Die psychiatrische Wissenschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewegte sich von dem Interesse an psychogenetischen Hintergründen des Leidens weg in Richtung der genauen Beschreibung von Symptomcharakter und -struktur von Geisteskrankheiten. [Vgl.: G. Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. S. 350.] Keine äußeren Ereignisse standen mehr im Vordergrund, sondern die Erkrankung und der Erkrankte selbst. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Verarbeitung psychiatrischer Schicksale in der zeitgenössischen Literatur. Georg Büchner beispielsweise beschrieb in seinem an psychiatrische Diagnosen grenzenden Roman "Lenz" Symptome, Krankheitsausprägungen und Behandlungsmethoden der religiösen Melancholie. [Vgl.: C. Seling-Dietz: Büchners Lenz als Rekonstruktion eines Falls "religiöser Melancholie".] Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht jedoch Annette von Droste- Hülshoffs 1842 erstmalig erschienene Novelle "Die Judenbuche". Der Blick wird dabei auf den Mörder und Selbstmörder Friedrich Mergel gerichtet sein. Hierbei soll untersucht werden, ob er an einer aus damaliger Sicht psychiatrischen Krankheit leidet und ob ein konkretes wissenschaftliches Psychiatrie-Modell des frühen 19. Jahrhunderts Grundlage für Annette von Droste-Hülshoffs Schilderung ist. Um zu einem Ergebnis zu kommen, muss daher als erster Schritt geprüft werden, inwieweit psychische und psychiatrische Phänomene zur damaligen Zeit erforscht und der interessierten Öffentlichkeit bereitgestellt wurden. Des Weiteren ist interessant, ob Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) selbst sich mit solchen Thematiken auseinander gesetzt hat und Erkenntnisse in "Die Judenbuche" mit einfließen lassen hat. Anschließend müssen die Teilergebnisse mit Textstellen der Erzählung verglichen werden, so dass schließlich beurteilt werden kann, ob Friedrich Mergel aus zeitgenössischer Sicht in einer psychiatrischen Heilanstalt besser aufgehoben gewesen wäre oder nicht.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1. Krankheitsbilder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
- 1.1 Allgemeine Einordnung
- 1.2 Hysterie
- 1.3 Hypochondrie
- 1.4 Melancholie
- 1.5 Manie
- 2. Annette von Droste-Hülshoffs mögliche Kenntnis der zeitgenössischen Psychiatrie
- 2.1 Erziehung, Aus- und Weiterbildung
- 2.2 Eigene Erkrankung
- 3. „Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen“
- 3.1 Zugrundeliegender Fall
- 3.2 Inhaltsangabe
- 4. Die Figur des Friedrich Mergels – ein Geisteskranker?
- 4.1 Sozio-psychologische Einordnung
- 4.2 Auffälligkeiten seiner Persönlichkeit
- 4.3 Versuch einer zeitgenössischen psychiatrischen Diagnose
- 5. Bewertende Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht die mögliche psychiatrische Erkrankung des Protagonisten Friedrich Mergel aus Annette von Droste-Hülshoffs Novelle „Die Judenbuche“ aus der Perspektive der frühen 19. Jahrhunderts. Sie beleuchtet, ob Mergels Verhalten und Handlungen mit den damaligen psychiatrischen Krankheitsbildern und -modellen in Einklang zu bringen sind. Die Arbeit strebt an, die zeitgenössische psychiatrische Debatte aufzuzeigen und ihre Relevanz für die Interpretation literarischer Figuren zu verdeutlichen.
- Psychiatrische Krankheitsbilder und -modelle des frühen 19. Jahrhunderts
- Annette von Droste-Hülshoffs Kenntnis und Auseinandersetzung mit der Psychiatrie
- Analyse von Friedrich Mergels Persönlichkeit und Verhalten im Kontext der zeitgenössischen Psychiatrie
- Bewertung, ob Mergel aus zeitgenössischer Sicht als geisteskrank gelten würde
- Die Rolle der Psychiatrie in der literarischen Analyse und Interpretation
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einführung in die psychiatrische Wissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts, die sich zunehmend auf die genaue Beschreibung von Symptomcharakter und -struktur konzentrierte. Die Einleitung beleuchtet die Verarbeitung psychiatrischer Schicksale in der Literatur und führt den Leser in den Fokus der Arbeit, die Analyse der Figur des Friedrich Mergel aus „Die Judenbuche“.
Das erste Kapitel befasst sich mit den Krankheitsbildern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Hysterie, Hypochondrie, Melancholie und Manie. Dabei werden die gängigen Klassifikationen und Definitionen der Zeit erläutert. Das Kapitel beleuchtet auch die Unsicherheiten und Uneinigkeiten in der Terminologie und Einordnung einzelner psychischer Erkrankungen.
Kapitel zwei untersucht die mögliche Kenntnis von Droste-Hülshoff bezüglich der zeitgenössischen Psychiatrie, indem es ihre Erziehung, Ausbildung und ihre eigene Erkrankung beleuchtet.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Novelle "Die Judenbuche" selbst, indem es den zugrunde liegenden Fall und die Inhaltsangabe der Novelle beleuchtet.
Kapitel vier analysiert die Figur des Friedrich Mergel, indem es seine sozio-psychologische Einordnung untersucht und Auffälligkeiten in seiner Persönlichkeit betrachtet. Es versucht anschließend, eine zeitgenössische psychiatrische Diagnose auf Mergel zu erstellen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Themen Psychiatrie, Geisteskrankheit, Literatur, Annette von Droste-Hülshoff, „Die Judenbuche“, Friedrich Mergel, Hysterie, Hypochondrie, Melancholie, Manie, Krankheitsbilder, zeitgenössische Diagnostik.
- Arbeit zitieren
- M.A. Nicole Nieraad (Autor:in), 2004, Eine psychiatrische Diagnose des Friedrich Mergels aus Annette von Droste-Hülshoffs "Die Judenbuche" aus der Sicht des frühen 19. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50624