Einleitung
Der Titel dieser Arbeit kündigt die Behandlung einer einzigen Szene eines umfangreichen musikalischen Gesamtwerkes an. Da es jedoch nahezu unmöglich ist, eine einzelne Szene aus einem Kontext herauszulösen und gesondert, nur an sich selbst gemessen, zu betrachten und zu verstehen, ist es selbstverständlich, dass sowohl andere Szenen als auch symbolische Hintergründe genannt, beziehungsweise erörtert, werden. Ich habe mich dazu entschlossen, in diesem Rahmen zunächst den Text als solchen in weitgehend chronologischer Reihenfolge, zu analysieren und dieser genauen Betrachtung einige Erläuterungen zur Musik ergänzend hinzuzufügen. Dieses Verfahren erschien mir angemessen, da Maeterlincks Libretto in einer symbolischen und komplexen Sprache gehalten ist, die es erst zu entziffern gilt, um zu verstehen, wie und wo Debussy mit seiner Musik angesetzt hat.
Über den Text hinaus werden als Symbole die Krone und die Blindheit behandelt, wobei letztere anhand eines Vergleichs mit dem Volksmärchen „Rapunzel“ entschlüsselt wird. Anschließend werden die musikalischen Motive vorgestellt, die das Vorspiel und die erste Szene nachhaltig gestalten. Was die Harmonik betrifft, habe ich mich auf wenige, aber auffällige Beispiele beschränkt, die mir, auch im Zusammenhang mit dem zuvor untersuchten, besonders wichtig erscheinen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Golauds Monolog
3. Mélisandes Entdeckung
4. Die Krone
5. Äußerlichkeiten
6. Die Beziehung zwischen Mélisande und Golaud
7. Rapunzel
8. Motivik
8.1. Das erste Motiv
8.2. Das zweite Motiv
8.3. Mélisandes Melodie
9. Harmonik
9.1 Mediantik
9.2. Ganztonreihen
9.3. Chromatik
10. Schluss
11. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Titel dieser Arbeit kündigt die Behandlung einer einzigen Szene eines umfangreichen musikalischen Gesamtwerkes an. Da es jedoch nahezu unmöglich ist, eine einzelne Szene aus einem Kontext herauszulösen und gesondert, nur an sich selbst gemessen, zu betrachten und zu verstehen, ist es selbstverständlich, dass sowohl andere Szenen als auch symbolische Hintergründe genannt, beziehungsweise erörtert, werden.
Ich habe mich dazu entschlossen, in diesem Rahmen zunächst den Text als solchen in weitgehend chronologischer Reihenfolge, zu analysieren und dieser genauen Betrachtung einige Erläuterungen zur Musik ergänzend hinzuzufügen. Dieses Verfahren erschien mir angemessen, da Maeterlincks Libretto in einer symbolischen und komplexen Sprache gehalten ist, die es erst zu entziffern gilt, um zu verstehen, wie und wo Debussy mit seiner Musik angesetzt hat.
Über den Text hinaus werden als Symbole die Krone und die Blindheit behandelt, wobei letztere anhand eines Vergleichs mit dem Volksmärchen „Rapunzel“ entschlüsselt wird.
Anschließend werden die musikalischen Motive vorgestellt, die das Vorspiel und die erste Szene nachhaltig gestalten.
Was die Harmonik betrifft, habe ich mich auf wenige, aber auffällige Beispiele beschränkt, die mir, auch im Zusammenhang mit dem zuvor untersuchten, besonders wichtig erscheinen.
2. Golauds Monolog
Die Szene beginnt mit einem kurzen Monolog Golauds, in dem er seine Situation für sich selbst reflektiert: er hat sich auf der Jagd nach einem Eber verirrt und hofft, dass seine eigenen Spuren ihn wieder an seinen Ausgangspunkt zurückbringen werden, denn er ist fremd in dieser Gegend.
Während dieses Selbstgesprächs befindet sich auch Mélisande bereits auf der Bühne und im Blickfeld des Zuschauers, wie aus der Szenenanweisung hervorgeht: „Le Rideau ouvert on découvre Mélisande au bord d’une fontaine“[1]. Da Golaud sie jedoch erst im weiteren Verlauf entdeckt, ist anzunehmen, dass er sich alleine wähnt.
Die Voraussetzung für einen Monolog, nach dem situativen „Kriterium der Einsamkeit des Sprechers, der seine Replik an kein Gegenüber auf der Bühne richtet“[2] wäre laut Manfred Pfister also gegeben.
Es stellt sich nun die Frage nach der Funktion dieses Selbstgesprächs. Im klassischen Drama „dient der Monolog häufig dazu, dem Zuschauer in ökonomisch geraffter Form Informationen über die Vorgeschichte oder über Handlungsabsichten zu übermitteln“[3]. Tatsächlich geben Golauds erste Worte einen kurzen und informativen Einblick in die Situation auf der Bühne. Man könnte also davon ausgehen, dass es sich hier um einen Monolog handelt, der auf einer Übereinkunft zwischen Autor und Rezipient beruht, „daß eine Dramenfigur im Gegensatz zu einem wirklichen Charakter laut denkt“[4], um dem Rezipienten den Einstieg in das Dramengeschehen zu erleichtern.
Allerdings wird Golauds Situation im darauf folgenden Gespräch mit Mélisande noch einmal wiederholt, als sie ihn fragt wer er ist und warum er an diesen Ort kam. Dieser Umstand macht Golauds Monolog im Grunde genommen überflüssig – zumindest für die Informationsvergabe an den Zuschauer.
Darum ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass Debussys Oper in einer Zeit entstanden ist, die bereits mit den alten Konventionen des Monologs gebrochen hatte: „So verzichtete die klassische französische Tragödie auf die besonders eklatant gegen die Normen des Natürlichen verstoßenden erzählenden Monologe [...]“[5] und legte somit die Weichen für die weitere Entwicklung, denn „im Rahmen einer realistischen und naturalistischen Ästhetik muß [...] der Monolog als Konvention völlig fallen und wird nun auch explizit poetologisch abgelehnt“[6]
Der Monolog bleibt insofern ein Bestandteil des Dramas, als er „realistisch motiviert ist – das heißt, als knapper, spontaner Ausruf, als Selbstgespräch eines pathologischen Individuums oder unter besonderen Bedingungen [...]“[7].
Golaud übernimmt am Anfang der ersten Szene nicht die Funktion eines Erzählers, der ins dramatische Geschehen einführt. Er spricht tatsächlich mit sich selbst – motiviert durch seine außergewöhnliche Situation der Verirrung in einer fremden Gegend. Er ist mit sich alleine und kann nur sich selbst fragen, was zu tun ist. Zum einen zeigt sich hier die Verwirrung des einzelnen Individuums in einer geradezu menschenfeindlichen Umgebung, zum andern findet sich aber auch ein deutlicher Verweis auf Golauds Persönlichkeit: es handelt sich hier um jemanden, der zu Selbstgesprächen neigt. Bei näherer Betrachtung des Librettos stößt man auf einige Stellen, an denen nicht ganz klar wird, ob Golauds Repliken an ein Gegenüber gerichtet sind, oder mehr oder weniger unbewusst seinen Mund verlassen. In der vierten Szene des dritten Aktes wird diese Eigenschaft Golauds noch einmal sehr deutlich. Golaud fragt seinen Sohn Yniold über Pelléas und Mélisande aus:
„Golaud:
Und was sagen sie über dich?
Yniold:
Sie sagen, ich werde einmal sehr groß.
Golaud:
Ah! Verflucht! Ich bin wie ein Blinder, der seinen
Schatz am Grunde des Meeres sucht! Bin wie
ein Neugeborenes, ausgesetzt im Wald, und ihr...
Aber nein, Yniold, ich war zerstreut [...]“[8]
Golaud spricht zu sich selbst und zwar nicht nur, wenn er alleine ist oder glaubt, alleine zu sein. Auch in Gegenwart anderer gelingt es ihm nicht, sein verwirrtes Inneres zu verbergen.
3. Mélisandes Entdeckung
Als Golaud schließlich bemerkt, dass er doch nicht alleine ist, spricht er seine Entdeckung über das weinende Mädchen zunächst laut aus, um Mélisande dann direkt anzusprechen. Dass er zuerst „du“ sagt, dann aber sofort ins förmlich „Ihr“ überwechselt, könnte ein Hinweis auf Mélisandes äußeres Erscheinungsbild sein. Im ersten Moment hält Golaud sie aufgrund ihrer kleinen, zierlichen Gestalt möglicherweise für ein Kind und stellt erst auf den zweiten Blick fest, dass es sich hier um eine erwachsenen Frau handelt.
Als er Mélisande anspricht, versucht sie sofort, vor ihm zu fliehen. Obwohl Golaud mehrmals versichert, sie müsse sich nicht fürchten, er würde ihr nichts tun, reagiert sie anfangs sehr abweisend: „Rührt mich nicht an!“[9] – beim zweiten Mal sogar unter Androhung von Selbstmord: „[...] sonst stürz’ ich mich ins Wasser“[10]. Nachdem man über Golauds Situation ausreichend informiert wurde, erfährt man über Mélisande zunächst nichts.
Das ändert sich auch im weiteren Verlauf des Gesprächs nicht einschneidend. Golaud beginnt nun zu fragen. Mélisandes Angst führt er auf etwas zurück, das man dem Mädchen angetan haben könnte. Vielleicht vermutet er in ihr das Opfer eines Verbrechens. Doch Mélisande weicht aus. Sie bejaht zwar, dass ihr etwas geschehen ist, doch auf die Frage, wer ihr etwas angetan hat, sagt sie „alle! alle!“[11], womit sie ganz offensichtlich nicht konkret wird. Als Golaud schließlich wissen will, was genau geschehen ist, verweigert sie ihm ganz direkt die Antwort: „Das will ich nicht sagen, ich kann es nicht sagen.“[12]
An dieser Stelle ist es wichtig, sich nicht vom deutschen Wort „können“ irre führen zu lassen. Es handelt sich hier um die Übersetzung von „pouvoir“. Das bedeutet, im Sinne von „savoir“, also „wissen“, wäre Mélisande durchaus im Stande, Antwort zu geben. Es geht hier also um keine Verdrängung, sodass sie etwa keine Erinnerung an die Vergangenheit mehr hätte. Es gibt andere Gründe – Angst, Scham oder sonstiges – die sie hindern, auszusprechen, was geschehen ist.
Auch als Golaud wissen will, woher sie kommt, weicht Mélisande aus. Er erfährt nur, dass sie geflohen ist, von weit, weit weg.
Es scheint, als versuche sie, eine Auseinandersetzung mit dem Fremden zu vermeiden, die sich möglicherweise ergäbe, wenn sie deutlicher zu verstehen gäbe, dass sie gerade ihm nichts über sich preisgeben möchte. Und so hält sie ihn geduldig mit wenig informativen Antworten hin, bis er eine Frage nach der anderen fallen lässt.
[...]
[1] Pelléas et Mélisande. Drame Lyrique En 5 Actes et 12 Tableaux de Maurice Maeterlinck. Musique de Claude Debussy. Partition Pour Chant Et Piano. Duran & Cie: Paris 1952, S. 2: „Der Vorhang hebt sich, man entdeckt Mélisande am Rand einer Quelle“
[2] Pfister, Manfred: Das Drama. 11. erw. Auflage 2001. München: W. Fink 1977, S. 180
[3] ebd., S. 186
[4] ebd., S. 185
[5] ebd., S. 187
[6] ebd., S. 187
[7] Pfister, Manfred: Das Drama. 11. erw. Auflage 2001. München: W. Fink 1977, S. 187
[8] Debussy: Pelléas et Mélisande. Programmheft der Bayerischen Staatsoper. München 2004, S.102
[9] Debussy: Pelléas et Mélisande. Programmheft der Bayerischen Staatsoper. München 2004, S. 82
[10] ebd., S. 82
[11] ebd., S.82
[12] ebd., 82
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