Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Transzendentale Dialektik
2. Ontologischer Status
2.1 Die Genese des Gottesbegriffs
2.2 Das Transzendentale Ideal
2.3 Die Gottesbeweise
3. Meinen, Wissen und Glauben
4. Die erkenntnistheoretische Funktion
4.1 Gott als regulatives Prinzip
4.2 Thöles Kritik
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Frage nach Gott und dessen Erkennbarkeit ist trotz der religionskritischen Tendenz der neuzeitlichen Philosophie ein immer wiederkehrendes Motiv im Denken ihrer wichtigsten Repräsentanten. Im 17. und 18. Jahrhundert war der Glaube an die Existenz Gottes sowohl unter den Rationalisten (Descartes, Leibniz, Wolff1 ) als auch unter den Empiristen (Locke2 ) und selbst unter Naturwissenschaftlern (Newton3 ) eine durchaus weit verbreitete Ansicht. Atheistische Positionen hingegen, zu denen sich beispielsweise die französischen Materialisten (la Metrie, d’Holbach und Helvetius4 ) bekannten, waren zu jener Zeit nicht nur Ausnahmeerscheinungen, sondern wurden selbst von einflussreichen Vertretern der Aufklärung - wie etwa Voltaire, Locke oder Kant5 - abgelehnt. Obwohl unter den Philosophen der Neuzeit eine grundsätzliche Zurückweisung des Atheismus und ein Bekenntnis zu Gottes Existenz zu beobachten ist, gehen die Ansichten über die Existenzweise Gottes weit auseinander, was man anhand unterschiedlicher öffentlicher Debatten nachverfolgen kann, in denen pantheïstische, deistische und theïstische Vorstellungen von Gott kritisch erörtert und gegeneinander ins Feld geführt wurden.6
Auch im Falle Kants lässt sich die Frage nach Gott als ein immer wiederkehrendes Motiv in seinem Denken beobachten, da es sich wie ein roter Faden durch seine drei Kritiken zieht und ebenfalls in der Beantwortung der vier für Kant zentralen Leitfragen - „1) Was kann ich wissen?“, „2) Was soll ich tun?“, „3) Was darf ich hoffen?“, „4) Was ist der Mensch?“7 - eine äußerst wichtige Rolle spielt. Dabei unterscheidet sich die kantische Konzeption des Gottesbegriffs, wie er sie in der Kritikderreinen Vernunft vorlegt, in den wesentlichen Aspekten ganz erheblich von denen seiner Zeitgenossen. Der Grund für die Besonderheit des kantischen Gottesbegriffs liegt darin begründet, dass Kant - wie es für sein Denken im Allgemeinen charakteristisch ist - zwischen zwei sich widerstreitenden Theorien zu vermitteln versucht, indem er sich darum bemüht, einen Kompromiss zu erarbeiten, dem beide Seiten zustimmen können. Die beiden Extreme, zwischen denen Kant einen Mittelweg einzuschlagen bemüht ist, sind zum einen die atheistische Auffassung, dass Gott nicht existiert, und zum anderen die religiöse Überzeugung, dass Gott existiert. Da Kant als Alleszermalmer der Metaphysik bekannt geworden ist, mag es auf den ersten Blick fraglich erscheinen, ob er tatsächlich einen Mittelweg eingeschlagen und nicht vielmehr bloß „niedergerissen hat“.8 Insbesondere wenn man sich vor Augen führt, dass Kant alle möglichen Gottesbeweise akribisch untersucht hat und zu dem Schluss gelangt ist, dass Gottes Existenz nicht bewiesen werden könne, mag sich das gängige Vorurteil bezüglich des rein negativen Charakters der Kritik der reinen Vernunft erhärtet finden. Bei einer näheren Untersuchung des kantischen Werkes erweist sich ein solches Vorurteil jedoch als unangemessen und falsch. Denn obwohl Kant eine vernichtende Kritik an den Gottesbeweisen führt - die er zum Anlass nimmt, um in seiner praktischen Philosophie den Gottesbegriff als Postulat der reinen praktischen Vernunft zu rehabilitieren -, wird auch der positive Nutzen, die erkenntnistheoretische Funktion des Gottesbegriffs in der Kritikderreinen Vernunft ausführlich dargelegt.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit wird es sein, die erkenntnistheoretische Funktion des Gottesbegriffs für die theoretische Philosophie Kants anhand der Kritik der reinen Vernunft zu analysieren. Diese Analyse soll - nach einer kurzen Einführung in die Transzendentale Dialektik - wie folgt ablaufen:
1. In dem ersten Kapitel [1. Die Transzendentale Dialektik] soll vor der Analyse des Gottesbegriffs zunächst die Stellung, der Inhalt und die Bedeutung der Transzendentalen Dialektik kurz zusammengefasst werden.
2. Daraufhin soll im zweiten Kapitel der ontologische Status des Gottesbegriffs analysiert werden (2. Der ontologische Status). Hierfür wird es notwendig sein, den Ursprung des Gottesbegriffs zu untersuchen [2.1 Die Genese des Gottesbegriffs) als auch die Unterscheidung zwischen reinen Verstandesbegriffen, Ideen und dem transzendentalen Ideal herauszuarbeiten [2.2 Das Transzendentale Ideal), um im Anschluss anhand der Destruktion der drei nach Kant einzig möglichen Gottesbeweise (ontologischer, kosmologischer und physikotheologischer Beweis) zu zeigen, weshalb alle Beweisarten sich von der „unvermeidlichen Illusion“ (B 354) des transzendentalen Scheins verleiten lassen [2.3 Die Gottesbeweise].
3. Nach der Klärung des ontologischen Status’ soll nun die epistemische Einstellung, die nach Kant in Bezug auf den Gottesbegriff möglich ist, bestimmt werden [3. Meinen, Glauben, Wissen). Hierfür wird es notwendig sein auf den 3. Abschnitt des 2. Hauptstücks der Transzendentalen Methodenlehre zurückzugreifen, in dem Kant eine Distinktion zwischen Meinen, Wissen und Glauben vornimmt, die sehr nützlich für die angestrebte Bestimmung der richtigen epistemischen Einstellung bezüglich des Gottesbegriffs ist.
4. Nachdem der ontologische Status analysiert und die möglichen epistemischen Einstellungen bezüglich des Gottesbegriffs untersucht worden sind, soll unter Rückgriff auf den Anhang zur transzendentalen Dialektik die Funktion bzw. der Nutzen des Gottesbegriffs für den Erkenntnisprozess herausgearbeitet werden. Hierfür werden sowohl die Überlegungen Ottfried Höffes [Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2011) hilfreich sein. Auf die Erörterung gewisser Schwierigkeiten im Anhang zur transzendentalen Dialektik verweist Bernhard Thöle [Die Einheit der Erfahrung, Würzburg 2000) zurückgegriffen werden. Es wird zu zeigen sein, inwiefern Höffes wohlwollende Interpretation in Anbetracht der Einwände Thöles zu modifizieren ist.
1. Die Transzendentale Dialektik
Die Kritikderreinen Vernunft ist in Anlehnung an die Logiklehrbücher des 18. Jahrhunderts in eine Elementarlehre und eine Methodenlehre unterteilt.9 Die Transzendentale Dialektik gehört zur Elementarlehre, die mit 654 Seiten (im Vergleich zur Methodenlehre mit nur 124 Seiten) die Quintessenz des Werkes bildet und in zwei Teile gegliedert ist. Im ersten Teil der Elementarlehre, betitelt mit: Die Transzendentale Ästhetik, analysiert Kant die Sinnlichkeit mit dem Ergebnis, dass Raum und Zeit reine Anschauungsformen sind (vgl. B 36). Der zweite Teil der Elementarlehre, und zwar Die transzendentale Logik, ist entsprechend der beiden Vermögen: Verstand und Vernunft, in zwei Abteilungen gegliedert: Die Transzendentale Analytik und Die Transzendentale Dialektik. Die Transzendentale Analytik zerfällt - entsprechend der beiden Vermögen des Verstandes, Begriffe und Urteile zu bilden - in zwei Bücher: Die Analytik der Begriffe und Die Analytik der Grundsätze. Die wichtigsten Momente der Analytik der Begriffe sind die Herleitung der Kategorientafel aus der Urteilstafel und ihre transzendentale Deduktion. Die wichtigsten Momente der Analytik der Grundsätze sind der Nachweis, wie die Kategorien auf Gegenstände möglicher Erfahrung angewendet werden (Schematismus-Kapitel), und die Herleitung der synthetischen Urteile a priori (Tafel der Grundsätze), die die Bedingungen der Möglichkeitvon Naturerkenntnissen sind.
Das Ergebnis dieser beiden Bücher [Analytik der Begriffe und Analytik der Grundsätze] lässt sich wie folgt zusammenfassen: „Erkenntnis a priori können wir nur von Gegenständen möglicher Erfahrung haben.“10 Dieses auf den ersten Blick recht bescheiden anmutende Ergebnis hat bei näherer Betrachtung äußerst weitreichende Folgen, denn es impliziert, dass keine Erkenntnis von Gegenständen erworben werden kann, die den Bereich möglicher Erfahrung überschreiten. Die transzendentale Analytik tritt mit dem Anspruch auf, durch eine „Zergliederung unseres gesamten Erkenntnisses a priori in die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis" (B 89) zu zeigen, wie Erkenntnisse über die Welt überhaupt möglich sind, und sie ist deshalb nach Kant die einzig mögliche und erste Philosophie, die die traditionelle Ontologie als Lehre von der Erkenntnis der Dinge an sich zu ersetzen habe (vgl. B 303). Im letzten Hauptstück der Transzendentalen Analytik, vor dem Übergang zur Transzendentalen Dialektik, fasst Kant in poetischen Worten seine bisherige Analyse wie folgt zusammen:
Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name], umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. (A 236]
Im Gegensatz zur Transzendentalen Analytik hat die Transzendentale Dialektik den „stürmischen Ozeane“ und „eigentlichen Sitze des Scheins“ zum Untersuchungsgegenstand, weil in ihr Begriffe erforscht werden, die sich jenseits vom Festland, d. h. fernab von allen Gegenständen möglicher Erfahrung befinden. Diese übersinnlichen Begriffe werden im ersten Buch der Transzendentalen Dialektik, mit dem Titel: Von den Begriffen der reinen Vernunft, ermittelt. Es handelt sich bei ihnen um die drei zentralen Untersuchungsgegenstände der speziellen Metaphysik, nämlich Seele (Gegenstand der rationalen Psychologie), Weltganzes (Gegenstand der rationalen Kosmologie) und Gott (Gegenstand der rationalen Theologie). Nachdem Kant im ersten Bucht der Transzendentalen Dialektik diese drei Begriffe als denknotwendig ausgemacht hat, untersucht er im zweiten Buch Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft die Ursachen und Gründe ihres trügerischen, genauer: „transzendentalen Scheins“11. Jedem einzelnen Begriff ist ein eigenes Hauptstück zugeordnet, in dem die dialektischen Schlüsse analysiert und aufgelöst werden: Im ersten Hauptstück [Von den Paralogismen der reinen Vernunft] geht es um die Fehlschlüsse bezüglich der Seele. Im zweiten Hauptstück [DieAntinomien der reinen Vernunft] geht es um vier Antinomien-Paare, zu denen die reine Vernunft unwillkürlich gelangt, wenn sie das Weltganze für erkennbar hält. Und im dritten Hauptstück Das Ideal der reinen Vernunft geht es um die ungültige Hypostasierung des Gottesbegriffs bzw. die Zurückweisung aller möglichen Gottesbeweise.
Bei diesen dialektischen Schlüssen handelt es sich jedoch nicht um Fehler, „in [die] sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder [die] irgend ein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat“, sondern um „eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft“ (B 355] selbst. Um die Vernunft vor ihrem selbstzerstörerischen Potential zu bewahren, hält es Kant deshalb für unerlässlich, eine fundamentale Kritik an der „Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs“ (B 88] auszuüben und dem Leser vor Augen zu führen, wieso der hyperphysische Gebrauch der Vernunft zu Irrtümern führt. Die Transzendentale Dialektik wird deshalb üblicherweise als „Irrtumstheorie" von der Transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“ (B 88] abgegrenzt.12 Ging es in der Analytik nämlich darum, zu zeigen, wie und in welchen Grenzen Erkenntnis möglich ist, so geht es in der Dialektik darum, zu zeigen, weshalb gewisse Wissensansprüche über die drei zentralen Begriffe der speziellen Metaphysik nicht möglich sind. Trotz der radikalen Kritik und entschiedenen Zurückweisung des transzendenten Gebrauchs des Seelen-, Welt- und Gottesbegriffs geht es in der Transzendentalen Dialektik - und zwar ganz am Ende im Anhang zur transzendentalen Dialektik - auch darum, eine konstruktive Kritik an ihnen auszuüben, das heißt ihre positive Bedeutung für den Erkenntnisprozess zu bestimmen. Diese oft unberücksichtigt gebliebene positive Kritik ist es, die in der vorliegenden Arbeit näher untersucht werden soll.
2. Ontologischer Status
Um den ontologischen Status des Gottesbegriffs bestimmen zu können, bedarf es einer Analyse seines Ursprungs, seines Inhalts und seiner Grenzen. In Kapitel 2.1 Die Genese des Gottesbegriffs soll der Ursprung des Gottesbegriffs ermittelt werden. Daraufhin soll in Kapitel 2.2 Das Transzendentale Ideal eine inhaltliche Bestimmung des Gottesbegriffes stattfinden, indem seine charakteristischen Merkmale in Abgrenzung zu den Kategorien sowie den anderen beiden Grundbegriffen der speziellen Metaphysik (Seele und Weltganzes) herausgearbeitet werden sollen. Schließlich soll in Kapitel 2.3 Die Gottesbeweise dargelegt werden, weshalb es für Kant unmöglich ist, den Gottesbegriff ohne einen Fehlschluss zu hypostasieren.
2.1 Die Genese des Gottesbegriffs
Die Frage nach Gottes Existenz (als auch nach der Seele und dem Weltganzen, die das Feld möglicher Erfahrungen verlassen) ist für Kant kein Zufallsprodukt des menschlichen Geistes, sondern entspringt aus dem für den Menschen charakteristischen Bedürfnis, seine Erkenntnis über den empirisch bedingten Wissenshorizont erweitern zu wollen:
die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam, ohne daß bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfnis getrieben bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgegenstand der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können, und so ist wirklich in allen Menschen, so bald Vernunft sich ihnen bis zur Spekulation erweitert, irgend eine Metaphysik zu aller Zeit gewesen, und wird auch immer bleiben.
(B 22)
Metaphysische Fragen sind für Kant somit nicht etwa das Resultat einer Sprachverwirrung, sondern unausweichliche Fragen, die sich jedem Vernunftwesen stellen. Metaphysik ist in den Augen Kants dementsprechend nicht bloß ein Fach, sondern „als Naturanlage (metaphysica naturalis) wirklich“ (B 22), das heißt ein charakteristisches Merkmal der menschlichen Spezies. Es handelt sich bei dieser anthropologischen Bestimmung des Menschen um ein philosophisches Vermächtnis, das Kantvon Platon übernimmt.13
Um die von Platon übernommene Grundansicht, dass Metaphysik als Naturanlage wirklich ist, zu plausibilisieren und nicht bloß als Behauptung dastehen zu lassen, hält es Kant für notwendig, den Entstehungsgrund der Metaphysik, das heißt den Mechanismus der reinen Vernunft genauer zu analysieren, der zu ihrem Auftauchen führt. Bei diesem Mechanismus handelt es sich um den Prozess, der zur Bildung des Gottesbegriffs (als auch der anderen beiden Grundbegriffe der speziellen Metaphysik) führt, sodass die Analyse der Genese des Gottesbegriffs zugleich die Ermittlung der Geburtsstunde der Metaphysik ermöglicht. Um die Genese des Gottesbegriffs rekonstruieren zu können, bedarf es jedoch zunächst einer näheren Bestimmung des Vernunftvermögens.
Kant bestimmt die Vernunft in Abgrenzung vom Verstand wie folgt: „Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien“ (B 359). Während der Verstand mittelst der Kategorien sich auf Anschauungen bezieht und sie zu Erkenntnissen synthetisiert, bezieht sich die Vernunft auf die Kategorien, um unter ihnen die größtmögliche Einheit zu bilden. Verstand und Vernunft haben somit unterschiedliche Bezugsobjekte, denn der Verstand formt das Material, das uns durch die Sinne gegeben wird, während die Vernunft ausschließlich das Material vereinheitlicht, das durch den Verstand hervorgebrachtwird, nämlich die Kategorien.
Den Grundsatz, der die Vernunft bei der Einheitsstiftung leitet, beschreibt Kant wie folgt: „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird“ (B 364). Die Einheitsbildung unter den reinen Verstandesbegriffen wird durch die Vernunft also dadurch bewerkstelligt, dass sie den Verstand auf das Unbedingte als Ziel ausrichtet (vgl. B 383). Der Versuch, das Unbedingte zu finden, erfolgt, indem nach noch allgemeineren Prämissen für ein gültiges Argument gesucht wird. Diese noch allgemeineren Prämissen nennt Kant „Prosyllogismen" (B 388) . Die allgemeinste Prämisse, die wiederum keiner Prämisse bedarf, ist das Unbedingte - von Kant auch als „absolute Totalität der Bedingungen“ (B 381) bezeichnet -, dessen sich die Vernunft als Prinzip zur Einheitsbildung der Kategorien bedient. Die Suche nach dem Unbedingten ist ein typisches Charakteristikum der Vernunft, die durch ihr Vermögen, zu schließen, realisiert wird. Kant schreibt der Vernunft nämlich nicht nur das Vermögen zu, unter Rückgriff auf Urteile, die als Prämissen fungieren, in „absteigende^] Reihe“ auf eine Konklusion, sondern auch in ,,aufsteigende[r] Reihe“ (B 389) auf eine allgemeinere Bedingungzu schließen.
[...]
1 Vgl. Descartes, René: Von der Methode, Hamburg 1996, S. 61f.
Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: MetaphysischeAbhandlung, Hamburg 1958, S. 3ff.
Vgl. Wolff, Christian: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und derSeele des Menschen, Hildesheim 1983, S. 583f.
2 Vgl. Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 1988, S. 296ff.
3 Vgl. Wagner, Fritz: Isaac Newton. Im Zwielichtzwischen Mythos und Forschung, München 1976, S. 64ff.
4 Vgl. für die atheistischen Ansichten Helvétius’ und d’Holbachs: Ley, Hermann: Geschichte derAufklärung und desAtheismus, Band 4, Berlin 1984, S. 72 und 122.
Vgl. für die atheistischen Ansichten Lamettries: Ley, Hermann: Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Band 5, Berlin 1984, S. 147.
5 Vgl. B XXXV, wo Kant schreibt, dass die Kritik „allein dem Materialism, Fatalism, Atheism, dem freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei und Aberglauben [...] zuletztauch dem Idealism und Skeptizism [...] selbst die Wurzel abgeschnitten werden."
6 Danz, Christoph: Philosophisch-theologische Streitsachen, Darmstadt 2012, S. 2f.
7 Kant, Immanuel: Briefwechsel, Hamburg 1986, S. 634. (Brief vom 4. Mai 1793 an Stäudlin.]
8 Mendelssohn, Moses: Morgenstunden oder Vorlesungen überdasDasein Gottes, Hamburg 2008, S. 93.
9 Vgl. Irrlitz, Gerd: Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart 2015, S. 133.
10 Willaschek, Marcus; Mohr, Georg: Einleitung: Kants Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, S. 20.
11 Vgl. zur Charakterisierung und Unterscheidung des „transzendentalen Scheins" vom logischen Schein B 354: „Der logische Schein [...] entspringt lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel. So bald daher diese auf den vorliegenden Fall geschärft wird, so verschwindet er gänzlich. Der transzendentale Schein dagegen hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transzendentale Kritik deutlich eingesehen hat. [...] Die Ursache hievon ist diese: daß in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet] Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben, und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird."
12 Irrlitz, Gerd: Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart 2015, S. 135.
13 Vgl. B 371: „Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mitihnen kongruieren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keineswegs bloß Hirngespinste sein."