Die gesellschaftliche Tabuisierung der Gewalt von Müttern gegenüber ihren Kindern im 21. Jahrhundert


Hausarbeit, 2019

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Eine Gewaltdefinition
2.1 Physische Gewalt
2.2 Psychische Gewalt
2.3 Strukturelle Gewalt

3 Erziehung als Moment von Zwang durch Machtverhältnisse
3.1 Gewaltsame Erziehung in historischer Perspektive

4 Gewalt an Kindern im 21. Jahrhundert in Zahlen
4.1 körperliche Gewalt an Kindern durch Familienangehörige
4.2 körperliche Gewalt an Kindern durch Mütter

5 Die Rolle der Mutter im Wandel der Zeit
5.1 Die Frau und Mutter vor der Industrialisierung
5.2 Die Frau und Mutter in der Industrialisierung
5.3 Die Frau und Mutter im Nationalsozialismus
5.4 Die Frau und Mutter in der Moderne
5.4.1 Die Illusion der perfekten „Allround-Mutter“ und der damit verbundene Leistungsdruck auf Frauen im 21. Jahrhundert

6 Mütterliche Gewalttaten als Tabuthema der heutigen Gesellschaft

7 Fazit

1 Einleitung

Wenn Mütter zu sehr lieben “ - So betitelt der Diplompsychologe Karl Haag (1940­2008) sein 2015 in der zweiten Auflage erschienenes Buch über den psychischen und sexuellen Missbrauch von Müttern an ihren Söhnen. Aus einer psychotherapeutischen Sicht heraus beleuchtet er das Thema zunächst theoretisch und untermauert es schließlich mit Einzelfallstudien und seiner eigenen jahrzehntelangen Arbeitspraxis mit Erwachsenen und Kindern. Jedoch umschreibt er dafür - wenn auch nur etwas sarkastisch, wie er in seiner Einleitung klarstellt - eine Tat, die fast ungeheuerlicher nicht sein könnte, mit einem durchaus positiv konnotierten Wort, in diesem Fall Liebe.

Auch wenn Haag sich primär mit sexuellem Missbrauch als Form der physischen Gewalt beschäftigt und mit dem reißerischen Titel des Buches ironisch auf „ Wenn Frauen zu sehr lieben “ (Robin Norwood 1986) anspielt, so wird trotzdem ein gesellschaftliches Phänomen aufgedeckt: Die Tabuisierung von mütterlicher Gewalt.

Es wird allgemein angenommen, dass in der westlich aufgeklärten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, in der offen Debatten über Feminismus, Gender und Frauenrollen geführt werden können, auch alle Themen aus diesem Bereich besprochen werden. Dass es daneben aber noch immer Phänomene gibt, die einfach nicht beachtet werden, ist vielen gar nicht bewusst.

Wenn diese Tabuthemen der Gesellschaft jedoch genauer betrachtet werden, macht es fast den Anschein, als seien sie zu grausam, um hinschauen und darüber reden zu können. Ganz nach dem Motto 'Ich sehe es nicht, also existiert es nicht.' verschließen zu viele noch immer die Augen.

Mütter, die ihre Kinder vernachlässigen, schlagen, körperlich oder sexuell misshandeln; Das ist eines dieser Tabuthemen. Zu stark wird an dem Bild der ausschließlich liebenden, fürsorglichen Mutter festgehalten, das Jahrzehnte, gar Jahrhunderte prägte. Dabei wäre ein offener Diskurs über jegliche Form von Gewalt sehr wichtig, um Aufklärungsarbeit leisten und so effektiver präventiv vorgehen zu können.

In dieser Arbeit soll der Fokus auf der Fragestellung liegen, wieso so ein wichtiges Thema noch immer tabuisiert wird. Dafür gibt das zweite Kapitel zuerst einmal einen theoretischen Überblick über verschiedene Gewaltformen. Danach folgt ein kurzer Abriss über Kant's Erziehungsverständnis und die historische Entwicklung von Gewalt in der Erziehung. Im vierten Kapitel wird körperliche Gewaltanwendung bei Kindern erst im familiären Kontext anhand von Zahlen des Bundeskriminalamtes betrachtet und danach spezifisch bezogen auf mütterlich ausgeübte Gewalt.

Um die Leitfrage aus einer gesellschaftshistorischen Sicht heraus beantworten zu können, werden anschließend die Frauen- und Mutterideale im Wandel der Zeit thematisiert. Im Einzelnen wird auf die vorindustrielle Zeit, die Industrialisierung, den Nationalsozialismus und besonders auch auf die Moderne eingegangen. Daran anknüpfend gerät die gesellschaftliche Tabuisierung noch einmal mehr ins Blickfeld dieser Arbeit, um sie anschließend mit dem Fazit und der Beantwortung der Fragestellung zu schließen.

2 Eine Gewaltdefinition

Im Lateinischen wird der Begriff der Gewalt ursprünglich in zwei Formen unterteilt: Die negative Form von Gewalt (violentia) und die positive Gewalt (potestas), was sich noch immer in den englischen Begriffen violence und power wiederfindet.

Das Wort Gewalt lässt sich aus dem althochdeutschen Verb walten/waltan ableiten, was 'stark sein' oder 'etwas beherrschen' bedeutet. Bewertet wurde diese Handlung allein durch die Begrifflichkeit damals noch nicht. In der heutigen deutschen Sprache wird sie jedoch meist ausschließlich negativ konnotiert und der positive Gebrauch, wie er im Lateinischen stattfand, ist nahezu vollends verschwunden.

Trotzdem ist er nicht spezifisch definiert und umfasst ein breites Spektrum an Bedeutungen, welche je nach sozialer Gruppenzugehörigkeit und/ oder wissenschaftlichem Paradigma variieren können (vgl. Weiß 2007: Täterin Frau - Gewaltverhalten von Frauen im gesellschaftlichen und institutionellen Bewusstsein, Saarbrücken, VDM Verlag Dr. Müller, S. 10).

Dieser Arbeit liegt im Speziellen der Gewaltbegriff der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrunde, welche Gewalt in ihrem Bericht 'Gewalt und Gesundheit' 2003 wie folgt definiert hat:

[Gewalt ist] der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft [...] (S. 6).“

Die WHO geht also von körperlicher/ physischer und psychischer Gewalt aus, die sich nicht nur gegen eine Person, sondern an ganze soziale Gruppen richten können und setzt ebenso die Begriffe Zwang und Macht mit Gewalt gleich. Erweitert werden soll die Definition in dieser Arbeit durch den Begriff der strukturellen Gewalt, welchen der norwegische Friedensforscher Johann Galtung seit 1971 stark geprägt hat.

Auf die eben genannten drei Unterteilungen von Gewalt wird nun in den folgenden Unterkapiteln näher eingegangen.

2.1 Physische Gewalt

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff der Gewalt oft als Synonym für die physische Gewalt verwendet. Diese umfasst jedoch ausschließlich den körperlichen Aspekt, also eine direkte Handlung einer oder mehrerer Person(en) an sich selbst, einer weiteren Person oder einer ganzen Gruppe. Hierzu zählen beispielsweise sowohl treten, schlagen und beißen aber auch sämtliche weitere Formen von körperlichen Misshandlungen, sowie bewaffnete Übergriffe bis hin zu Mord(versuchen).

Der Übergang zu psychischer Gewalt ist hierbei meist fließend, da fast immer mit der körperlichen Form auch psychische Gewalt einhergeht (vgl. Weltgesundheitsorganisation 2003: Weltbericht Gewalt und Gesundheit - Zusammenfassung, Kopenhagen: Regionalbüro für Europa, S. 6).

2.2 Psychische Gewalt

Psychische, also auf emotionaler und seelischer Ebene ausgeübte Gewalt allein ist schwerer zu identifizieren als körperliche Gewaltformen, da meist keine äußerlich sichtbaren Verletzungen entstehen. Sie findet jedoch nicht nur unter anderem bei Einschüchterungen, Beschimpfungen, verbaler Belästigung und Mobbing statt, sondern bezieht auch emotionale Vernachlässigung oder die Androhung von körperlicher Gewalt mit ein. Häufig entstehen bei dieser Gewaltform seelische Wunden, die deutlich schwerer zu heilen sind als rein körperliche Verletzungen und die das Wohlergehen des Betroffenen, von angehörigen Familien und sogar von ganzen Gemeinschaften gefährden können (vgl. ebd. S.6).

2.3 Strukturelle Gewalt

Johan Galtung, norwegischer Soziologe und Politologe, geht von struktureller Gewalt als vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder des Lebens aus, „ die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist “ (Galtung 1975: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek, Rowohlt Verlag, S. 9).

Das Individuum wird also durch strukturelle Gewalt daran gehindert, die eigenen Möglichkeiten und Potentiale frei zu entfalten. Dabei wird diese Gewaltform im Gegensatz zur physischen und psychischen nicht von einzelnen Täter*innen oder kleineren Gruppen ausgeübt, sondern ist die Folge von gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen wie zum Beispiel Werten und Normen, Institutionen und Machtverhältnissen. Auch muss diese Gewaltform von den Betroffenen nicht immer wahrgenommen werden, da sie die eingeschränkten Lebensbedingungen häufig bereits internalisiert haben (vgl. ebd. S.9ff).

Nach Galtung fallen somit unter anderem sämtliche Formen der Diskriminierung, unterschiedlich hohe Bildungschancen und Lebenserwartungen, die ungleiche Verteilung von Einkommen sowie das Wohlstandsgefälle zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern unter strukturelle Gewalt, welche aus diesem Blickwinkel heraus auch als soziale Ungerechtigkeit betitelt werden könnte.

In der folgenden Abbildung wird dargestellt, dass strukturelle Gewalt möglicherweise eine Erklärung für personale, also physische und psychische Gewalt, sein könnte und dass alle drei Gewaltformen zu Schädigung und zu Leid von Menschen führen können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. Gewalt: Manifestation von Macht mit der Folge von Schädigung und Leiden von Menschen. (vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/gewalt/5920, Stand 26.05.2019)

3 Erziehung als Moment von Zwang durch Machtverhältnisse

Wird von einem hierarchischen Erziehungsmodell ausgegangen, so wie es auch heute noch häufig praktiziert wird, so ist das eine Form der Machtausübung ausgehend von dem Erziehenden. Erziehung hat also, wenn dieses Modell verwendet wird, von Anfang an viel mit Macht, Unterdrückung, Zwang und somit auch mit Gewalt zu tun.

Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) beschreibt Erziehung wie folgt:

Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht “ (Kant 1803: Über Pädagogik. Königsberg, S. 11. In: Deutsches Textarchiv http://www.deutschestextarchiv.de/kant_paedagogik_1803/11, Stand 21.06.2019).

Kant sieht Erziehung als ein Werkzeug, welches aus Kindern erst Menschen macht. Für ihn sind Kinder noch nicht 'richtige' Menschen, da ihnen ein eigener Verstand und eigene Vernunft fehlen. Er sieht die Freiheit des Verstandes als das anzustrebende Endstadium der Erziehung an, welches aber nur durch Zwang erreicht werden könne:

Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles bloßer Mechanism, und der, der Erziehung Entlassene, weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen. Er muß früh den unvermeidlichen Widerstand der Gesellschaft fühlen, um die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten, zu entbehren, und zu erwerben, um unabhängig zu sein, kennen lernen. “ (ebd. S. 27, Stand 21.06.19)

Sieht man Zwang als eine Form der Machtausübung des Erziehenden gegenüber seines 'Zöglings' an, so legitimiert Kant diese damit, dass Kinder noch keinen eigenen Verstand hätten und deshalb durch Erziehung gezwungen werden müssten, diesen auszubilden um sich im Erwachsenenalter schließlich des eigenen Verstandes bedienen zu können.

Somit sind schon indirekt bei einer der ersten Erziehungsdefinitionen durch Kant Machtverhältnisse, deren Ausübung und dadurch auch Formen der Gewalt als anerkanntes Erziehungsmittel betitelt worden.

3.1 Gewaltsame Erziehung in historischer Perspektive

Wird diese Form der Legitimation von Machtausübung beachtet, so ist es nicht verwunderlich, dass Gewalt und Erziehung seit eh und je eng miteinander verknüpft sind (vgl. Mahs, Rendtorff, Rieske 2016: Erziehung, Gewalt, Sexualität - Zum Verhältnis von Geschlecht und Gewalt in Erziehung und Bildung, Opladen, Berlin, Toronto, Verlag Barbara Budrich, S. 17).

In der westlichen Vergangenheit spielt Gewalt in der Erziehung eine große Rolle. Es war lange Zeit gesellschaftlich akzeptiert, sein Kind mit Schlägen zu bestrafen. Schon in der Bibel steht "Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten." (Die Sprüche Salomons, Spr. 13,24) und somit hatten Generationen von christlichen Eltern sogar eine Legitimation für die Gewalt an ihren Kindern.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurden erstmals vermehrt Stimmen laut, die sich gegen körperliche Gewaltanwendung bei Kindern aussprachen. So zum Beispiel einige psychoanalytisch orientierten Erziehungsberatungsstellen oder auch Buchautor*innen wie die Pädagogin und Psychoanalytikerin Nelly Wolffheim. Sie veröffentlichte 1905 ihr Buch „Die Prügelstrafe in Schule und Haus“ und kritisierte diese Praktik deutlich (vgl. Mahs, Rendtorff, Rieske 2016: S. 17).

Im Nationalsozialismus fand trotz der fortschrittlichen Ansätze zu Beginn des 20. Jahrhunderts nochmal ein starker Paradigmenwechsel in der Gesellschaft - und somit auch in der Erziehung statt. Kinder sollten in Deutschland zu 'Herrenmenschen' erzogen werden. Durch dieses anti-intellektuelle, anti-humanistische, rassistische und chauvinistische Konzept der 'völkischen Erziehung' sollten Kinder das Prinzip der Erniedrigung und des Erniedrigtwerdens verinnerlichen und später selbst entsprechend handeln. (vgl. Fligge 2014: Lübecker Schulen im "Dritten Reich". Eine Studie zum Bildungswesen in der NS-Zeit im Kontext der Entwicklung im Reichsgebiet, Schmidt- Römhild-Verlag, Lübeck, S. 245ff). Für dieses Ziel wurden die Kinder zu absoluter Gehorsamkeit erzogen und durch körperliche Gewalt hart bestraft, wenn sie dem einmal nicht entsprachen.

In den 1960er Jahre entstand schließlich langsam ein allgemeiner Konsens der gewaltfreien Erziehung. Ausschlaggebend waren hierbei unter Anderem die Ideen der 68er-Generation, die Montessori-Pädagogik und die 1968 vom Verfassungsgericht veröffentlichte Entscheidung, dass das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit auch für Kinder gelten sollte (vgl. Mahs, Rendtorff, Rieske 2016: S. 17f ).

Trotzdem hat es noch über 30 weitere Jahre gedauert, bis in Deutschland schließlich das Gesetz zu einer gewaltfreien Erziehung erlassen wurde. Seit 2000 steht nun im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) in Paragraph 1631§ Artikel 2:

„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

Somit ist jede Form der Gewaltanwendung bei Kindern zu einer Straftat geworden, die, soweit es möglich ist, auch geahndet wird.

[...]

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Die gesellschaftliche Tabuisierung der Gewalt von Müttern gegenüber ihren Kindern im 21. Jahrhundert
Hochschule
Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel
Note
1,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
23
Katalognummer
V510699
ISBN (eBook)
9783346087867
ISBN (Buch)
9783346087874
Sprache
Deutsch
Schlagworte
tabuisierung, gewalt, müttern, kindern, jahrhundert
Arbeit zitieren
Johanna Jahns (Autor:in), 2019, Die gesellschaftliche Tabuisierung der Gewalt von Müttern gegenüber ihren Kindern im 21. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/510699

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