Live-In oder Burn-Out? Zur Situation polnischer Pflegemigrantinnen in deutschen Live-In Arrangements


Essay, 2019

12 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Deutschland hat politisch besonders mit dem demographischen Wandel und seinen Folgen zu kämpfen: Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Alter und werden damit pflegebedürftig, wohingegen immer weniger junge Menschen den Pflegeberuf ausüben. Damit steht Deutsch- land vor dem Problem des Pflegenotstandes, der sich zukünftig noch verschlimmern wird: 2020 wird es etwa 2,9 Millionen und 2030 schon 3,4 Millionen Pflegebedürftige geben (vgl. Prognos

2012). Gleichzeitig werden bei einer Weiterführung der bisherigen Pflegepolitik 2030 ungefähr 3 Millionen Pflegekräfte fehlen (vgl. Prognos 2018). Daher liegt es nahe ausländische Pflege- kräfte anzuwerben, um gegen den Pflegenotstand vorzugehen. Seit der EU-Osterweiterung 2004 migrieren besonders polnische Pflegekräfte nach Deutsch- land, weil sie in Polen keinen Job finden oder sich generell einen höheren Lohn erhoffen. Seit 2011 dürfen sie ältere Menschen auch uneingeschränkt in der häuslichen Pflege betreuen (vgl. Satola 2015: 14-16). Da Polen ein Nachbarland von Deutschland ist, bietet sich das Pendeln für die Migrantinnen an. So können sie mehr verdienen als in Polen und gleichzeitig ihre Familien alle paar Monate sehen. Dabei sind sie meistens in sogenannten Live-In Arrangements beschäf- tigt (vgl. Karakayali 2007: 52). Das bedeutet, dass sie bei den Pflegebedürftigen leben und diese 24 Stunden lang betreuen können. Diesbezüglich wechseln sich die Migrantinnen in einem Ro- tationssystem nach ein paar Monaten mit anderen Frauen ab (vgl. Satola 2015: 14; 2010:177). Die Live-In Situation scheint eine Win-Win- Situation sowohl für die Pflegekraft als auch für die pflegebedürftige Person zu sein, weil beide davon scheinbar profitieren (vgl. Metz-Göckel 2010: 19). Doch ist dem auch wirklich so? Dazu hilft es die Situation der Pflegemigrantinnen in Live-Ins genauer zu betrachten und ihre Perspektive einzunehmen. Dementsprechend werden im Folgenden die Vorteile, die sich durch das Zusammenleben (Live-In) ergeben sowie die hauptsächlich emotionalen (Burn-Out) und weitere Probleme herausgearbeitet. Dabei steht be- sonders im Fokus, welche Erwartungen die Migrantinnen vor der Migration hatten und ob sich diese im Arbeitsalltag erfüllen bzw. welche weiteren Probleme oder Vorteile sich ergeben.

Sind die polnischen Pflegekräfte in Deutschland, lernen sie in den ihnen zugeteilten Haushalten automatisch die deutsche Sprache sowie eine neue Kultur kennen. Sie sind darauf angewiesen deutsch zu sprechen, um mit ihren KlientInnen zu kommunizieren und können täglich ihre Sprachkenntnisse verbessern und diese praktisch anwenden. Nach dem „Learning by Doing Konzept“ kann man die neue Sprache schnell lernen und verfestigen. Das erleichtert nicht nur den Kontakt zur Pflegeperson und zu ihrer Familie, sondern kann auch im weiteren Berufsver- lauf als Qualifikation angewandt werden. Neben der Sprache können die Pflegemigrantinnen durch den monatlichen Wechsel der Haushalte verschiedene Einblicke in die deutsche Kultur und Traditionen bekommen. Dies kann ihre Einstellungen zu Menschen aus anderen Kulturen verändern und zu einer besseren Perspektivübernahme führen (vgl. Ignatzi 2014: 408ff.). Das erweist sich ebenfalls als persönliche Kompetenz, die eine dauerhafte Migration nach Deutsch- land begünstigen kann.

Jedoch muss man bedenken, dass Sprache und Kultur in diesem Zusammenhang erstmal als Barrieren fungieren. Hierbei müssen die Migrantinnen die Sprache erstmal lernen, bevor sie erfolgreich sind. Dies führt erstmal zu einer Sprachbarriere, weil die Sprache von Beginn an gesprochen werden muss: Pflegekraft und gepflegte Person können sich schwieriger unterhal- ten. Das verstärkt zunächst einmal das Fremdheitsgefühl der Migrantinnen. Hinzu kommt, dass die meisten migrierenden Pflegekräfte schon älter sind, das heißt zwischen 41 und 61 Jahren (vgl. Metz-Göckel 2010: 39) und die neue Sprache nicht so schnell lernen können wie Jüngere. Folglich löst sich die Sprachbarriere nicht zunehmend, sondern hält an. Damit geht einher, dass sie durch die mangelnden Sprachkenntnisse nicht spontan auf ihre GesprächspartnerInnen rea- gieren können sowie ihre eigene Position und ihre Gefühle nicht artikulieren können, wenn sie unzufrieden sind.

Außerdem kann die fremde Kultur nicht sofort reflektiert werden, sondern wird erstmal aus der Sicht der eigenen Kultur betrachtet. Gerade wenn die Pflegemigrantinnen aus einem konserva- tiven Haushalt kommen, können sie nicht nachvollziehen, warum sich nicht die eigene Familie um die Pflegebedürftigen kümmert (vgl. Satola 2015: 187). Fraglich ist, ob bei einer 24-Stun- den-Pflege überhaupt Zeit bleibt, die fremde Kultur zu verstehen bzw. verstehen zu wollen, wenn die Migrationsentscheidung hauptsächlich auf finanziellen Gründen basiert und damit die Aufopferung für die Familie im Vordergrund steht und nicht die eigenen Selbstverwirklichung (vgl. Jurt; Roulin 2015: 136).

Außerdem kann die Arbeit in der häuslichen Pflege zu einem emanzipierten Frauenbild beitra- gen und das Selbstwertgefühl der Frau stärken. Gerade wenn die Frauen in Polen zuvor unbe- zahlte Hausarbeit verrichtetet haben und nun für ihre Haus-, und Pflegearbeit bezahlt werden, steigert das das Selbstwertgefühl und emanzipiert die Frau in ihrer Rolle (vgl. Kałwa 2010: 165). Sie kann über die als selbstverständlich geltende Frauenrolle als Hausfrau und Mutter hinterfragen, indem sie die Frauenrolle in beiden Kulturen miteinander vergleicht und entspre- chend schlussfolgert (vgl. Satola 2015: 216/ 217).

Allerdings sind die wenigsten Pflegemigrantinnen Hausfrauen, die sich für diese Rolle auf- grund ihrer Geschlechtervorstellungen entschieden, haben. Sie sind oft hochqualifiziert und ha- ben in der im polnischen Ostblock gearbeitet. Trotzdem finden sie in Polen keinen adäquaten oder überhaupt keinen Job, bei dem sie ihr Bildungskapital nutzen können, weil viele (beson- ders weiblich besetze Stellen) weggefallen sind. Die Migrantinnen sehen sich also gezwungen eine Beschäftigung in einem anderen Land aufzunehmen (vgl. Karakayali 2010; Kałwa 2007: 208). Demnach empfinden die Hochqualifizierten die Arbeit als monoton und dequalifizierend bezüglich ihres Bildungsniveaus (vgl. Lauxen 2011: 4). Sie fühlen sich hauptsächlich abgewer- tet und nicht aufgewertet. Die Frauen scheinen sich aus ihrer traditionellen Rolle herauszulösen, jedoch nehmen sie durch die Haus-, und Pflegearbeit gleichzeitig wieder eine traditionelle Rolle ein. Die ArbeitgeberInnen erwarten Frauen, weil diese wie selbstverständlich diese Arbeiten machen können und mit ihnen vertraut sind (vgl. Kałwa 2007: 225). Damit können die Pflege- migrantinnen jedoch nicht lernen, dass Haus-, und Pflegearbeiten nicht selbstverständlich weib- lich konnotiert sein müssen und Frauen auch in anderen Bereichen arbeiten können. Außerdem ist es für eine gelungene Emanzipation wichtig, dass die Frauen ihr neues Wissen und ihre Erfahrungen in ihren Herkunftsländern auch umsetzen, um die traditionelle Frauenrolle nicht mehr zu reproduzieren. Doch diese Selbstreflexion der Migrantinnen führt nicht dazu, dass tra- ditionelle Ehen aufgelöst werden. Obwohl die Migrantinnen sich von ihren Partnern ausgenutzt und ungerecht behandelt fühlen, bleiben sie in den Beziehungen (vgl. Satola 2015: 219). Wenn sie sich von ihren Partnern trennen, dann geschieht dies nicht durch eine zunehmende Emanzi- pation (vgl. Kałwa 2010: 166).

Die häusliche Pflege bietet im Vergleich zu anderen illegalen Beschäftigungen die Möglichkeit die Arbeit selbstständig zu organisieren und Gestaltungsspielraum zu lassen. So können die Pflegemigrantinnen z.B. selbstständig über das Einkaufs-, und Haushaltsgeld verfügen oder ge- nerell den Arbeitsablauf organisieren (vgl. Satola 2015/ Emunds; Schacher 2012: 45). Diese erlernte Kompetenz der selbstständigen Organisation ist auch für den weiteren Berufs-, oder Lebensverlauf wichtig und lässt sich über die häusliche Pflege hinaus anwenden. Dies trifft besonders dann zu, wenn sich Pflegemigrantinnen für eine dauerhaften Aufenthalt entscheiden und einer regulären Arbeit nachgehen wollen.

Gleichzeitig beruhen die Selbstständigkeitsbemühungen auf Zwang: Die Pflegemigrantinnen müssen ihre Arbeit selbständig und effektiv gestalten, weil ihre ArbeitgeberInnen (Angehörige der Pflegebedürftigen) das erwarten. Dabei werden die Erwartungen nicht direkt geäußert. Wei-terhin ist die Selbstorganisation als zwanghaft anzusehen, weil die Pflegeperson die Erwartun- gen unter Druck erfüllen muss: Wenn sie diese nicht einhält, kann eine Kündigung drohen. Zudem bleiben die monotonen Arbeitsbedingungen trotz der scheinbaren Selbstständigkeit un- verändert und erlauben keine großen Freiheiten die erlernte Selbstständigkeit flexibel zu nut- zen. Die Arbeit entspricht einer immer gleichen Routine und ist von sozialer Isolation gekenn- zeichnet. Diese soziale Isolation ist besonders stark bei dem Umgang mit Demenzkranken, weil diese nicht mehr angemessen mit den Pflegekräften kommunizieren können (vgl. Emunds; Schacher 2012: 59-64). Da die meisten Pflegepersonen schon älter sind haben sie auch schon selbst körperliche Beschwerden, die sich durch die soziale Isolation und die körperlichen An- strengungen weiterhin verschlechtern (vgl. Emunds; Schacher 2012: 62).

Zusätzlich bietet die illegale Beschäftigungsform den Migrantinnen weitere Vorteile und zwar den häuslichen Schutz der Entdeckung und einen erhöhten Nettogewinn. Wenn die Pflegemig- rantinnen illegal beschäftigt sind und entsprechend einen unsicheren oder keinen Aufenthalts- status haben, schützt die häusliche Umgebung vor der Entdeckung der Illegalität. Die Betroffe- nen können sich demnach „unsichtbar“ machen (vgl. Karakayali 2007: 52), indem sie sich bei einer möglichen Kontrolle als Verwandte der Pflegebedürftigen ausgeben. Außerdem ist an der Illegalität noch vorteilhaft, dass die Pflegekräfte mit dieser Art der Beschäftigungsform einen höheren Nettogewinn erzielen können als wenn sie legal arbeiten würden und folglich Steuern sowie andere Abgaben zahlen müssten (vgl. Lauxen 2011: 5).

Um zu verstehen, wie hoch die Abgaben bei einer regulären Beschäftigung wären, hilft ein Vergleich mit regulär und über die ZAV (Zentrale Auslands-, und Fachvermittlung der Bunde- sagentur für Arbeit) beschäftigte Pflegekräfte. Diese verdienen je nach Studie mehr oder weni- ger als die illegal Beschäftigten, da ihr Gehalt zwischen 967 und 1.177 € (vgl. Karakayali 2007: 53) und das der irregulär Beschäftigten zwischen 600 und 1.350 € liegt (vgl. Krawietz; Khoilar et al. 2014: 147). Jedoch müssen die regulär beschäftigten Pflegepersonen viele Abgaben be- zahlen, die bei einer irregulären Beschäftigungsform wegfallen. Dazu zählen: eine Kranken-, und Unfallversicherung, die Hälfte von 1,7% als Pflegeversicherung, 19,5% Rentenversiche- rung, 6,5% Arbeitslosenversicherung, zusätzliche Krankenversicherung von 0,8% sowie ein zusätzlicher Beitrag zur Pflegeversicherung, wenn man kinderlos ist. Berechnet man diese Ab- züge mit ein, bleibt ein Nettogewinn von etwa 600 €. Weiterhin können auch noch Kosten der Verpflegung und Unterkunft eingespart werden, weil die Pflegeperson bei den KlientInnen wohnt (vgl. Karakayali 2007: 52f.).

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Details

Titel
Live-In oder Burn-Out? Zur Situation polnischer Pflegemigrantinnen in deutschen Live-In Arrangements
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
12
Katalognummer
V507239
ISBN (eBook)
9783346060099
ISBN (Buch)
9783346060105
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Live-In, Pflegemigration, Deutschland, Ausbeutung
Arbeit zitieren
Jana Cordes (Autor:in), 2019, Live-In oder Burn-Out? Zur Situation polnischer Pflegemigrantinnen in deutschen Live-In Arrangements, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/507239

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