Das pronominale Anredeverhalten in der deutschen Sprache

Vom Duzen und Siezen und der "richtigen" Anrede


Masterarbeit, 2017

114 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Das Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Teil 0: Die Einleitung

Teil I: DerTheorieteil
1. Sprache als Kommunikationsmittel zur Entstehung und Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen
1.1 Ein eigenes Kommunikationsmodell in Anlehnung an Jakobson und Watzlawick
1.2 Das Organonmodell nach Bühler
2. Höflichkeit in der deutschen Sprache
2.1 Das Kooperationsprinzip nach Grice
2.2 Die Höflichkeitsregeln nach Lakoff
2.3 Das Höflichkeitsprinzip nach Leech
2.4 Das face— - Konzept nach Brown und Levinson
3. Anrede und Anredeverhalten
3.1 Forschungsstand
3.2 Die geschichtliche Veränderung des pronominalen Anredeverhaltens bis zum heutigen binären Anredesystem
3.3 Das heutige binäre System mit seinen Vermeidungsstrategien
3.4 Funktionen von Anrede
3.5 Kriterien zur Wahl der Anrede und deren Wirkung
4. Zwischenfazit

Teil II: Der Praxisteil
1. Untersuchungsziele und Fragestellungen
2. Die Hypothesen
3. Das Untersuchungsdesign
4. Das Untersuchungsmaterial
4.1 Vorüberlegungen zur Auswahl des Untersuchungsmaterials
4.2 Der Pretest
4.3 Das endgültige Untersuchungsmaterial
4.4 Gütekriterien des Untersuchungsmaterials
4.5 Die Durchführung
5. Erläuterungen zu den angewandten Berechnungsmöglichkeiten
6. Die Stichprobe
7. Die Darstellung der deskriptiven Daten
8. Die Ergebnisdiskussion
9. Kritischer Rückblick und Reflexion
10. Fazit und Ausblick
11. Abbildungs und Tabellenverzeichnis
12. Quellenverzeichnis

Anhang

Der Fragebogen Der Kodierungsplan

Die Zuordnung der Fragen mit den entsprechenden Variablenbezeichnungen Sammlung der verwendeten SPSS-Dateien

Danksagung

Ich möchte allen voran meiner Erstprüferin Frau Dr. Iris Forster danken, die mir bei meiner langen Suche nach dem für mich besten Thema der Masterarbeit behilflich war und den ent­scheidenden Anstoß zu diesem Themengebiet gab. Während der Bearbeitungszeit waren Sie jederzeit erreichbar und nahmen sich stets Zeit, offene Fragen zu klären und Unsicherheiten zu beseitigen. Vielen Dank! Meiner Zweitprüferin Frau Prof. Dr. Miriam Langlotz möchte ich ebenfalls großen Dank aussprechen. Durch Ihre Unterstützung und Ihr gutes Zureden wurde ich mit dem SPSS Programm vertraut und konnte den Praxisteil dieser Arbeit überhaupt durchführen und auswerten.

Da die Abgabe dieser Arbeit nahezu gleichbedeutend mit dem Ende meines Studiums zu verstehen ist, möchte ich die Gelegenheit nutzen und den wichtigsten Menschen in meinem Leben „Danke“ sagen. Julia Engelmann (2017) fand unglaublich schöne Worte, die treffender nicht sein könnten und die ich an dieser Stelle teils zitieren möchte:

Ihr gebt mir Wurzeln in die eine und Flügel in die andere Hand und einen Kuss auf meine Stirn, der sagt mir: „Ich bin nicht alleine Dann legt ihr zwischen uns ein Band, sodass wir uns nicht verlieren, sagt ihr.

Ihr, ihr seid mein Beweis, dass Liebe mehr als Geld zählt. Seid der Rahmen für mein Weltbild. Alles, was für mich als Held gilt. Ihr gebt mir Hals, ohne mich festzuhalten, schafft es, wenn ich nicht kann, mich auszuhalten. Würdet nichts tun, mich je aufzuhalten, eher bringt ihr mich dorthin.

Ich brauch ‘ nichts zeigen und ihr seht mich, brauch ‘ nichts sagen und ihr versteht mich, brauch‘ nichts haben und ihr nehmt mich, nehmt mich einfach, wie ich bin.

Und wenn ich Angst hab ’, seid ihr traurig. Wenn ich weine, weint ihr auch. Dann sagt ihr: „ Sei nicht traurig. “ Und dass ihr immer an mich glaubt und mir kann nichts passieren, weil ich weiß, ihr seid noch hier. Ich gehör ‘ zu euch und ihr gehört zu mir. Ihr seid mein Ursprung, mein Vertrauen, meine Insel und mein Schatz. Mein Mund formt euer Lachen, mein Herz schlägt euren Takt.

Diese Zeilen richten sich an meine großartige Mutter und ihren Mann. Ihr habt mich immer und werdet mich auch weiterhin in allen Belangen unterstützen und bezeichnet es als Selbst­verständlichkeit, obwohl es das nicht ist. Ich danke euch! Außerdem gebührt der Text meinem langjährigen Partner. Nun haben wir schon so viele Etappen gemeinsam erlebt - diese gehört jetzt auch dazu. Danke, dass du an meiner Seite bist, mir so viel abnimmst und mich unter­stützt!

Teil 0: Einleitung

Wir alle treten so gut wie jeden Tag auf unterschiedlichste Weise in Kontakt mit anderen Per­sonen. Wir reden miteinander, wir fragen etwas, wir diskutieren, wir streiten, wir begrüßen uns und verabschieden uns wieder. Egal, wie die Kommunikation verläuft - wir können meist nicht vermeiden, unserem Gegenüber eine Anrede zuzuschreiben. Doch was beeinflusst uns bei der Wahl der vermeintlich „passenden“ Anrede? Mit welchen Intentionen entscheiden wir uns entweder für die eine oder die andere pronominale Anrede? Und in welchen Situationen gehen wir dieser Entscheidung lieber aus dem Weg, um keinen Fehler, sofern man in diesem Zusammenhang überhaupt von einem Fehler sprechen möchte, zu begehen? Diesen Fragen soll unter anderem innerhalb dieser Arbeit mit dem Thema „Vom Duzen und Siezen. Eine pragmalinguistische Auseinandersetzung mit dem pronominalen Anredeverhalten in der deut­schen Sprache“ nachgegangen werden. Wie der Titel bereits verlauten lässt, wird eine Reduk­tion vorgenommen, um dem Thema im Rahmen dieser Arbeit inhaltlich die nötige Tiefe ge­ben zu können. Daher wird lediglich die pronominale Anrede behandelt, während die nomina­le Anrede keinerlei Beachtung erfährt.

Nach der Einleitung folgt eine Zweiteilung der Arbeit in den Theorie- und den Praxis­teil. Zu Beginn wird im Theorieteil eine wissenschaftliche Basis geschaffen, welche sich mit der Sprache als Kommunikationsmittel auseinandersetzt und ein eigens erstelltes Kommuni­kationsmodell in Anlehnung an fundierte Modelle bekannter Sprachwissenschaftler präsen­tiert. Kommunikation bildet den Handlungsspielraum, in dem die pronominale Anrede er­folgt. Ohne sie wäre auch keine Anrede möglich. Unabdingbar in Verbindung mit dem Anre­deverhalten ist die Auseinandersetzung mit dem Höflichkeitsverständnis. Dazu werden in Kapitel 2 des Theorieteils Prinzipien, Regeln und Konzepte vorgestellt, die sich die letzten Jahrzehnte entwickelten und unterschiedlich stark in der Forschung etablierten. Das jeweilige Verständnis von Höflichkeit wirkt sich unmittelbar auf unsere Einschätzung der „passenden“ Anrede aus und spiegelt demnach auch unsere persönliche Einstellung wieder. Anschließend wird der Forschungsstand bezüglich der Anrede und des Anredeverhaltens Erwähnung finden. Unsere Individualität im Denken und Handeln wird selbstredend von der vorherrschenden Konvention beeinflusst, äußert sich jedoch dennoch unterschiedlich stark in der jeweiligen Interpretation und Umsetzung dieser. Eine Darstellung der geschichtlichen Veränderung des pronominalen Anredeverhaltens ist insofern von Interesse, als dass dadurch begründete Ver­mutungen entstehen, dass sich das binäre Anredesystem, welches gegenwärtig vorherrscht, ebenso im Laufe der Zeit verändern könnte. Um die Thematik inhaltlich zu vervollständigen, wird auf Vermeidungsstrategien eingegangen, die Funktionen der Anrede werden erläutert sowie die Kriterien zur Wahl derselbigen und deren Wirkung.

Der Praxisteil beruht auf einer durchgeführten empirischen Studie. In dieser soll grundlegend drei Fragestellungen nachgegangen werden, welche vom Allgemeinen ins De­taillierte staffelbar sind. Zu allererst soll bestimmt werden, welche Aussagen sich über das pronominale Anredeverhalten in der deutschen Sprache zum jetzigen Zeitpunkt treffen lassen. Da, wie bereits angedeutet, sich ein steter Wandel des Anredesystems vollzog, ist es wichtig zu analysieren, welcher Status quo zum Untersuchungszeitpunkt vorherrscht. Weiterführend sollen personelle Eigenschaften seitens des Sprechers1 und des Empfängers ermittelt werden, die das Anredeverhalten beeinflussen. Zuletzt soll versucht werden, eine Forschungslücke zu schließen, indem herausgefunden werden soll, welche Grauzonen, also Situationen, in denen man sich als Sprecher unsicher in seiner Wahl der korrekten Anrede ist, tendenziell bestehen. Da es sich um eine empirische Forschung handelt, muss das Untersuchungsdesign klar formu­liert werden, um zu veranschaulichen, auf welche Art und Weise vorgegangen wurde. Das Untersuchungsmaterial wird hinsichtlich seiner Zusammensetzung sowie seiner Gütekriterien beschrieben und analysiert. Nachdem daraufhin die Stichprobe vorgestellt wird, kommt es zur Darstellung der statistischen Ergebnisse. Den im Vorfeld festgelegten Hypothesen wird unter Zuhilfenahme der Statistiksoftware IBM SPSS Statistics intensiv nachgegangen. In der Er­gebnisdiskussion werden alle gesammelten Erkenntnisse zusammengefasst und interpretiert, Korrelationen werden ermittelt und mögliche Begründungen werden geliefert.

Den Praxisteil abschließend wird die empirische Studie in ihrer Planung und Durch­führung sowie in Bezug auf die Auswertung der dadurch zusammengetragenen Ergebnisse kritisch reflektiert. Verbesserungsvorschläge werden geäußert und ein theoretischer Ausblick wird gegeben.

Teil I: Theoretische Grundlagen

Dieses Eingangskapitel dient dazu, dem Leser wichtige grundlegende Termini näher zu brin­gen, damit im Folgenden von einem einheitlichen Begriffsverständnis ausgegangen werden kann. Da es oftmals eine nicht überschaubare Vielzahl an Definitionsversuchen, Forschungs­tendenzen und subjektiven Meinungen gibt, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um ausgewählte Zitierungen handelt, welche nicht als alleinige Wahrheit angese­hen werden sollten. Die Kommunikation in Zusammenhang mit der Sprache wird beleuchtet und mittels Modellen sowie Forschungsinhalten erläutert.

1. Sprache als Kommunikationsmittel zur Entstehung und Aufrecht­erhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen

Tagtäglich finden überall auf der Welt Formen von Kommunikation (mündlich, schriftlich oder non-verbal) statt (vgl. Feldmeier 2014: 51). Da es in dieser Arbeit primär um die münd­liche Kommunikation geht, wird der geschriebene und non-verbale Bereich weitestgehend ausgeblendet und der Fokus auf die gesprochene Sprache mit ihren Inhalten und Intentionen gelegt. „Die Sprache wird durch Sprechen gebildet und das Sprechen ist Ausdruck des Ge­danken oder der Empfindung“ (Nagatomo 1986: 15). Diese Aussage unterstreicht auch Hum­boldts Meinung, dass Sprache mehr als ein reiner Funktionsträger zur Übermittlung einer Nachricht sei (vgl. Nagatomo 1986: 7). Sie ist „Ausdruck des Geistes und der Weltansicht des Redenden“ (Humboldt 1979: 23). Nagatomo ist außerdem der Meinung, dass niemand seine Muttersprache perfekt beherrsche. Eine neue Kommunikationssituation entspricht somit einer Herausforderung mit oftmals neuen Gesprächspartnern und -inhalten. Sprachreglementierun- gen und deren Anwendung innerhalb einer Kommunikation werden je nach Situation neu be­stimmt und können unter Umständen fehlerhaft umgesetzt werden. Um Konflikte, die durch falsche oder unpassend angewandte Sprache entstehen, zu vermeiden, gibt es konventionelle Höflichkeitsformen, auf die an späterer Stelle ausführlich eingegangen wird.

Zig Fachrichtungen setzen sich mit dem Begriff der Kommunikation auseinander - sie ist somit interdisziplinär. Es handelt sich jedoch grundsätzlich um einen Austausch von In­formationen, also um einen interaktiven Prozess zwischen Sender und Empfänger, der zwi­schenmenschliche Beziehungen regelt und überhaupt erst möglich macht.

Aufgrund der Interdisziplinarität ist eine Vielzahl unterschiedlichster Kommunikationsdefini­tionen1 und entsprechender Kommunikationsmodelle in der aktuellen Forschung zu finden. Natürlich wäre es interessant, präzise und umfangreich auf die einzelnen Modelle und deren Auslegungen einzugehen, allerdings wäre dies im Rahmen dieser Arbeit nicht sinnvoll und auch nicht notwendig, da es methodologisch nicht möglich ist, im praktischen Teil auf alle Faktoren detaillierter Modelle eingehen zu können. Deshalb wird sich im Folgenden auf aus­gewählte Inhalte beschränkt.

1.1 Ein eigenes Kommunikationsmodell in Anlehnung an Jakobson und Watzlawick

Innerhalb dieser Arbeit soll von einem eigenen Kommunikationsmodell in Anlehnung an Ja­kobson ausgegangen werden. Ebenso fließen Gedanken von Watzlawick bezüglich des Be- ziehungsaspektes2 mit in das folgende Modell ein. Allen voran wird hierbei die Wechselwir­kung erkenntlich. Denn Kommunikation als ein interaktionaler Vorgang meint nicht die ein­malige Übertragung einer Information vom Sender zum Empfänger - dies bezeichnet Watz- lawick als Mitteilung. Hier liegt der entscheidende Unterschied zum Modell von Jakobson. (Vgl. Auer 2013: 35) Bei ihm handelt es sich um eine einfache Vermittlung einer Nachricht vom Sender zum Empfänger. Bezieht man Watzlawick mit in seine Überlegungen ein, so wird ein Verständnis von Kommunikation im folgenden Modell deutlicher. Seiner Ansicht nach geht man nämlich erst dann von einer Kommunikationssequenz aus, wenn mehrere auf­einander folgende Mitteilungen geäußert werden - es also zu einem gegenseitigen Austausch von Nachrichten kommt. (Vgl. Watzlawick et al. 2007: 50f)

Inhaltsaspekt Beziehungsas

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Ein eigenes Kommunikationsmodell in Anlehnung an Jakobson und Watzlawick

Der Sender (auch Sprecher genannt) verfasst eine Mittelung3 mit einem gewissen Informati­onsgehalt an einen Empfänger (auch Adressat genannt). Der Informationsgehalt meint den reinen Inhalt. Der Sender verfolgt dabei eine bestimmte Intention, eine Absicht, was genau er mit der Nachricht ausdrücken und erreichen möchte und formuliert diese entsprechend seinem personellen Verständnis der vorherrschenden Konventionen in Hinblick auf das Sprachverhal- ten. Erlernte sprachliche Gesetzmäßigkeiten werden bewusst oder unbewusst mehr oder we­niger umgesetzt. Ebenso ist die Situation entscheidend und kann den Sprechakt als solchen stark beeinflussen. Der Beziehungsaspekt spielt eine tragende Rolle bei der Verwendung be­stimmter Ausdrücke und der Art und Weise, was und wie etwas gesagt wird. So kommt es, dass eine Nachricht zum einen aus dem reinen Inhalt besteht und zum anderen aus dem sich widerspiegelnden Beziehungsaspekt. Dieser drückt den derzeitigen Stand der Beziehung aus oder regelt ihn gegebenenfalls neu. Der Empfänger in der passiven Rolle erhält die Mitteilung und interpretiert diese. Eben jene Auslegung der Nachricht ist rückblickend genauso abhängig von der eigenen Auslegung der Konvention, der subjektiven Einschätzung der Beziehung zueinander und der eigenen Situationsempfindung. Anschließend wird der Empfänger, sofern er reagiert, zum Sender. Hier wiederholt sich das vorangehende Prozedere hinsichtlich der einwirkenden Faktoren. Eine Kommunikation findet statt. Die Güte einer Kommunikation hängt von der Übereinstimmung von Inhalts- und Beziehungsaspekt ab. Werden beide Berei­che als kongruent eingeschätzt, so wird von einer hohen Güte der Kommunikation ausgegan­gen, im gegensätzlichen Fall von einer niedrigen Güte. Im Idealfall herrscht bei allen Kom­munikationsteilnehmern eine Stimmigkeit in Beug auf Inhalt und Beziehung. (Vgl. Fronmey­er 2005: 26)

Ergänzen könnte man das Modell mit diversen Variablen wie der Mimik, der Gestik oder der Tonlage, um noch außersprachlich wirkende Einflussfaktoren zu betrachten, da diese einen starken Anteil am Beziehungsaspekt und der Interpretation des Empfängers beim Äu­ßern einer Mitteilung haben. Dabei wird an dieser Stelle der non-verbale Bereich kurz aufge­griffen, denn genau diese zusätzlichen Faktoren können auch alleine wirken. Nach Watzla- wick (2007) ist es unmöglich, nicht zu kommunizieren. Das heißt, dass selbst ohne eine ver­bal geäußerte Mitteilung ein kommunikativer Austausch stattfindet. Zumeist unbewusst ge­sendet und ebenso unbewusst empfangen, jedoch jederzeit stattfindend und ohne Einschrän- kung.4 Da Schwerpunkt dieser Arbeit jedoch das pronominale Anredeverhalten ist, und somit eine Verbalität vorausgesetzt wird, sei dies nur am Rande erwähnt.

1.2 Das Organonmodell nach Bühler

Karl Bühler war Mediziner, Psychologe, Philosoph und außerdem noch Sprach- und Kommunikationswissenschaftler (vgl. Auer 19). Krallman und Ziemann (2001: 48) fas­sen Bühlers Verständnis von Kommunikation zusammen und definieren diese als ein[en] soziale[n] Prozess [...], an dem mindestens zwei Menschen beteiligt sind, die mit­tels Zeichen, Medien und Sprache in ein wechselseitiges Mitteilungs- und Ver­ständigungshandeln eintreten, um sich aktuell aneinander zu orientieren, etwas Bestimmtes zu erreichen oder gemeinsam auf ein zukünftiges Ziel hin tätig zu sein.

Die Sprache ist Bühlers Ansicht nach ein Me­dium kommunikativen Handelns. Das folgen­de Organonmodell („Werkzeugmodell“) ent­wickelte er so, dass das Werkzeug Sprache im Zentrum liegt. Ohne Sprache kann lediglich die non-verbale Kommunikation ablaufen.

Doch damit der Sender dem Empfänger etwas Abblldung 2; Bühlers Organon-Modeii (i934) nach Geile . . . . (2012:32) verändert mitteilen beziehungsweise einen konkreten Inhalt (hier als Gegenstand/Sachverhalt beschrieben) übertragen kann, ist Sprache für ihn als unabdingbare Voraussetzung anzusehen. Innerhalb des Kreises, welches modellhaft für das konkrete Sprechereignis steht, ist ein Dreieck erkennbar. Dieses meint das zentrale Phäno­men, welches auf dreierlei Funktionsweise zum Zeichen5 wird: Vom Sender ausgehend wird eine Ausdrucksfunktion erkennbar - das Symptom. Hierbei kommt auch Mimik und Gestik zum Tragen; der Zustand des Senders mit seinen Gefühlen und inneren Befindlichkeiten wird ausgedrückt. Der Gegenstand/Sachverhalt wird dargestellt und ist hier als Symbol gekenn­zeichnet. Ein bestimmter Inhalt - die Information - wird beschrieben und weitergeleitet. In Hinblick auf den Empfänger wird implizit ein Appell (Signal) an sein Verhalten ausgedrückt. Somit sind Ausdruck, Darstellung und Appell die drei Funktionen und Leistungen von Spra­che. (Vgl. Geile 2012: 31) Sie sind in jeder kommunikativen Situation vorzufinden und vari­ieren lediglich in ihrer Ausprägung, je nachdem welche Bezugsgröße dominiert (vgl. Bühler 1934: 32).

Bühlers Modell verdeutlicht drei grundlegende Punkte:

(1) Kommunikation findet immer in einem sozialen Rahmen statt, da mindestens ein Sprecher und mindestens ein Empfänger miteinander in Interaktion treten.
(2) Kommunikation weist einen Prozesscharakter auf. Dieser wird erkennbar in der Tat­sache, dass die Beteiligten versuchen, sich gegenseitig zu beeinflussen und sich an­einander zu orientieren.
(3) Bühler sieht die Sprache als vom Menschen geschaffenes Werkzeug an, welches die Aufgabe inne hat, das gegenseitige Verstehen zu gewährleisten. (Vgl. Krallmann & Ziemann 2001: 48-49)

Anzumerken ist der Fakt, dass einige Forscher, wie beispielsweise Auer (2013) das Orga­nonmodell weniger als Kommunikationsmodell denn als Zeichenmodell betrachten. Das Zei­chen in Bühlers Modell „konstituiert sich lediglich in der Kommunikationssituation“ (vgl. Auer 2013: 26). Dennoch sei es innerhalb dieser Arbeit erwähnt, da es sehr wohl Aufschluss über die Funktionsweisen eines Zeichens innerhalb einer Kommunikation liefert und das Ver­ständnis von Kommunikation im Allgemeinen erweitert.

2. Höflichkeit in der deutschen Sprache

Da Sprache und explizit das Anredeverhalten unmöglich ohne Verbindung zu Höflichkeit und Respekt betrachtet werden sollte, wird dieses Kapitel aufgeführt. Versuche, Höflichkeit ein­heitlich zu definieren, scheitern an der subjektiven Betrachtung. Das Verständnis von Höf­lichkeit hängt mit dem kulturellen Umfeld sowie den persönlichen Erfahrungen und Einstel­lungen zusammen. Man kann Beispiele für Höflichkeit anbringen, ebenso für Unhöflichkeit, jedoch wird man nie zu einer grundsätzlichen, allgemeinen Definition gelangen. Konventio­nen und gesellschaftliche Strukturen führen zu Tendenzen bezüglich der Höflichkeitsempfin­dung. Dennoch ist die Auffassung und Meinung so individuell wie die Person, die sie emp­findet und einschätzt.

Die Höflichkeit ist Forschungsgegenstand der Soziolinguistik und der sozialen An­thropologie. Die Höflichkeitsforschung gehört außerdem zum Teilgebiet der Pragmatik. Die Sprachkompetenz, welche sich auf die Pragmatik bezieht, erfuhr im Rahmen der Linguistik seit den 1970er Jahren verstärkt Aufmerksamkeit. (Vgl. Feldmeier 2014: 52-53) Was als höf­lich erachtet wird, ist demnach äußerst subjektiv und wird von Haferland & Paul (1996: 7) als ein „interpretativer Begriff“ beschrieben. Sich dem anschließend soll innerhalb dieser Arbeit nur knapp auf den Höflichkeitsbegriff und deren Auslegung eingegangen werden, während der Zusammenhang von Anrede und Höflichkeit im Fokus steht.

Der Begriff höflich geht aus dem mittelhochdeutschen Begriff hovelich hervor und meint herkömmlicherweise alles, „was am Hof üblich war (Recht, Tracht, Essen, Unterhal­tungskünste, Sitten, Ausdrucksweise)“ (Feldmeier 2014: 53). Es ergaben sich daraus fünf Nutzungszusammenhänge:

a. ) im Sinne der Regierungsform: Völker, die nach höflichen Rechten regiert werden
b. ) zur Beschreibung der Gestalt von Menschen: höflich im Sinne von stattlich
c. ) in Bezug auf Worte, Sitten und Betragen, wie es dem Hofe gemäß war
d. ) aus c) heraus entwickelt: im Sinne von feinem, artigen Verhalten gegen andere
e. ) semantisch spezifiziert: in der Bedeutung von gewandt, geschickt, klug

(Vgl. Grimm & Grimm 1877 Sp.168ff., zit. nach Feldmeier 2014: 53)

Die Bedeutungsvielfalt reduzierte sich im heutigen Sprachgebrauch auf die Lesart c.) und d.) und meint nun soviel wie wohlerzogen und rücksichtsvoll (vgl. Hermann 1985, zit. nach Feldmeier 2014: 53).

2.1 Das Kooperationsprinzip nach Grice

Wie es uns gelingt, eine erfolgreiche Kommunikation auszuführen, versucht Grice (1975, zit. nach Feldmeier 2014: 54) in seinem Kooperationsprinzip zu erklären. Ein Gesprächspartner formuliert seinen Beitrag demnach informativ, aufrichtig, relevant und klar. Dies passiert auf­grund des eigenen Wunsches, ein Gespräch effektiv zu gestalten. Sie basieren auf den vier kantischen Maximen: die Kommunikationsmaximen der Quantität, der Qualität, der Relation und der Art und Weise. Sie greifen jedoch nicht in jedem Kontext passenderweise, da man sagen kann, dass beispielsweise Bitten oder indirekte Aufforderungen oft erfolgsversprechen­der sind als direkte Befehle, welche Grice allerdings bevorzugt. Seine Arbeit selbst reflektie­rend äußerte Grice, dass es wohl noch mehr Maximen geben müsse. (Vgl. Grice 1975, zit. nach Nixdorf 2002: 53)

Das Grice’sche Kooperationsprinzip bildet die Basis der drei folgenden linguistischen Grundmodelle.

2.2 Die Höflichkeitsregeln nach Lakoff

Als Anpassung der Grice’schen Maximen bringt Lakoff (1973: 298, zit. nach Feldmeier 2014: 54) folgende drei Höflichkeitsregeln an:

(R1) Don’t impose.
(R2) Give options.
(R3) Make a feel good, be friendly.

Diese Richtlinien sollen je nach kulturellen oder persönlichen Hintergründen zum Ausdruck von Höflichkeit eingesetzt werden und bewusst gegen das Kooperationsprinzip im Sinne der Indirektheit arbeiten. Die vorangehende Regel von Grice be clear wird mit Lakoffs pragma- linguistischer Auseinandersetzung durch be polite abgelöst. Während sich die Regeln des Ko­operationsprinzip nach Grice auf den Sprechakt als solchen beziehen, zielen die Höflichkeits­regeln nach Lakoff zum einen auf die Charakteristiken des Senders und Empfängers ab und zum anderen auf das gegenseitige Verhältnis innerhalb des Sprechaktes. Die erste Regel (R1) richtet sich nach dem Status der Gesprächsteilnehmer. Man solle sich als Sender nicht auf­drängen oder überheblich sein. Hierbei werden Formalien abgeklärt, indem die Anrede ge­wählt wird. Die zweite Regel (R2) meint das Zögern. Der Empfänger sollte die Möglichkeit haben, ausweichen zu können und selbst zu entscheiden. Abwägestrategien werden unter die­ser Regel zusammengefasst. Worte wie sicherlich, eventuell oder eigentlich implizieren kein Faktum, sondern eine Entscheidungsmöglichkeit. Bezogen auf die Anrede könnte man hier die Vermeidung der Anrede zuordnen. Die dritte Regel (R3) nach Lakoff deckt den Bereich der Vertrautheit und Kameradschaft ab. Man solle sich als Sender so ausdrücken, dass sich der Empfänger wohl fühlt. (Vgl. Kunsmann 1974: 6)

Das Streben nach dem Wohlbefinden des Gegenübers kann entsprechend auch auf die Anrede übertragen werden. Diese Regel wäre demnach so zu interpretieren, dass eben jenes Anredepronomen gewählt wird, welches vermutlich auf Akzeptanz des Empfängers stößt. Im Gegensatz zu den Grice’schen Maximen entstehen dabei weniger Verständnisschwierigkeiten oder Konflikte. Gegensätzliches ist der Fall: Das Nichteinhalten der Gric’schen Maximen schwächt Konflikte ab, beziehungsweise vermeidet sie vollständig. (Vgl. Held 1995: 62)

2.3 Das Höflichkeitsprinzip nach Leech

Ebenso wie Lakoff stört sich Leech an dem Kooperationsprinzip nach Grice und übertritt die­ses. Sein konkurrierendes und sich über Jahre weiter entwickeltes Höflichkeitsprinzip steht im Widerspruch zu Grice’ Theorie und ist äußerst komplex.

Er stellt sechs Maximen auf und gibt entsprechende Funktionen an.

(1) Takt-Maxime: minimiert die Kosten anderer und erhöht den Nutzen für sie
(2) Großzügigkeits-Maxime: erhöht die Kosten des Sprechers und minimiert seinen Nut­zen
(3) Anerkennungs-Maxime: minimiert die Missbilligung anderer und erhöht deren Aner­kennung
(4) Bescheidenheits-Maxime: minimiert Eigenlob und erhöht die Selbstkritik
(5) Zustimmungs-Maxime: minimiert die Nicht-Übereinstimmung zwischen dem Spre­cher und dem Gegenüber und erhöht die Übereinstimmung zwischen denselbigen
(6) Sympathie-Maxime: minimiert die Antipathie und erhöht die Sympathie

(Vgl. Leech 1983: 132, übersetzt nach Serdyukova 2008: 11-12)

Hervorzuheben ist die Takt-Maxime. Leechs Verständnis von Höflichkeit geht stark davon aus, ein Gleichgewicht zwischen beiden Gesprächsakteuren in Bezug auf deren Kosten und Nutzen herzustellen. Ziel ist es, den sozialen Erwartungen des Empfängers gerecht zu werden und somit außerdem dem eigenen egoistischen Wunsch nach einer funktionierenden Kommu­nikation nachzukommen. Folgendes Schema verdeutlicht Leechs beschriebene Asymmetrie, welche sich seiner Meinung nach ganz klar durch angewandte Indirektheit erreichen lässt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Leechs Interaktives Kosten-Nutzen-Modell mit Anpassung von EGO und ALTER (Held 1995: 72)

Je weiter beide Akteure voneinander distanziert sind, desto indirekter sollten allen voran kon­flikthaltige Äußerungen formuliert sein. Der Nutzen der Indirektheit wird auch im Anrede­verhalten deutlich und lässt sich daher passenderweise übertragen. Auf die Wirkung wird an späterer Stelle genauer eingegangen.

2.4 Dasface-Konzept nach Brown und Levinson

Die vermutlich bekanntesten Forscher innerhalb der hier behandelten Thematik sind Brown und Levinson, welche die hauptsächliche Abhängigkeit einer funktionierenden und höflichen Kommunikation in der Gesichtswahrung sehen. Haferland & Paul (1996: 15-19) verbinden die Höflichkeit ebenso stark mit dem face-Management und seien an dieser Stelle kurz er­wähnt.

Das face ist ein auf Goffman (1955) zurückgehendes Konzept. Unter dem Begriff ver­steht er ein öffentliches Selbstbild, welches jedes Gesellschaftsmitglied besitzt und sich gene­rell in jede Interaktion involviert. Der Wunsch nach Beachtung und Bestätigung wird daraus erkenntlich. Durch die kontinuierlichen Begegnungen der Selbstbilder unterschiedlicher Aus­prägung geraten sie in ständige Konfrontation und daraus resultiert eine andauernde Verände­rung. Die Gefahr der Gesichtsbedrohung, der -Verletzung oder sogar des -Verlustes ist hoch. Durch die Interaktion mit anderen wird das eigene Selbstkonzept aufgebaut, bestätigt oder verneint. Das sogenannte face entsteht an der Stelle, wo es zu einer zwischenmenschlichen Interaktion kommt. (Vgl. Simon 2003: 64)

Goffman (1955: 213, zit. nach Simon 2003: 64) definiert das face folgendermaßen:

The term face may be defined as the positive social value a person effectively claims for himself by the line others assume he ha staken during a particular contact. Face is an image of self delineated in terms of approved social attributes.

Die eigene Gesichtswahrung und die Wahrung des Gesprächspartners definiert die Höflich­keit in der Interaktion. Sie verläuft situationsangemessen und ist stets darauf bedacht, den sozialen Frieden zu gewährleisten. Hierbei handelt es sich um konventionalisierte Handlun­gen gegenseitiger Wertschätzung. Die Gesichtswahrung findet sowohl mittels protektiver als auch defensiver Verhaltensstrategien statt. (Vgl. Held 1995: 64-65)

Brown und Levinson nehmen sich der Vorarbeit von Goffman an und bauen ihr Mo­dell auf deren Grundlage auf. Sie meinen unter dem Begriff face allgemeiner „the public self­image that every member [of a society] wants to claim for himself.“ (Brown & Levinson 1987, zit. nach Simon 2003: 64). Es handelt sich hierbei, wie bereits angedeutet, um ein inter­aktives Konzept, welches aus der Begegnung zu anderen Gesellschaftsmitgliedern heraus seine Daseinsberechtigung zieht (vgl. Held 1995: 62). Das face-Konzept spielt in dem Ver­langen nach einem funktionierenden sozial-gemeinschaftlichen Leben eine essentielle Rolle. Die eigenen Handlungen - worunter auch der Sprechakt als solcher fällt - üben eine Wirkung aus. Der Sprecher ist also mehr oder weniger stets darauf bedacht, welche Konsequenzen das eigene Handeln auf das persönliche face und auf das face des Gegenübers nach sich zieht. Die Gesellschaft ist generell daran interessiert, dass es zu keinem Gesichtsverlust und somit zu einer vermutlich nachfolgenden Veränderung der Beziehungsebene kommt. Eben jenes face- schützende Verfahren wird als Höflichkeit bezeichnet. (Vgl. Simon 2003: 65-66)

Brown und Levinson (1987, zit. nach Simon 2003: 66) führen zwei Strategien auf, mit deren Hilfe man das face des Gesprächspartners schützen kann:

- positive face: the positive consistent self-image or 'personality'(crucially inclu­ding the desire that this self-image be appreciated and approved of) claimed by in­teractants
- negative face: the basic claim to territories, personal preserves, rights to non­distraction -i.e. to freedom of action and freedom from imposition

Das positive face kann zum Beispiel durch Lob oder aufwertende (pro-)nominale Anreden geschützt oder gestärkt werden. Positive Seiten werden hervorgehoben. Das negative face wird geschützt, indem unangenehme Seiten nicht angesprochen, Aussagen abgeschwächt (vgl. Haferland/Paul 1996: 19) oder Anreden indirekt formuliert werden. (Vgl. Feldmeier 2014: 55) Grundidee des Konzeptes ist es, durch positive Höflichkeitsstrategien eine Solidarität zu schaffen und der anderen Person Wohlgesinnung zu signalisieren beziehungsweise ihm durch negative Höflichkeitsstrategien respektvolle Distanz und Ausweichmöglichkeiten zukommen zu lassen (vgl. Simon 2003: 67).6

Um genau diese Distanz geht es bei der Wahl der höflichen Anrede Sie. Dieses Pro­nomen ist Teil der negativen Höflichkeit und gibt dem Adressaten das Gefühl, in seinem Ter­ritorium keine Bedrängung zu erfahren. „Die Persönlichkeit des Adressaten wird vervielfäl­tigt’“ (Kohz 1982: 39) und somit wird „[d]er Akt des Anredens verschleiert“ (ebd.). Auf diese Weise angesprochene Personen werden durch die Indirektivität nicht bedrängt. Im Gegenzug dazu wird das Pronomen du als Solidaritätskennzeichen verstanden und kann so als positive Höflichkeit aufgefasst werden. Besonders werden diese Strategien der Höflichkeit in der dia- chronen Betrachtung des pronominalen Anredesystems im deutschsprachigen Raum sichtbar, welcher in Kapitel 3.2 intensive Aufmerksamkeit geschenkt wird.

3. Anrede und Anredeverhalten

Jede Sprache und jede Gesellschaft weist ein eigenes Register an linguistischen Mitteln auf, unter deren Zuhilfenahme Sprecher in eine Interaktion gelangen. Sie treten in Kommunikati­on, nehmen Rollenzuweisungen vor und legen Verhältnisse untereinander fest. Grob lässt sich die Anredeform in eine

a) pronominale und
b) nominale Kategorie untergliedern.

Neben der pronominalen Anrede sei der Bereich der nominalen Anrede kurz erwähnt. Dieser Teil „umfasst Namensnennungen, Titel, Beruf- und Geschlechtsbezeichnungen (Herr/Frau/Fräulein) oder dient dem Ausdruck einer Beziehung wie Freundschaft (z. B. Liebe, Lieber ...)“ (Kadzadej 2011: 21). Zwar stehen beide Varianten eng miteinander in Beziehung, nichtsdestotrotz wird sich innerhalb dieser Arbeit ausschließlich mit der pronominalen Anrede im mündlichen Bereich beschäftigt.

Bisher wurde bereits des Öfteren der Begriff des Anredepronomens verwendet, um die es in dieser Arbeit grundlegend geht. „Anredepronomen“ definieren unter genauer Betrach­tung die tatsächliche Bedeutung jedoch fehlerhaft. Pronomen im eigentlichen Sinne stehen für Nomina und können diese syntaktisch und semantisch komplett im Satz ersetzen. Demnach zählen die Formen der 3. Person Singular und der 3. Person Plural dazu, die anderen Prono­men allerdings nicht.7 (Vgl. Kohz 1982: 18) Personalpronomina zählen zu den deiktischen Ausdrücken. Sie können entsprechend dem Sprecher und dem Sprechumfeld ihre Referenz ändern und Kasus, Numerus und Genus ausdrücken. Im Deutschen fällt der Kasus im Nomi­nativ aus. Numerus und Genus orientieren sich allerdings referentiell oder pragmatisch. Die pronominale Anrede ist zumeist syntaktisch in den Satz integriert. Lediglich zur Subjektfo­kussierung wird das Pronomen hervorgehoben und agiert alleinstehend. (Vgl. Feldmeier 2014: 57)

3.1 Forschungsstand

Genau wie bei dem Sprach- und Kommunikationsbegriff handelt es sich bei der stark mit der Höflichkeitsforschung verbundenen Anredeforschung um ein interdisziplinäres Feld. Braun, Kohz & Schubert (1986) liefern einen ausführlichen Überblick über die Anrede indogermani­scher Sprachen. Sie fassen die themenorientierten Publikationen zusammen und stellen wich­tigste Erkenntnisse heraus. Die Entwicklung des deutschen Anredesystems wurde unter ande­rem von Metcalf (1938), Besch (1998) und Listen (1999) hinterfragt und verschriftet. Nach aktuellem Forschungsstand dominiert eine Reihe kontrastiver Arbeiten, die das Anredeverhal­ten des Deutschen mit dem anderer Sprachen vergleichend betrachtet und analysiert. In die­sem Zusammenhang sind Ehlers & Knérová (1997) und Ehlers (2004) mit ihren Langzeitstu­dien zur Erhebung der Nutzung von Anredepronomen in Deutschland, Österreich und Tsche­chien zu nennen. Kasai (2002) befasste sich mit dem deutsch-japanischen, Henini (2002) mit dem deutsch-marokkanischen und Boguslawski (1996) mit einem deutsch-polnischen Sprach­vergleich.

Eine sich daraus ergebende Forschungslücke stellt zum einen die Beschäftigung mit den Fak­toren der Anredewahl in der deutschen Sprache und zum anderen die Ermittlung von Grauzo­nen dar. Es wurde sich theoretisch mit groben Kriterien auseinandergesetzt, welche die Anre­de bestimmen könnten, allerdings nicht in dem Rahmen, als dass man empirisch belegte Aus­sagen über den deutschsprachigen Raum anhand konkreter Beispiele nennen könnte. Grauzo­nen wurden nach aktuellen Recherchen nicht in dem Maße wissenschaftlich betrachtet, so dass darüber keine nennenswerten Aussagen getroffen werden können. Erstrebenswert wäre es, mit dieser Arbeit einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke zu liefern.

3.2 Die geschichtliche Veränderung des pronominalen Anredeverhaltens bis zum heutigen binären Anredesystem

Der Sprache als solcher wird ein gewisser Handlungsspielraum gestattet. Je nach Sprachge­meinschaft wandelt sich auch das Sprachbild. Konventionen werden neu gebildet und Gram­matiken ändern sich. Einige Teile der Sprache zeugen von einem Langzeitwert, andere wiede­rum sind diachron betrachtet eher weniger beständig. Zum Letzteren zählt das hier themati­sierte pronominale Anredeverhalten im deutschsprachigen Raum.

Im jetzigen Kapitel wird die Entwicklung des pronominalen Anredeverhaltens im Deutschen dargestellt und erläutert. Eine entsprechende Übersicht von Simon (2003: 93) wird unten abgebildet. Beginnend mit dem eingliedrigen System im Germanischen geht aus der Abbildung deutlich hervor, dass sich die Anzahl der Pronomen in den Anredesystemen zu­nächst stetig vergrößert und in Richtung der Gegenwart wiederum abrupt minimiert hat. Den­noch sollte man weniger von einem Sprachzerfall als viel mehr von einer sich erweiternden oder auch reduzierenden, sich verändernden und anpassenden Erscheinung reden, welche immer das Produkt jener Gesellschaftsgruppe ist, die sie spricht. Aufgrund der vergangenen Entwicklung ist anzunehmen, dass unser derzeitiges binäres Anredesystem, worauf an späte­rer Stelle eingegangen wird, auch nur eine Etappe einnimmt und sich abermals immer in Ab­hängigkeit von der Gesellschaft weiterentwickeln wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Diachronie der Anrede an eine einzelne Person im Deutschen von Simon (2003: 93)

Etappe I

Bis ca. zum 9. Jahrhundert stellte das du die einzige Anrede im deutschsprachigen Raum dar. Es galt als einfache und natürliche Anrede (vgl. Henini 2002: 23). Kammerer (1937, zit. nach Henini 2002: 23) konstatiert hierzu:

Zunächst ist ein Du da, mit dem in germanischer Zeit freie Männer einander anreden, mit dem Sie auch den König anreden, dessen Gefolgsleute sie sind. Dieses Du ist der Ausdruck innigs ter menschlicher Bindung in Familie und Freundeskreis. Es ist die Anrede für Gott und alles, was in der Natur lebendig den Menschen umgibt.

Etappe II

Die Meinungen gehen allerdings auseinander, wenn die Frage beantwortet werden soll, wann sich die du vs. ihr Opposition durchgesetzt hat. Textüberlieferungen aus der althochdeutschen Zeit sind zum großen Teil christlich-kirchlichen Ursprungs und könnten daher ein verfälsch­tes Bild zur pronominalen Verwendung vermitteln. Grund dafür ist die konventionelle du- Anrede im Kreise der Gläubigen genauso wie die Gottesansprache durch selbiges Pronomen. Eben jenes Gottes-du hält sich übrigens bis heute. (Vgl. Besch & Wolf 2009: 118) Das Evan­gelienbuch des Mönches Otfried von Weißenburg ist als erstes Beispiel für ein damaliges duales System zu nennen. Der darin enthaltene Brief in Reimform an den Konstanzer Bischof Salomo beinhaltet als eines der ersten Textbelege die Verwendung von ir (alt- und mittel­hochdeutsche Form von ihr) als Anredepronomen einer Person. (Vgl. Simon 2003: 94)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten8

(Otfried von Weißenburg, zit. nach Simon 2003: 94)

Auch eine Asymmetrie im Gesprächsverlauf in Hinblick auf die Anrede ist in dem Textbeleg zu finden:

Guaz queten ger, herra - Was sagt ihr, Herr?

Cohorestu narra - Höre, du Narr. (Vgl. Huisman 1969: 280, Satz 64 und 65)

Damit wäre eine direkte Differenzierung der Anrede in einem Gespräch dokumentiert. Man erkennt hier die Höflichkeitsform dem Herren gegenüber, welche Respekt und Distanz aus­drückt. Die verbale Vervielfältigung der Person bedrängt den Angesprochenen nicht. Die solidere Reaktion mit du zu dem Narren drückt deutlich die Überlegenheit des Herren aus. In diesem Zusammenhang sollte das du allerdings nicht als unhöflich im heutigen Sinne verstanden werden, da es schlichtweg Sitte war, dass das höhere Volk das niedere duzte. Die differente Anrede repräsentiert die soziale Stellung beider Parteien. Durch die mit den Jahren wachsende Anzahl an Überlieferungen aus damaliger Zeit stiegen auch die Textbelege, wel­che das du-ir-Modell präsentieren und deren Vorkommen noch stärker als Faktum erscheinen lassen. Im 11. und 12. Jahrhundert machte das pronominale Anredeverhalten einerseits den Anschein, teils unsystematisch innerhalb eines Gesprächs zu wechseln und keinem klaren Reglement zu folgen. (Vgl. Besch 2009: 119-120) Andererseits sind doch Beispiele vorhan­den, in denen die soziale Schichtzugehörigkeit, der Verwandtschaftsgrad, Wohlstand und re­latives Alter eine Rolle bei der Wahl der passenden Anrede spielen (vgl. Simon 2003: 96). Einem Wechsel der Anredepronomina kann derzeit eine Kausalität zugesprochen werden.9 Ein solcher bewusster Wechsel kann auch im Parzifal von Wolfgang von Eschenbach nach­gewiesen werden, als beide Brüder sich als solche erkennen und das höfische ir gegen das vertraute du eintauschen. (Vgl. Besch & Wolff 2009: 120)

Das Annolied, welches um 1080 entstand, liefert erste Erklärungsversuche: In den Strophen 18 bis 28 wird beschrieben, wie das Volk Julius Caesar als Ehrung nach seinen Sie­gen in der Pluralform anspricht. Dieser Akt entstammt einem antiken Brauch und soll wohl ins Deutsche übernommen worden sein. (Vgl. Besch 1998: 92) Diese These wird in der aktu­ellen Forschung allerdings nicht mehr in diesem Maße unterstrichen, da sich nun viel mehr auf das Doppelkaisertum der Spätantike bezogen wird. Durch die zweifache Belegung der Herrschaft wurde von Seiten der Machtsprecher immer im Plural gesprochen, da Erlasse oder dergleichen stets von beiden getroffen wurden. So kam es, dass auch bei der Anrede eines Kaisers jeweils der andere miteinbezogen und die 2. Person Plural verwendet wurde (vgl. Kohz 1982: 6). An dieser Stelle ist auf Brunot (1953), Brown & Gilman (1960: 255) und Bu­chenau (1997) zu verweisen, die diese Hypothese als „möglicherweise zutreffend charakteri­sieren“ (Simon 2003: 104) einstufen. Festzuhalten ist, dass spätestens ab dem 11. Jahrhundert von einer höflichen Ihr-Anrede im Alltagsgebrauch die Rede sein kann, die kontrastiv zum Personalpronomen du verwendet wurde. Die differenzierte Wahl von du und Ihr etablierte sich mit den Jahrhunderten stetig und verfolgt mehr und mehr die Semantik der Macht (Ver­weis auf Kapitel 3.5), in der das Gefälle des sozialen Status beachtet wird. (Vgl. ebd. : 105)

Grimm (1898: 362, zit. nach Kozanda 2012: 30) stellte dazu in seiner Grammatik eine Über­sicht auf, die gesellschaftlichen Umstrukturierungen trotzend bis ins 16. Jahrhundert galt:

1. Gegenseitiges „du“ galt unter Seitenverwandten.
2. Eltern duzen die Kinder, der Sohn ihrzt die Eltern, die Tochter sagt >>du<< zur Mut­ter.
3. Eheleute ihrzen sich.
4. Minnende ihrzen sich, gehen aber leicht in das vertraute „du“ über.
5. Geringere ihrzen die Höheren, erhalten aber von diesen „du“ [...].
6. Zwischen Freunden herrscht das „du“, manche Ritter ihrzen sich jedoch trotzdem un­tereinander.
7. Frauen, Geistliche, Fremde erhalten „ir“.
8. Personifizierte Wesen werden normalerweise geduzt außer der „vrou Minne“ [.] Reli­giöse, überirdische Wesen duzt man.
9. Das gemeine Volk hat noch gar kein irzen unter sich angenommen, sondern bleibt beim duzen stehen.
10. Im Affekt geraten „du“ und „ir“ durcheinander.

Die Verbreitung der höflichen ihr-Anrede war im Laufe des 16. Jahrhunderts so stark in der deutschen Sprechergemeinschaft verbreitet10, dass auch sozial niedrigere Personengruppen diese Anrede in ihrem üblichen Sprachgebrauch nutzten und es schlussfolgernd auch zu einer Häufung potentieller Adressaten kam (vgl. Keller 1904/1905, zit. nach Simon 2003: 107). Dieser Verlust an Exklusivität führte allerdings dazu, dass sich eine neue Form der höflichen Anrede entwickelte und als Ersatz zum einst gehobenen Ihr fungierte. Nicht mehr die gram­matische Kategorie Numerus wird genutzt, um Respekt auszudrücken, sondern die Kategorie Person: er beziehungsweise sie zeugen nun von höchster Höflichkeit. (Vgl. Simon 2003: 106) Die Entwicklung, welche zur Nutzung der 3. Person Singular führte, ist umfangreich und überaus detailliert. Daher sei im Zuge dieser Arbeit auf die Monographien von Metcalf (1938), Svennung (1958), Listen (1999) verwiesen, welche sich eingehend mit der Thematik auseinander gesetzt und auch die Beeinflussung anderer Sprachen auf diese Entwicklung un­tersucht haben.

Etappe III

Der Übergang vom du-ihr-Modell zum du-ihr-er/sie-Modell verlief fließend. Die Pronomina der 3. Person konnten zu Beginn der Entwicklung nicht ohne ein vorangegangenes Anteze- dens stehen und wirkten ausschließlich indirekt über ihr Bezugswort. Außerdem kommt es um 1600 noch zu Mischformen, in denen 2. und 3. Person Singular in einem Zusammenhang verwendet wurden. Das er/sie gewinnt durch zunehmende Grammatikalisierung an deikti­scher Kraft und kann als echtes Anredepronomen betrachtet werden, sobald es selbstständige Verwendung findet. Nach Metcalf (1938) kann von diesem Status ab dem dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts ausgegangen werden. Die Untersuchungen von Vennemann & Wagener (1970) bezüglich der Dramen von Andreas Gryphius, welche Mitte des 17. Jahrhunderts ent­standen, lassen die Umsetzung des neues Anredeverhalten gut nachvollziehen. (Vgl. Simon 2003: 106-110)

Eine übersichtliche Zusammenfassung der bis dato gebrauchten Anreden liefert Harsdörffer (1656) wie folgt:

Schreibt man an geringere/als [= wie] Unterthanen/Knechte/Kinder/ec. So pflegt man sie zu dutzen. Schreibt man an seinesgleichen/so pflegt man sie zu ehren wie wir von ihnen wollen geehret seyn/und soll si zum wenigsten geirtzt und geherret oder mit ihnen in der dritten Per­son geredet werden. Schreibet man an ho here/so muß man ihnen ihren angebomen Titul bey­legen/nach ihren Stand und Ambtsdiensten. Solche aber werden nicht auff eine Art geher­ret/dann etliche nennet man gunstig/andre gestreng/ hohre gnädigst/und allergnädigst. (Georg Philip Harsdörffer 1656, zit. nach Besch & Wolff 2009: 122)

Es ist klar herausnehmbar, wie sich die Anrede dem Machtstatus des Adressaten anpassen muss.

Etappe IV

Wer zu jener Zeit nicht als respektlos bezeichnet werden möchte, nutzt nun die 3. Person Plu­ral. Die Begründung für den wechselnden Numerus von der 2. Person Plural zur 3. Person Plural mag in der Distanzgewinnung liegen. Während Ihr eine direktere Anrede bezeichnet, da der Angesprochene in dessen Semantik involviert ist, schafft Sie durch die Anrede einer eigentlich außenstehenden Gruppe, worin der Angesprochene sprachlich gar nicht involviert ist, eine Indirektheit und dadurch höheren Wert an Höflichkeit - ganz nach dem Ausspruch „Power is Number“ von Listen (1999, zit. nach Besch & Wolff 2009: 123). (Vgl. ebd.) Eine autonome Verwendung der 3. Person Plural ist nach Simon (2003) zu Beginn des 18. Jahr­hunderts erreicht. Bis heute ist es möglich, eine einzelne Person mit Sie anzusprechen (ebd. 2003: 114).

Die deutsche Sprache neigt zur Überprofilierung. Immer differenziertere Anreden wurden gefunden, um möglichst höhere Distanz zum vermeintlich niederen Volk zu gewin- nen. Die Anrede drückte aus, in welchem Verhältnis man zueinander steht und wie hoch be­ziehungsweise niedrig der Rang des Adressaten ist. (Vgl. Besch & Wolff 2003: 122)

Neben der im 18. Jahrhundert vorherrschend verwendeten 3. Person Plural und den Abstrakta kam noch eine weitere Form der nunmehr höchstmöglichen Höflichkeit auf: Das Demonstrativum dieselben, welches eine rückverweisende Funktion im Satz inne hat. So kommt es, dass das Anredesystem an dieser Stelle der Sprachgeschichte bereits fünfgliedrig ist: du - Ihr - er/sie - Sie - dieselben, wobei folgende Skalierung von Gottsched (1762: 280) vorgenommen wurde:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Interessant ist, dass fortwährend die Indirektheit als höflich erachtet wurde, die nun als höf­lichste Form bezeichnete Variante charakterisiert allerdings eine Person mit einer bereits er­wähnten Identität. Dieser Fakt widerspricht dem bisherigen Kerngedanken der höflichen An­rede im Sinne der Distanzgewinnung. (Vgl. Simon 2003: 116-117)

Etappe V

Zur Zeit der Wende vom 18. und 19. Jahrhundert kommt es zu einem Wechsel der Werteska­lierung gewisser Pronomina: Ihr und er/sie tauschen die Plätze. Die einst höher einzuschät­zende 3. Person Singular verliert so stark an positiver Bedeutung, dass es nun scheinbar zum „Pronomen der verächtlichen Anrede schlechthin geworden [ist]“ (Bellmann 1990: 188). Wie kommt es nun aber zu diesem Wandel? Einerseits befindet sich das deutsche Anredesystem in einer Umbruchsphase. Das Paradigma der deutschen Anredepronomina ist auf dem Höhe­punkt seiner Komplexität angelangt. Außerdem vermehrt sich mit den Jahren die Sie-Anrede in den bürgerlichen Schichten. Dieses Phänomen ähnelt dem Wertverlust des Ihr in der früh­neuhochdeutschen Zeit. Gegensätzlich dazu kommt es nun jedoch nicht zu einer abermaligen Erweiterung des Anredesystems, sondern zu einem späteren Verschwinden von er/sie und Ihr in der Standardsprache um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dazu jedoch später mehr. (Vgl. Simon 2003: 120-124)

Zweitens ist anzubringen, dass man nicht zwingend von einem „Niedergang des Er- zens“ (Keller 1904/1905: 157, zit. nach Bellmann 1990: 187) sprechen muss, sondern anders formuliert von einem Anstieg des Ihrzens. Der damalige Sprachkontakt mit dem Französi­schen als Bildungs- und Prestigesprache kann als Mitbegründung für den Anredewandel im Deutschen erwähnt werden. Das damals wie heute funktionierende tu-vous-Modell wurde vorbildhaft betrachtet. In vielen Sprachen kam es zu einer solchen Wandlung des pronomina­len Anredesystems, in deren Rahmen die höfliche Anrede mit dem Pronomen der 2. Person Plural eingeführt oder, sofern bereits vorhanden, gestärkt wurde. Der erzielte Effekt liegt da­rin, dass die Referenzmenge des Ihr unbestimmt ist im Vergleich zu er oder sie. Die Ver­schleierung des Adressaten wird wieder genutzt und als Höflichkeit interpretiert, während die 3. Person Singular fortan dem niederen Volk zugesprochen wurde. (Vgl. Simon 2003: 120­124.) So sei erwähnt, dass beispielsweise Friedrich der Große, welcher als großer Sympathi­sant der französischen Sprache gilt, dazu tendierte, seine Untergebenen mit er beziehungswei­se sie anzureden (vgl. Mentz 1901: 194-226).

3.3 Das heutige binäre System mit seinen Vermeidungsstrategien

Nachdem die Sprachgeschichte grob skizziert und inhaltlich dargelegt wurde, ist nun das heu­tige binäre Anredesystem erreicht. Wie grundsätzlich bekannt ist, stehen die Mitglieder der deutschen Sprechergemeinschaft tagtäglich im menschlichen Miteinander vor der Entschei­dung, wie sie ihr Gegenüber ansprechen. Die 2. Person Singular du und die 3. Person Plural Sie sind dabei die beiden regulären Anredeformate.11 Somit haben die äußeren Formen bezo­gen auf die oben angebrachte Tabelle dem Wandel getrotzt. Zu einem Wechsel zwischen den Formen kommt es generell erst nach einer veränderten Sozialbeziehung und ist zumeist irre­versibel. Eine asymmetrische Verteilung der Anrede ist untypisch und findet normalerweise nur noch im Gespräch zwischen Kind und Erwachsenen im unbekannten Verhältnis statt. Un­ter dem Punkt 3.5 wird hierzu Stellung bezogen. Das heutige binäre System scheint auf den ersten Blick recht strukturiert, klar und geregelt in Hinblick auf das Binärsystem zu sein. So­bald man jedoch den standardsprachlichen Bereich verlässt und dialektal geprägte Bereiche untersucht, stößt man auf ein deutlich vielseitigeres Bild von Anredevariationen. Nach Simon (2003: 127) wird man in Berlin/Brandenburg bei der direkten Anrede häufig Formulierungen wie „Hat sie noch 'nen [Fünfer], bitte?“ oder „Ja, da hat er Recht.“ vorfinden. Der Sprecher muss sich hierbei nicht für eine Variante des dualen Systems entscheiden, sondern nutzt die 3. Person Singular und richtet die Anrede schlichtweg nach dem Geschlecht aus. So umgeht man der Gefahr, sich fälschlich auszudrücken und dem Adressaten unhöflich gegenüberzutreten. Ob diese Formulierungen allerdings dialektal begründet sind oder es sich um eine Art von Vermeidungsstrategie handelt, muss im Einzelfall geklärt werden. Allerdings ist diese Form ein Indiz dafür, dass das heutige binäre Anredesystem vielleicht nur geregelter erscheint, als es unsere Sprachgesellschaft tatsächlich empfindet. Die sich ständig verändernden Konven-tionen, der Drang nach Gleichstellung, aber auch nach Respekt und Höflichkeit im menschli­chen Miteinander verwirren uns und zwingen uns situativ zu immer neuen Überlegungen. Die zweigeteilte Anrede kann auf einer Skala als zwei Punkte betrachtet werden, die weit vonei­nander entfernt sind und wozwischen es keine Abstufungen, keine Variationen und keine ein­heitliche Verwendungsdefinition gibt. Dies führt dazu, dass sich die Mitglieder einer Sprechergemeinschaft oft individuell unschlüssig sind und auf Vermeidungsstrategien zu­rückgreifen, womit sie eben jene fehlenden Abstufungen selbst erschaffen. (Vgl. Simon 2003: 127)

Zu einer weiteren Vermeidungsstrategie könnte man die Nullanrede zählen. Darunter ist zu verstehen, dass Personalpronomen nicht prototypisch verwendet werden oder es zu Sprechweisen im passiven Modus kommt (vgl. Feldmeier 2014: 58). Das Krankenschwester- wir zählt zu eben genannter Nullanrede. Es meint eine Ausdrucksweise, welche besonders in pflegerischen Bereichen Anwendung findet und im Kontakt mit Alten, Kranken oder Kindern vermehrt auftritt (vgl. Kasai 2002: 20). Der Sprecher schließt sich in eine Aussage oder Frage mit ein und drückt Solidarität und Nähe aus, umgeht aber gleichzeitig die Entscheidung zwi­schen dem du und dem Sie. „Wie geht es uns denn heute?“ oder „Hat es uns geschmeckt?“ sind typische Aussagebeispiele. Allerdings kann hierbei ein herablassender Unterton interpre­tiert werden und je nach Empfänger unterschiedliche Wirkung erzeugen. Die Nullanreden weisen entweder einen falschen oder fehlenden Bezug auf bestimmte Personen in Bezug auf die sprachliche Referenz auf oder sie stellen überhaupt keine Anrede im eigentlichen Sinn dar. Sprachinhalt und Ausdruck variieren somit. Allein der Kontext gibt Aufschluss über die Deixis. (Vgl. Feldmeier 2014: 58)

Eine allgemein oft genutzte Vermeidungsstrategie ist die wörtliche Umsetzung, näm­lich die tatsächliche Vermeidung an sich. Äußerungen werden so formuliert, dass es zu keiner konkreten Anrede kommt und sich der Empfänger der Mitteilung dennoch als solcher fühlt. So kann ein Sprechakt beispielsweise in seiner Intention sehr wohl auf ein bestimmtes Ziel gerichtet, jedoch verbal nicht an jemanden adressiert sein: „Mir ist kalt. Kann das Fenster bitte geschlossen werden?“. Ein Wunsch oder eine Bitte wird hierbei so formuliert, dass es keiner Anredepronomina bedarf, ein Beteiligter sich jedoch vermutlich dennoch angesprochen fühlt und dem Wunsch gegebenenfalls nachgeht.

3.4 Funktionen von Anrede

Die Frage nach der „korrekten“ Anrede einer Einzelperson oder Gruppe stellt ein Problem dar, welches in der linguistischen Forschung vielseitig hinterfragt und diskutiert wird. Nach Pieper (1984: 18) stellt die Anrede nicht nur einen Bezug zum Adressaten her und geht damit einer referentiellen Funktion nach, sondern sie spiegelt zum einen das Verhältnis der Kom­munikationspartner untereinander wider, während sie gleichzeitig den Status der angespro­chenen Person darstellt (determinative Funktion).

Levinson (1983) betitelt eben jene Funktionen mit situativer und sozialer Deixis. Dies befähigt die Anrede dazu, innerhalb einer Kommunikation als gesichtsbedrohend wahrge­nommen zu werden. Daraus resultierend kann es zu einem gestörten Gespräch oder gegebe­nenfalls sogar zu einem Abbruch der Unterhaltung führen. Eben jene Gesichtsbedrohung steht in Abhängigkeit mit der vorherrschenden Konvention, welche wiederum Faktoren wie Fami­lienzugehörigkeit, Vertraulichkeit, Formalität oder soziale Rollen miteinbezieht. Dies be­zeichnet man als konzeptionelle Höflichkeit. Mit strategischer Höflichkeit ist gemeint, dass die Anrede situativ und bewusst als sprachliches Mittel eingesetzt wird, um gewisse Wirkun­gen hervorzurufen. Offensichtliches Beispiel scheint hierbei Werbung zu sein, welche bei genauerer Betrachtung je nach Kontext (Werbeartikel, Zielgruppe o. ä.) eine gezielte und durchdachte Anrede (oder eventuell bewusst keine Anrede) verwendet. (Vgl. Feldmeider 2014:51)

Feldmeier (2014: 51-52) listet drei Funktionen auf, die der Anrede zugeordnet werden kön­nen:

(1) Kontaktaufnahme (Gruß, Formen der bloßen Kontaktaufnahme („Entschuldigen Sie“) als Art der Gesprächseinführung und die eigentliche Anrede)
(2) Aufrechterhaltung des Kontakt nach erfolgreicher Kontaktaufnahme durch Bezug­nahme zum Gesprächspartner
(3) Die Kontaktbeibehaltung kann explizit (direkte Ansprache mit dem Namen oder durch pronominale Anrede) oder implizit (umschreibende Formen, wir-Anrede) stattfindet.

Kohz (1982: 21) und Winter (1984: 34) führen unabhängig davon die trichotomische Funkti­on von Anrede auf:

(1) Anredeformen bezeichnen jemanden.
(2) Sie machen den Bezeichneten automatisch zum Angeredeten. [...]
(3) Sie ermöglichen es dem Sprecher, zwischen sich und dem Anzuredenden eine Relati­on herzustellen und für beide bestimmte Rollenzuweisungen vorzunehmen.

Zu Punkt 2 ist zu sagen, dass es durchaus zu Störungen in der Kommunikation kommt, da nicht immer eindeutig zugeordnet werden kann, wer angeredet ist. Schwerpunkt liegt dabei auf der dreifachen Auslegung des Pronomens >sie< („Waren sie/Sie schon dort?“ -^a) sie meint mehrere Personen, die beispielsweise gerade abwesend sind, über die geredet wird b) Sie kann eine Person mittels höflicher Distanzanrede meinen oder c) mehrere anwesende Per­sonen, die ebenfalls durch die höfliche Distanzanrede angeredet werden). Dieser irreführen­den Mehrdeutigkeit wird durch Beachtung des situativen Kontextes oder durch die Verbkon­gruenz entgegengesteuert. Natürlich kann auch eine Explizierung vorgenommen werden, so dass sich der Angeredete zweifelsohne als Adressat fühlt, jedoch kommt es dazu vergleichs­weise recht selten. (Vgl. Kohz 1982: 21)

Neben der Trichotomie lässt sich der Anrede auch eine dichotomische Funktion zu­ordnen. Hierbei geht es um die Intention des Sprechers12, welche er mit einer bestimmten An­rede verfolgt. Als Beispiel soll das von Kohz (1982: 22) angebrachte Pronomen du fungieren. Einerseits kann die 2. Person Singular Vertrautheit, Nähe und Wohlwollen repräsentieren. Andererseits kann es auch genau gegenteilig gemeint und ausgelegt werden: als Zeichen von Respektlosigkeit und Geringschätzung. Auch die Vermeidung einer Anrede kann dichoto- misch interpretiert werden: Während eine Auslassung der Anrede als respektvoll verstanden werden kann, da der Sprecher den Adressaten subjektiv so hoch über ihn einschätzt, als dass er ihn nicht durch eine direkte Anrede belästigen möchte, kann die Auslassung ebenso ein Ausdruck fehlender Wertschätzung sein, weshalb der Adressat von Seiten des Sprechers keine Persönlichkeit zugeordnet bekommt. Häufig wird zu diesem Zwecke der Imperativ genutzt, bei dem der Angesprochene keine Bezeichnung erhält.

Allgemein ist zu sagen, dass Anredeformen soziale Strukturen widerspiegeln. Dies ist jedoch nicht ihr Ziel, sondern ihr inhärentes Merkmal. (Vgl. Kohz 1982: 24)

3.5 Kriterien zur Wahl der Anrede und deren Wirkung

Brown und Gilman lieferten mit ihren Arbeiten wichtige Informationen sowie Grundlagenfor­schung in Hinblick auf das Anredeverhalten. Da ihre Erkenntnisse nach wie vor von Bedeu­tung sind und sich diverse folgende Forschungen auf ihre Werke beziehen, war es auch in dieser Arbeit unabdingbar, ihre Forschung miteinfließen zu lassen.

Der erste Beitrag beider Forscher war der 1958 erschienene Aufsatz „Who says >tu< to Whom“.

[...]


1 In dieser Arbeit wird grundsätzlich auf eine schriftliche Ausformulierung beider Geschlechter verzichtet. Das generische Maskulinum steht in jedem Fall stellvertretend für beide Geschlechter.

1 Merten (1977) analysierte diverse Begriffsbestimmungen. Demnach gibt es mehr als 160 Definitionen für Kommunikation.

2 Hierbei handelt es sich um das zweite Axiom der menschlichen Kommunikation nach Watzlawick (2007: 53). Er nennt insgesamt fünf solcher Axiome.

3 Nach Jakobson (2013: 36-37) sprechen die Gesprächsakteure formell die gleiche Sprache und unterscheiden sich lediglich in ihrem situativen und konnotativen Gebrauchsverhalten von Ausdrücken. Die Gesprächsteilneh­mer verwenden also differente Codes. Dennoch wird es innerhalb einer Sprache nicht als notwendig erachtet (im Vergleich zur interkulturellen Kommunikation), dass diese Codes übersetzt werden, da von einem gemein­samen Wissen über den pragmatischen Umgang ausgegangen wird.

4 Das erste Axiom der menschlichen Kommunikation nach Watzlawick (2007: 53) wird hier repräsentiert.

5 In Abgrenzung zum Zeichenmodell nach de Saussure, in dem lediglich die Inhalts- und die Ausdrucksseite in arbiträrer Weise miteinander verbunden sind. Dabei kommt es zu keiner Betrachtungsweise des Zusammenhangs von Zeichen und Sender oder Empfänger.(Vgl. Auer 2013: 24)

6 Brown und Levinson führen in einer Übersicht eine Reihe von exakt beschriebenen Höflichkeitsstrategien auf.

7 Ehlich (1979) thematisiert diese Überlegungen eingehend in seinem Buch „Verwendungen der Deixis beim sprachlichen Handeln“.

8 Adressatenbezügliche Nennungen werden im Zitat kursiv hervorgehoben und entsprechen somit nicht dem Format der Originalquelle.

9 Aus dem Nibelungenlied kann des Weiteren ein Beispiel für die vorhandene Beachtung von Rang und Status der angesprochenen Person angebracht werden. Die Königstochter Kriemhield, spätere Königin mit Siegfried an ihrer Seite, wird durchweg von Hagen geihrzt. Nachdem sie ihren Bruder Gunther hat ermorden lassen, um Ha­gen zur Preisgabe eines versteckten Schatzes zu zwingen, stehen sich diese beiden in der mörderischen Saal­schlacht gegenüber. (Vgl. Besch & Wolf 2009: 120) Ab da an verweigert Hagen das höfische Ihr und duzt die Königin.

10 Die Anredemodalitäten forderten eine Verfeinerung, da der dreizigjährige Krieg für einen neuen Wohlstand im Bürgertum sorgte. Das Ihr in dieser Gesellschaftsschicht sollte als Ausdruck für Gleichheit etabliert werden. (Vgl. Kohz 1982)

11 Weder das Kameradschafts-Du der NSDAP, noch dasselbige der SED und auch nicht das Genossen-Du der DDR konnte sich durchsetzen (vgl. Müller & Hog & Wessling: 1984: 121).

12 Auch bei der Anrede kann von einer Illokution und einer Perlokution entsprechend dem Verständnis nach Austin gesprochen werden, indem man bedenkt, dass ein du oder Sie unter differenter Absicht gewählt werden kann und demnach auch unterschiedliche Wirkungen auf den Empfänger ausübt.

Ende der Leseprobe aus 114 Seiten

Details

Titel
Das pronominale Anredeverhalten in der deutschen Sprache
Untertitel
Vom Duzen und Siezen und der "richtigen" Anrede
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig  (Germanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
114
Katalognummer
V510046
ISBN (eBook)
9783346079404
ISBN (Buch)
9783346079411
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Anrede, Pragmatik, Linguistik, Grice, Leech, Lakoff, Brown, Levinson
Arbeit zitieren
Anne Richter (Autor:in), 2017, Das pronominale Anredeverhalten in der deutschen Sprache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/510046

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