Die Zerstörung der Sprache als Kommunikationsmittel. Eugène Ionescos "La Cantatrice chauve"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Untersuchung
2.1 La Cantatrice chauve - Ausgangsbeobachtungen zum Stück
2.2 Ionesco: Reflexionen und Standpunkte zum Wesen des Theaters
2.3 Anti-Realismus und: Wirklichkeit im Lichte einer "lumière insolite"
2.4 Die Zerstörung der Sprache – Kommunikation einer Leidenschaft 'ohne Worte'

3. Schlussbetrachtung

4. Bibliographie

1. Einleitung

Gegenstand dieser Arbeit ist die fortschreitende Zerstörung der Sprache in Ionescos La Cantatrice chauve. Ziel ist es, eine fundierte Interpretation dieses Phänomens zu entwickeln. Dazu soll zunächst der Dramentext auf allgemeine Eigenschaften und besondere Auffälligkeiten in der Figurenrede untersucht werden. Nach einer entsprechenden Auswertung sollen relevante Äußerungen Ionescos die Ergebnisse ergänzen und so die Interpretation voranbringen. Diese beziehen sich zunächst auf seine allgemeine Theaterphilosophie, später auf La Cantatrice chauve im Speziellen. Die Schlussbetrachtung soll den Erkenntnisgewinn über die verschiedenen Etappen der Untersuchung nachvollziehen und dabei die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassend darstellen.

2. Untersuchung

2.1 La Cantatrice chauve -Ausgangsbeobachtungen zum Stück

Im Gegensatz zum klassischen und realistischen Drama, bei denen gleichermaßen ein sich über mehrere Etappen entfaltendes Handlungsgeschehen im Vordergrund steht, präsentiert sich La Cantatrice chauve als Herausforderung: Das Geschehen auf der Bühne stellt keine Intrige im Sinne einer konkreten, inhaltlichen Entwicklung zwischen den Figuren dar. Dies ist umso bemerkenswerter angesichts der Tatsache, dass im Verlauf des Stückes sowohl mehrere Figuren auftreten, als auch ein reger Wortwechsel zwischen ihnen stattfindet. Versucht man sich aber an einer Auswertung dessen, was gesagt wird, so wird klar, dass die Figuren in gewisser Weise der Fähigkeit beraubt scheinen, Aussagen von persönlicher Natur zu treffen – sich also durch ihre Rede zu charakterisieren. Dies kommt schon zu Beginn des Stücks zum Ausdruck:

Mme Smith: "Tiens, il est 9 heures. Nous avons mangé de la soupe, du poisson, des pommes de terre au lard, de la salade anglaise. Les enfants ont bu de l'eau anglaise. Nous avons bien mangé, ce soir. C'est parce que nous habitons dans les environs de Londres et que notre nom est Smith."1

Im Hinblick auf ihren Bedeutungsinhalt ist diese Äußerung typisch für die Rede der Figuren im Stück: Es werden Aussagen gemacht, die einerseits banal und andererseits klischeehaft wirken, was gleichermaßen einen Mangel an innerer Anteilnahme der Figuren an dem, was gesagt wird, preisgibt. So dominiert ein 'verkollektivierter' sprachlicher Ausdruck, in dem echtes persönliches Denken scheinbar nicht existiert, was die Figuren entsprechend gesichtslos erscheinen lässt. Diese Wirkung rührt einerseits vom Bedeutungsaspekt der einzelnen Aussagen her, andererseits aber auch von der Zusammenhanglosigkeit und Widersprüchlichkeit der Aussagen untereinander. Diese Abwesenheit logischer Zusammenhänge sowie Äußerungen, die den Gesetzen der Logik widersprechen, tragen ihr Übriges zur Schaffung der 'unwirklichen' Atmosphäre des Stücks bei, dem Gefühl von Absurdität.

Angesichts eines derart klischeehaften, inkohärenten und unlogischen Redeinhalts der Figuren kann sich natürlich auch keine in diesem Sinne ernstzunehmende Handlung zwischen ihnen abspielen. Für die Interpretation des Stücks heißt das: Seine Bedeutung muss irgendwo außerhalb des sprachlich konkret Geäußerten, Logisch-Inhaltlichen liegen. Tatsächlich gibt es im Stück einen besonderen Moment, in dem auf sprachlicher Ebene die logisch-inhaltliche Absurdität durch etwas Figuratives (Bildsprachliches) überlagert wird: wenn das Dienstmädchen Mary folgendes Gedicht vorträgt.

Les polycandres brillaient dans les bois

Une pierre prit feu

Le château prit feu

La forêt prit feu

Les hommes prirent feu

Les femmes prirent feu

Les oiseaux prirent feu

Les poissons prirent feu

L'eau prit feu

Le ciel prit feu

La cendre prit feu

La fumée prit feu

Le feu prit feu

Tout prit feu

Prit feu, prit feu.2

Diese Zeilen stehen im Zeichen eines stark metaphorischen Begriffs: des Feuers als mächtiger Kraft, dessen Existenz darin besteht, sich anderer Dinge zu bemächtigen, sie zu vereinnahmen und zu zerstören. Analog dazu ist das Feuer ein Symbol für die Leidenschaft im Menschen, die seinem Wesen innewohnt: die Leidenschaft, in der sein Wille zum Leben besteht, dessen zerstörerischer Kraft er selbst und seine ganze Welt aber auch schutzlos ausgeliefert sind.

In Bezug auf die Sprache sind im Verlauf des Stückes zwei Entwicklungen klar festzustellen. Erstens zerfällt zunehmend die sprachliche Struktur: während anfänglich die Kohärenz noch rein formal gegeben ist, fehlt in Szene 11 der Zusammenhang zwischen den Sätzen komplett und selbst die Wörter zerfallen letztlich in Silben und bloße Laute ohne gedankliches Konzept. Im Laufe ihrer Zerstörung beschreibt die Sprache allerdings auch einen Wucherungs- bzw. Beschleunigungsprozess: Eine Messung des Redeflusses in Silben über Zeit ergibt eine anfängliche Steigung, dann ein Abfallen bis zum 'Stillstand' und daraufhin eine wiederholte, noch rasantere Steigung bis zum absoluten Höhepunkt am Schluss3. Diese Zerstörung und Beschleunigung geht Hand in Hand mit einer steigenden Intensität im Ausdruck der Figuren, ihrer Leidenschaftlichkeit: Die anfängliche Rede des Ehepaars Smith (siehe oben), die noch einen Eindruck von mangelnder innerer Anteilnahme erweckt, entwickelt sich zu einem aggressiven, von "hostilité" und "énervement"4 zeugenden Verhalten der Figuren beim Gebrüll der inhaltslosen Sprachfragmente in der letzten Szene.

So offenbart sich also ein Zusammenhang zwischen der Metaphorik des zerstörenden Feuers der Leidenschaft und der von wachsender emotionaler Intensität begleiteten Zerstörung der Sprache. Es wird herauszufinden sein, welche Bedeutungen der Leidenschaft und der Sprache im philosophischen Kontext des Werkes zukommen und in welcher Beziehung diese Begriffe zueinander stehen. Hierzu sollen im folgenden Abschnitt zunächst einige Äußerungen Ionescos zu seiner Auffassung des Theaters als Kunstform ausgewertet werden.

2.2 Ionesco: Reflexionen und Standpunkte zum Wesen des Theaters

Il me semble parfois que je me suis mis à écrire du théâtre parce que je le détestais.5

La Cantatrice chauve markiert den für Ionesco selbst überraschenden Beginn seines Schaffens als Dramenautor – war er doch laut eigener Aussage nie gern ins Theater gegangen. Das Spiel der Schauspieler sei ihm peinlich vorgekommen, die Darstellungen auf der Bühne seien ihm beliebig, grotesk erschienen. Er stellt fest, das Theater habe für ihn keine 'Magie' entfaltet6:

Il y avait là comme deux plans de réalité, la réalité concrète, matérielle, appauvrie, vidée, limitée, de ces hommes vivants, quotidiens, bougeant et parlant sur scène, et la réalité de l'imagination, toutes deux face à face, ne se recouvrant pas [...] : deux univers antagonistes n'arrivant pas à s'unifier, à se confondre.7

Er konstatiert in Theateraufführungen also eine fundamentale Gespaltenheit: Alltagsrealität und imaginäre Realität, sich gegenüberstehend, sich nicht vereinigend. Dies führe zu einer "Fehlgeburt" des fiktiven Universums: Das Theater komme nicht dazu, seine Wirkung zu entfalten. Selbst die Dramen Shakespeares, dessen Themen Ionesco sehr gefielen, las er lieber in Textform, als sich eine Aufführung anzusehen. Es kam ihm vor, als habe die existenzielle Thematik der Geschichte im Theater ihre Größe verloren. In Ionescos Worten: Das Ungreifbare war greifbar gemacht, die Angst war bezwungen worden8. Dieses Ungreifbare, nicht inhaltlich Fassbare, die menschliche Existenz aber gewaltsam Bestimmende erklärt Ionesco in diesem Zuge zum zentralen Motiv seines Theaterkonzepts:

[...]


1 IONESCO, E.: La Cantatrice chauve, in: Ionesco, E.: Théâtre complet. Édition présentée, établie et annotée par Emmanuel Jacquart, Paris 1990, S. 7-42, hier S. 9.

2 La Cantatrice chauve, S. 37.

3 VERNOIS, P.: La Dynamique théâtrale d'Eugène Ionesco. Paris 1991, S. 189f.

4 La Cantatrice chauve, S. 40.

5 IONESCO, E.: Notes et contre-notes. Paris 1962, S. 3.

6 Ebend a .

7 Ebend a, S. 4f.

8 Ebend a, S. 7 : "la représentation me donnait l'impression de rendre soutenable l'insoutenable. C'était un apprivoisement de l'angoisse."

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Die Zerstörung der Sprache als Kommunikationsmittel. Eugène Ionescos "La Cantatrice chauve"
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Romanisches Seminar)
Veranstaltung
Hauptseminar "Analyse französischer Dramentexte vom 17.-20. Jahrhundert", Prof. Dr. Rainer Zaiser
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
14
Katalognummer
V504377
ISBN (eBook)
9783346055958
ISBN (Buch)
9783346055965
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar des Dozenten: "Eine sehr gut argumentierende Arbeit, sehr gut geschrieben und überzeugend in den Ergebnissen. Der Einbezug der Selbstbekenntnisse Ionescos in 'Notes et contre-notes' und 'Entre la vie et le rêve' führt zu einem tiefgründigen Verständnis der Bedeutung der sprachzerstörenden Verfahren, die Ionesco in seinem Stück inszeniert."
Schlagworte
Absurdes Theater, Realismus, Anti-Realismus
Arbeit zitieren
Julian Sothmann (Autor:in), 2017, Die Zerstörung der Sprache als Kommunikationsmittel. Eugène Ionescos "La Cantatrice chauve", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/504377

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