Vom Staatsbürger zum Medienkonsumenten

Die Aktualität der Habermas'schen Theorie von der Refeudalisierung der Öffentlichkeit


Essay, 2018

13 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 | Einleitung

2 | Jürgen Habermas' Öffentlichkeitsideal und dessen Abstieg

3 | Kurt Imhofs Konzept vom Neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit

4 | Fazit

Literaturverzeichnis

Online-Literatur:

1 | Einleitung

Als Naturwissenschaftler sah und sieht sich Jürgen Habermas gewiss nicht. Doch folgt man dem Flensburger Soziologen Hauke Brunkhorst, dann besitzt seine Leistung, „einen Begriff so zu institutionalisieren und nachhaltig in der internationalen Forschung zu etablieren, einen ähnlichen Rang wie eine naturwissenschaftliche Entdeckung.“1 Brunkhorst spricht vom Habermas'schen Öffentlichkeitsbegriff, der sowohl im Deutschen als auch im Englischen weite Anwendung fände.

In seiner 1962 veröffentlichten Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit zeichnet Habermas mit einer historisch-empirischen Analyse verschiedener Öffentlichkeitsideale den Idealtypus von Öffentlichkeit. Diesen sieht er in der bürgerlichen, politisch fungierenden Öffentlichkeit Englands und Frankreichs des späten 18. Jahrhunderts realisiert. Hierbei ist die Rolle der Medien für das Konzept zentral: Sie waren einer der Hauptgründe für den Aufstieg, aber auch für den Zerfall des Öffentlichkeitsidealtypus. Im Fokus dieses Essays liegt eben jener Zerfallsprozess. Habermas spricht hier von der „Refeudalisierung der Öffentlichkeit.“2 Nach dieser Theorie käme die politische Öffentlichkeit ihrer ursprünglichen Kontrollfunktion nicht mehr nach und fiele immer weiter in feudale Muster zurück. Sie bestünde nicht mehr aus Staatsbürgern, sondern bloß aus „folgebereiten Kunden“3 (vgl. Kapitel 2).

Ziel des folgenden Kapitels ist es, Habermas' Argumentation für seine Theorie des Öffentlichkeitsideals und vor allem zur These der Refeudalisierung der Öffentlichkeit nachzuvollziehen. Denn auch in der zeitgenössischen Forschung sind Habermas' Thesen aktuell. Vor allem der Soziologe Kurt Imhof, aber auch der britische Politologe Colin Crouch betont in seinen Schriften die neue Macht der Medien und ihren starken Einfluss auf die politische Öffentlichkeit der westlichen Demokratien. So analysiert der zweite Teil dieses Essays den Zusammenhang der verschiedenen Annahmen von Öffentlichkeit und Medien von Habermas und den beiden Soziologen. Hierbei gilt es festzustellen, welche Thesen und Argumente bereits im Strukturwandel der Öffentlichkeit angelegt waren und welche neuen Perspektiven und Analysen besonders von Kurt Imhof in seinem Konzept vom Neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit aufgestellt werden.

2 | Jürgen Habermas' Öffentlichkeitsideal und dessen Abstieg

Während in Deutschland die neue Regierung vereidigt wurde, steht in Italien nach den Parlamentswahlen die finale Regierungsbildung noch aus. Das Bündnis um die Partei Forza Italia und ihren Parteigründer Silvio Berlusconi gewann zwar die Mehrheit der Stimmen, erreichte jedoch innerhalb des sogenannten Mitte-Rechts-Bündnisses bloß auf den zweiten Platz.4 Was schon vorher feststand: Der neue Ministerpräsident Italiens würde Berlusconi nicht werden. Da er wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden war, durfte er nicht offiziell für Forza Italia kandidieren. Der Politiker Berlusconi, der bereits vier mal das Amt des Ministerpräsidenten inne hatte , ist als Unternehmer sowohl Besitzer als auch Gründer der Firma Fininvest, zu welcher der größte Privatsender Italiens, Mediaset, gehört. Somit ist Berlusconi Milliardär, Medienmogul und Politiker zugleich.

Diese, im Fall Berlusconis zwar verkörperten, jedoch in Strukturwandel der Öffentlichkeit strikt voneinander getrennten Linien zwischen Privatbürger und Staat mit den Medien in der Vermittlerrolle, bildeten im Kontext eines staatlich regulierten, merkantilistischen Frühkapitalismus'5 die Pfeiler des Habermas'schen Öffentlichkeitsideals. Er verdeutlicht dies bereits im ersten Absatz seines Werks:

Sich auf die Gesellschaften von Frankreich und England des 18. Jahrhunderts beziehend, spricht er von den dort erstmalig „zum Publikum versammelten [ausschließlich männlichen] Privatleuten“6, welche die bürgerliche Gesellschaft dieser Länder bildeten. Der Begriff des „Publikums“ ist dabei entscheidend. Denn er impliziert eine Erwartungshaltung. Das Publikum ist aufmerksam, informiert und kritisch gegenüber dem Staat und seinen Tätigkeiten. Im Laufe des 18. Jahrhundert kam dieses Publikum zum öffentlichen Räsonnement in den Salons und Kaffehäusern Paris oder Londons zusammen.

Habermas' Methode in Strukturwandel der Öffentlichkeit liegt dabei in der Betonung der strikten Trennung von Staat und Gesellschaft als Grundvoraussetzung von politischer Öffentlichkeit. Im Laufe des Jahrhunderts setzte eine Entwicklung ein, die diesem „Privatbereich“7 eine endgültige Arena zur Abgrenzung zum Staat schuf. In der Arbeitsweise eines Historikers beschreibt Habermas bis ins Detail, wie die kapitalistische Produktionsweise sich immer weiter durchsetzte und damit einhergehend zunächst die englische Presselandschaft immer schneller wuchs.8 Die Zeitungen informierten und förderten die Debatten über das politische Tagesgeschehen und das Allgemeinwohl. Die Vernunft, nicht die Religion, bestimmten die Gesprächsthemen der bürgerlichen Gesellschaft. Durch den wachsenden Zeitungsjournalismus sowie dem Aufstieg der erwähnten Kaffeehäuser und Salons entstand der Idealtypus politischer Öffentlichkeit. Aber auch die staatliche Publizität veränderte sich. Dies bedeutet, dass die feudale repräsentative Öffentlichkeit, in der die Herrschenden ihre Taten und Entscheidungen bloß zur Schau stellten, an Stellung verlor und die Herrschenden gezwungen wurden, in Kommunikation mit dieser neu entstandenen politischen Öffentlichkeit zu treten. Die Staatsgewalt war nicht mehr Teil der Öffentlichkeit, sondern wurde zu ihrem Kontrahenten.9 Die politische Öffentlichkeit und die in ihr entstehende öffentliche Meinung nimmt in diesem Idealtypus die Vermittlerrolle zwischen Staat und Gesellschaft ein.

Habermas' Öffentlichkeitsideal ist somit ein rationales wie inklusives, denn es „steht und fällt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs.“10 Eine Öffentlichkeit, die nicht allen Bürgern zugänglich ist, ist nach Habermas keine Öffentlichkeit. Allerdings saßen in den Kaffeehäusern, Salons und Lesegesellschaften von London und Paris zumeist gebildete, wohlhabende Männer. Bildung und Besitz waren das informelle Zulassungskriterium zur politischen Öffentlichkeit des späten 18. Jahrhunderts. Hier sind die erwähnten Pfeiler des Habermas'schen Konzepts deutlich zu erkennen. Die in der Öffentlichkeit zusammenkommenden Bürger, die in den Salons ihre Zeitungen lasen und jeden Beschluss der immer publizistischer agierenden Parlamente11 diskutierten, waren Kinder der Politischen Ökonomie ihrer Zeit. In dieser hatte, laut Habermas, zum ersten Mal jeder die Chance, „ein Bürger zu werden.“12 Sprich, durch Arbeit und Besitz Teil der bürgerlichen Gesellschaft zu werden.

Doch es ist wichtig, Habermas' Unterscheidung von bürgerlicher und politischer Öffentlichkeit zu erkennen. Beide gingen miteinander einher. Ohne dem Entstehen einer bürgerlichen Öffentlichkeit, zu der jeder Bürger durch Geld, Besitz und Bildung Zugang hatte und die eindeutig dem privaten Bereich zugeordnet war, hätte die politische Öffentlichkeit als öffentliche Sphäre nicht in das Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft treten können.13

Somit waren im Habermas'schen Idealtypus von Öffentlichkeit mehrere Komponenten verwirklicht. Der ideale Bürger lebte in der Stadt, war engagiert, interessiert, belesen und kritisch hinterfragend. Der Zugang zu Museen, Konzerte, Theateraufführungen und dem politischen Leben im Allgemeinen wurde leichter zugänglicher. Kultur und Politik wurden in den täglich erscheinenden Zeitungen und „moralischen Wochenschriften“14 diskutiert. Die damalige merkantilistische Wirtschaftspolitik bedeutete zwar staatliche Interventionen zur Steigerung der Wirtschaftskraft15, allerdings galten diese, laut Habermas, nicht für die öffentliche Sphäre. Die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft bestand.

Doch sie begann im Laufe des 19. Jahrhunderts zu bröckeln. Folgt man Habermas' These von der Refeudalisierung der Öffentlichkeit, begann hier die „Verfallsgeschichte“16 der Öffentlichkeit:

Denn die soziale Zusammensetzung der bürgerlichen Öffentlichkeit wandelte sich. Habermas spricht hier vom „Sozialen Strukturwandel der Öffentlichkeit.“17 Die Arbeiterklasse wurde immer vehementer in ihren Forderungen nach faireren Lebens- und Arbeitsbedingungen. Der vermeintliche Klassenkampf, den Marx proklamierte18, rückte im 19. Jahrhundert die soziale Frage stärker in den Vordergrund. Der Staat begann unter anderem durch eine neue Steuerpolitik den Warenverkehr und die gesellschaftliche Arbeit zu regulieren.19 Diese wachsende Staatstätigkeit, vor allem im sozialen Bereich, hob die Trennung des Staates zum Privaten in nahezu allen Bereichen auf. Exemplarisch nennt Habermas den neuen Wohnungsbau: Wo früher das Privathaus durch Zaun und Garten den privaten Bereich eindeutig markierte, kam es nun zu dichter bewohnten Siedlungsformen, und sozialem Wohnungsbau.

Eine zentrale Rolle in Refeudalisierung der Öffentlichkeit spielte der Wandel der Medien. Denn „wenn die Gesetze des Marktes“20 in hoher Geschwindigkeit eine Geschäftspresse entstehen lassen, welche vornehmlich auf Profit statt Information ausgelegt ist, dann „wandelt sich Räsonnement tendenziell in Konsum.“21 Massenmedien entstanden und ermöglichten die Ausdehnung des Publikums aus den gebildeten Ständen hinein „in Schichten des gewerbetreibenden Kleibürgertums.“22

Habermas argumentiert, dass der sich in nahezu alle Bereiche des Lebens ausbreitende Kapitalismus und die staatlichen Interventionen in den Bereich der Privatsphäre eine Öffentlichkeit entstehen ließen, die mit deren Idealtypus nichts mehr gemein hatte. Das öffentliche Räsonnement verblasste, die bürgerliche Öffentlichkeit in ihrer Reinform gab es so nicht mehr.

Was zunächst wie ewig-gestrige-Nostalgie nach literarischem Räsonnement bei Kaffee und Zigarre klingen mag, ist für Habermas allerdings eine klare, rationale Analyse des Niedergangs von kritischer, objektiver Presse und öffentlichen Räsonnements durch staatlichem Interventionismus, der genau dies, im Kontext einer immer sich weiter am Konsum orientierenden Gesellschaft. aktiv zu verhindern versucht. Denn an der Profitorientierung der Massenmedien litt, laut Habermas, auch deren Qualität.23

Der Umsatzdruck in der Presse führte dazu, dass das Räsonnement der Redaktionen einer starken Vereinfachung der Themen und stark illustrierten Aufmachung der Zeitung weichen musste. Der Anteil der politisch relevanten Nachrichten sank zugunsten der Unterhaltung.24 Somit konnte von einer vermittelnden Sphäre zwischen Staat und Privatbereich nicht mehr die Rede sein.

Denn die vermeintliche Vermittlung ging nun nicht mehr direkt von den Bürgern oder unabhängigen Medien aus, sondern institutionalisierte sich in Form von Verbänden und Parteien, über deren „Machtvollzug und Machtausgleich […] mit dem Staatsapparat“ die Öffentlichkeit nur noch durch die Massenmedien erfuhr. Eine in ihrem Idealtypus existierende Öffentlichkeit gab es nicht mehr. Folgt man den Thesen aus Strukturwandel der Öffentlichkeit, gibt es sie auch heute nicht.

[...]


1 Brunkhorst, Hauke/Kreide, Regina/Lafont, Christina (Hrsg.): Habermas-Handbuch, Stuttgart 2009, S. 148.

2 Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main14 2015, S. 292.

3 Ebd.

4 http://www.spiegel.de/politik/ausland/italien-wahl-silvio-berlusconi-verpasst-erfolg-fuenf-sterne-triumphieren-a-1196446.html

5 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 225.

6 Ebd., S. 82.

7 Ebd., S. 89.

8 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 126.

9 Vgl. Brunkhorst, Hauke et al. (Hrsg.): Habermas-Handbuch, S. 149.

10 Ebd., S. 156.

11 Ebd., S.154.

12 Ebd., S. 159.

13 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 225.

14 Ebd., S.104.

15 Vgl. ebd., S. 226.

16 Brunkhorst, Hauke et al. (Hrsg.): Habermas-Handbuch, S. 149.

17 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S.225.

18 Vgl. hierzu: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 464.

19 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit S. 229.

20 Ebd., S. 248

21 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 248.

22 Ebd., S. 254.

23 Ebd., S. 258.

24 Vgl. ebd., S. 260.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Vom Staatsbürger zum Medienkonsumenten
Untertitel
Die Aktualität der Habermas'schen Theorie von der Refeudalisierung der Öffentlichkeit
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Philosophisches Seminar)
Veranstaltung
Medien und Öffentlichkeit in Demokratien
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
13
Katalognummer
V509667
ISBN (eBook)
9783346076700
ISBN (Buch)
9783346076717
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erleben wir zur Zeit einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit? Ausgehend von der Habermas'schen Diagnose von 1969 richtet dieses Essay den Blick auf zeitgenössische Forschungen zu Medien und Öffentlichkeit in der Soziologischen Theorie und politischen Philosophie.
Schlagworte
Habermas, Öffentlichkeit, politische Philosophie, Demokratietheorie, Strukturwandel, Medientheorie, Kritische Theorie, Nickel, Crouch, Staab, Soziologische Theorie
Arbeit zitieren
Finn Starken (Autor:in), 2018, Vom Staatsbürger zum Medienkonsumenten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/509667

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