Goethes Geniebegriff im Sturm und Drang. Im Blickpunkt: Prometheus und Ganymes


Bachelorarbeit, 2019

43 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theorieteil
2.1 Der Geniebegriff- theoretische und geschichtliche Grundlagen
2.2 Shakespeare
2.2.1 Shakespeare als Genie- Paradigma
2.2.2 Goethes Rede „Zum Shäkespears Tag“ aus dem Jahr 1771
2.3 Goethes Hymnen um 1770 als Höhepunkt der Geniezeit unter dem Einfluss Pindars
2.4 Zusammenfassung des Theorieteils

3. Gedichtanalysen unter Einbezug des Theorieteils
3.1 Prometheus
3.1.1 Das Gedicht
3.1.2 Veröffentlichung des Gedichts und die mythologische Figur Prometheus
3.1.3 Interpretation des Gedichts vor dem Hintergrund des Geniegedankens im Sturm und Drang
3.2 Ganymed
3.2.1 Das Gedicht
3.2.2 Veröffentlichung des Gedichts und die mythologische Figur Ganymed
3.2.3 Interpretation des Gedichts vor dem Hintergrund des Geniegedankens im Sturm und Drang
3.3 Vergleich beider Gedichte
3.4 Zusammenfassung der Gedichtanalysen

4. Ausblick

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die literarische Epoche des Sturms und Drangs wird nicht ohne Grund auch als Geniezeit bezeichnet. Die Beschäftigung mit dem Geniebegriff erreichte im 18. Jahrhundert vor allem durch das neue Lebensgefühl der Stürmer und Dränger ihren Höhepunkt. Für sie standen die Kreativität und die Loslösung von bisherigen Autoritäten im Fokus. Sie sahen als Genie eine Person an, die sich aus eigenen Fähigkeiten in ihrem Kunstwerk selbst verwirklicht, ohne sich dabei von autoritären Einflüssen und Regeln bestimmen oder beeinflussen zu lassen. Der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe, welcher heutzutage selber als Universalgenie bekannt ist, hat sich reichlich mit dem Geniegedanken beschäftigt. Den Anstoß dafür boten unter anderem die Treffen mit Johann Gottfried Herder und die Beschäftigung mit seinem Genie- Exempel William Shakespeare.

Für die Untersuchungen, welche Eigenschaften ein Genie für Goethe in seiner Sturm- und- Drang- Zeit mitbringen muss und inwiefern dieser Geniebegriff in seinen Hymnen „Prometheus“ und „Ganymed“ verwirklicht wird, wird im ersten theoretischen Teil der Arbeit der Fokus auf den allgemeinen Geniebegriff im 18. Jahrhundert gelegt. Dazu ist es wichtig, über die gesellschaftliche Ausgangssituation zu informieren, aus der sich das neue Lebensgefühl der Stürmer und Dränger entwickelte, welches eng mit dem Geniegedanken verbunden ist. Anhand des allgemein als Genie- Paradigma bekannten Shakespeares wird Goethes Geniebegriff definiert und dabei verdeutlicht, welche Eigenschaften einen Dichter von einem geniehaften Schriftsteller abheben. Auch Goethe wollte sich als genialer Dichter beweisen. Aus welchen Gründen seine Hymnen um 1770 als Höhepunkt der Geniezeit verstanden werden und welchen Einfluss der griechische Dichter Pindar mit seinem pindarischen Odenschema dabei auf Goethes Werke nimmt, wird der Autor im weiteren Verlauf genauer erläutern.

Dieser erste Teil der Arbeit dient als theoretische Einführung und soll sowohl Hintergrundwissen als auch eine Grundlage für die darauffolgenden Gedichtanalysen vermitteln. Goethes Gedichte „Prometheus“ und „Ganymed“ werden unter Einbezug des vorangestellten Theorieteils im Hinblick auf den Geniegedanken im Sturm und Drang analysiert. Dabei geht es darum, inwiefern die Genialität jeweils bei den beiden Figuren in den beiden Gedichten zum Ausdruck kommt und aus welchen Gründen es sich bei den Werken um geniale Konstrukte aus der Sturm- und- Drang- Epoche handelt.

2. Theorieteil

2.1 Der Geniebegriff- theoretische und geschichtliche Grundlagen

Die Epoche der Aufklärung (1720- 1785) ging dem Sturm und Drang zeitlich voraus. Dort standen Vernunft und Verstand im Mittelpunkt pädagogischer Ausbildungen1, welche dem Menschen den „Ausgang (…) aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1784, S. 481) zeigen2, und mit welchen alle bisherigen Führungspersonen und Autoritäten kritisch hinterfragt werden sollten.3

Im 18. Jahrhundert kam es in Deutschland, welches in verschiedene Teilstaaten gesplittet war4, zu gesellschaftlichen Veränderungen: Aufgrund eines allmählich entstehenden Lesepublikums trennten sich die Schriftgelehrten samt ihrer Literatur von den Höfen der Fürsten, wo sie bis zu dem Zeitpunkt unter anderem für die Unterhaltung gesorgt hatten.5 Für diesen Wandel waren vor allem die Frühaufklärer verantwortlich. Sie versuchten, Bildung zu vermitteln und die deutschen Bürger zu belehren.6 Es erschienen viele Zeitschriften, Lexika und Enzyklopädien, wie beispielsweise das 64bändige „Zedlersche Lexikon“ aus den Jahren 1732- 1754. Als wichtigstes Sprachrohr für die Aufklärer fungierten zugleich die „Moralischen Wochenschriften“, die, angelehnt an den englischen Zeitschriften, regelmäßig erschienen und die Bürger zu einer selbstständigen, moralischen Urteilsfähigkeit anregen sollten.7 In Folge dessen bildete sich eine „sich selbst verständigende Öffentlichkeit“ (Schmidt 1988, S. 3) als Leserschaft und somit war die Grundlage für ein autonomes Schriftstellertum geschaffen.8

Einen weiteren Beitrag auf dem Weg des Bürgertums zum Erlangen der Mündigkeit leistete die Säkularisierung. Aufgrund der Loslösung religiöser Denkweisen von einem transzendenten Gottesbild wurde Gott von nun an als Schöpfergott in der Natur, also in dem von ihm Geschaffenen, erfahren. Diese Lehre Spinozas, das auf eine Stufe stellen von Gott und Natur, zu der der Mensch selbst gehört, prägte die gesamten Denkweisen und Weltbilder der gebildeten Bürgerschicht im 18. Jahrhundert und beeinflusste auch Dichter wie Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang von Goethe. Die neue Sichtweise, eine „Reduktion des Übernatürlichen auf das Natürliche“ (Schmidt 1988, S. 6), und die Tatsache, das den Bürgern von nun an alle göttlichen Eigenschaften zugeschrieben wurden, schafften bei den Menschen ein neues Lebensgefühl. Ein Gefühl, das die Eigenständigkeit des Einzelnen verstärkte und das Genie als Schöpfer anerkannte.9 Aufgrund des gegensätzlichen Gedankenganges zu den bis dahin bestehendem, traditionellem Gottesbild hatte der Spinozismus mit harten Atheismusvorwürfen zu kämpfen.10

Auch in der Literatur vollzog sich im 18. Jahrhundert ein Wandel: Die Literaturkritik versuchte, die alteingesessenen Regeln und Normen aus der Antike in der Literatur hinter sich zu lassen. Sie erreichte um 1770 ihren Höhepunkt und ließ sich als Anfang einer neuen Literaturepoche zusammenfassen.11

Diese Epoche der Stürmer und Dränger verlief zeitlich von etwa 1770 bis 1785 und wird auch als Geniezeit bezeichnet. Sie erhielt ihren Namen aufgrund des 1776 veröffentlichten Schauspiels „Sturm und Drang“ des Dichters Friedrich Maximilian Klinger.12 Diese Epoche wird inhaltlich nicht getrennt sondern als Folge der Aufklärung verstanden. Die junge Generation der Stürmer und Dränger distanzierte sich von der bisherigen Regelpoetik der antiken Traditionen und der Hervorhebung der Vernunft, denn für sie standen sowohl die eigene Kreativität als auch die Individualität und somit die Loslösung von den damaligen Vorbildern im Vordergrund.13 Dieser Befreiungsprozess von den bisherigen herrschenden Autoritäten und Regeln war in der Gesellschaft ein „Streben nach sozialer, rechtlicher, weltanschaulicher und politischer Freiheit und Unabhängigkeit“ (Schmidt 1988, S. 4). Der Prozess von einer Marionette zu einem eigenständigen Bürger war der Gleiche wie der vom Hofdichter zum Dichter- Genie, das sein Selbstbewusstsein aus seinem eigenen Potenzial und Fähigkeiten gewann. Als Sinnbild und Repräsentant des Lebensgefühls dieser Zeit galt der aus der griechischen Mythologie stammende Prometheus. Er verband beides miteinander: Er war ein autonomes, schöpferisches Wesen und leistete Widerstand gegen die autoritären Götter.14 Im Sturm und Drang war das Genie der Inbegriff menschlicher Selbstverwirklichung und eine Person, die aus eigener gottgleicher Kraft heraus für die Zukunft etwas Wegweisendes vollbringt.15

Der Geniebegriff breitete sich in Deutschland schlagartig aus und veränderte sich im Laufe der Zeit.16 Der Ästhetik des Genies, die sich irreversibel gegen die Orientierung an Normen und Regeln aussprach, gelang der endgültige Durchbruch Mitte des 18. Jahrhunderts.17 Zu der Zeit haben sich viele wichtige Denker wie Goethe, Herder, Klopstock und Lavater mit dem Genie- Gedanken beschäftigt.18

Der Begriff Genie wurde aus dem lateinischen genius hergeleitet, was ursprünglich mit „erzeugender Kraft“ und später auch mit „Schutzgott“ oder „Schutzgeist“ übersetzt wurde. In der frühen Neuzeit wurde das Genie auch auf ingenium zurückgeführt, was so viel wie „angeborenes Talent“ oder „Begabung“ bedeutet.19 Im Allgemeinen wird als Genie eine Person bezeichnet, die sich durch eine außerordentlich- schöpferische Geisteskraft oder weiteren besonderen Leistungen von anderen Menschen abhebt. Ein Genie ist ein aus sich selbst heraus schaffender autonomer Künstler, welcher die Eigenschaften Wissen, Kreativität, Begabung und Perfektion miteinander verbindet und sich selbst in seinem Kunstwerk verwirklicht. Er schafft das, was „von Menschen nicht gelernt und nicht gelehrt werden kann“ (Lavater 1981, S. 75), als wäre er ein Mensch höherer Art.20

2.2 Shakespeare

2.2.1 Shakespeare als Genie- Paradigma

„Shakespeare ist das dramatische Paradigma genialen Dichtens.“21 William Shakespeare (1564- 1616) war ein englischer Dramatiker, Lyriker und Schauspieler und gilt als einer der bedeutendsten Dichter der Weltliteratur. Sein Gesamtwerk beruht auf insgesamt 38 Dramen sowie 154 epischen Versdichtungen und Sonetten.22 Er wurde in England bereits 100 Jahre vor dem Geniekult in Deutschland als Genie mit naturhaften, schöpferischen Dichtungsqualitäten gefeiert, durch welche er sich von anderen englischen Dichtern abhob. Fast alle ästhetischen Theorien, auch die zum Geniebegriff, wurden in Deutschland im 18. Jahrhundert von anderen Ländern übernommen oder beeinflusst23 und es entstand ein „Wandel vom französischem zum englischem Geschmack“ (Schmidt 1988, S. 162).24 Unter diesem „französischem Geschmack“ wurden die Orientierung an starren Regeln oder Normen, der klassizistische Schreibstil sowie die Nachahmung und Abschrift von anderen Dichtern verstanden. Shakespeare wurde dadurch zum Genie, dass er in seiner geschichtlichen Zeit, unter den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er lebte, neue geniale Werke ganz aus seinem eigenen Können heraus schuf.25 Dennoch vollzog sich dieser Wandel über einen längeren Zeitraum hinweg und die französische Orientierung an dem „Alten“ löste sich nicht sofort auf. Darum war auch Shakespeare als das verkörperte Genie im 18. Jahrhundert einigen Kritikern ausgesetzt.26

Die Zeitschrift „Spectator“ von Joseph Addison (1672- 1719) und Richard Steele (1672- 1729), die zu dieser Zeit in Europa weit verbreitet war und viel Zuspruch erntete, veröffentlichte 1711 einen Artikel über Shakespeare, in dem er aufgrund seiner schöpferischen Fähigkeiten gelobt wurde. Die Zeitschrift wurde wegen ihres aufklärerischen Charakters für die deutschen Bürger übersetzt, darum verbreitete sich die Anerkennung und Hochschätzung Shakespeares in den Jahren 1739- 1743 im ganzen Land. Selbst mehrere Jahrzehnte später schrieb Herder noch über die hohen Verkaufszahlen sowie den Zuspruch, den die Zeitschrift erhielt, und auch Goethe animierte seine Schwester dazu, diese zu lesen.27

Edward Young (1683- 1765), ein Bewunderer Addisons, trug ebenfalls wesentlich zur Verbreitung Shakespeares und des Geniebegriffs in Deutschland bei. Durch seine Schreibweise, wie er in seiner 1759 veröffentlichten Arbeit „Conjectures on Original Composition“ über das Shakespeare- Genie schrieb, welche kurze Zeit später ins Deutsche übersetzt wurde, fand er Anklang bei den deutschen Bürgern und löste damit eine regelrechte Faszination für den Geniebegriff aus.28 Für ihn war Shakespeare der Prototyp eines Genies, weil er zum einen männlich war und zum anderen ohne Unterstützung arbeitete, denn er war „von Anfang an naturhaft in sich vollendet“ (Schmidt 1988, S. 156). Das bedeutet, er schuf seine Werke aus seinem eigenen Wesen heraus, ohne sich dabei an anderen Dichtern oder festgelegten Regeln zu orientieren. Diese Originalität machte ihn als Genie aus und hat ihn von anderen Dichtern, die sich an den Arbeiten anderer orientierten und bedienten, abgehoben.29

Nahe des Sturms und Drangs analysierte Henry Home Kames (1696- 1782), der insbesondere durch seine Arbeit „Grundsätze der Kritik“ (1763- 1766) bekannt wurde, Shakespeare in seinem Werk noch ausführlicher. Kames kam zu dem Schluss, dass der englische Dichter eine geniegleiche, naturhafte Sprache benutzte und bei ihm die Leidenschaftlichkeit im Fokus stand. Hingegen löste er sowohl die Vernunft als auch die Regeln auf.30 An dieser Analyse Kames und der engen Verbindung vom Genie- Dichter und der Leidenschaftlichkeit bedienten sich auch später Goethe und Herder in ihren Shakespeare- Analysen.31 Sowohl Goethe als auch Herder sahen in Shakespeare den Inbegriff eines Genies mit schöpferischen Fähigkeiten und führten die bereits von Young ausgelöste Bewunderung für den Geniekult in Deutschland weiter fort.32 Von diesem Moment an wurde Shakespeare in die Epoche des Sturm und Drangs eingeordnet und unter ihren gefühlvollen Zügen betrachtet.

Herders frühste öffentliche Äußerung zu Shakespeare wurde 1768 publiziert. Diese recht reduzierte und auf Äußerlichkeiten beschränkte Sichtweise erweiterte er kurz darauf in seinem Aufsatz zu Shakespeare aus dem Jahr 1773.33 Er betitelte ihn als Genie aus den Gründen, das er sich an keine veralteten Normen oder Regeln hielt, wie es die französischen Dichter taten, und das er seine Werke „aus dem besonderen geschichtlichen Moment, in dem er lebte, [schaffte] (...) [unter] [den] Bedingungen seiner nordischen Umwelt“ (Schmidt 1988, S. 169). Herder bezeichnete den Moment als „Natur“ und dadurch, dass Shakespeare während seiner geschichtlichen Zeit seine außergewöhnlichen Werke niederschrieb, behauptete er sich selbst als naturhafter Dichter.34 Außerdem erklärte Herder seine Sympathie und Zuneigung für den Genie- Dichter mit der Begründung: „Ich bin Shakespeare näher als den Griechen“ (Schmidt 1988, S. 171). Damit meinte er, dass ein Genie für die Gegenwart und die Zukunft für die Gesellschaft nur bedeutungsvoll blieb, wenn es seiner Zeit sehr Nahe und sein Werk für die Ewigkeit bestimmt war. Er ging davon aus, dass Shakespeare für seine Zeit sehr modern war, weshalb er für ihn ein geeignetes Genie- Exempel darstellte. Nichtsdestotrotz werde der Dichter, je mehr Zeit verginge, irgendwann der Vergangenheit angehören und für die Menschen nicht mehr so präsent sein. Deshalb ergänzte Herder am Ende seines Aufsatzes, dass ein Genie an die Vergänglichkeit gebunden und auch geschichtlich bedingt ist.35

2.2.2 Goethes Rede „Zum Shäkespears Tag“ aus dem Jahr 1771

Der junge Goethe hielt am 14.10.1771 in seinem Elternhaus im Großen Hirschgraben in Frankfurt am Main eine Rede zu Ehren Shakespeares.36 Zur Zeit der Rede war Goethe nach seinem Jurastudium erst seit kurzem wieder in Frankfurt. Neben seinem Studium interessierte er sich sehr für Anatomie, Chirurgie, Chemie, Architektur, Farbenlehre und viele weitere Bereiche, was seine Denk- und Sichtweisen insgesamt sehr beeinflusste.37

Aufgrund der Tatsache, dass Goethes Interessensbereiche sehr vielfältig waren und er sich mithilfe einiger Studien, Reisen und weiterer Literatur über diese reichlich Wissen aneignete, kann er selber als Universalgenie bezeichnet werden. Denn neben seiner Dichtungen, verfasste er auch naturwissenschaftliche Arbeiten und war mit allen geistigen Strömungen seiner Zeit vertraut.38

Goethes Hochachtung und Verehrung für den englischen Dichter kam nicht von ungefähr. Den ausschlaggebendsten Anlass für die Bewunderung Shakespeares boten die halbjährigen Treffen Goethes mit Herder von September 1770 bis April 1771 in Straßburg, die seine Weltsicht und Anschauungen prägten sowie sein Bewusstsein für den englischen Dichter verstärkten.39

Die Rede Goethes „Zum Shäkespears Tag“ kennzeichnete den Anfang des deutschen Geniekults und der Sturm- und- Drang- Epoche.40 In Shakespeares Werken ging es oft um Charaktere, die ganz im Sinne der Stürmer und Dränger versuchten aus ihrer Umwelt auszubrechen und dabei meistens scheiterten, weil die gegnerische Macht wie ein „Gang des Ganzen“ (Goethe 1771) zu stark war.41 Eines seiner prominentesten Beispiele dafür war die Tragödie „Romeo und Julia“ aus dem Jahr 1597.42

Des Weiteren widersetzte sich Shakespeare der französischen, klassizistischen Regelpoetik, bei der man sich an strenge Vorgaben hielt. Seine Genialität machte für Goethe aus, dass er ganz aus seinem eigenen Können heraus aus dem, was ihm zur Verfügung stand, also den Bedingungen seiner Lebenswelt, wie zum Beispiel die Ständegesellschaft mit ihren unterschiedlichen Lebensweisen, ein neues und gottähnliches Werk erschuf.43 Die Kritik des jungen Goethes an den Franzosen, welche von Shakespeare angestoßen wurde44, ging in seiner Rede so weit, dass er „alle französischen Trauerspiele [als] Parodien von sich selbst“ (Goethe 1771) und als abwechslungslos bezeichnete.45 Die tiefe Bewunderung und Verbundenheit, die Goethe für Shakespeare empfand, zeigt sich auch in seiner Anrede an den englischen Dichter: „mein Freund, wenn du noch unter uns wärest, ich könnte nirgends leben als mit dir“ (Goethe 1771). Goethe war in diesem Moment gefühlsmäßig von seinen geschriebenen Worten so berührt, dass er sein Schreiben an dem Tag abbrechen musste und erst am nächsten Tag fortsetzen konnte.46 Im weiteren Verlauf der Rede drückte er die Vielfältigkeit der Themen, über die Shakespeare schrieb und die mit einem lebensnahem Bezug ausgestattet waren, aus, indem er sein Schauspiel als „Raritätenkasten“ (Goethe 1771) charakterisierte.47 Diese Natürlichkeit48 und Authentizität ist ein weiteres signifikantes Kennzeichen für den Sturm und Drang.49

Genauso wie die Geniebewegung im 18. Jahrhundert wurde auch Goethes Rede „Zum Shäkespears Tag“ aus dem Jahr 1771 von Spinozas Lehre geprägt.50 Die ersten Nachweise für Goethes Pantheismus sind Aufzeichnungen aus den Monaten Januar bis März aus dem Jahr 1771. Für die Pantheisten ist alles auf der Welt zu einem Ganzen zusammengefügt. Weil Gott und die Welt, die die Dinge zu einem Ganzen vereint, als Einheit verstanden wurden, konnte er vom Menschen durch die Natur erfahren werden. Diese Ganzheit lenkte in Shakespeares Werken und in der realen Wirklichkeit alle Ereignisse.51 Kurze Zeit später baute Goethe seinen spinozistischen Gedanken mit der in „der Ganzheit der Natur (…) innewohnende[n] Harmonie“ (Schröter 1992, S. 30) weiter aus. In seinem Aufsatz „Von deutscher Baukunst“ aus dem Jahr 1773 fand dieser Gedanke eines geniales Werkes als ein Ganzes, welches für die Ewigkeit bestimmt war, seine Wirklichkeit.52 Außerdem sah Goethe eine Verbindung zwischen dem irdischen Leben und dem Leben nach dem Tod. Auf diesem Weiterleben der Seele nach dem Tod, der platonischen Seelenlehre, baute Goethes Interpretation Shakespeares als „Wanderer“ (Goethe 1771) in seiner Rede auf. Diese Weltsicht, welche Goethe bei Shakespeares Arbeiten vorfand, war der Auslöser der anhaltenden Würdigung seiner Person.53

Insgesamt wurde in der Rede die vorherbestimmt geglaubte Beziehung zwischen Goethe und Shakespeare ziemlich deutlich. Die Zeitzeugen Goethes, die ihm bei seiner Rede zuhörten, werden zum einen Goethes Wertschätzung und Ehrfurcht gegenüber Shakespeare und zum anderen auch seinen Glauben an eine tiefe, schicksalsgleiche Verbundenheit zum englischen Dichter in Kenntnis genommen haben.54

2.3 Goethes Hymnen um 1770 als Höhepunkt der Geniezeit unter dem Einfluss Pindars

Der Begriff Hymne bezeichnet eine Gedichtform ohne festes Reimschema. Darunter verstand man ursprünglich einen Preis- oder Lobgesang, bei dem Götter oder Helden verehrt oder die Natur besungen wurde. Die Hymne ist der Ode, die aus dem Griechischen mit „Gesang“ übersetzt wird, sehr ähnlich und unter beiden wurde im 18. Jahrhundert das Gleiche verstanden.55 Die Ode, wie sie dem griechischen Dichter Pindar (522 oder 518- 446 v. Chr.) zugeschrieben wird, geprägt von Natur- und Leidenschaftlichkeit, galt im 18. Jahrhundert als die Dichtungsform des Genies, in der sich der geniale Dichter selber verwirklichen konnte.56 Darum wählte Goethe diese Form der Dichtung absichtlich aus, um sich in die Reihe der Genies einzuordnen und sich selbst als eins darzustellen.57

So wie Shakespeare wird auch Pindar zu einem Genie- Exempel mit genial- dichterischen Fähigkeiten emporgehoben.58 Der Dichter Pindar als naturhaftes Genievorbild wurde durch die Ode „Carmina“ vom griechischen Dichter Horaz (65- 8 v. Chr.) fixiert und beeinflusste die Vorstellung von einem Genie im gesamten 18.

Jahrhundert.59 Pindar widersetzte sich den bisherigen Traditionen und schuf Werke, ohne sich dabei augenscheinlich an Regeln oder Schemata zu orientieren.60 Aus dieser Ablehnung heraus leiteten Goethe, Klopstock und Hölderin die Rechtfertigung für Gedichte ohne festes Reimschema ab. Dadurch konnten sie in ihren Arbeiten ihren Gefühlen und Emotionen freien Lauf lassen, ohne sich dabei über äußere Formen Gedanken machen zu müssen. Darum wurden dem pindarischen Genie die Begriffe Spontanität und Regellosigkeit zugeschrieben. Außerdem war Pindar für Wortneuschöpfungen bekannt. Auch Goethe benutzte in seinen Hymnen um 1770 einige Neologismen, wie beispielsweise in "Wandrers Sturmlied" aus dem Jahr 1772.61

Goethe betonte in einem Brief an Herder, dass er Pindar verstehen würde, weil er sich ebenfalls von Anfang an besonders und anderen gegenüber überlegen fühlte.62 Das aus dem Stolz und der Vorrangstellung abgeleitete Selbstbewusstsein als pindarisches Stilmittel tauchte bis zum Ende der Sturm- und- Drang- Epoche immer wieder auf. 63 Bei Goethes Werken sogar bis in die Weimarer Klassik hinein.64

Nichtsdestotrotz waren Pindars naturhafte Oden Erfindungen, bei denen der geniale Dichter sein Werk nicht aus dem Augenblick heraus und nur scheinbar fern ab jeglicher Regeln schuf. Es handelte sich bei Pindars Oden um bis ins letzte Detail geplante Produkte65 und auch das „Stürmisch- Erlebnishafte“ (Schmidt 1988, S. 203), was auf keinem eindeutigen Ereignis beruhte und gerade im Sturm und Drang besonders häufig zum Vorschein kam, basierte auf einer von der Ode „geforderte[n] Fiktion“ (Schmidt 1988, S. 203). Auch Goethes Ode „Wandrers Sturmlied“ ist samt dramatisch- spannungsreichen Inhalt ein bis ins kleinste Detail geplantes Gebilde, in dem sich der Dichter an dem fest etablierten pindarischen Odenschema orientierte.66 Auch die Struktur des Sturmlieds weist charakteristische Kennzeichen einer Ode des 18. Jahrhunderts auf, denn sie ist triadisch aufgebaut. Dies bedeutet, dass die pindarischen Oden immer aus drei Teilen bestanden, welche willkürlich oft wiederholt werden konnten. Dadurch konnte die Dichtung vom Autor beliebig umfangreich gestaltet werden. Der Strophe schloss sich eine formgleiche Antistrophe und der Antistrophe wiederum eine formunabhängige Epode an.67 Die ursprüngliche Version von „Wandrers Sturmlied“ hatte zwölf Strophen mit drei aufeinanderfolgenden, gleichmäßig länger werdenden Trias.68 Neben den pindarischen Stilmitteln, wie zum Beispiel den Neologismen, setzte Goethe die aus drei Teilen bestehende Struktur der Ode insofern um, dass er sowohl seine Strophe als auch seine Antistrophe mit jeweils identischer Zeilenanzahl versah und die Besonderheit der sich anschließenden Epode durch eine höherer Versanzahl betonte. Dass jede aufeinanderfolgende Dreiergruppe bei Goethes Hymne länger als die jeweilige Gruppe davor ist, ist auch ein weiteres typisches pindarisches Stilmittel im 18. Jahrhundert, das oft benutzt wurde. Diese durchdachte und komplexe Struktur sowie die inhaltlichen Wiederholungen in „Wandrers Sturmlied“ sollten die Hymne zum einen vor der Annahme bewahren, es würde sich um eine schnell niedergeschriebene Sturm- und- Drang- Arbeit handeln und zum anderen sollten sie dabei helfen, sich in dem vielschichtige Werk zurecht zu finden.69

[...]


1 Vgl. Baumann/ Oberle 1996, S. 76

2 Vgl. Kant 1784, S. 481

3 Vgl. Schmidt 1988, S. 5

4 Vgl. Baumann/ Oberle 1996, S. 90

5 Vgl. Schmidt 1988, S. 2

6 Vgl. Ebd., S. 3

7 Vgl. Baumann/ Oberle 1996, S. 76f.

8 Vgl. Schmidt 1988, S. 3

9 Vgl. Schmidt 1988, S. 6

10 Vgl. Schuster 1992, S. 86

11 Vgl. Schmidt 1988, S. 5

12 Vgl. Baumann/ Oberle 1996, S. 89

13 Vgl. Stephan 2008, S. 158f.

14 Vgl. Schmidt 1988, S. 4

15 Vgl. Baumann/ Oberle 1996, S. 91

16 Vgl. Schmidt 1988, S. 10

17 Vgl. Ebd., S. 9

18 Vgl. Steinbach 1981, S. 74- 84

19 Vgl. Rassek 2019, o. S.

20 Vgl. Lavater 1981, S. 74

21 Schmidt 1988, S. 150

22 Vgl. Münnich o. J., o. S.

23 Vgl. Schmidt 1988, S. 151f.

24 Vgl. Ebd., S. 162

25 Vgl. Ebd., S. 169

26 Vgl. Ebd., S. 158-167

27 Vgl. Ebd., S. 154

28 Vgl. Ebd., S. 155

29 Vgl. Schmidt 1988, S. 156

30 Vgl. Ebd., S. 157

31 Vgl. Ebd., S. 158

32 Vgl. Ebd., S. 167

33 Vgl. Ebd., S. 168

34 Vgl. Ebd., S. 170

35 Vgl. Schmidt 1988, S. 171

36 Vgl. Schröter 1992, S. 14

37 Vgl. Ebd., S. 23

38 Vgl. Schmitz 2019, o. S.

39 Vgl. Schröter 1992, S. 23

40 Vgl. Ebd., S. 35

41 Vgl. Ebd., S. 39

42 Vgl. Sabinger o. J., o. S.

43 Vgl. Schröter 1992, S. 26

44 Vgl. Ebd., S. 37

45 Vgl. Goethe 1771, o. S.

46 Vgl. Schröter 1992, S. 40

47 Vgl. Ebd., S. 10

48 Vgl. Boerner 2012, S. 32

49 Vgl. Schmidt 1988, S. 169

50 Vgl. Schröter 1992, S. 27

51 Vgl. Ebd., S. 29

52 Vgl. Schröter 1992, S. 30

53 Vgl. Ebd., S. 33f.

54 Vgl. Ebd., S. 57

55 Vgl. Schmidt 1988, S. 196

56 Vgl. Schuster 1992, S. 82

57 Vgl. Schmidt 1988, S. 199

58 Vgl. Ebd., S. 179

59 Vgl. Schmidt 1988, S. 180

60 Vgl. Ebd., S. 191

61 Vgl. Ebd., S. 183

62 Vgl. Ebd., S. 186

63 Vgl. Ebd., S. 187

64 Vgl. Ebd., S. 188

65 Vgl. Ebd., S. 189

66 Vgl. Ebd., S. 203

67 Vgl. Schmidt 1988, S. 204

68 Vgl. Ebd., S. 205f.

69 Vgl. Ebd., S. 206

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Goethes Geniebegriff im Sturm und Drang. Im Blickpunkt: Prometheus und Ganymes
Hochschule
Universität Koblenz-Landau
Note
2,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
43
Katalognummer
V504021
ISBN (eBook)
9783346037190
ISBN (Buch)
9783346037206
Sprache
Deutsch
Schlagworte
goethes, geniebegriff, sturm, drang, blickpunkt, prometheus, ganymes
Arbeit zitieren
Alina Isselhorst (Autor:in), 2019, Goethes Geniebegriff im Sturm und Drang. Im Blickpunkt: Prometheus und Ganymes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/504021

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