefügte Komponente stellt der episodische Puffer dar. Dieser in- tegriert Informationen aus den oben genannten Subsystemen und verbindet sie mit Inhalten aus dem Langzeitgedächtnis zu kohärenten komplexeren Strukturen, die das Verstehen und Schluss- folgern ermöglichen (Repovs & Baddeley, 2006). Er wird dabei von der zentralen Exekutive kon- trolliert und ist der bewussten Wahrnehmung zugänglich (Baddeley, 2000).
1.2.3.2 Physiologische Betrachtung des Arbeitsgedächtnisses. Zunächst wurde die Loka- lisation des Arbeitsgedächtnisses durch Läsionsstudien mit Primaten (Petrides, 1995) oder Men- schen (Tsuchida & Fellows, 2008, Levy & Goldman-Rakic, 1999; Thompson-Schill et al., 2002) erforscht. Auch elektrophysiologische Messungen und funktionale Magnetresonanztomographie (D’Esposito & Postle, 2015; Minamoto, Tsubomi, & Osaka, 2017) brachten weitere Erkenntnisse. Baddeley (2000, 2003) betont, dass das Mehrkomponentenmodell konzeptionell entwickelt wurde und ihm keine eindeutig bestimmbaren neuroanatomischen Korrelate im Gehirn zuzuordnen seien. Einen differenzierteren Einblick bietet die Metaanalyse von Wager & Smith (2003). Die Autoren fassen zusammen, dass je nach Reiz (räumlich, verbal, nicht-räumliches Objekt) verschiedene Re- gionen im Gehirn aktiviert werden. Allgemein wird das Arbeitsgedächtnis anatomisch dem PFC zugeordnet (Birbaumer & Schmidt, 2010; Seiferth et al., 2007). Petrides (2005) teilt verschiedene Regionen des Cortexes nach unterschiedlichen kognitiven Funktionen auf. So schreibt er dem mitt- lerem dorsolateralem PFC die Organisation und Manipulation von Arbeitsgedächtnisinhalten zu, während dem mittleren ventrolateralen PFC die Funktion des Speicherns der Informationen zufällt.
1.2.3.3 Arbeitsgedächtniskapazität. Klassische Theorien verstehen die Kapazität des Ar- beitsgedächtnisses als eine feste Anzahl von freien „Plätzen“, in denen Inhalte gespeichert werden können. Miller (1956) beispielsweise ging von der „magischen Zahl sieben“ aus, Cowan (2010) von einer Arbeitsgedächtniskapazität von drei bis fünf Items. Ressourcenorientierte Theorien lö- sen sich von diesem Konzept und konstatieren eine flexiblere Verteilung von Gedächtniskapazitä- ten, wobei nicht nur die Quantität der gespeicherten Inhalte eine Rolle spielt, sondern auch ihre Qualität (Huang, 2010; Wilken & Ma, 2004). Sowohl die Menge als auch die Präzision der Spei- cherung von Inhalten ist abhängig von der Salienz der Stimuli (Bays, Gorgoraptis, Wee, Marshall, & Husain, 2011) und der bewussten Aufmerksamkeitssteuerung (Gorgoraptis, Catalao, Bays, & Husain, 2011).
1.2.3.4 N-Back Test als Maß der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses . Das n-back Para- digma ist ein Maß des Arbeitsgedächtnisses und geht auf Kirchner (1958) zurück. Während Stimuli (beispielsweise Zahlen, Buchstaben, Figuren, …) hintereinander präsentiert werden, müssen die Proband*innen bei jedem Reiz entscheiden, ob er dem n Schritte vorhergegangenen Reiz entspricht oder nicht. Ein höheres n bedeutet daher eine erhöhte Schwierigkeit der Aufgabe. Zur Messung der Arbeitsgedächtniskapazität werden meist 2-back oder 3-back Bedingungen herangezogen (Schmiedek, Lövdén, & Lindenberger, 2014).
Da die gespeicherte Datenreihe ständig aktualisiert und neu gespeichert werden muss, be- ansprucht die Aufgabe exekutive Funktionen (Fletcher & Henson, 2001). Braver et al. (1997) zeig- ten mit bildgebenden Verfahren, dass das Bearbeiten der n-back Aufgabe zur Aktivierung des PFC, genauer dem dorsolateralen Fronalcortex, dem ventrolateralen Frontalcortex sowie dem parietalen Cortex, führt. Laut einer klinischen Studie führen Läsionen des PFC zu schlechteren Leistungen in einem n-back Paradigma. Betroffen sind sowohl die Erinnerungsleistung als auch die Aufmerk- samkeitssteuerung, da beispielsweise Läsionen im linken lateralen PFC mit einer schlechteren All- gemeinleistung und Läsionen im medialen PFC mit einer hohen Rate an falsch positiven Antworten einhergehen (Tsuchida & Fellows, 2008).
Mehrere Autoren beleuchten die Frage der Validität des n-back Tests als Maß des Arbeits- gedächtnisses kritisch. Jaeggi, Buschkuehl, Perrig, & Meier (2010) fassen zusammen, dass sich die n-back Aufgabe aufgrund ihrer niedrigen Reliabilität nicht gut als Maß individueller Unterschiede des Arbeitsgedächtnisses, durch die einfache Manipulierbarkeit der Schwierigkeitsgrade jedoch sehr gut für experimentelle Studien eignet. Auch gehen sie von einer guten Vorhersagekraft der n- back Aufgabe für individuelle Unterschiede in der fluiden Intelligenz und anderen höhere kognitive Funktionen aus. Die Metaanalyse von Redick & Lindsey (2013) ergab eine moderate durchschnitt- liche Korrelation von r = .20 zwischen n-back Aufgabe und anderen Aufgaben für komplexe Ge- dächtnisspannen (complex span); eine Studie berichtet allerdings auch eine wesentlich höhere Kor- relation von r = .69 (Schmiedek et al., 2014). Eine weitere Studie fand jedoch niedrige Zusammen- hänge zwischen dem n-back Test und einer anderen Gedächtnisspannen-Aufgabe (Kane, Conway, Miura, & Colflesh, 2007). Die Autoren schreiben ihm daher eine niedrige konvergente Validität zu und betonen außerdem, dass die untersuchten Aufgaben unabhängig voneinander die Varianzen der fluiden Intelligenz aufklärten. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses kann unter anderem durch (duale) n-back Aufgaben trainiert werden (Jones, Katz, Buschkuehl, Jaeggi, & Shah, 2018; Lilienthal, Tamez, Shelton, Myerson, & Hale, 2013).
1.2.5 Stress und Arbeitsgedächtnis. Um die Effekt von Stress auf das Arbeitsgedächtnis differenziert betrachten zu können, muss zwischen Einflüssen akuten und langanhaltenden Stresses unterschieden werden. Allgemein ist zu sagen, dass chronischer Stress zu einer Veränderung von Gehirnstrukturen führt, die mit dem Arbeitsgedächtnis in Verbindung gesetzt werden. So kommt es beispielsweise zu einer Volumenabnahme im PFC und im Hippocampus (McLaughlin et al., 2009; McEwen et al., 2016). Adrenalin und Noradrenalin als Produkte der ersten Stressreaktion können die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren, wohl aber indirekt durch den Vagusnerv verschie- dene Regionen im Gehirn, wie die Amygdala, aktivieren. Diese Aktivierung scheint wiederum di- rekt mit der Arbeitsgedächtnisleistung zusammenzuhängen (Roozendaal, Okuda, de Quervain, & McGaugh, 2006). Das Hormon Cortisol seinerseits kann durch die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn gelangen und dort direkt, durch Bindung an Glucocorticoid- und Mineralocorticoid-Rezeptoren die Arbeitsgedächtnisleistung beeinflussen. Auch lässt sich eine Interaktion zwischen Noradrenalin und Cortisol im PFC feststellen: wenn die Wirkung von Adrenalin durch Antagonisten geblockt wird, kommt es nicht zu einer cortisolbedingten Abnahme der Arbeitsgedächtniskapazität (Roo- zendaal et al., 2006). Beide physiologischen Stressreaktionen haben also ihrerseits und auch in der Interaktion miteinander einen negativen Effekt auf das Arbeitsgedächtnis.
Studien, die Auswirkungen akuten Stresses auf die Leistung des Arbeitsgedächtnisses un- tersuchten, zeigten, dass Personen, die vor dem Experiment stressinduzierende Instruktionen er- halten hatten, schlechter in verschiedenen Tests abschnitten, als Teilnehmende ohne vorangegan- gene Stressinduktion (Leininger & Skeel, 2012; Luethi, Meier, & Sandi, 2009). Porcelli et al. (2008) fanden heraus, dass Personen unter akutem Stress in einer herausfordernden Arbeitsge- dächtnisaufgabe schlechter abschnitten; bei leichten Aufgaben hingegen war kein großer Effekt zu finden. Personen, die Wortlisten nach einer Stressexposition lernen sollten, merkten sich signifi- kant weniger Wörter als die Personen in der Kontrollgruppe (Porcelli et al., 2008). Auch in einem n-back Paradigma fanden sich signifikant schlechtere Leistungen einhergehend mit erhöhten Wer- ten des Cortisols und der sAA bei Personen, bei denen zuvor sozialer Stress induziert wurde. Hier hatte zwar die Schwierigkeit der Aufgabe (2-back oder 3-back Bedingung) keinen Einfluss auf den Effekt, wohl aber der zeitliche Faktor. Langsamere Reaktionszeiten und reduzierte Anzahl richtiger Antworten ließen sich nur jeweils in den ersten n-back Durchgängen finden (Schoofs, Preuß, & Wolf, 2008). Qin, Hermans, van Marle, Luo, & Fernández (2009) bringen die reduzierte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses in akuten Stresssituationen in einem n-back Paradigma mit einer herab- gesetzten Aktivität im PFC in Verbindung. Außerdem kommt es durch Stresssituationen ebenfalls im Hippocampus zu Funktionsbeeinträchtigungen (Diamond, Fleshner, Ingersoll, & Rose, 1996).
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- Quote paper
- Lea Kern (Author), 2018, Auswirkungen von Stress auf das Arbeitsgedächtnis, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/502578
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