Möglichkeiten und Formen politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD


Masterarbeit, 2016

216 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Untersuchungsziele und inhaltlicher Aufbau
1.3 Forschungsstand

2. Methodisches Vorgehen
2.1 Das leitfadengestützte Experteninterview als qualitative Erhebungsmethode
2.2 Auswahl der Interviewpartner und Realisierung der Experteninterviews
2.3 Auswertung der Experteninterviews durch die qualitative Inhaltsanalyse
2.4 Grenzen des methodischen Vorgehens

3. Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
3.1 Politische Führung als komplexes sozialwissenschaftliches Phänomen
3.1.1 Definition, Zugänge und Funktionen politischer Führung
3.1.2 Die hohe Kontextabhängigkeit politischer Führung
3.2 Der interaktionistische Ansatz politischer Führung
3.2.1 Interdisziplinäre gegenstandsbezogene Weiterentwicklung des interaktionistischen Ansatzes
3.2.2 Parteienorganisationsforschung: Parteiinterne Organisationsstruktur als institutioneller Rahmen
3.2.3 Sozialpsychologie: Die Rolle der Gefolgschaft und die Adressaten innerparteilicher Führung
3.2.4 Soziologie: Handlungstheoretischer Ansatz zur Erklärung der Interdependenz von Handeln und Struktur
3.2.5 Persönlichkeitsmerkmale von Parteivorsitzenden in Parteien aus interdisziplinärer Perspektive
3.3 Analysezugang: Integration der theoretischen Vorüberlegungen
3.3.1 Entwicklung eines gegenstandsbezogenen interaktionistischen Ansatzes zur Analyse politischer Führung
3.3.2 Interaktionistisches Variablenmodell politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD

4. Einflussfaktoren politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD: Ergebnisse der empirischen Untersuchung
4.1 Strukturelle Ressourcen und Restriktionen
4.1.1 Geschichte, Tradition, Werte und Programmatik der SPD
4.1.2 Gesellschaftlicher Wandel und veränderte Rahmenbedingungen
4.1.3 Mediengesellschaft und veränderte Medienlogik
4.1.4 Personalisierung
4.1.5 Innerparteiliche Alternativen und Rivalen
4.1.6 Verhältnis zwischen Kanzlerkandidat und Parteivorsitzenden
4.2 Institutionelle Ressourcen und Restriktionen
4.2.1 Parteiorganisation der SPD: Formale und informelle Institutionen
4.2.2 Das Willy-Brandt-Haus als Organisation in der Organisation
4.2.3 Die Parteiflügel und Strömungen in der SPD
4.3 Personenzentrierte Ressourcen und Restriktionen
4.3.1 Strategische Führung: Strategiebildung, Richtungsbestimmung und Strategisches Zentrum
4.3.2 Fähigkeit zur Entwicklung politischer Diskurse
4.3.3 Politische Erfahrung
4.3.4 Aufbau von persönlichem Vertrauen, Loyalitäten und Netzwerken
4.3.5 Glaubwürdigkeit
4.3.6 Kommunikation nach innen und außen: Die Ebenen der Politikherstellung und Politikdarstellung
4.3.7 Charisma
4.3.8 Erfolge
4.3.9 Weitere personenzentrierte Merkmale und Eigenschaften

5. Schlussbetrachtung
5.1 Resümee der empirischen Untersuchung
5.2 Ausblick auf mögliche Untersuchungsfelder der Führungsforschung

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Anhang
Leitfaden Experteninterviews
Transkriptionssystem: Regeln
Transkription Experteninterview Sts1
Transkription Experteninterview Ptv1
Transkription Experteninterview Ptv2
Transkription Experteninterview Sts2
Transkription Experteninterview Ptv3
Kodiersystem: Liste der Kategorien und Anzahl der Kodierungen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Interaktionistisches Variablenmodell politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD (S.39)

Abbildung 2: Kategorienerstellung (S. 40)

1. Einleitung

Während neuzeitliche Vertreter der Philosophie wie beispielsweise Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Auguste Comte und Karl Marx lange Zeit überzeugt davon waren, dass politische Führer lediglich austauschbare Symbole historischer Trends und keine treibenden Kräfte der Geschichte seien (vgl. Blondel 1987: 47), legen empirische Befunde eine gegenteilige Schlussfolgerung nahe: „Leadership matters“ (Cronin/Genovese 2016; Glaab 2007: 326).

Politische Führung1 ist ein außerordentlich komplexes Phänomen – selbst für sozialwissenschaftliche Verhältnisse (vgl. Fliegauf, Kießling et al. 2008: 400). Angesichts ebendieser Komplexität sowie der hinzukommenden Fragmentierung des Forschungsfeldes fehlen bisher allgemeingültige und verbindliche Definitionen sowie theoretisch fundierte Thesen über das Zusammenspiel der einzelnen relevanten Faktoren und Elemente, die politische Führung begründen (vgl. Glaab 2007: 306). Ungeachtet dessen wird der Begriff der politischen Führung in der politischen Alltagspublizistik gern gebraucht, jedoch nur selten präzise verwendet (vgl. Walter 1997: 1287). Er bietet eine probate Möglichkeit, Politik zu personalisieren. So werden Parteikrisen medial zu Führungskrisen stilisiert und in Kommentaren mit Vorliebe von der „Führungsschwäche“ des einen Akteurs und der „Führungsstärke“ des anderen geschrieben. Persönlichkeitsbilder und Charakterfragen unterhalten das mediale Publikum besser als komplexe parteiorganisatorische Analysen (vgl. Walter 2009: 378). Gleichzeitig, so scheint es, haben sowohl die Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft als auch die Bildungsexpansion die Attraktivität und Wirkungsmacht der politischen Parteien verringert, das Selbstbewusstsein der Geführten in die eigenen Kompetenzen angeregt und dadurch die Strategiefähigkeit von Führungsakteuren untergraben. Die immer komplexer werdende Mediengesellschaft zeigt zudem zunehmend weniger Geduld gegenüber politisch Führenden, indem sie immer engere Zeitrahmen zur Lösung zuvor formulierter Probleme vorgibt. Durch die Dauerdurchleuchtung einer kritischen, und „sich selbst immer kompetenter wähnenden Öffentlichkeit“ (Micus 2010: 10) schwindet zunehmend das Vertrauen der Bürger in die politischen Institutionen, was ein Bewahren der Handlungsfähigkeit der Führenden immer mehr erschwert (vgl. Micus 2010: 10).

In der politikwissenschaftlichen Forschung wurde der Faktor „Führung“ lange Zeit vernachlässigt oder gänzlich ignoriert. Dies lag hierzulande nicht nur an der Stigmatisierung des Begriffes durch die Nationalsozialisten, sondern auch an der Fixierung der Politikwissenschaftler auf gesellschaftliche Prozesse, Systemzusammenhänge und Strukturen (vgl. Walter 1997: 1289). Insbesondere das Themengebiet „Führung in Parteien“ ist in der deutschsprachigen Literatur sehr wenig erforscht. Aufgrund der Heterogenität, Fragmentierung sowie der Repräsentativitätsanforderungen sind die Hürden für eine effiziente Parteiführung, welche die unterschiedlichen regionalen sowie funktionalen Gruppierungen zu repräsentieren vermag, hoch (vgl. Jun 2010a: 25 f.). Dies gilt vor allem für die SPD. Einer der im Rahmen dieser Arbeit befragten Experten bringt dies mit folgenden Worten zum Ausdruck: „[D]ie SPD gehört ja, wenn man Parteien vergleicht, zu den komplizierteren. Das wird sich auch nie ändern. Wir sind eine ausgesprochen skrupulöse Partei“ (Ptv3: Abs. 23).

1.1 Fragestellung

In diesem Zusammenhang steht politische Führung von Parteivorsitzenden in der SPD im Zentrum des Untersuchungsinteresses der vorliegenden Arbeit. Zu deren prägenden Faktoren gehören unterschiedliche Variablen, welche personenzentrierte Faktoren ebenso einschließen, wie auch strukturelle Umwelt- und institutionelle Rahmenbedingungen, innerhalb derer der jeweilige Parteivorsitzende handeln kann. Der Parteivorsitzende steht nicht nur aufgrund seiner exponierten Stellung in der Parteiorganisation im Zentrum dieser Untersuchung, sondern auch weil über die konkrete Führung von Parteivorsitzenden in der wissenschaftlichen Forschung nur wenig bekannt ist (vgl. Micus 2010: 23). Mit Hilfe eines gegenstandsbezogenen interaktionistischen Ansatzes soll untersucht werden, welche Möglichkeiten und Formen politischer Führung für einen Parteivorsitzenden in der SPD bestehen. Insofern stellen sich im Rahmen dieser Arbeit zwei zentrale zu beantwortende Fragen:

Welche institutionellen, strukturellen und personenzentrierten Ressourcen und Restriktionen beeinflussen die politische Führung der Parteivorsitzenden in der Parteiorganisation der SPD?

Welche Formen und Möglichkeiten politischer Führung ergeben sich für Parteivorsitzende in der SPD?

Die Frage nach den Formen und Möglichkeiten politischer Führung ergibt sich aus der Frage nach ihren Ressourcen und Restriktionen, sodass die zweite Frage auf der ersten aufbaut. Der Untersuchungszeitraum wurde grob auf die Zeit nach 1990 festgesetzt. Wie in Unterabschnitt 4.1.1 aufzuzeigen sein wird, bedeute das Jahr 1990 mit dem Wegfall des Kalten Kriegs und der Bipolarität zwischen Kapitalismus und Sozialismus sowie Demokratie und Autoritarismus nicht nur eine weltpolitische Zäsur, sondern auch veränderte gesellschaftliche Rahmendbedingungen und damit veränderte Anforderungen an politische Führung in den Parteien und vor allem in der SPD. Nachdem Hans-Jochen Vogel nach der Wahlniederlage 1990 nicht erneut für den Parteivorsitz kandidierte, geriet die SPD in eine lang andauernde Führungskrise, die nach Gerhard Schröders Aufgabe des Parteivorsitzes im Februar 2004 ihren zwischenzeitlichen Höhepunkt erreichte. Die grobe zeitliche Eingrenzung erfolgt auch insofern, als politische Führung zeitgebunden und kontextabhängig ist und etwaige Erkenntnisse sich kaum auf jede zeitliche Periode verallgemeinern lassen. Oder um es mit den Worten Barbara Kellermanns zu formulieren: „There is no leadership for all seasons“ (Kellermann 1986: 349 ff.).

1.2 Untersuchungsziele und inhaltlicher Aufbau

Die zu beantwortenden Forschungsfragen impliziert die Beantwortung einer Reihe konkretisierender Leitfragen, welche den analytischen Teil dieser Arbeit sowie die leitfadengestützten Experteninterviews strukturieren und sukzessive ein Gesamtbild der Formen und Möglichkeiten politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD ergeben:

1. Wie lässt sich die Organisationsstruktur der SPD analytisch fassen? Welche formalen sowie informellen Institutionen lassen sich in der Parteiorganisation der SPD ausmachen? Wie wirken sich diese Institutionen auf die Führung des Parteivorsitzenden aus?
2. Welche strukturellen Rahmenbedingungen prägen die Führung des Parteivorsitzenden? Welche dieser strukturellen Faktoren erweisen sich als Ressourcen, welche als Restriktionen der politischen Führung des Parteivorsitzenden?
3. Welche grundsätzlichen personenzentrierten Fähigkeiten und Eigenschaften benötigt ein Parteivorsitzender, um seine Rolle erfolgreich auszuüben? Welche personale Eigenschaft ist Ressource, welche Restriktion der Führungsleistung des Parteivorsitzenden? Welche personenenzentrierten Merkmale beeinflussen auf welche Weise die Führung des Parteivorsitzenden in der SPD?

In der Arbeit soll erörtert werden, welche Variablen aus interaktionistischer Sicht eine Rolle spielen, um die Komplexität der Interaktionsprozesse zu erfassen. Fünf Aspekte sind für diese Arbeit von besonderer Bedeutung:

- Erstens verfolgt diese Arbeit mit Hilfe qualitativer leitfadengestützter Experteninterviews einen empirischen Ansatz und stützt sich auf das interaktionistische Modell, welches institutionelle, strukturelle und personenzentrierte Faktoren umfasst und insofern besonders geeignet ist zur Untersuchung politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD. Die normative Komponente politischer Führung liegt explizit nicht im Untersuchungsinteresse dieser Arbeit. Dies ist deswegen ausdrücklich zu betonen, da der Begriff „politische Führung“ im alltagssprachlichen Gebrauch normativ besetzt ist. Vielmehr soll „Führung“ als „soziale Tatsache“ (Fliegauf et al. 2008: 404) verstanden werden, welche im Rahmen dieser Arbeit weder positiv noch negativ bewertet wird.
- Zweitens beschäftigt sich diese Arbeit vor allem mit der prozeduralen Dimension politischer Führung in der Parteiorganisation. Politische Führung wird als offener Prozess verstanden, in dem sich verschiedene Wirkungsfaktoren gegenseitig beeinflussen (vgl. Gast 2010b: 16). Der zunächst abstrakten Feststellung der Interdependenz von Struktur und Individuum soll eine systematische Ausarbeitung der relevanten wirkenden Variablen folgen, welche zueinander in Beziehung gesetzt werden.
- Drittens verfolgt die vorliegende Arbeit bewusst einen interdisziplinären Ansatz. Die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes lässt eine Analyse durch rein politikwissenschaftliche Methoden und Konzepte reduktionistisch erscheinen. Zurecht wurde daher die grundsätzlich geringe interdisziplinäre Anbindung in Beiträgen anderer Autoren beklagt (Peele 2005; Gast 2010a). Durch einen gegenstandsbezogenen Analyseansatz, der eine interdisziplinäre Betrachtung und die Aufnahme der Erkenntnisse anderer Forschungsbereiche ermöglicht, wird das Ziel verfolgt, ein umfassenderes Bild des Phänomens „politische Führung“ zu erhalten. Dieser gegenstandsbezogene Analyseansatz integriert nicht nur die aktuelle politikwissenschaftliche Leadership- und Parteienorganisationsforschung, sondern bedient sich ebenso einiger psychologischer (Eigenschaftstheorie, Charisma-Forschung, Konzept der transformationalen Führung) sowie soziologischer (Handlungstheorie) Ansätze. Die Frage nach den strukturellen, institutionellen und personenzentrierten Ressourcen politischer Führung in Parteien befindet sich folglich in einem Schnittstellenbereich zwischen handlungstheoretischer Parteienorganisationsforschung (vgl. Wiesendahl 2013: 33 ff.) und interaktionistischer Führungsforschung (vgl. Treibel 2014a: 17). Die Parteienforschung repräsentiert ihrerseits selbst ein grundsätzlich interdisziplinäres sozialwissenschaftliches Gebiet, welches im Schnittstellenbereich zwischen Politikwissenschaft und Soziologie anzusiedeln ist (vgl. Wiesendahl 2013: 13). Die verschiedenen Ansätze konkurrieren nicht miteinander, sondern ergänzen sich gegenseitig. Somit lässt sich die Fragestellung aus verschiedenen Blickwinkeln beantworten, wodurch sich grundsätzlich die Chance erhöht, dabei eine theoretische Verengung auf bestimmte Paradigmen vermeiden zu können.
- Viertens wird nicht ein bestimmter Parteivorsitzender untersucht. Auch wird nicht die Führungsleistung der SPD-Parteivorsitzenden im Zeitverlauf behandelt, so wie dies Walter (1997) sowie Oeltzen und Forkmann (2005) bereits umfassend geleistet haben. In der politikwissenschaftlichen Forschung ist generell kein Mangel an Einzeldarstellungen zu Führungspersonen innerhalb der politischen Arena zu konstatieren. Die vorliegende Arbeit ist im Gegenteil grundsätzlicher angelegt und hat zum Ziel, die Vielzahl der Einfluss nehmenden Faktoren zu identifizieren, welche sich auf Parteivorsitzende in der SPD auswirken und auf diese Weise einige allgemeine Hypothesen aufzustellen. Denn gerade die oftmals detaillierten Darstellungen haben meist keine verallgemeinerbaren Thesen oder differenzierten Führungstypologien hervorgebracht. Nichtsdestotrotz werden diese Variablen nicht nur mit Hilfe der empirischen Erkenntnisse identifiziert, sondern auch durchaus anhand der zuvor genannten Darstellungen der SPD-Parteivorsitzenden ab dem Jahr 1990 illustriert.
- Fünftens steht die politische Führung des Parteivorsitzenden im Zentrum des Erkenntnisinteresses und nicht die Gesamtheit aller Akteure der Parteispitze, welche die Parteiführung bilden. Denn welche Akteure der Parteispitze die Parteiführung bilden, müsste für jeden Zeitraum neu definiert werden (vgl. Treibel 2014b: 329) und bedürfe dadurch einer historisierenden Analyse.

Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit liegt in der, durch qualitative Experteninterviews gestützten, Identifikation, Beschreibung und Konkretisierung der strukturellen und institutionellen sowie personenzentrierten Faktoren innerparteilicher Führung von sozialdemokratischen Parteivorsitzenden. Dabei beruht die Arbeit auf einem induktiven Untersuchungsdesign. Die Beantwortung der Fragestellung erfolgt mit Hilfe eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes, welcher handlungstheoretische Konzepte zur Einbeziehung der Parteiorganisation der SPD mit dem interaktionistischen Ansatz politischer Führung kombiniert und dadurch ein probates Erklärungsmodell an der Schnittstelle zur interaktionistischen Führungs- sowie handlungstheoretischen Parteienforschung bildet. Den Experteninterviews wurden mit Hilfe der qualitativen Expertenanalyse zu den Einflussfaktoren politischer Führung Informationen entnommen. Diese strukturieren gemeinsam und im Abgleich mit den theoriegeleiteten Vorannahmen des gegenstandsbezogenen Analyseansatzes, welcher in der Diskussion der theoretischen Ansätze beider Forschungszweige entwickelt wurde2, das Analyseraster dieser Arbeit.

Um die Forschungsfrage sowie die formulierten Untersuchungsziele zu beantworten, werden nach der Skizzierung des Forschungstands in Abschnitt 1.3 zunächst das methodische Vorgehen bezüglich der Auswahl der Experten, der Datenerhebung durch das leitfadengestützte Experteninterview und der Datenauswertung durch die qualitative Inhaltsanalyse in Kapitel 2 dargelegt. Dann wird auf das komplexe sozialwissenschaftliche Phänomen der „politischen Führung“ eingegangen, indem die zentralen Funktionen, Zugänge und Definitionen dargestellt werden sowie auf die hohe Kontextabhängigkeit politischer Führung hingewiesen wird (Abschnitt 3.1 und Unterabschnitte). Es folgt die Darlegung des klassischen interaktionistischen Ansatzes politischer Führung (Abschnitt 3.2), der in dieser Arbeit interdisziplinär und gegenstandsbezogen erweitert wird (Unterabschnitt 3.2.1) um Erkenntnisse aus der Parteiorganisationsforschung (Abschnitt 3.2.2), Sozialpsychologie (Unterabschnitt 3.2.3) und Soziologie (Unterabschnitt 3.2.4). Darauf folgt eine kurze Diskussion der wichtigsten Persönlichkeitsmerkmale politisch Führender (Unterabschnitt 3.2.5). In Abschnitt 3.3 erfolgt die Integration der theoretischen Vorüberlegungen in einen eigenen gegenstandbezogenen interaktionistischen Analyseansatz zur Beantwortung der Forschungsfragen. In Kapitel 4 rücken die deduktiv aus der Forschungsliteratur und induktiv aus den geführten Experteninterviews identifizierten Einflussfaktoren politischer Führung in den Vordergrund. Die ausführliche Auswertung der Experteninterviews wird thematisch strukturiert durch den interaktionistischen Ansatz und erfolgt in drei Abschnitten zu den strukturellen (4.1), institutionellen (4.2) und personenzentrierten (4.3) Faktoren politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD. Die jeweiligen Faktoren werden in insgesamt 18 Unterabschnitten behandelt. Kapitel 5 resümiert die Forschungsergebnisse der vorliegenden Arbeit (Abschnitt 5.1) und gibt einen Ausblick auf mögliche weitere Untersuchungsfelder der Führungsforschung (Abschnitt 5.2). Im Anhang finden sich der für die Experteninterviews konzipierte Leitfaden, die Regeln des Transkriptionssystems, die fünf transkribierten Experteninterviews, das Kodiersystem mit der Liste der Kategorien samt ausgewiesener Häufigkeiten und eine der Arbeit beiliegende CD mit vollständigem Codebuch als PDF.

Abschließend ist auf eine formale Besonderheit der Arbeit hinzuweisen: Alle geführten Experteninterviews wurden zunächst transkribiert und anschließend mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Dabei folgte die Transkription einem zwölf Transkriptionsregeln umfassenden Transkriptionssystem (siehe Anhang). In Regel 5 heißt es: „Pausen werden durch drei Auslassungspunkte in Klammern (…) markiert“. Dadurch sind gedankliche Pausen des befragten Experten für den Leser ersichtlich. Zugleich werden Auslassungen in direkten Zitaten in der Arbeit ebenfalls durch drei Auslassungspunkte in Klammern gekennzeichnet. Damit Pausen und Auslassungen in direkten Zitaten aus den Experteninterviews voneinander unterschieden werden können, werden Auslassungen stattdessen durch drei Punkten in eckigen Klammern gekennzeichnet: „[…]“. Ein Beispiel aus den Experteninterviews soll dies verdeutlichen:

„Das hat nochmal eine andere Konnotation oder eine andere Realität […] Das heißt, es gibt keine Trennung. ‚Innen‘ und ‚Außen‘ ist, und das ist eine der Veränderungen, die auch stattgefunden hat auch über (…) die medialen Veränderungen, die wir haben. Weil zwischen mir und der Öffentlichkeit liegt eine Sms, eine Mail, was auch immer. Das heißt, ‚Innen‘ und ‚Außen‘ verschmilzt immer stärker“ (Sts1: Abs. 20).

Die Experteninterviews wurden inklusive syntaktischer und grammatikalischer Fehler wörtlich transkribiert (vgl. Transkriptionssystem im Anhang). Bei direkten Zitaten in der Arbeit wird kein Hinweis auf etwaige sprachliche Fehler in der Form eines „[sic]“ gegeben.

1.3 Forschungsstand

Wenngleich das Phänomen der politischen Führung aufgrund seiner Heterogenität und Komplexität in zahlreichen Aspekten ein Forschungsdesiderat darstellt und die politikwissenschaftliche Führungsforschung, gerade in Deutschland, noch immer vielfach einen geringen Systematisierungsgrad aufweist, so wurden dennoch insbesondere in der angelsächsischen Forschung seit den 1980er Jahren diverse einschlägige Werke publiziert. Nachfolgend sollen bewusst nur solche Werke vorgestellt werden, die sich als relevant für die Untersuchung dieser Arbeit erweisen und in direkter oder indirekter Form dabei helfen, das eingangs in der Forschungsfrage formulierte Defizit des bisher akkumulierten Wissens zum Thema Führung in Parteien, und insbesondere Führung von Parteivorsitzenden in der SPD, zu beseitigen und dadurch eine Forschungslücke zu schließen.

Lange Zeit standen Studien im Fokus der politikwissenschaftlichen Führungsforschung, welche die strukturellen und institutionellen Handlungsspielräume als wesentliche Determinanten politischer Führung konstatierten. Die Werke von Jean Blondel (1987), Robert Elgie (1995), Herbert Dittgen (1999) und Axel Murswieck (1991a) messen den institutionellen Rahmenbedingungen einen hohen Stellenwert bei und sind strukturzentriert ausgerichtet. Diese Studien hatten einen großen und nachweislich nachhaltigen Einfluss auf die internationale Führungsforschung, zeigen jedoch den Nachteil, dass sie den Faktor „Persönlichkeit“ kaum berücksichtigen (vgl. Gast 2011: 18). Axel Murswieck (1991b: 82) begründet diese Zurückhaltung mit der Feststellung, dass zwar „die ‚Persönlichkeit‘ und der damit verbundene ‚Politische Führungsstil‘ einen Unterschied“ machten, nur würde dieser informelle Bereich sich einer „empirisch generalisierenden Betrachtungsweise“ (Murswieck 1991b: 82) entziehen. Dementsprechend empfehle es sich, das Thema über die „Untersuchung der institutionellen und der historisch-umweltorientierten Komponente“ (Murswieck 1991b: 82) zu ergründen. Seit den 1980er Jahren hat innerhalb der politikwissenschaftlichen Forschung die Verbindung von akteurszentrierten und strukturalistischen Ansätzen zu einem interaktionistischen Ansatz (Gast 2010b: 15-33; Helms 2000: 411-434; Blondel 1987: 80-114; Elgie 1995: 23-24; Grasselt/Korte 2007: 29; Korte/Fröhlich 2009: 191) die einseitige, und heutzutage als reduktionistisch bewertete, Verwendung des entweder einen oder anderen Ansatzes obsolet gemacht.

Das Thema „Führung“ wird in der deutschen Politikwissenschaft traditionell der Exekutivforschung zugeordnet und mit „Regieren“ sowie der Führungsleistung des Bundeskanzlers in Verbindung gesetzt. Mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung politischer Führung befassen sich die Studien jedoch ebenso mit immer spezifischeren Fragen: Das Verhältnis des Bundeskanzlers zur Fraktion (Helms 2004), das Verhältnis zwischen Bundeskanzler und der Partei (Helms 2002) sowie zwischen Bundeskanzler und Parteivorsitzendem (Gast 2008a), der Umgang mit den Medien (Helms 2008; Rosumek 2007), der Zusammenhang von Regierungsorganisation und politischer Führung (Helms 2005), das Politikmanagement durch emotionale Intelligenz (Gast 2014), das vielfach vernachlässigte Verhältnis von Leader und Follower (Fliegauf et al. 2008; Kellermann 2008; Gast 2010b: 13), das Verhältnis zwischen politischer Führung und Strategie (Glaab 2007; Raschke/Tils 2013a; 2008; Speth 2005), Strategiebildung in Parteien (Speth 2006) sowie die charismatische Ausstrahlung von Führungspersönlichkeiten (Gast 2008b; Sebaldt 2010) wurden bisher eingehender untersucht. So haben beispielswiese Grasselt und Korte (2007) in ihrem Vergleich betriebswirtschaftlicher und politischer Führungstechniken und -instrumente einen Systematisierungsgrad erreicht, der in der Führungsforschung selten zu finden ist. Die Unterscheidung zwischen Entscheidungs- und Darstellungspolitik bzw. Politikherstellung und Politikdarstellung3 (Korte/Hirscher 2000; Sarcinelli/Tenscher 2008) nahm ebenfalls Einfluss auf die deutsche Führungsforschung.

Im Bereich „Führung in Parteien“ liefert ein Beitrag von Lobo (2014) eine bemerkenswerte Zusammenfassung der bisherigen Führungs-Forschung in Parteien, differenziert in die Bereiche „Parteiorganisation“ und „Wahlkämpfe“. Den Einfluss der Persönlichkeit auf Führung sowie das Phänomen der Präsidialisierung in Parteien untersuchen Lobo (2015), King (2002) sowie Poguntke und Webb (2007) umfassend. Hartmann (2007) hat hierzu einen beispiellosen Beitrag für die deutsche Politikwissenschaft geleistet, indem er die Rolle der Persönlichkeit mit psychologischen und biografischen Studien verbindet, innerhalb der politikwissenschaftlichen Forschung verortet und sowohl ausgewählte politische Persönlichkeiten in Deutschland als auch weltweit untersucht. Auch Pollak et al. (2008) haben einen Sammelband herausgegeben, in welchem die unterschiedlichen Facetten der Persönlichkeit in der politischen Sphäre untersucht werden. Rosenbergers (2005) Leadershipanalyse des Kanzlers Willy Brandt bringt explizit die Faktoren Persönlichkeit und Führung in einen Zusammenhang. Einige wenige Beiträge untersuchen den Erfolg von Parteiorganisationen (Schmid/Zolleis 2005), das Verhältnis von Spitzenkandidaten und Wahlerfolg (Brettschneider 2002) oder liefern basale Einführungen in die Thematik „Führung in Parteien“ (Schmid 2010). Walter (1997 und 2009) sowie Oeltzen und Forkmann (2005) haben sich mit der „politischen Führung“ der bisherigen SPD-Parteivorsitzenden befasst, ohne jedoch diesen historisierenden Untersuchungen eine Systematisierung oder Konzeptualisierung von Führung zugrunde zu legen. Micus (2010) geht in seiner Dissertationsschrift etwas systematischer vor und untersucht in vergleichenden Fallstudien Parteiführer aller deutschen Parteien in „erzählende[r] Darstellung“ (Micus: 2010: 29). Treibel beleuchtet zudem die Prozesse innerparteilicher Führung in der FDP (Treibel 2014a) und setzt sich mit formalem und informellem Führen und Folgen in Parteien am Beispiel der FDP (Treibel 2014b) auseinander. Eine kürzlich erschienene Monografie von Ding (2015) ist an dieser Stelle noch hervorzuheben, da sie sich der Parteiführerauswahl in Parteien widmet, welche eine bisher kaum beachtete, jedoch wesentliche Komponente und Voraussetzung der Ausgestaltung politischer Führung darstellt.

Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass es hinsichtlich der Führungsforschung auch aus anderen Wissenschaftsdisziplinen Anregungen gab, welche teilweise von der politikwissenschaftlichen Führungsforschung aufgenommen wurden (Gast 2010a). Insgesamt ist jedoch zu konstatieren, dass interdisziplinäre Erkenntnisse nur unzureichend untereinander rezipiert wurden.

2. Methodisches Vorgehen

Die Untersuchung politischer Führung in der SPD erfolgt auf Basis der Erhebung und Auswertung von fünf so genannten qualitativen leitfadengestützten Experteninterviews und wird ergänzt durch die Literaturauswertung existierender wissenschaftlicher Publikationen und Aufsätze zum Thema. Das gesamte Vorgehen wird angeleitet von einem gegenstandsbezogenen interaktionistischen Analyseansatz, dessen theoretische Prämissen in Kapitel 3 umfassend erläutert werden. Angesichts der nur sehr geringen Vorarbeiten in diesem Bereich ist eine qualitative Herangehensweise zur Analyse der Fragestellung umso bedeutsamer. Da die Informationen aus den qualitativen leitfadengestützten Experteninterviews und deren Auswertung substanziell sind für den Erkenntnisgewinn dieser Arbeit, ist es systematisch notwendig, den methodischen Rahmen dieser qualitativen leitfadengestützten Experteninterviews innerhalb des Feldes der empirischen Sozialforschung zu verorten und ihre Bedeutung für den gesamten Forschungsprozess der vorliegenden Arbeit herauszustellen. Zurecht bemängelt Wiesendahl (2013: 47) die fehlende theoretisch-methodische Anbindung und Ausdifferenzierung in wissenschaftlichen Arbeiten:

„Gewissermaßen hinkt das Theorien- und Methodenbewusstsein hinter dem Theorien- und Methodenstand hinterher, den die Parteienforschung mittlerweile erreicht hat. [...] Für die Forschungspraxis selbst wirkt sich das theoretische Reflexionsdefizit in einem Mangel an klar ausformulierten theoretischen und methodischen Standards und Gütekriterien aus, zumal die den Ansätzen eigenen erklärungslogischen Annahmen, Kategorien, theoretischen Bezugsgrößen und methodologischen Implikationen nicht systematisch offengelegt und voneinander abgegrenzt werden.“

Zudem soll in dieser Arbeit der von Umberto Eco aufgestellten Forderung, alle auftretenden Schlüsselbegriffe zu definieren und zu erklären (vgl. Eco 1991: 184), umfassend Rechnung getragen werden. Vor allem in den Sozialwissenschaften herrscht bei vielen Begriffen keine Einigkeit darüber, wie diese genau zu verstehen sind. Nicht allein die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes der politischen Führung, sondern auch die vorgestellten interdisziplinären Begriffe und Konzepte sowie die notwendige ausführliche Begründung des methodischen Vorgehens machen die Definition von Begriffen unerlässlich. Zuletzt ist ein solches Vorgehen forschungspragmatisch erforderlich angesichts der Vielfalt an Einflussfaktoren, die als Variablen auf die politische Führung des Parteivorsitzenden einwirken. Mit dem leitfadengestützten Experteninterview und der qualitativen Inhaltsanalyse finden in dieser Arbeit zwei Methoden qualitativer empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung Verwendung die in den nachfolgenden Unterabschnitten kurz vorgestellt werden.

2.1 Das leitfadengestützte Experteninterview als qualitative Erhebungsmethode

Das Experteninterview ist ein qualitatives Instrument, um das Wissen der Experten zu einem bestimmten sozialen Sachverhalt, zu einem bestimmten „Handlungsfeld“ (Flick 2007: 214) zu erschließen. Zwei Merkmale sind dabei wichtig: Erstens sind Experten ein „Medium“, durch das der Wissenschaftler Informationen über einen bestimmten Sachverhalt erlangen will. Sie sind nicht selbst „Objekt“ der Untersuchung, sondern sind oder waren „Zeugen“ des Untersuchungsgegenstandes. Zweitens haben Experten eine besondere, im Optimalfall eine exklusive, Stellung in dem sozialen Kontext oder Prozess, der untersucht werden soll. Anhand dieser beiden Merkmale lassen sich die Untersuchungen charakterisieren, in denen Experteninterviews verwendet werden: Diese Untersuchungen haben die Zielsetzung, soziale Situationen oder Prozesse zu rekonstruieren, um diese sozialwissenschaftlich erklären zu können. Das hierfür benötigte besondere Wissen sollen Experteninterviews dem Forscher in solchen Untersuchungen zugänglich machen – durch die Befragung von Menschen, die durch ihre Beteiligung Expertenwissen erworben haben über den zu erforschenden Sachverhalt (vgl. Gläser/Laudel 2006: 10 f.).

Experteninterviews werden überwiegend als leitfadengesteuerte Interviews geführt, weil sie thematisch strukturiert sind und mit Hilfe erzählgenerierender Fragen versuchen, bestimmte Themenbereiche zu ergründen, welche den speziellen Wissensbeständen der Experten entsprechen (vgl. Misoch 2015: 124). Ein solcher Interviewleitfaden besteht aus einer Frageliste mit vorgegebenen relevanten Themen und beinhaltet alle Fragen, die – ausgehend von der Forschungsfrage – in jedem der geführten Interviews angesprochen und beantwortet werden sollen. Die Frageformulierungen und die Reihenfolge der Fragen sind jedoch nicht verbindlich. Es wird vielmehr ein flexibler Umgang empfohlen, weil das Experteninterview, soweit möglich, einem natürlichen Gesprächsverlauf entsprechen soll. Daher können Fragen auch dann gestellt werden, wenn diese sich aus dem Kontext ergeben. Nicht selten ist es nämlich der Fall, dass die Befragten von selbst auf ein bestimmtes, relevantes Thema zu sprechen kommen und es ist nicht zielführend, diese von diesem Thema wegzulenken, lediglich, weil die dazugehörige Frage noch nicht an der Reihe ist (vgl. Gläser/Laudel 2006: 39 f.). Dennoch kommt dem Leitfaden im Experteninterview aufgrund des Zeitdrucks während des zeitlich begrenzten Interviews eine Steuerungsfunktion hinsichtlich des Ausschließens irrelevanter Informationen zu (vgl. Flick 2007: 216).

Für diese Arbeit heißt das konkret: Im Vorfeld der fünf Experteninterviews wurden, basierend auf den ausgeführten theoretischen Annahmen und der einschlägigen wissenschaftlichen Forschung, insgesamt 13 Fragen formuliert und in den Leitfaden aufgenommen. Diese zehn Fragen sind in jedem der fünf geführten Experteninterviews enthalten und wurden, abhängig vom Kontext des Gesprächs und der zur Verfügung stehenden Zeit des interviewten Experten, durch einige weitere Fragen variabel ergänzt. Die Interviews dauerten im Durschnitt 54 Minuten (Sts1: 37:22; Sts2: 51:12; Ptv1: 71:49; Ptv2: 45:08; Ptv3: 63:17) und es wurden, ebenfalls angesichts der begrenzten Zeit, Fragen selektiert und formuliert, die insbesondere zwei Funktionen hatten: zunächst die wesentlichen relevanten Einflussfaktoren durch offene allgemeine Fragen zu identifizieren, also induktiv zu gewinnen, um anschließend auf deduktiv identifizierte Einflussfaktoren einzugehen, mit dem Ziel, einschlägige Wissenselemente der Experten abzurufen. Die Selektion der deduktiv aufgenommenen Fragen erfolgte nach zwei Gesichtspunkten: Erstens handelt es sich teilweise um Fragen, die in der Forschungsliteratur nur unzureichend beantwortet wurden. Und zweitens sollten in der Literatur formulierte Schlussfolgerungen mit der Wahrnehmung und den Wissenselementen der am politischen Führungsprozess beteiligten Experten abgeglichen und dadurch an der Empirie „getestet“ werden.

2.2 Auswahl der Interviewpartner und Realisierung der Experteninterviews

Es ist nicht immer einfach, die „richtigen“ Experten zu identifizieren, gerade bei einem so komplexen und schwer zu fassenden Untersuchungsgenstand wie dem der politischen Führung (vgl. Flick 2007: 218). Entscheidend für die Auswahl der Experten sind das Ziel der Untersuchung, der aus diesem Ziel abgeleitete Zweck des Interviews und die daraus resultierende Rolle des Interviewpartners (vgl. Gläser/Laudel 2006: 11). Nicht zuletzt erweist es sich oft als schwierig, die identifizierten Experten für ein Experteninterview zu gewinnen (vgl. Gläser/Laudel 2006: 11).

Das Ziel der Untersuchung, begründet durch die Forschungsfrage, ist die Analyse der Ressourcen und Restriktionen und damit im Umkehrschluss die Eruierung der Formen und Möglichkeiten politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD. Der Zweck der Experteninterviews ist zum einen die Identifizierung dieser Faktoren, nämlich der personenzentrierten und strukturellen Faktoren politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD4. Und zum anderen die Ergründung dieser Faktoren aus Sicht der jeweiligen befragten Experten. Schließlich besteht die Rolle der Interviewpartner in der Rekonstruktion ihres Wissens zur Identifikation und Ergründung dieser Faktoren.

Dem Umfang der Masterarbeit entsprechend wurden insgesamt fünf geeignete Experten zur Ergründung des Untersuchungsgegenstandes ausgewählt. Drei der fünf Experten waren selbst Parteivorsitzende der SPD: Franz Müntefering, Kurt Beck sowie Matthias Platzeck. Franz Müntefering war gleich zweimal Parteivorsitzender der SPD, zunächst zwischen März 2004 und November 2005 und dann erneut zwischen Oktober 2008 und November 2009, als der aktuelle Parteivorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, diesen ablöste. Matthias Platzeck, der zweite Experte und ehemaliger Parteivorsitzende der SPD, folgte im November 2005 auf Franz Müntefering und blieb bis Mai 2006 im Amt. Auf Platzeck folgte schließlich, in dieser Arbeit als dritter Experte, Kurt Beck, der den Parteivorsitz bis September 2008 innehielt und von Frank-Walter Steinmeier abgelöst wurde.

Die anderen beiden Experteninterviews wurden mit zwei aktuellen beamteten Staatssekretären des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) geführt: Matthias Machnig und Dr. Rainer Sontowski. Matthias Machnig war unter anderem zwischen 2009 und 2013 Wirtschaftsminister in Thüringen, von 1999 bis 2002 Bundesgeschäftsführer der SPD und wurde bundesweit bekannt als erfolgreicher Leiter der Wahlkampagnen der SPD 1998 und 2002. Machnig hat seit der Jahrtausendwende zudem über 50 wissenschaftliche Beiträge in Form von Monografien und Zeitschriftenaufsätzen publiziert und war aus diesem Grund, neben seiner politischen Erfahrung, auch aufgrund seiner wissenschaftlichen Expertise prädestiniert für das Thema der politischen Führung in der SPD. Dr. Rainer Sontowski war zuvor unter anderem Leiter des Büros des ehemaligen SPD-Parteivorsitzenden Gerhard Schröder im SPD-Parteivorstand (1999-2002) sowie Leiter des Büros des aktuellen SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel (2009-2013). Zudem war Dr. Sontowski SPD-Fraktionsgeschäftsführer im Niedersächsischen Landtag (2003) sowie Leiter der Abteilung drei "Presse- und Öffentlichkeitsarbeit" im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2003-2005) und hat, ebenso wie Matthias Machnig, zahlreiche Erfahrungen innerhalb der Parteiorganisation der SPD sammeln können.

Alle fünf Experten konnten in der Retrospektive Wissenselemente aus erster Hand reaktivieren und verbalisieren, die nach der Transkription der Interviews mit Hilfe der Auswertungsmethode der qualitativen Inhaltsanalyse einen ungemein wichtigen Beitrag für den Erfolg dieser Arbeit geleistet haben und zugleich den hohen empirischen Bezug der vorliegenden Arbeit verdeutlichen. Während die Parteivorsitzenden subjektive Wissenselemente als aktive Akteure im Prozess der politischen Führung in der Partei abrufen und darstellen konnten, hatten die befragten Staatssekretäre eine ungleich andere Position in dem von den Parteivorsitzenden ausgehenden Führungsprozess: Teilweise waren sie Adressaten dieser Führung, teilweise gehörten sie zu dem den Parteivorsitzenden umgebenden strategischen Apparat und waren in den Führungsprozess eingebunden. Zeitweise waren sie weder Adressaten, noch Teil des strategischen Zentrums, sondern gänzlich abgekoppelt von dem Führungsprozess. Diese teilweise diametral gelegene Position und Perspektive zu den befragten Parteivorsitzenden erlaubte es den beiden Staatssekretären, einen anderen Blick auf den Führungsprozess zu werfen. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven ergibt sich in der Befragung aller Experten eine weitaus umfassendere Beschreibung des Führungsprozesses, als es durch die Befragung leidglich einer spezifischen Akteursgruppe der Fall gewesen wäre. So konnte sichergestellt werden, dass der Führungsprozess, durch den Einbezug fünf unterschiedlicher Blickwinkel und der damit verbundenen Reflektionsmöglichkeiten, aus empirischer Sicht möglichst umfassend rekonstruiert wird. Denn um politische Führung erfolgreich untersuchen zu können, müssen nicht nur unterschiedliche situative Kontexte betrachtet werden, innerhalb derer diese stattfindet, sondern ebenso verschiedene personelle Konstellationen und positionale Rollen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass neue Erkenntnisse generiert werden, die zur Theoriebildung beitragen können.

2.3 Auswertung der Experteninterviews durch die qualitative Inhaltsanalyse

Vor allem im deutschsprachigen Raum, mittlerweile jedoch auch darüber hinaus, hat sich die qualitative Inhaltsanalyse als eines der am häufigsten genutzten und effektivsten Auswertungsverfahren qualitativer Forschung etabliert (vgl. Schreier 2014: Abs. 1). Die qualitative Inhaltsanalyse wurde in den 1980er Jahren von Philipp Mayring entwickelt und ist zunächst als quantifizierende Methode zur Analyse von Texten entstanden, hat entsprechend das technische Know-How der quantitativen Inhaltsanalyse (Quantitative Content Analysis) integriert und ist qualitativ in der Lage auch latente Sinngehalte zu erfassen. Mayring stützte sich dabei nicht nur auf die quantitative Inhaltsanalyse, sondern gliederte auch Elemente der Hermeneutik, der Kommunikationswissenschaften (Content Analysis), der Literaturwissenschaften (systematische Textanalyse) und der Psychologie der Textverarbeitung in die qualitative Inhaltsanalyse ein (vgl. Mayring/Fenzl 2014: 597; Gläser/Laudel 2013: 197 f.).

Seitdem entstanden zahlreiche Varianten der qualitativen Inhaltsanalyse5, sodass nicht von „der einen“ qualitativen Inhaltsanalyse gesprochen werden kann. Alle qualitativen inhaltsanalytischen Verfahren folgen jedoch den folgenden Grundregeln: Die qualitative Inhaltsanalyse wird zunächst als ein Verfahren zur Beschreibung ausgewählter Textdeutungen verstanden. Um dies zu erreichen, werden relevante Bedeutungen als Kategorien eines inhaltsanalytischen Kategoriensystems expliziert und daraufhin geeignete Textstellen identifiziert und diese den Kategorien des erstellten Kategoriensystems zugeordnet. Daraus ergibt sich eine zentrale Kategorienorientierung des Verfahrens. Das Kategoriensystem gilt als „Herzstück“ der qualitativen Inhaltsanalyse und grenzt diese von anderen qualitativen Verfahren ab. Die Kategorien werden analog zu den zuvor identifizierten und aufgestellten Einflussfaktoren gebildet, deren Ausprägungen für jede erfasste Textstelle aufgezeichnet werden. Sowohl das Erstellen als auch die Anwendung des Kategoriensystems erfolgen interpretativ und erlauben die Einbeziehung des latenten Sinngehalts der jeweiligen Aussagen. Das gesamte Verfahren verläuft dabei systematisch und regelgeleitet und orientiert sich an den wissenschaftlichen Gütekriterien der Validität und Reliabilität6 (vgl. Schreier 2014: Abs. 1 f.).

Insgesamt haben sich zwei Basisformen qualitativer Inhaltsanalyse herausgebildet: die inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse (Mayring 2010 und Kuckartz 2014) und die qualitative Inhaltsanalyse durch Extraktion (Gläser/Laudel 2013). Alle anderen Varianten der qualitativen Inhaltsanalyse sind im Prinzip Variationen der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse. In der vorliegenden Arbeit wird die inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) und Kuckatz (2014) und Schreier (2012; 2014) verwendet.

Im Kern geht es bei der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse darum, inhaltliche Aspekte in den transkribierten Experteninterviews zu identifizieren, zu konzeptualisieren und hinsichtlich zuvor definierter Aspekte systematisch zu beschreiben. Diese Aspekte strukturieren zugleich das Kategoriensystem, indem die verschiedenen Variablen als Kategorien desselben expliziert werden (vgl. Schreier 2014: Abs. 8).

Der Ablauf der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse umfasst folgende Schritte, welche teilweise auch mehrfach durchlaufen werden (vgl. Schreier 2014: Abs. 9):

- Ableitung von Oberkategorien aus der Fragestellung/dem Interviewleitfaden
- Bestimmen von Fundstellen/Kodiereinheiten
- Entwicklung von Unterkategorien und Kategoriendefinitionen
- Erprobung des Kategoriensystems
- Modifikation des Kategoriensystems
- Kodieren des gesamten Materials mit dem überarbeiteten Kategoriensystem
- Ergebnisdarstellung, Interpretation, Beantwortung der Forschungsfrage

An dieser Stelle unterscheidet sich die Vorgehensweise bei den Vertretern der qualitativen Inhaltsanalyse insbesondere hinsichtlich der Fundierung des Kategoriensystems. Während beispielsweise Mayring (2010: 92 f.) die Notwendigkeit einer deduktiven theoretischen Fundierung der Strukturdimension betont, favorisieren andere Autoren eine induktive Herausbildung des Kategoriensystems am Textmaterial (vgl. Schreier 2012: 85). Kuckartz (2014), Schreier (2012) und Rustemeyer (1992) lassen dagegen offen, inwieweit Kategorien deduktiv theoriegeleitet oder induktiv am empirischen Material entwickelt werden sollten, solange wenigstens ein Teil der erstellten Kategorien anhand des empirischen Materials entwickelt wird. In der vorliegenden Arbeit wird in diesem Sinne und den Erfordernissen des Untersuchungsgegenstandes der politischen Führung entsprechend eine kombinierte deduktiv-induktive Fundierung von Ober- und Unterkategorien angewandt, welche beispielsweise von Steigleder (2008: 188 f.) ausdrücklich vertreten wird. Demzufolge wurde bereits der Leitfaden im Vorfeld der Experteninterviews auf der Grundlage theoretischer Vorannahmen zu den Einflussfaktoren politischer Führung erstellt.

Nach Kuckartz eignet sich das Grundmodell der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse für die Entwicklung unterschiedlicher Arten von Kategorien. Die in der Forschung identifizierten Einflussfaktoren politischer Führung strukturieren in Form von Variablen a priori das Kategoriensystem, welches sich vorwiegend aus inhaltlich-analytischen und evaluativen Kategorien konstituiert (vgl. Kuckartz 2012: 43 f.). Anschließend wurden während der Kodierungsphase neue Einflussfaktoren in Form von Variablen in das Kategoriensystem aufgenommen und die Experteninterviews erneut hinsichtlich der hinzugewonnenen Kategorien untersucht. Auf diese Weise konnte sichergestellt werden, dass eine kontinuierliche Anpassung der Kategorien am Material erfolgt und dadurch sowohl theoretische Vorannahmen als auch empirische Befunde in die Analyse aufgenommen werden können.

2.4 Grenzen des methodischen Vorgehens

Abschließend ist auf die Grenzen des ausgeführten methodischen Vorgehens einzugehen: Der Auswahl der fünf Experten haftet, trotz zweckmäßiger Begründung, eine gewisse Willkür an. Die vorliegende Arbeit ist von einem solchen Vorwurf nicht weniger betroffen als ähnliche andere Studien. Dies muss jedoch kein Nachteil sein, sondern kann vielmehr zum Vorteil gereichen: Wenn die Analyse der Experteninterviews hinsichtlich der zu untersuchenden Merkmale eine Reihe von übereinstimmenden Erkenntnissen zutage fördert, so spricht viel dafür, dass die Kernelemente politischer Führung erkannt wurden und verallgemeinernde Interpretationen zulässig sind (vgl. Micus 2010: 20). So lassen sich theoretische Vorannahmen an der Empirie überprüfen und umgekehrt empirische Erkenntnisse in Form von verallgemeinernden Hypothesen in die jeweiligen theoretischen Konstrukte integrieren.

Die verbalen Darstellungen der befragten Experten zum Untersuchungsgegenstand der politischen Führung stützen sich zudem auf subjektive Wahrnehmungen und die Reaktivierung von Wissenselementen. Es kann daher nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass der Prozess der politischen Führung in einigen Punkten lückenhaft oder einseitig geschildert wurde. Um dem jedoch entgegenzuwirken, wurde ein gegenstandsbezogener interaktionistischer Ansatz als theoretisches Konstrukt gewählt, der interdisziplinäre Erkenntnisse zur Führungsforschung integriert. Dieser strukturiert die Experteninterviews sowie den analytischen Teil der Arbeit. Zudem wirkt die Einbeziehung der einschlägigen Sekundärliteratur, welche teilweise ihrerseits ebenso auf empirischen Ansätzen und Erkenntnissen beruht, dem zuvor formulierten Vorbehalt zusätzlich entgegen.

3. Theoretische und konzeptionelle Grundlagen

Das Prinzip des theoriegeleiteten Vorgehens ist ein grundsätzliches methodologisches Prinzip der Sozialwissenschaften und beschreibt die Notwendigkeit, an vorhandenes theoretisches Wissen anzuschließen, damit den gesamten Forschungsprozess zu strukturieren7 und davon ausgehend mit Hilfe einer bestimmten Erklärungsstrategie und methodischen Vorgehensweise die bestehende Wissensbasis zu erweitern (vgl. Gläser/Laudel 2006: 31). Mayring äußert sich hierzu wie folgt:

„Theorien, so wird häufig gesagt, würden das Material verzerren, den Blick zu sehr einengen, würden ein ‚Eintauchen in das Material‘ behindern. Begreift man jedoch Theorie als ein System allgemeiner Sätze über den zu untersuchenden Gegenstand, so stellt sie nichts anderes als die geronnenen Erfahrungen anderer über diesen Gegenstand dar. Theoriegeleitet heißt nun, an diese Erfahrungen anzuknüpfen, um einen Erkenntnisfortschritt zu erreichen“ (Mayring 2008: 52).

Es ist daher notwendig den komplexen Untersuchungsgegenstand, politische Führung, zunächst zu definieren, die vielfältigen interdisziplinären Zugänge aufzuzeigen und den Blickwinkel auf die Besonderheiten dieses Phänomens innerhalb der Parteiorganisation zu verengen. Anschließend wird der interaktionistische Ansatz politischer Führung vorgestellt, damit dieser im analytischen Teil der Arbeit systematisch in die Untersuchung einbezogen werden kann und auf diese Weise dabei hilft, das empirisch durch die Experteninterviews gewonnene Wissen zu ordnen, in Beziehung zu setzen zu den dargelegten theoretischen Vorüberlegungen und, um es mit den Worten Mayrings zu formulieren, dadurch schließlich „einen Erkenntnisfortschritt zu erreichen“ (vgl. Gläser/Laudel 2006: 26 ff.).

3.1 Politische Führung als komplexes sozialwissenschaftliches Phänomen

„Der Begriff Führung ist schillernd, unscharf, nirgendwo exakt definiert, offen für jedwede subjektive Normierung“ (Walter 1997: 1289).

In bisherigen Arbeiten zum Thema „Führung“ gibt es beinahe so viele unterschiedliche Begriffsbestimmungen wie Beiträge selbst. Das Zitat Franz Walters zu Beginn des Abschnitts deutet bereits die Vielschichtigkeit und Heterogenität des Führungs-Begriffes an. Robert Elgie spricht von „Leadership“ als dem „unidentifiable in pursuit of the indefinable“ (Elgie 1995: 2). Viele Autoren verzichten daher mit Hinweis auf die Fülle bereits bestehender Definitionen auf eine explizit selbst erarbeitete Definition (vgl. Stoiber 2008: 36). Bevor auf den Begriff der „politischen Führung“ – und noch spezifischer auf „politische Führung in Parteien“ – eingegangen wird, soll nachfolgend zunächst der allgemeine Begriff der „Führung“ betrachtet werden, um diesen im nächsten Schritt von „politischer Führung“ abzugrenzen.

3.1.1 Definition, Zugänge und Funktionen politischer Führung

„Führung“ ist als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand im Wesentlichen der Organisationsforschung zuzuordnen. Durch den Begriff „Leadership“ teilweise überlagert, werden Begriffe wie „Steuerung“8, „Lenkung“, „Leitung“ oder „Koordination“ (Treibel 2014b: 324) nicht selten synonym verwendet, ohne diese voneinander zu differenzieren (vgl. Grasselt/Korte 2007: 25 f.). Ganz allgemein formuliert bedeutet Führung im organisationalen Kontext (u.a. in Parteien) die Verhaltensbeeinflussung von Menschen zur Realisation bestimmter Ziele (vgl. Ebda: 26).

Darüber hinaus ist die Führungsforschung, wie bereits erwähnt, durch eine hohe Heterogenität hinsichtlich der Zugänge und Methoden gekennzeichnet und kann nicht monokausal erfasst werden. Diese Fragmentierung hat besondere Gründe. Erstens könnten die Untersuchungsbereiche kaum unterschiedlicher sein: Führungsprozesse in Kleingruppen in Schule und Kindergarten, in militärischen Organisationen, in global operierenden Unternehmen sowie in der politischen Sphäre unterscheiden sich oft stark hinsichtlich ihrer Kontextbedingungen. Zweitens stellt Führung keineswegs eine ausschließlich politikwissenschaftliche Kategorie dar, sondern wird interdisziplinär beleuchtet: Betriebswirte, Psychoanalytiker, Gruppenforscher, Historiker, Organisationssoziologen, Kommunikationswissenschaftler, Verwaltungswissenschaftler sowie Politikwissenschaftler ergründen jeweils aus einer anderen Perspektive die für sie relevanten Aspekte (vgl. Gast 2010a: 34 f.). Im Prinzip ergibt sich für alle Wissenschaftsdisziplinen, denen es um Gruppenprozesse und ihre immanenten hierarchischen Strukturen geht, ein potentieller, paradigmatischer Forschungsansatzpunkt (vgl. Forkmann/Schlieben 2005: 13). Die dazugehörigen Theorien lassen sich zusammenfassend nach dem jeweiligen Fokus unterscheiden, den sie auf den Führungsprozess legen:

- Fokus auf Umweltbedingungen: Organisationssoziologische Ansätze, die den Schwerpunkt auf das statistische und personenunabhängige Moment des Führungsprozesses legen;
- Fokus auf Bezugsgruppen: Dazu zählen insbesondere rollentheoretische Ansätze, Attributionstheorien, Motivationstheorien sowie tiefenpsychologische Ansätze, die untersuchen, welchen Einfluss die Gefolgschaft auf die Führungsperson besitzt;
- Fokus auf den Führer: mikropolitische Ansätze, die Motivations- und Kommunikationsforschung, die Eigenschaftstheorie, das Impressions-Management oder das Idiosynkrasiemodell sind nur einige Beispiele für Theoriemodelle, die sich mit der Frage beschäftigen, wie sich die Führungsperson in ihrer Umgebung legitimieren und behaupten kann (vgl. Gast 2010a: 34 f.).

Da keine allgemeingültige Definition „politischer Führung“ existiert, wird stattdessen versucht das Phänomen über unterschiedliche Zugänge zu erfassen. Diese Zugänge könnten in ihrer Gesamtheit vielschichtiger nicht sein. Der Politikwissenschaftler Henrik Gast hat acht wesentliche Zugänge identifiziert: Ein Teil der Forscher bestimme Führung als (1) Einflussausübung. Ein weiterer Teil messe der Gefolgschaft eine größere Bedeutung zu, sodass Führung als (2) Prozess der interdependenten Einflussnahme verstanden würde. Neben der Integrationsaufgabe habe Führung eine (3) Motivationsaufgabe gegenüber den Geführten. In (4) Zweck-Mittel-Relationen strukturiere der politische Führer zudem die wesentlichen Aufgaben und Ziele. Manche Autoren verstünden politische Führung dagegen als (5) Vermittlung von Sinn und Identität. Führung beeinflusse hierbei als Definitionsmacht die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Während es dabei also primär um Sinnvermittlung geht, zielt die folgende Ansicht auf das eigene, (6) rollenmäßig dargestellte Handeln des politischen Führers ab. Dabei komme es nicht nur auf das faktische Handeln der Führungskraft an, sondern ebenso auf dessen Interpretation. Die (7) strukturfunktionalistische apersonale Perspektive vereinigt Organisation und Führung als teilweise „gegeneinander substituierbare soziale Prinzipien“. Schließlich lasse sich Führung (8) gruppensoziologisch definieren. Dann ginge es darum, einen Personenkreis in die Lage zu versetzen, auf sich selbst regulierend einzuwirken (vgl. Gast 2011: 22 ff.).

Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen identifizieren die meisten Autoren die Komponente der Einflussausübung als zentrales Kernelement politischer Führung. Gast (2010b: 12 ff.) schlägt eine funktionsorientierte Definition politischer Führung vor, welche sich daran ausrichtet, worauf sich dieser Einfluss bezieht. Diese dreiteilige Definition wird als besonders geeignet für die Analyse in dieser Arbeit befunden. Dementsprechend wird sie übernommen und nachfolgend kurz dargestellt:

1. Politische Führung als Beeinflussung: Die Akzentuierung der meisten Definitionen von „politischer Führung“ liegt auf dem politischen Führer als aktivem Teil, der verhältnismäßig stärker andere beeinflusst als er selbst beeinflusst wird. Vielfach wird jedoch übersehen, dass der jeweilige politische Führer seine Anhänger einerseits überzeugen und andererseits seine Handlungen rechtfertigen muss. Die Gefolgschaft, die so genannten follower, sind folglich nicht nur Adressaten politischer Führung, sondern beeinflussen und kontrollieren ihrerseits im Eigeninteresse selbst den politischen Führer. Inwieweit die Gefolgschaft den politischen Führer selbst steuern kann, ist abhängig von den organisationalen Rahmenbedingungen. Führung bedeutet im Wesentlichen, „die eigenen Verhaltensweisen so anzupassen, dass sie bei der Gefolgschaft akzeptiert werden und diese deswegen dem Führer freiwillig folgt“ (vgl. Gast 2010b: 13).
2. Politische Führung als Integrationsaufgabe: Erfolgreiche Führung sollte die Fähigkeit zur Antizipation besitzen, die eigene Gefolgschaft richtig einschätzen sowie ihre Bedürfnisse frühzeitig erkennen können. Zudem sollte der politische Führer ein möglichst konfliktfreies Verhalten innerhalb der Gruppe aktiv fördern. Diese Integrationsaufgabe ist eine Kernfunktion politischer Führung, die kontextabhängig in ihrer Bedeutung variieren kann (vgl. Gast 2010b: 14).
3. Politische Führung als Ausrichtung auf die Gruppen- und Organisationsziele: Als dritte Aufgabe erfolgreicher politischer Führung gilt die Realisation von Gruppen- und Organisationszielen. Der politische Führer ist gefordert, Ziele festzulegen, Aufgaben zu strukturieren und Zweck-Mittel-Relationen zu bestimmen. Diese Erfordernisse sollten idealerweise zugleich dem allgemeinen Gruppenwillen entsprechen oder wenigstens eine integrierende Wirkung entfalten. Um Entscheidungen durchsetzen zu können, sind politische Führer zudem darauf angewiesen, Mehrheiten zu organisieren. Umso wichtiger ist es in solchen Fällen, erfolgreiche Überzeugungsarbeit leisten zu können und so in der Gruppe bzw. Organisation Identifikation zu schaffen. Ein besonders hierarchischer Stil kann dagegen Motivation und Organisationsloyalitäten unterminieren. Es ist zudem unabdingbar, dass Führung die Gruppenziele nicht nur hinsichtlich der internen Integration einbezieht, sondern auch in der Lage ist, eine Anpassung an externe Umstände zu leisten (vgl. Gast 2010b: 14 f.).

Hinsichtlich der Funktionen politischer Führung im besonderen Fall eines Parteiführers erkennt Micus eine Artikulations-, Kommunikations- und Integrationsfunktion (vgl. Micus 2010: 12). Die Artikulationsfunktion umfasst die tägliche Erarbeitung von Stellungnahmen und Beschlüssen, das dauerhafte Ringen um die gesellschaftliche Meinungsführerschaft und zielt auf langfristige programmatische Grundsatzarbeit ab. Die Kommunikationsfunktion formuliert auf der Darstellungsebene die Notwendigkeit der Medienarbeit und der Vermittlung politischer Entscheidungen. Letztlich schließt die Integrationsfunktion die Herstellung des innerparteilichen Zusammenhalts, die Integration rivalisierender Parteiflügel, die Einbindung der Mitglieder an die Basis und die Aushandlung von Kompromissen ein (vgl. Micus 2010: 12). Diese drei Funktionen bestätigten sich auch empirisch in der Auswertung der Experteninterviews (vgl. insbesondere die Unterabschnitte 4.3.1 „Strategische Führung“, 4.3.2 „Fähigkeit zur Entwicklung politischer Diskurse“, 4.3.5 „Glaubwürdigkeit“ und insbesondere 4.3.6 „Kommunikation nach innen und außen“).

3.1.2 Die hohe Kontextabhängigkeit politischer Führung

Abschließend soll noch einmal auf die hohe Kontextabhängigkeit politischer Führung hingewiesen werden, die eine allgemeingültige Definition und Konzeptualisierung politischer Führung erschwert und faktisch bisher verhindert hat. Vielmehr ist es sogar der Fall, dass die Kontextabhängigkeit erfolgreicher politischer Führung theoretisch bisher kaum abgebildet werden konnte, auch weil Muster und Performanz von politischer Führung zu pauschal verwendet werden, was eine differenzierte Analyse des Phänomens erschwert (vgl. Sebaldt 2010a: 363). Vergleichende empirische Untersuchungen haben ergeben, dass sich politische Führung innerhalb verschiedener Staatsformen, politischer Systeme und Kulturen unterscheidet. In verschiedenen Beiträgen wurden beispielsweise die Besonderheiten von politischer Führung in post-kommunistischen Gesellschaften (Holmes 2014), in Diktaturen (Behrends 2010), in Südamerika (Kline 2014), in China (Zhiyue 2014) oder etwa in afrikanischen Staaten (Swart et al. 2014) ausgearbeitet. Auch in westlichen Demokratien können die Anforderungen an politische Führung teilweise erheblich variieren. Diese sind abhängig vom jeweiligen Regierungssystem, der Territorialstruktur des jeweiligen Staates sowie auch von der politisch und kulturell über lange Zeit hinweg gewachsenen Handlungsstile. In präsidentiellen Regierungssystemen wird etwa allein durch die Verfassungsarchitektur die Personalisierung politischer Führung gefördert. Dies gilt insbesondere für den Regierungschef, welchem die formale exekutive Verantwortung obliegt. Parlamentarische Regierungssysteme wirken hingegen tendenziell kollektivierend, da der Regierungschef strukturell zu einem eher moderierenden Führungsmuster gezwungen wird (vgl. Sebaldt 2010: 362 f.). Diese Unterschiede gelten insbesondere für die Exekutivebene, auf welcher die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Regierungschefs sowie die politischen Rollenerwartungen an diesen weitgehend feststehen und so auf einen stabilen Handlungskorridor hinwirken.

Damit soll an dieser Stelle aufgezeigt werden, dass politische Führung stark abhängig ist von der Verfasstheit des politischen Systems sowie den politisch-kulturellen Traditionen und sich aus diesem Grund einer allgemeingültigen Definition oder Theorie entzieht. Daher können die Ergebnisse der Analyse des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit, politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD, nur mit Einschränkungen übertragen werden auf andere Parteien innerhalb des deutschen Parteiensystems oder gar auf Parteien in anderen politischen Kulturen und Systemen.

3.2 Der interaktionistische Ansatz politischer Führung

In der traditionellen politikwissenschaftlichen Führungsforschung gibt es innerhalb der empirischen Theoriebildung zwei prominente Strömungen: Die Great-Man-Theorie9, welche Führungserfolg allein als Auswirkung der Persönlichkeit des Führenden auffasst, sowie den Strukturalismus10, der die vorhandenen Strukturen als einzig relevante Determinanten politischer Führung begreift. Weil diese Ansätze entweder den Einfluss großer Führer oder strukturelle Faktoren zur Erklärung sozialer Wirklichkeit als zentral ansehen, gelten sie heutzutage als reduktionistisch. Daher sind sie isoliert verwendet wenig geeignet zur Untersuchung der Führungsleistung von Parteivorsitzenden. Über Jahrzehnte hinweg ist jedoch im Bereich der Exekutivforschung ein „Konvergenztrend“ (Helms 2005: 39) entstanden, der beide Ansätze in einen „interaktionistischen Ansatz“ zusammengeführt hat (vgl. Gast 2010b: 15 f.). So unterscheidet Ludger Helms in der von ihm entwickelten Systematisierung analytisch zwei Ansätze politischer Führung: den normativen Ansatz mit der ihm immanenten Frage, wie „gute Führung“ aussehen sollte, sowie den empirischen Ansatz, der sich wiederum in eine personenzentrierte, strukturelle und interaktionistische Herangehensweise unterteilen lässt (Helms 2000: 413 ff.).

Interaktionistische Ansätze sind seit den 1980er Jahren zur dominanten theoretisch-konzeptionellen Variante der Analyse politischer Führungsleistung der Exekutivelite westlicher Staaten avanciert. Sie verfolgen das Ziel, sowohl personenzentrierte als auch strukturelle und institutionelle Faktoren politischer Führung angemessen zu berücksichtigen und der inhärenten Interdependenz ihres dynamischen Verhältnisses gerecht zu werden (vgl. Helms 2005: 39). Von der Prämisse ausgehend, Führung sei feststellbar, hat die Synthese von Persönlichkeitsmerkmalen sowie strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen zur Emanzipierung von diesen beiden einseitigen Erklärungsparadigmen geführt.

Der interaktionistische Ansatz unterscheidet drei Faktoren, mit Hilfe derer die Führungsleistung analysiert werden kann: Personale Eigenschaften des Führenden (Persönlichkeitsmerkmale), institutionelle Faktoren (die Institution, in der die Führungskraft operiert; in diesem Fall die formale und informelle Organisationsstruktur der Partei) sowie zeitlich bedingte strukturelle Faktoren (der zeitliche und strukturelle Kontext, in dem Führungsentscheidungen getroffen werden) (vgl. Blondel. 1987: 80-114; Elgie 1995: 23-24; Helms 2000: 411-434; Grasselt/Korte 2007: 29). Die Institutionen und die Organisationsstruktur sowie die strukturelle Außenwelt der Partei bilden einen Handlungsrahmen innerparteilicher Führung von Parteivorsitzenden. Letztere haben in diesem „Handlungskorridor“ – je nach Persönlichkeitsmerkmalen – verschiedene Handlungsmöglichkeiten, politische Führung auszuüben (vgl. Glaab 2007: 306; Gast 2010b: 16; Treibel 2014b: 324). Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Diese Rahmen- bzw. Umweltbedingungen nehmen Einfluss darauf, welche Verhaltensweisen und Eigenschaften sich für den politischen Führer als vorteilhaft erweisen (vgl. Sebaldt/Gast 2010: 8) und prägen folglich die Handlungsmöglichkeiten und das Führungsverhalten der jeweiligen Entscheidungsträger. Umgekehrt lassen sich die Rahmenbedingungen, also etwa die Organisationsstrukturen oder die Einstellungen und Bedürfnisse der Gefolgschaft, jedoch auch durch die Akteure selbst verändern (vgl. Glaab 2007: 306). Diese – für diese Arbeit maßgebliche – Annahme der begrenzenden und ermöglichenden Handlungskorridore politisch Führender und der wechselseitigen Einflussnahme zwischen Handeln und Struktur bildet eine zentrale Grundannahme handlungstheoretischer Konzepte (vgl. Wiesendahl 2013: 43; siehe Unterabschnitt 3.5.3) und stellt eine Gemeinsamkeit mit dem Konzept des akteurzentrierten Institutionalismus (Scharpf 2000; Mayntz/Scharpf 1995) dar.

Daher muss eine Arbeit oder Untersuchung zu innerparteilicher Führung die Organisationsstruktur der Partei, die strukturellen Umweltbedingungen der Partei sowie die persönlichen Merkmale des individuellen Akteurs analysieren. Dabei gilt, dass das Vorhandensein oder Fehlen sowie das Ausmaß und Ausprägung der jeweiligen Faktoren jeweils Ressource oder Restriktion politischer Führung sein können und sich infolgedessen daraus Formen und Möglichkeiten politischer Führung ergeben.

Kritisch anzumerken ist abschließend, dass interaktionistische Ansätze durch die Einführung einer Vielzahl an Variablen und Determinanten bezüglich der Operationalisierbarkeit politischer Führungsleistung an ihre Grenzen stoßen (vgl. Fliegauf et al. 2008: 415). Es sollte daher deutlich geworden sein, dass diese Arbeit trotz der interaktionistischen Perspektive keine alle Faktoren und Elemente erschöpfend behandelnde Analyse sein kann, insbesondere, weil es sich um eine Komplexität reduzierende, modellhafte Untersuchung politischer Führung handelt bzw. handeln muss. Dennoch wird der interaktionistische Ansatz interdisziplinär und gegenstandsbezogen weiterentwickelt, um dieser Komplexität im Rahmen dieser Arbeit so weit wie möglich gerecht zu werden.

3.2.1 Interdisziplinäre gegenstandsbezogene Weiterentwicklung des interaktionistischen Ansatzes

Zur gegenstandsbezogenen Weiterentwicklung des interaktionistischen Ansatzes sind einige Zugänge und Methoden der interdisziplinären Führungsforschung sowie Parteiorganisationsforschung einzubeziehen11. Nur durch einen solchen interdisziplinären Ansatz lassen sich die komplexen und vielfach interdependenten Kausalzusammenhänge des Führungsprozesses in Parteien erschließen und analysieren, da eine eindimensionale Erklärungslogik, unabhängig aus welcher Perspektive, der „konstitutiven Multikausalität und Interdependenz“ (Wiesendahl 2013: 47) des komplexen Phänomens Führung innerhalb der Parteiorganisation nicht gerecht wird:

- Allgemeine organisationstheoretische Ansätze sowie Arbeiten der Parteienforschung mit theoretischer oder empirischer Ausrichtung thematisieren die Parteiorganisation als Ressource und Restriktion politischer Führung. Mit ihrer Hilfe lässt sich die spezifische Struktur der Parteiorganisation als institutionelle Rahmenbedingung innerparteilicher Führung ausarbeiten (Unterabschnitt 3.2.2).
- Tiefenpsychologische Ansätze, die Eigenschaftstheorie sowie Erträge der Charisma-Forschung und nicht zuletzt die transformationale Führungstheorie richten den Blick stärker auf die Eigenschaften der politisch Führenden. Die Erkenntnisse dieser Ansätze ermöglichen die Identifikation einer Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen, die als personale Faktoren innerparteilicher Führung in die Analyse einbezogen werden können (Unterabschnitt 3.2.3).
- Der gegenstandsbezogen entwickelte interaktionistische Analyseansatz folgt den Prämissen und Grundannahmen der aus der Soziologie stammenden Handlungstheorie (vgl. Miebach 2006; Wiesendahl 2013: 42 ff.), sodass die vorliegende Arbeit in der Schnittstelle zwischen Leadership-Forschung und handlungstheoretischer Parteienforschung verortet wird. Der handlungstheoretische Ansatz erklärt das Sozialgebilde Partei als kollektiven Akteur, der hervorgebracht wird aus dem aufeinander bezogenen Handeln und Interagieren individueller Akteure innerhalb der Parteiorganisation. Mit Hilfe des handlungstheoretischen Ansatzes ist es möglich, das wechselseitige Einflussverhältnis zwischen Handeln und Struktur zu ergründen. Konkret heißt das: Das Verständnis handlungstheoretischer Ansätze hilft bei der Beantwortung der Frage, inwieweit der Parteivorsitzende beeinflusst wird durch die ihn umgebenden strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen und inwieweit er diese strukturellen Rahmenbedingungen durch sein Handeln und seine personalen Eigenschaften umgekehrt selbst beeinflussen kann (Unterabschnitt 3.2.4).

3.2.2 Parteienorganisationsforschung: Parteiinterne Organisationsstruktur als institutioneller Rahmen

Zur Untersuchung der politischen Führung von Parteivorsitzenden in der SPD im analytischen Teil werden an dieser Stelle verschiedene Zugänge der Parteien- und Organisationsforschung dargestellt, um dadurch die spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen als Ressourcen und Restriktionen innerparteilicher Führung herauszuarbeiten.

Jun (2010a: 12) beschreibt politische Parteien als „komplexe Organisation[en] mit unterschiedlichen Handlungs- und Wirkungslogiken“, die „ein kollektives Denk- und Handlungssystem“ bilden, „welches das Handeln in der Organisation zugleich ermöglicht und begrenzt“. Im Vergleich zu frühen Studien der Organisationssoziologie, die sich auf Robert Michels’ "ehernes Gesetz der Oligarchie" berufen (vgl. Jun 2010a: 13), kommt die moderne Organisations- und Parteienforschung zu differenten Schlüssen: Die Struktur von Parteien lässt sich etwa als „polyarchisch überformt“ kennzeichnen, das heißt die Organisation konstituiert sich von unten (vgl. Grunden 2009: 56). Lösche und Walter beschreiben die Parteiorganisation, insbesondere die der Volkspartei, als „lose verkoppelte Anarchie“ (Lösche/Walter 1992: 197 f./Wiesendahl 1998: 242 ff.), woraus eine „zunehmende institutionelle und organisatorische Fragmentierung folgt“ (Hofmann 2004: 81). Niedermayer schließlich schreibt, sich auf das Stratarchie-Modell von Eldersveld (1964: 8 ff.) beziehend, von einem „‘pluralistische[n] Stratarchiemodell‘ mit mehreren Machtzentren und wechselseitigen Abhängigkeitsstrukturen“ (Niedermayer 1993: 234).

An diese Feststellungen anknüpfend lassen sich vier spezifische, für diese Arbeit zentrale, Merkmale der parteiinternen Organisationsstruktur zur Untersuchung der Fragestellung herausstellen:

1. Die horizontale und vertikale Fragmentierung12 der Parteiorganisation beruht auf dem föderalen Aufbau aller deutschen Parteien, welcher im Parteiengesetz sowie in den Bundessatzungen der Parteien niedergeschrieben ist und den grundsätzlich föderalen Staatsaufbau mit Gemeinden, Bundesländern und der Bundesebene wiederspiegelt (vgl. Treibel 2014b: 327/Kießling 2004: 28). Unterhalb der Bundespartei organisieren sich teilautonome regionale Parteigliederungen der Landes-, Bezirks-, Kreis, und Ortsverbände (vgl. Treibel 2014a: 22). Diese föderale Struktur versetzt die Parteien in die Lage, föderale Probleme und Konflikte innerhalb der eigenen Organisation frühzeitig zu erkennen und zu bearbeiten (vgl. Kropp 2010: 76). Meist führt eine vertikal fragmentierte Parteiorganisation zur Ausformung einer stratarchischen Struktur, die verschiedene Subgruppen und Koalitionen auf mehreren Ebenen enthält und innerhalb derer sich verschiedene Machtzentren bilden können. Die Fragmentierung in horizontaler Dimension basiert auf der formalen Aufgliederung in innenparteiliche Sonder-, Unter- und Nebenorganisationen sowohl in formaler (Arbeitsgemeinschaften, Fachausschüsse, Vereinigungen und Vorfeldorganisationen) als auch informeller (Strömungen, Flügel, Faktionen) Art und ist bei Volksparteien besonders ausgeprägt (vgl. Jun 2010a: 25 f./Treibel 2014b: 327).
2. Neben dem Prinzip der Fragmentierung sind zudem die Prinzipien der Unbestimmtheit, losen Kopplung und Hypokrisie13 kennzeichnend für die Parteiorganisation (vgl. Wiesendahl 1998: 219 ff.). Unbestimmtheit meint, dass parteiinterne Prozesse der Zielfindung, Aufgabenbestimmung, Ressourcenverwendung und Machtverteilung weitestgehend im Unklaren bleiben. Durch die heterogene Zusammensetzung der Partei sind die einzelnen, voneinander abgeschiedenen Organisationselemente lose miteinander verkoppelt. Dies drückt nicht nur einen hohen Freiwilligencharakter in Parteien aus, sondern die besagte lose Kopplung trägt auch zur Neutralisierung binnenstruktureller Spannungen und Konfliktpotentiale bei (vgl. Rieckhoff 2012: 26/Treibel 2014a: 24). Der Hypokrisie (aus dem Griechischen: Schwindel, Lüge oder Heuchelei) liegt die Aufteilung der Partei in zwei Handlungssphären zugrunde: In dem einen Bereich wird hauptsächlich kommuniziert und entschieden, in dem anderen Bereich erfolgt das praktische Handeln. Dabei verlaufen Diskussion auf der einen Seite und praktisches Handeln auf der anderen Seite voneinander entkoppelt, isoliert oder abgeschottet (vgl. Wiesendahl 1998: 233 f.): „Hypokrisie heißt für Parteien, nicht nur mit gespaltenen bzw. vielen Zungen zu reden, sondern darüber hinaus auch noch auf die eine Weise zu reden und sich zu entscheiden und auf die andere Weise zu handeln.“ (Wiesendahl 1998: 234).
3. Das Verhältnis zwischen der Parteiführung und der Parteibasis ist ein spezifisches: Als polyarchisch überformte Organisationsform (vgl. Treibel 2014b: 328), in welcher die Mitgliedschaft auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basiert (vgl. Jun 2010a: 16 ff./Wiesendahl 1998: 190), können die Mitglieder mit Austritt und somit mit einem Ressourcenentzug drohen14 und damit direkte Auswirkungen auf das Bestehen der Organisation haben (vgl. Treibel 2014b: 328).

Die hier in aller Kürze aufgeführten klassischen Ansätze der Parteienforschung zu den innerparteilichen Machtverhältnissen (Hierarchie/Oligarchie, Stratarchie, Anarchie) sollen dieser Arbeit als Referenzpunkte dienen, innerhalb derer sich politische Führung in Parteiorganisationen abspielen kann. Die von Wiesendahl elaborierten Prinzipien der Fragmentierung, losen Kopplung, Unbestimmtheit und Hypokrisie liefern entscheidende Hinweise darüber, welche institutionellen Faktoren politische Führung in der Parteiorganisation begrenzen und ermöglichen (vgl. Treibel 2014a: 24 f.).

3.2.3 Sozialpsychologie: Die Rolle der Gefolgschaft und die Adressaten innerparteilicher Führung

Ein oft allzu vernachlässigtes Verhältnis stellt die Beziehung zwischen politisch Führerendem und Gefolgschaft dar. Die Grundprämisse politischer Führung ist ein enges, nahezu symbi-otisches Verhältnis beider Teile: „Leaders and followers are engaged in a common enterprise; they are dependent on each other, their fortune rise and fall together, they shape the results of planned change together“ (Burns 1979: 426). Den aktiveren Part spielt, so auch die Grundannahme in dieser Arbeit, zwar der politische Führer, doch eine völlige Ignoranz der Bedürfnisse der Gefolgschaft wird dem Phänomen der politischen Führung nicht gerecht. Zu diesem Schluss kommt auch Gardner, der besonders die Interaktion dabei hervorhebt: „All that we know about the interaction between leaders and constituents or followers tells us that communication, and influence flow in both directions; and that two-way communication, non-rational, nonverbal, and unconscious elements play their part. In the process leader shape and are shaped” (Gardner 1993: 1).

Sozialpsychologische Ansätze kommen zu dem Schluss, dass Prozesse der Gruppenmobilisierung nicht ausschließlich aus dem reinen Führungswillen von Einzelpersonen entstehen, sondern umgekehrt bestehende un- oder vorbewusste Bedürfnisse innerhalb der Gruppe nach Veränderung oder Wandel erst das Bedürfnis nach einer geeigneten Identifikationsfigur erzeugen, deren Persönlichkeitsstruktur als geeignet erscheint für die Gruppe. Aus dieser Perspektive erscheint die den Einzelnen umgebende Gruppe vielmehr als Ausgangspunkt politischer Führung. Demnach müssen politisch Führende den übrigen Mitgliedern in manchen Punkten ähneln, damit diese sich in ihren Führern wiederfinden können, sowie eine gemeinsame Problemwahrnehmung besitzen. Gleichzeitig ist den Führungsakteuren eine Vorbildfunktion inhärent, sodass diese, stellvertretend für die Gruppe bzw. die einzelnen Gruppenmitglieder, deren Wünsche und Verlangen nach Macht, Einfluss und Anerkennung erfüllen und damit das personifizierte Versprechen darstellen, die artikulierten Bedürfnisse nach Veränderung umsetzen zu können. Führende werden somit für die Geführten zu Identifikations- und Projektionsobjekten (vgl. Micus 2010: 25) (vgl. hierzu insbesondere die empirischen Bezüge in der Auswertung in Unterabschnitt 4.3.7 „Charisma“). Inwiefern diese Prämissen auch innerhalb einer Parteiorganisation, wie der der SPD, zutreffen, ist in der Analyse im Hauptteil dieser Arbeit zu ergründen.

Zur gegenstandsbezogenen Verengung des Analyseansatzes ist es notwendig, die Adressaten der innerparteilichen Führung zu identifizieren und sich mit diesen als handelnde individuelle und kollektive Akteure im Verhältnis von Leader und Follower (Fliegauf et al. 2008/Gast 2010b: 13) zu beschäftigen. Für diese Arbeit wird die Differenzierung Treibels übernommen, welcher mehrere Mitgliedertypologien15 zusammenführt und innerhalb der Parteiorganisation in die Akteursgruppen Parteiführung auf der einen Seite und Parteispitze (Mandatsträger, Hochaktive), mittlere Parteieliten (Daueraktive) und Parteibasis (ehrenamtlich Aktive, Inaktive) als Adressaten auf der anderen Seite unterteilt (vgl. Treibel 2014b: 328).

Die Parteiführung besteht im Grunde aus dem engeren Kreis der Parteieliten16, kann teilweise jedoch nur einige wenige Personen ausmachen oder sogar aus nur einer Person bestehen. Diese Konstellationen differenzieren sich entsprechend in die individuelle Parteiführung (nur ein individueller Akteur), die duale Parteiführung17 (zwei individuelle Akteure) sowie die kollektive Parteiführung (mehr als zwei individuelle Akteure) (vgl. Treibel 2014b: 329). Zur Parteiführung gehört nur ein solcher Akteur, der bei „innerparteilichen Entscheidungsprozessen im politischen Alltag herausgehobene Positionen innehat und die Ressourcen besitzt, kurzfristig Entscheidungen zu implementieren, um mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Politische Führung auszuüben“ (Jun 2010a: 23). In der als lose verkoppelten Anarchie verstandenen Parteiorganisation kann in der Regel analog ein strategisches Zentrum (vgl. nicht nummerierter Unter-Unterabschnitt in 4.3.1) identifiziert werden, welches aus Führungsakteuren mit strategisch besetzten relevanten Positionen im Parteiapparat oder in staatlichen Institutionen besteht (vgl. Jun 2010a: 26). Das strategische Zentrum ist ein informelles Netzwerk, das auf sehr wenigen Personen in Führungspositionen beruht, welche die Strategie und das strategische Steuerungshandeln definieren und beeinflussen (vgl. Raschke und Tils 2011: 142 ff.).

[...]


1 Die Begriffe „Führung“, „führen“ und „Führer“ sind in Deutschland aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit völlig anders vorbelastet, als etwa „Leadership“ und „Leader“ im Englischen. In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe synonym verwandt, jedoch die deutschen Termini bevorzugt.

2 Damit befindet sich diese Arbeit innerhalb des induktiven Forschungsparadigmas, jedoch ohne einen, im Sinne der „grounded theory“, vollständig offenen Zugang zum Untersuchungsgegenstand zu erfüllen, der gänzlich auf theoretische und konzeptionelle Vorannahmen verzichtet (vgl. Glaser/Strauss 2006: 3 ff.).

3 „Darstellungspolitik ist medienvermittelnde Politik, die sich im Gesamtkomplex der symbolischen und öffentlich inszenierten Politik zuordnen lässt. (…) Entscheidungspolitik zielt hingegen auf die Verfahrensmerkmale der Politik, auf den konkreten Prozess der Gesetzgebung. Weitgehend unbeeinflusst von den Aufmerksamkeitsregeln der Medien erfolgt Entscheidungspolitik zumeist im Rahmen der Routinegesetzgebung“ (Korte/Fröhlich 2004: 15).

4 Die institutionellen Faktoren wurden als feststehende organisationale Strukturen ausschließlich aus der Forschungsliteratur heraus identifiziert.

5 Darunter beispielsweise die inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse, die evaluative qualitative Inhaltsanalyse, die formale qualitative Inhaltsanalyse, die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse, die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse, die summative qualitative Inhaltsanalyse oder die qualitative Inhaltsanalyse mittels Extraktion.

6 Die Bedeutung des Reliabilitätskriteriums zeigt sich darin, dass meist ein intersubjektiv-konsensuales Textverständnis angestrebt wird, das jedoch nicht notwendig mit der Berechnung eines Interrater-Koeffizienten einhergeht. Die Bedeutung der Validität spiegelt sich in der Anforderung, das Kategoriensystem so zu erstellen, dass es in der Lage ist, wesentliche Bedeutungsaspekte des Materials zu erfassen. Dies erfordert in der Regel, dass zumindest einige Kategorien induktiv am Material entwickelt werden.

7 In den theoretischen Vorüberlegungen wird folglich der Kausalzusammenhang, nach dem gesucht wird, so genau wie möglich benannt.

8 Sinnbildlich drückte etwa Guido Westerwelle die Verflochtenheit von Steuerung und Richtung mit hierarchischer Annotation auf dem Bundesparteitag der FDP 2001 wie folgt aus: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der die Sache regelt – und das bin ich! (zit. nach Dittberner 2005: 113). Die von Westerwelle verwendete Analogie des „Steuermanns“, der „Kurs, Richtung und Inhalte der Partei“ (Treibel 2014a: 15) bestimmt, wurde schon im Schiffsgleichnis von Platon verwendet, welcher die Aufgaben eines Politikers mit denen des Steuermanns eines Schiffes verglich. Dieser steuert das Schiff, den Staat versinnbildlichend, trotz stürmischer See, in den sicheren Hafen (vgl. Schwarzkopf 2002: 207). Die Metapher des Steuermanns wurde jedoch nicht nur in der Antike verwendet. Die hierzulande wohl berühmteste Schiffs- bzw. Steuermann-Metapher wurde nach dem Rücktritt des Reichkanzlers von Bismarck im März 1890 in Form einer Lithographie mit der Unterschrift „dropping the pilot“ (in Deutschland vielerorts nachgedruckt unter dem Titel „Der Lotse geht von Bord“) in der britischen Zeitschrift Punch veröffentlicht. Darin ist Kaiser Wilhelm II. zu sehen, der, über die Reling gelehnt, dem Lotsen Bismarck versonnen beim Aussteigen zusieht (vgl. Hönig 2000: 21). Raschke und Tils (2008: 20) ergänzen den Steuerungsbegriff um strategische Gesichtspunkte und fassen unter dem Begriff „Strategische Steuerung“: „Strategische Steuerung kennzeichnet den Prozess der Umsetzung einer konzeptionell oder emergent entstandenen Strategie durch einen – in unterschiedlichen Graden – strategiefähigen Akteur“. Grasselt und Korte (2007: 57) kommen zu dem Schluss: „Führung findet immer im Dreiklang aus Macht, Steuerung, und Kommunikation statt“.

9 Die „Great-Man-Theorie“ orientiert sich an berühmten Einzelpersonen der Geschichte. Sie geht davon aus, dass nur eine kleine Minderheit der Menschen aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur in der Lage ist, „Führung“ erfolgreich auszuüben. Demzufolge werden Führungsfiguren als einzigartige Persönlichkeiten angesehen, welche durch bestimmte angeborene Charaktereigenschaften und Qualitäten fähig sind, auf natürliche Weise zu führen. Im Mittelpunkt dieser Forschung steht daher die Frage nach der Identifikation dieser Qualitäten und Charaktereigenschaften, welche eine erfolgreiche Führungsperson ausmachen, und danach, was Führungspersonen von Geführten unterscheidet. Wenngleich die Grundannahmen dieser Theorie heute als überholt gelten, erfreut sich dieser Ansatz noch immer großer Popularität (vgl. Lippold 2015: 28).

10 Der Strukturalismus ist eine geisteswissenschaftliche Strömung, die ihre Hochphase in den 1960er bis 1970er Jahren hatte. Es gibt keinen einheitlichen Strukturalismus, sondern nur strukturalistische Grundannahmen: Die Struktur bedingt die Funktionalität der Teile im Verbund einer Ganzheit. Einzelphänomene konstituieren sich demzufolge erst durch ihre Position in einem größeren Zusammenhang und lassen sich auch nur aus dieser heraus erklären.

11 Für eine umfassende Übersicht der multidisziplinären Zugänge zur Führungsforschung siehe Gast 2010a.

12 Dies gilt besonders für die SPD und ihren traditionellen Zentralismus. Die SPD zeigt sich aufgrund sektoraler und föderaler Interessen „hochgradig fragmentiert“ (Kropp 2010: 76) und wurde dementsprechend als „lose verkoppelte Anarchie“ (Lösche/Walter 1992) beschrieben.

13 Wiesendahl nimmt mit diesem Neologismus Bezug auf Brunsson (1989: 27): „Hypocrisy is a fundamental tie behaviour in the political organization: to talk in a way that satisfies one demand, to decide in a way that satisfies another, and to support products that satisfies a third”.

14 Vgl. hierzu die Klassifikation von Hirschmann (1970) in Exit, Voice und Loyality.

15 Dabei bedient sich Treibel bei den Typologien von Wiesendahl (2006: 38f.), Alemann/Walther (2010: 173 ff.) und Zeuner (1970: 66-99).

16 Während der Begriff der Elite positional bestimmt ist, impliziert Führung ein Tun und Handeln. Führung ist ein interpersonell bestimmbarer Prozess, findet daher innerhalb der prozessualen Dimension der Politik statt und beinhaltet ein zwischenmenschliches Moment, hat Beziehungsqualität. Dabei korreliert Führung mit Macht, indem sie von Machteliten ausgeht, also von individuellen Akteuren, die gesamtgesellschaftliche Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten besitzen (vgl. Micus 2010: 27).

17 Siehe hierzu vor allem die empirische Auswertung in Unterabschnitt 4.1.6 „Verhältnis zwischen Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender“.

Ende der Leseprobe aus 216 Seiten

Details

Titel
Möglichkeiten und Formen politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD
Hochschule
Universität Trier
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
216
Katalognummer
V502986
ISBN (eBook)
9783346046871
ISBN (Buch)
9783346046888
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Führung, Leadership, Politische Führung, Political Leadership, SPD, Sozialdemokratische Partei Deutschlands, leitfadengestützte Experteninterviews, Parteivorsitzende, Parteienorganisation, Sozialpsychologie, Soziologie, Persönlichkeitsmerkmale, Mediengesellschaft, Personalisierung, Charisma, Glauwürdigkeit
Arbeit zitieren
Bajram Dibrani (Autor:in), 2016, Möglichkeiten und Formen politischer Führung von Parteivorsitzenden in der SPD, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/502986

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