Der monolinguale Habitus an allgemeinbildenden Schulen. Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund?


Studienarbeit, 2016

28 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung
1.1 Annäherung an das Thema
1.2 Problemstellung und Forschungsfrage
1.3 Aufbau der Arbeit und Abgrenzung des Forschungsgegenstands

2. Begrifflicher Rahmen
2.1 Migration
2.2 Mono- und multilinguale Sprache
2.3 Bildungsungleichheit

3. Migration in Deutschland

4. Theoretische Grundlagen der Arbeit
4.1 Der Habitusbegriff bei Pierre Bourdieu
4.2 Habitus und Sprache
4.3 Der monolingualer Habitus und der Habitus von LehrerInnen
4.4 Die sprachliche Lage der heutigen Schule und Multilingualität
4.5 Pädagogik der Vielfalt nach Annedore Prengel
4.5.1 Heterogenität vs. Homogenität
4.5.2 Egalitäre Differenz
4.5.3 Interkulturelle Pädagogik

5. Exemplarisch - Monolingualer Habitus und interkulturelle Kompetenz

6. Fazit und Ausblick

LITERATURVERZEICHNIS

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

1. Einleitung

1.1 Annäherung an das Thema

Deutschland ist ein Einwanderungsland (BAMF, 2015). Wenngleich diese Tatsa-che als gesellschaftliche Realität lange Zeit verdrängt wurde, herrscht gegenwärtig sowohl auf politischer als auch gesellschaftlicher Ebene mehrheitlich wenig Zwei-fel daran. Erfreulicheweise werden auch zunehmend die damit einhergehenden Probleme öffentlich diskutiert. Dabei wird u.a. die Notwendigkeit früher sprachli-cher Förderung von Kindern aus Migrantenfamilien sowie ihre geringeren Bil-dungserfolge und deren Einflusssfaktoren betont. Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland das Bildungsniveua ein wichtiger Indikator für gesellschaftliche Inte-gration und vor allem auch Partizipation ist – dies geht beispielsweise aus den Ergebnissen der PISA- und IGLU-Studien letzten Jahre hervor – ist die Benach-teiligung dieser Kinder in ihrer Lebensbiografie nahezu vorprogrammiert. Dabei werden i.d.R. für die geringeren Bildungserfolge mangelnde Deutschkenntnisse infolge fehlender bzw. unzureichender sprachlicher Förderung im Elternhaus als maßgebliche Bestimmungsfaktor vorgeschoben, wohingegen aktuelle Studien (vgl. „Verlorene Jahre”, Universität Düsseldorf, 2013) zeigen, dass die soziale Lage des Elternhauses1 nicht die einzige Erklärung für den geringeren Bildungs-erfolg ist. Besonders das deutsche Bildungssystem, das sich nur langsam interkul-turellen Herausforderung öffnet und sich auf die vielfältige Bevölkerungsstruktur im Einwanderungsland einstellt, spielt eine ganz entscheidende Rolle. Die ange-führte Studie zeigt, dass über den gesamten Weg von der Grundschule bis zum Studium die Potenziale von Kindern mit Migrationshintergrund systematisch un-terschätzt werden und dadurch richtige Weichenstellungen sehr spät erfolgen.

Vor diesem Hintergrund behandelt diese Arbeit die Annahme der institutionellen Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an all-gemeinbildenden Schulen in Deutschland – begründet u.a. durch den monolin-gualen Habitus. Dabei wird der Versuch unternommen, die „Pädagogik der Viel-falt“ von Annedore Prengel als einen möglichen Ansatz zum Abbau und Vermei-dung von Diskriminierung infolge monoligualer Ausprägung des gegenwärtigen Bildungssytems in Deutschland vorzustellen.

1.2 Problemstellung und Forschungsfrage

„Der Begriff ‚Diskriminierung’ bezeichnet nach Grundsätzen der Gleichheit und Gleichbehandlung festgestellte Benachteiligungen aufgrund gruppenspezifischer Differenzen (z.B. Hautfarbe, ethnische und soziale Herkunft, Geschlecht, Behin-derung, Religion und Weltanschauung, Sprache oder sexuelle Orientierung).“ (Gomolla, 2010, S. 61) Im Kontext dieser Arbeit wird die Diskriminierung im sozialen Umfeld der Schule betrachtet und der Fokus dabei auf die “Normalitäts-annahmen” (Gogolin, 2001, S. 2) der Einsprachigkeit gerichtet. Gogolin um-schreibt dieses Phänomen mit dem Begriff des ‚monolingualen Habitus‘. Schuli-sche Diskriminierung aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse beginnt laut Go-molla (2005, S. 23) schon in der schulärztlichen Untersuchung, die einen gründli-cheren Einschulungstest vorsieht, als es allgemein üblich ist. In der Form der Bil-dungsbenachteiligung tragen schulische Organisationsstrukturen mit ihren ent-sprechenden Programmen, offenen und unausgesprochenen Regeln, dem Hand-lungswissen der Fachkräfte, mit den Kommunikationsformen und Routinen zur Verfestigung oder Veränderung sozialer Unterschiede in den Bildungskarrieren und - erfolgen bei (Gomolla, 2005, S. 22).

Diese Arbeit verfolgt das Ziel, einen Ansatz in Anlehnung an die „Pädagogik der Vielfalt“ von Annedore Prengel aufzuzeigen, wie mit Multilingualität im interkul-turellen und heterogenen Habitus der Schule umzugehen wäre, um so Bildungsun-gleichheiten abzubauen und diese möglichst auch zu vermeiden. In diesem Zu-sammenhang wird der Forschungsfrage nachgegangen:

Welchen Beitrag kann die „Pädagogik der Vielfalt“ zur Vermeidung von Bil-dungsungleichheiten bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshinter-grund an allgemeinbildenden Schulen – als eine Folge des monolingualen Habitus – leisten?

Zur Untersuchung dieser Forschungsfrage werden folgende Thesen aufgestellt:

1. Die Methodik und Didaktik des monolingual geprägten Unterrichts an all-gemeinbildenden Schulen führt zu Bildungsungleichheiten bei Schülern mit Migrationshintergund.
2. Der Aufbau interkultureller Kompetenz fördert den multilingual geprägten Unterricht und somit auch die Bildungsgleichheit an allgemeinbildenden Schulen.

1.3 Aufbau der Arbeit und Abgrenzung des Forschungsgegenstands

Nach einer Einleitung und Einführung in den Forschungsgegenstand werden im Kapitel 2 einige begriffliche Rahmenbedingungen geschaffen. Das Kapitel 3 the-matisiert die Entwicklung und die momentane Situation der Migration in Deut-schland. Das Kapitel 4 beinhaltet die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit. Darin wird zunächst der Habitusbegriff in Anlehnung an Bourdieu betrachtet. Diesem folgen der Zusammenhang von Habitus und Sprache sowie der mono-lingualer Habitus und seine Ausprägung im schulischen Kontext. Danach wird die Situation der heutigen Schule hinsichtlich des Umgangs mit Multilingualität ein wenig beleuchtet. Nachfolgend geht es um die Pädagogik der Vielfalt nach Anne-dore Prengel. Darin werden einige ausgewählte Ansätze/Aspekte hervorgehoben. Das Kapitel 5 widmet sich der Grundlegung einer Leitidee zum Aufbau interkul-tureller Kompetenz nach Dieter Spanhel als Fundament zum Aufbau einer Päda-gogik der Vielfalt. Die Arbeit endet mit einem Fazit und Ausblick.

Ergänzend zum Forschungsinteresse, die Forschungsfrage sowie die Thesen, wird an dieser Stelle expliziert, was diese Arbeit innerhalb der eingeschränkten Rah-menbedingungen nicht leisten kann und möchte:

- Es können keine umfassenden Begriffsklärungen vorgenommen werden.
- Sowohl der Ansatz des monolingualen Habitus als auch die Pädagogik der Vielfalt können nicht in ihren gänzlichen Reichweiten vorgestellt werden. Der Fokus liegt dabei vielmehr auf einigen ausgewählten Aspekten, wobei zugleich anzumerken ist, dass auch diese nicht in allen Fassetten in die Be-trachtung einbezogen werden können. Es ist insbesondere beabsichtig, dem Leser eine veränderte Sichtweise mit zu geben und damit das Interesse für weiteres Forschen zu wecken.
- Folglich erhebt die Arbeit nicht den Anspruch, die Pädagogik der Vielfalt in der ausdifferenzierten Form als einen konzeptionellen Ausweg aus dem mo-noligualen Habitus vorzustellen. Auch hier ist eine Blickschärfung beabsich-tigt, die zu differenzierten Konzepten verhelfen kann/soll.

2. Begrifflicher Rahmen

2.1 Migration

‘Migration’ (lat. migratio - Wanderung) bezeichnet sowohl Zuwanderung als auch Abwanderung und umschreibt allgemein das dauerhafte Verlagern des Wohnortes über die Nationalgrenzen hinweg (Diefenbach & Weiß, 2006, S. 17). Hinsichtlich der Definition des Migrationsbegriffs existieren in der wisseschaftlichen Betrach-tung unterschiedliche Vorgehensweisen. Je nach theoretischem Hintergrund und Erkenntnisinteresse reichen diese von „jede Ortsveränderung von Personen” bis hin zu Überwechseln von „Individuen aus einem Gesellschaftssystem in ein ande-res (...), wodurch direkt oder indirekt in beiden Systemen interne und externe Be-ziehungs- und Strukturveränderungen induziert werden” (Treibel, 1999, S. 16). Laut Mecheril (2004) unterscheiden sich die Definitionen im Wesentlichen darin, „dass die Differenz zwischen Ankunfts- und Zielregion, die notwendig ist, um von Migration zu sprechen, unterschiedlich bestimmt wird. Migration kann unter-schieden werden im Hinblick auf räumliche (intra- oder international), zeitliche (temporär oder dauerhaft) Aspekte und weiterhin bezogen auf die Wanderungs-entscheidung („freiwillig” oder erzwungen)” (S. 53). Eine zusammenfassende Definiton schlagen Lederer, Rau und Rühl (1999) vor:

Migration steht für die räumliche Bewegung zur Veränderung des Lebensmittel-punktes von Individuen oder Gruppen über eine bedeutsame Entfernung. Die Verla-gerung des Lebensmittelpunkts über die Grenzen eines Nationalstaates ist dabei kennzeichnend für internationale Migration. Wir meinen diese internationale Migra-tion, wenn im Folgenden von „Migration“ gesprochen wird. Räumliche Bewegungen im Zusammenhang mit Freizeitbeschäftigung, Reisen, Sport, Tourismus und Pendeln sind nicht als Migration zu bezeichnen. Oft wird in der öffentlichen Diskussion ver-gessen, dass im Sinne dieser Definition auch Spätaussiedler (...) zur Gruppe der Migranten zu rechnen sind. Die Kategorie des Zuwanderers oder Migranten darf also nicht mit dem Begriff des Ausländers verwechselt werden (...).” (S. 5)

2.2 Mono- und multilinguale Sprache

„Das Thema Monolingualität und Multilingualität ist in einem engen Zusammen-hang mit der Transformation der prämodernen europäischen sozialen Formationen zu Nationalstaaten zu sehen.” (Bukow, Nikodem, Schulze & Yildiz, 2007, S. 160) „Wo sich, wie in Zentraleuropa, Nationen mit monolingualem nationalem oder territorialem Selbstverständnis herausgebildet haben, kann faktische Mehrspra-chigkeit innerhalb eines Lebensraums als illegitim gelten.“ (Gogolin, 2004, S. 55) Denn die Entwicklung des nationalstaatlichen Denkens verlieh der Sprache in Form der Monolingualität bzw. Einsprachigkeit ein identitätsbildenden Charakter der Zugehörigkeit zu einem Staatswesen. Folglich ist Einprachigkeit nicht ein na-türlicher Zustand einer Gesellschaft oder eines Staates zu sehen, sondern vielmehr als ein Produkt der Nationenbildung. So zeigen Forschungen in der Soziolingu-istik, Sprachenpolitik und Migration deutlich, dass Gesellschaften und Staaten immer mehrsprachig waren und sind (de Cillia, 2010, S. 245).

Hinsichtlich der individuellen Multilingualität bzw. Mehrsprachigkeit als die Tatsache, dass ein Individuum Kenntnisse in mehr als zwei Sprachen besitzt, er-scheint an dieser Stelle das weitgefasste deskriptive Verständnis der „Mehrspra-chigkeit der Muttersprache” von Mario Wandruszka (1979) besonders Interes-sant. Er spricht darin jedem vermeintlich einsprachig aufwachsenden Kind eine Mehrsprachigkeit und damit Erfahrungen mit sprachlichen Differenzen zu. „Denn jedes Kind macht schon früh die Erfahrungen, dass es von verschiedenen Perso-nen unterschiedlich angesprochen wird, (...).” (Fürstenau & Gomolla, 2011, S. 28) Allerdings verschwimmen laut Fürstenau und Gomolla (2011, S. 29) die fließen-den Übergänge zwischen dem ein-, zwei- und mehrsprachigen Aufwachsen und gewinnen in Folge internationaler Migration an Komplexität. Sie stellen aber zu-gleich fest, dass das Verständnis der ‘innersprachlicher Mehsprachigkeit’ den Blick auf unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen schärft. So bekommt bei-spielweise die Erkenntnis der Zweit-Spracherwerbsforschung, „dass unter günsti-gen Bedingungen problemlos zwei und auch mehr Sprachen im frühen Kindes-alter gleichzeitig erworben werden können” und die Widerlegung der weitläufigen Annahme „dass frühe Zwei- und Mehrsprachigkeit schädlich sei” (de Cillia, 2010, S. 246) eine zunehmende Aufmerksamkeit.

Neben der individuellen Mehrsprachigkeit gibt es zudem die gesellschaftliche bzw. kollektive Mehrsprachigkeit, die ein Individuum als mehrsprachig bezeich-net, wenn es „auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnis in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder in ver-schiedenen Diskursbereichen hat (…)“ (Bertrand & Christ 1990, S. 208).

Im schulischen Kontext ist es zweifellos wichtig, die Mehrsprachigkeit differen-ziert zu betrachten und ganzheitlich in pädagogische Konzeptionen einzubetten. Denn laut dem Europarat (2001) erweitert sich in der Mehrsprachigkeit die Spracherfahrung eines Menschen im kulturellen Kontext, und zwar:

„von der Sprache im Elternhaus über die Sprache der ganzen Gemeinschaft bis zur Sprache anderer Völker (die er entweder in der Schule oder auf der Universität lernt oder durch direkte Erfahrung erwirbt). Diese Sprachen und Kulturen werden aber nicht in strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert, sondern bil-den vielmehr gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkennt-nisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren.“ (S. 17)

Aus dieser Sichtweise entspringen drei Bezugsrahmen der individuellen Mehr-sprachigkeit: a) der gesellschaftliche Rahmen, b) der kompetenzenorientierte Rahmen und c) der lebensweltliche Rahmen.

Abschließend ist hier anzumerken, dass trotz einhelliger Auffassung innerhalb der Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung, Mehrsprachigkeit als ein Lern-ziel des Sprachunterrichts zu betrachten „viele Fragen hinsichtlich der theoreti-schen Konzeption wie auch Umsetzbarkeit, vor allem in der täglichen Praxis des (Fremd)Sprachenunterrichts“ (Gnutzmann, 2004, S. 51) unbeantwortet bleiben.

2.3 Bildungsungleichheit

Eine Annährung an die Tragweite und Bedeutung des Begriffs der Bildungs- bzw. Chancenungleichheit erfordert die Betrachtung des gesellschaftlichen Stellenwerts schulischer Bildung. Denn die Relevanz von Bildungsungleichheiten geht maß-geblich einher mit der Bedeutung der instutionellen Bildungsbeteilung und ihrer Qualifikationsabschlüsse für gesellschaftliche Partizipation (Hillmert, 2007, S. 78). Infolge der expansiven Entwicklung im Bildungssystem in der letzte Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurde zwar möglich, dass viel mehr Menschen Zu-gang zu höherer Bildung sowie zu besseren Bildungsabschlüssen hatten, doch das Problem der ungleichen Bildungschancen als solches wurde damit nicht gelöst. Durch die Verbreitung höherer Bildungstitel war lediglich zu beobachten, dass „die Bildung an sich wichtiger und die Kopplung von Bildung und Lebenschan-cen immer enger geworden“ (Becker & Lauterbach, 2007a, S. 21) ist.

Wie sieht die Definition des Begriffs der Bildungsungleichheit aus? Eine für die Forschung richtungsweisende und im Kontext dieser Arbeit stehende Betrachtung sehen wir bei Müller und Haun, wonach Bildungsungleichheit „Unterschiede im Bildungsverhalten und in den erzielten Bildungsabschlüssen (beziehungsweise Bildungsgängen) von Kindern, die in unterschiedlichen sozialen Bedingungen und familiären Kontexten aufwachsen“ (Müller & Haun, 1994, S. 3) verstanden wird.

3. Migration in Deutschland

Wenngleich die Migrationsthematik erst seit den letzten Jahren Gegenstand der politisch-öffentlichen Diskussionen ist, hat die Migration von und nach Deutsch-land eine lange Geschichte (BMI, 2015, S. 13). Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts haben viele verfolgte protestantische Franzosen im preußischen Reich Schutz gefunden. Seit jeher „ sind die Gründe dafür im Kern die gleichen – das Streben nach einem besseren Leben für sich selbst und die Nachkommen und/ oder die Flucht vor politisch, ethnisch oder religiös motivierter Verfolgung sowie gewaltsame Vertreibung” (BMI, 2015, S. 13). Die ersten Einwanderungswellen nach Deutschland ergaben sich „im Wesentlichen aus dem Arbeitskräftezuzug durch sogenannte Gastarbeiter zwischen 1955 und 1973“ hervorgerufen durch den Bedarf an Arbeitskräften infolge des Wirtschaftsbooms (…)“ (BMI, 2015, S. 14). Wenn auch in den Jahren 1973 (Ausländeranteil 23 Prozent) bis 1979 der Auslän-deranteils stabil bleibt, steigt hingegen in den Jahren 1986 bis 1996 die Auslän-derzahl von 2,8 auf 7,3 Millionen. Gegenwärtig haben etwa 16,3 Millionen (ein Fünftel) Menschen einen Migrationshintergrund und davon besitzen ca. 8,9 Mil-lionen Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit (BMI, 2015, S. 21). Aus dem Ausländerzentralregister (AZR) geht hervor, dass etwa 7,6 Millionen Ausländer in Deutschland leben (BMI, 2015, S. 29).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Ausländer in Deutschland seit 1961 (Quelle: Statistisches Bundesamt; 1961,1970 Ergebnisse der Volkszählungen; ab 1975 Ergebnisse des Ausländerzentralregisters (AZR))

Zu dieser Entwicklung kommt zudem die steigende Zahl der Flüchtlinge aus den Krisengebieten. Die Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (2015) zeigt, dass 2014 rund 13.000 Flüchtlingen die Einreise nach Deutschland ermöglicht wurde und die aktuelle Entwicklung zeigt, dass diese Zahl im 2015 um das Vielfache höher ist. Zuverlässige Zahlen liegen jedoch nicht vor.

Anhand der vorangegangenen knappen Skizzierung der Migrationsentwicklung und -situation ist zu erkennen, dass das deutsche Bildungssystem vor der Heraus-forderung steht, Lösungen für den pädagogischen Umgang mit Mehrsprachigkeit bereitzustellen.

4. Theoretische Grundlagen der Arbeit

4.1 Der Habitusbegriff bei Pierre Bourdieu

Pierre Bourdieu beschäftigt sich in seinem 1982 erschienen Werk „Die feinen Un-terschiede” u.a. mit dem Habitusbegriff und seinen Ausprägungen im Kontext so-zialer Schichten mit den klassenspezifischen sozialen Verhaltensmustern. Bour-dieu sieht im Habitus „Als ein Vermittlungsglied zwischen Position oder Stellung innerhalb des sozialen Raums2 und spezifischen Praktiken, Vorlieben, usw. (...) eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu syste-matischen Stellungnahmen führt” (Bourdieu, 1992, S. 31). Dabei wirken „Syste-me dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen (...) als strukturierende Strukturen (...)” (Bourdieu, 1976, S. 165), so dass Menschen im gesellschaftlichen Raum nach ihrer Position und ihrem Lebensstil entsprechend strukturiert werden (Bourdieu, 1992, S. 31). Ferner “stellt der Habitus ein dauerhaft wirksames Sys-tem von (klassenspezifischen) Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata dar, das sowohl den Praxisformen sozialer Akteure als auch den mit dieser Praxis verbundenen alltäglichen Wahrnehmung konstitutiv zugrunde liegt” (Schwingel, 1998, S. 67). Damit wird der Habitus nicht als ausschließliches Prinzip des Han-delns betrachtet, sondern, es ist „ein Produktionsprinzip von Praktiken unter an-deren” (Bourdieu, 1998, S. 367). Dieses Schema entsteht dabei durch die “trans-formierende Verinnerlichung" der äußeren (klassenspezifisch verteilten) materiel-len und kulturellen Existenzbedingungen, so Schwingel weiter.

Bourdieu stellt in seinen Ausführungen zum Habitusbegriff fest, dass dieser als Teil einer komplexen Einheit nur im Zusammenhang mit dem sozialen Feld zu betrachten ist. Dabei beschreibt für ihn die dialektische Beziehung zwischen Ha-bitus und Feld einerseits die Abhängigkeit der Entstehung habitueller Strukturen von den äußeren Sozialstrukturen des Feldes, die durch mimetische Einverleibung dem Habitus zuteil werden und andererseits den Einfluss des Habitus auf Struk-turen des sozialen Feldes, die wiederum im habitusgeprägten sozialen Umfeld strukturiert werden. Bourdieu verwendet den Begriff der „Einverleibung” bzw. der „Inkorporierung” sozialer Praxen, da nach seiner Auffassung die äußeren, ma-teriellen und kulturellen Existenzbedingungen, der objektiven Strukturen eines Feldes, überwiegend auf der körperlichen Ebene verinnerlicht werden.

Wenngleich der Habitus das Feld in hohem Maße formend beeinflusst, ist er den-noch kein Produkt des Feldes, da Menschen mit ihren individuellen und habitu-ellen Strukturen nicht gleichermaßen auf Reize des Feldes antworten. Bourdieu verdeutlich dies wie folgt: Ein Glas zebricht nicht, weil ein Stein es traf, sondern weil es im Moment des Treffens zerbrechlich war. Oder ein historisches Ereignis löst nicht ein Verhalten aus, sondern es hat eine auslösende Wirkung aufgrund der von diesem Ereignis affizierbarer Habitus ihm diese Wirkung verlieh (Bourdieu, 2001, S. 190). So ist der Habitus ein System bestehender Dispositionen, das be-strebt ist, seine Existenz durch die Präferenz geeigneter Bedingungen und Einflüs-se stets zu sichern (Bourdieu, 2001, S. 192). Daher sind viele soziale Praxisfor-men als ein Versuch der Aufrechterhaltung bestehender Dispositionen zu versteh-en. Jedoch wird die soziale Welt nicht durch das reflexive und erkennende Be-wusstsein oder die wissenschaftlich objektivierende Distanz zu den Objekten be-griffen, sondern als etwas Selbstverständliches; und zwar derart, dass „Der Leib glaubt, was er spielt: er weint, wenn er Traurigkeit mimt. Er stellt sich nicht vor, was er spielt, er ruft sich nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus, die damit als solche aufgehoben wird, erlebt sie wieder” (Bourdieu, 1987, S. 135). Dabei erstellt der Akteur vom wahrgenommenen Vor-bild keine Detailkopie, „sondern ein Äquivalent, das mit diesem eine gewisse Ähnlichkeit hat“ (Gebauer & Wulf, 1998, S. 26). In der Inkorporierung des So-zialen vollzieht sich also eine Anpassung des Habitus an das soziale Feld. Dem Akteur wird damit die Struktur seiner Welt einverleibt und „der ist hier un-mittelbar, spontan zu Hause und schafft, was zu schaffen ist (...), ohne überhaupt nachdenken zu müssen” (Bourdieu, 2001, S. 183).

4.2 Habitus und Sprache

In Anlehnung an Bourdieu wird im Folgenden auf den Zusammenhang zwischen dem Habitus und der Sprache näher eingegangen.

Grundsätzlich ist für Bourdieu das Sprechen als ein bestimmter sprachlicher Aus-drucksstil im Rahmen einer „Ökonomie des sprachlichen Tausches” (Bourdieu, 1998, S. 41) zu verstehen, der durch den Habitus des Sprechens und den sprach-lichen Markt bedingt ist. Er stellt fest, dass die Sprache – wie auch der Leib – als Speicher für bereitgehaltene Gedanken fungieren können und betrachtet beide als Medium und Agens im Prozess der Inkorporierung und Konstituierung gesell-schaftlicher Normen (Bourdieu, 1987, S. 127). Die gespeicherten Informationen können dadurch schon abgerufen werden, „daß der Leib wieder in eine Gesamt-haltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören kann (...)” (Bourdieu, 1987, S. 127). Folglich ist die Standardsprache ein normalisiertes Produkt, allerdings im praktischen Zustand – d.h. in den Formen des sprachlichen Habitus – beschreibt die Sprache eine Dispo-sition des Sprechens von bestimmten Dingen in spezifischer Form (Bohn, 1991, S. 66). Dies setzt allerding die Fähigkeiten voraus, unbegrenzt grammatikalisch kor-rekte Sätze bilden zu können und die soziale Kompetenz zu einem sprachlichen Markt angemessene An- und Verwendung zu besitzen (Bourdieu, 1998, S. 41). Je-doch betont Bourdieu, dass der Sinn einer Äußerung nur zu einem geringen Teil aus der grammatikalischen Dimension hervorgeht und mehr auf der Beziehungse-bene zum Markt generiert werden (Bourdieu, 1998, S. 42). Denn die objektive Sinngebung des Sprechaktes wird bestimmt über den sprachlichen Markt und durch den Distinktionswert der Äußerung. Sodann beschreibt der Distinktions-wert den Grad der Beziehung einer sozial ein- und zugeordneten Rede eines Spre-chers zu den Äußerungen der anderen. Diese Art der Definition des Sprechens be-zeichnet Bourdieu als ein „Modell der sprachlichen Produktion und Zirkulation” (Bourdieu, 1998, S. 42). Dabei sind die Art der Aussprache und der Artikulation charakteristisch für die strukturell bestimmte „ökonomische, kulturelle und so-ziale Bedingungslage einer (...) Gruppe von Akteuren“ (Schwingel, 1998, S. 111). Und das Verhältnis des sprachlichen Marktes zum sprachlichen Habitus sind be-stimmend für den Ausdrucksstil, wobei der sprachliche Habitus in inkorporierter und verinnerlichter Form indirekt als struktureller Anteil des Sprechens gesehen werden kann (Rehbein, 2006, S. 94). Ferner schafft „Die Entstehung eines Sprachmarktes (...) die Voraussetzungen für die objektive Konkurrenz, in der und durch die die legitime Sprachkompetenz als sprachliches Kapital fungieren kann, das bei jedem sozialen Austausch einen Distinktionsprofit abwirft“ (Bourdieu, 1998, S. 61).

[...]


1 Diesem Punkt liegt die Annahme zugrunde, dass Kinder aus Migrantenfamilie im Elternhaus keine oder geringe sprachliche Förderung erfahren.

2 Für Bourdieu ist der soziale Raum eine konstruierte und abstrakte Darstellung, die „einen Über-blick bietet, einen Standpunkt oberhalb der Standpunkte, von denen die Akteure in ihrem Alltags-verhalten (…) ihren Blick auf die soziale Welt richten“ (Bourdieu, 1982, S. 277). Akteure haben in diesem sozialen Raum einen „umfassenden Blick (...) auf die Welt sozialer Klassen, die nach den Gesichtspunkten der (objektiven) Lebensbedingungen, der (symbolischen) Lebensstile und der (inkorporierten) Habitusformen (re-)konstruiert wurde” (Schwingel, 1993, S. 28).

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Der monolinguale Habitus an allgemeinbildenden Schulen. Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund?
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
28
Katalognummer
V505247
ISBN (eBook)
9783346062284
ISBN (Buch)
9783346062291
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Monolingualer Habitus, Pädagogik der Vielfalt, Interkulturelle Kompetenz
Arbeit zitieren
Mitat Karahan (Autor:in), 2016, Der monolinguale Habitus an allgemeinbildenden Schulen. Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/505247

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