Gerätegestütztes Training der Beckenbodenmuskulatur

Eine Pilotstudie


Masterarbeit, 2019

141 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Inkontinenz und Beckenbodendysfunktionen
2.2 Prävalenz
2.3 Anatomie und Physiologie
2.4 Pathogenese und Risikofaktoren
2.4.1 Körperliche Auswirkungen
2.4.2 Psychische Auswirkungen
2.5 Therapie
2.5.1 Übersicht verschiedener Therapiemöglichkeiten
2.5.2 Training der Beckenbodenmuskulatur
2.5.3 Feedback
2.5.4 Elektrische Stimulation

3 Darstellung der empirischen Untersuchung
3.1 Pilotstudienkonzeption
3.2 Probandinnen
3.2.1 Interventionsgruppe
3.2.2 Kontrollgruppe
3.3 Untersuchungsgeräte
3.3.1 Biofeedback
3.3.2 Modifiziertes Elektromyostimulations-Training
3.4 Erhebungsinstrumente
3.4.1 Soziodemographischer Fragebogen
3.4.2 International Consultation on Incontinence Questionnaires (ICIQ)
3.4.3 Bewertung der Intervention
3.5 Experimenteller Ablauf

4 Ergebnisse
4.1 Interventionsgruppe
4.1.1 Adhärenz
4.1.2 ICIQ-UI SF
4.1.3 ICIQ-FLUTS
4.1.4 Bewertung der Intervention
4.2 Kontrollgruppe
4.2.1 Adhärenz
4.2.2 ICIQ-FLUTS

5 Diskussion
5.1 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
5.2 Vergleich mit Studienlage
5.3 Limitationen
5.4 Ausblick

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

Anhang
A1 – Anschreiben
A2 – Einwilligungserklärung
A3 – Erklärung zum EMS-Training
A4 – Richtlinien für das EMS-Training
A5 – Fragebogen Soziodemographische Informationen
A6 – Fragebogen ICIQ-UI SF
A7 – Fragebogen ICIQ-FLUTS
A8 – Fragebogen zur Bewertung der Intervention
A9 – Fragebogen ICIQ-FLUTS - Ergebnisse
A10 – Fragebogen Bewertung der Intervention - Ergebnisse
A11 – Ergebnisse Pelvictrainer® PT02 – Phase „Konzentrisch“
A12 – Ergebnisse Pelvictrainer® PT02 – Phase „isometrisch“
A13 – Ergebnisse Pelvictrainer® PT02 – Phase „exzentrisch“
A14 – Ergebnisse Pelvictrainer® PT02 – Phase „Entspannung“

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Knöcherne Begrenzung des Beckenbodens (aus Hanzal et al., 2015)

Abbildung 2: „Oberflächliche Schließ- und Schwellkörpermuskulatur.“ (Hanzal et al., 2015, S.7)

Abbildung 3: Tieferliegender Anteil des "diaphragma urogenitale“ (Hanzal et al., 2015, S.7)

Abbildung 4: Harnröhrenschließmuskel (M. sphincter urethrae) (Hanzal et al., 2015, S.7)

Abbildung 5: „Levatormuskel von unten betrachtet" (Hanzal et al., 2015, S.8)

Abbildung 6: Theoretisches Lebensspannen-Modell der weiblichen Beckenbodenfunktion im Lebensverlauf (Alter in Jahren); frei übersetzt und modifiziert nach DeLancey et al. (2008, S.7)

Abbildung 7: Frequenz der sportlichen Aktivität der Interventionsgruppe (n=5)

Abbildung 8: Dauer der sportlichen Aktivität der Interventionsgruppe (n=5)

Abbildung 9: Darstellung des Biofeedback-Geräts "Pelvictrainer® PT02" (eXcio GmbH) (Screenshot aus digitaler Gebrauchsanleitung, mit Genehmigung des Herstellers)

Abbildung 10: Verlauf der Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur am „Pelvictrainer® PT02“ (eXcio GmbH), Programm „Basis Training“ (eigener Screenshot)

Abbildung 11: Elektrodenweste "i-body®", Gesäßelektrode "i-body- belt", Oberschenkelelektrode "i-body strap", Sprühflasche (miha bodytec II)

Abbildung 12: Elektromyostimulations-Gerät "miha bodytec II" bei laufendem Trainingsplan 4 "Bodyforming"

Abbildung 13: Setup aller in der Pilotstudie verwendeten Elektroden während des Elektromyostimulations-Trainings am "miha bodytec II"

Abbildung 14: Darstellung des Rhythmus des Atems und der willentlichen Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur in Relation zur elektrischen Stimulation

Abbildung 15: Veranschaulichung des Setups der Oberschenkelelektroden „i-body® straps“, links nach Herstellerangaben, rechts modifiziert zur Annäherung an den Beckenboden

Abbildung 16: Setup der Räumlichkeiten in der "Physiotherapiepraxis Noll", Wuppertal

Abbildung 17: Fragebogen ICIQ-UI SF – Frage 6: Wann verlieren Sie Harn? (Mehrfachnennung möglich) – Ergebnisse der Interventionsgruppe (n=6)

Abbildung 18: Fragebogen ICIQ FLUTS – Summe der Item Scores – Ergebnisse der Interventionsgruppe (n=6) – Durchschnitt („F“ = Filling, [0-16]; „V“ = Voiding, [0-12]; „I“ = Incontinence, [0-20])

Abbildung 19: Fragebogen ICIQ FLUTS – Summe der Bother Scores – Ergebnisse der Interventionsgruppe (n=6) – Durchschnitt („F“ = Filling, [0-40]; „V“ = Voiding, [0-30]; „I“ = Incontinence, [0-50])

Abbildung 20: Fragebogen ICIQ FLUTS – Summe der Item Scores – Ergebnisse der Kontrollgruppe (n=5) – Durchschnitt („F“ = Filling, [0-16]; „V“ = Voiding, [0-12]; „I“ = Incontinence, [0-20])

Abbildung 21: Fragebogen ICIQ FLUTS – Summe der Bother Scores – Ergebnisse der Kontrollgruppe (n=5) – Durchschnitt („F“ = Filling, [0-40]; „V“ = Voiding, [0-30]; „I“ = Incontinence, [0-50])

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Harninkontinenzformen mit auftretenden Symptomen und der zugrundeliegenden Störung; eigene Darstellung modifiziert nach Schön (2017, S. 42)

Tabelle 2: Ausgewählte Methoden des Assessments und Feedbacks des Beckenbodens (modifiziert nach Hanzal et al., 2015, S. 41)

Tabelle 3: Definierte Einschlusskriterien der Interventionsgruppe

Tabelle 4: Definierte Ausschlusskriterien der Interventionsgruppe

Tabelle 5: Erhobene soziodemografische Daten der Interventionsgruppe

Tabelle 6: Parameter des Trainings der Beckenbodenmuskulatur mit Biofeedback am „Pelvictrainer® PT02“ (eXcio GmbH)

Tabelle 7: Parameter der elektrischen Stimulation per externen Oberflächen-Elektroden des „miha bodytec II“, Trainingsprogramm „Kräftigung – Basis“

Tabelle 8: Trainingsplan 4 „Bodyforming“ des „miha bodytec II“ („WDH“ = Wiederholungen, „S“ = statisch, „D“ = dynamisch) (modifizierte Darstellung nach Bedienungsanleitung, inklusive Zeitstempel in Minuten)

Tabelle 9: Modifikationen des EMS-Trainings für ein mit Beckenbodendysfunktionen diagnostiziertes Probandinnenkollektiv

Tabelle 10: Progressive Steigerung der EMS-Trainingsdauer im Verlauf der Intervention („Dauer“ in Minuten, „I“ = Impulsgewöhnung)

Tabelle 11: Ausprägung der Harninkontinenz nach dem "Incontinence Severity Index“ in Relation zum Summenscore des „International Consultation on Incontinence Questionnaire – Urinary Incontinence Short Form“ (ICIQ-UI SF)“ (Originalbezeichnung der Ausprägung in Klammern, frei übersetzt, aus Klovning et al., 2009)

Tabelle 12: Anzahl und prozentualer Anteil (%) der wahrgenommenen Trainingseinheiten (BF+EMS = Kombinierte Einheit Biofeedback und Elektromyostimulations-Training; BF = Biofeedback allein)

Tabelle 13: Fragebogen ICIQ-UI SF - Summenscore der Fragen 3 + 4 + 5 – Ergebnisse der Interventionsgruppe (t0 = „Pre“; t1 = „Post“; t2 = „Follow-Up“)

Tabelle 14: Fragebogen ICIQ UI SF - Frage 3 „Wie häufig verlieren Sie Harn?“– Ergebnisse der Interventionsgruppe (t0 = „Pre“; t1 = „Post“; t2 = „Follow-Up“)

Tabelle 15: Fragebogen ICIQ UI SF - Frage 4 „[] Wieviel Harn verlieren Sie für gewöhnlich? []“– Ergebnisse der Interventionsgruppe (t0 = „Pre“; t1 = „Post“; t2 = „Follow-Up“)

Tabelle 16: Fragebogen ICIQ UI SF - Frage 5 „Wie sehr beeinträchtigt generell der Harnverlust Ihren Alltag?“– Ergebnisse der Interventionsgruppe (t0 = „Pre“; t1 = „Post“; t2 = „Follow-Up“)

Tabelle 17: Fragebogen ICIQ-FLUTS - Frage 3a „Mussten Sie sich beeilen, zur Toilette zu kommen, um Wasser zu lassen?“– Ergebnisse der Interventionsgruppe (t0 = „Pre“; t1 = „Post“; t2 = „Follow-Up“)

Tabelle 18: Fragebogen ICIQ-FLUTS - Frage 9a „Haben Sie Urin verloren, bevor sie die Toilette erreichen konnten?“– Ergebnisse der Interventionsgruppe (t0 = „Pre“; t1 = „Post“; t2 = „Follow-Up“)

Tabelle 19: Fragebogen "Bewertung Intervention" – Aussagen zur subjektiven Stimmungsveränderung – Ergebnisse der Interventionsgruppe (n=6)

Tabelle 20: Fragebogen "Bewertung Intervention" – Aussagen zur Veränderung von Gesundheitsfaktoren- Ergebnisse der Interventionsgruppe (n=6)

Tabelle 21: Fragebogen "Bewertung Intervention" – Allgemeine Aussagen - Ergebnisse der Interventionsgruppe (n=6)

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Seit dem Jahre 2011 tragen in Japan mehr Erwachsene Windeln als Kinder. Der Markt für Erwachsenenwindeln und andere Inkontinenzprodukte gilt in Japan als einer der dort am stärksten wachsenden(Pasick, 2013). Der demografische Wandel ist in Japan besonders stark ausgeprägt: Die Hälfte der japanischen Bevölkerung ist über 47,7Jahre alt, insgesamt sind über 27 Prozent der Einwohner über 65 Jahre alt(Central Intelligence Agency, 2016; World Bank, 2019). Wie diese Arbeit darstellen wird, sind diverse Formen der Inkontinenz primär mit dem Altern assoziiert(Perabo, 2009d, siehe Kapitel2.4, S.12).

Die Harninkontinenz ist das Leitsymptom der allgemein bezeichneten Beckenbodendysfunktionen. Auch wenn Risikofaktoren bekannt sind, herrscht weiterhin Unklarheit über die genauen Entstehungsmechanismen(Salvatore et al., 2017). Das Thema Inkontinenz stellt auch in heutigen Gesellschaften immer noch ein Tabu dar. Aus Scham weigern sich viele Betroffene, überhaupt Hilfe zu beanspruchen. Der Verlust der willentlichen Kontrolle über seine Körperausscheidungen wird oft als Verlust der Autonomie gleichgesetzt(Schön, 2017). Und tatsächlich ist die Inkontinenz der häufigste Grund, warum ältere Menschen aus ihrem vertrauten Zuhause in Pflegeheime versetzt werden(Perabo, 2009e). Es ist jedoch nicht nur die alternde Bevölkerung davon betroffen, denn auch jüngere Menschen können unter Beckenbodendysfunktionen leiden(Niederstadt, Gaber & Füsgen, 2007; Schön, 2017). Dies kann zu enormen Einschränkungen des täglichen Lebens führen. Plötzlich kann der Vereinssport nicht mehr wie gewohnt betrieben werden, Kinobesuche sind durch häufige Toilettengänge getrübt. Aus Angst vor Inkontinenzepisoden werden keine längeren Wege mehr zu Fuß genommen.

Auch wenn die Ätiologie von Beckenbodendysfunktionen nicht abschließend verstanden ist, müssen mit einer in vielen westlichen Ländern stetig älter werdenden Bevölkerung Lösungen für ein Problem entwickelt werden, welches viel weitreichendere als rein ökonomische Folgen hat. Je nach Ausprägung dieser intimen Symptome kann der Alltag der Betroffenen und ihre Lebensqualität stark beeinträchtigt werden(Niederstadt et al., 2007, siehe Kapitel2.4.2, S.19).

Es existieren bereits zahlreiche Therapieansätze für die unterschiedlichen Beckenbodendysfunktionen. Viele dieser Therapieformen haben jedoch eines gemein: eine relativ geringe Compliance der Patienten. Die Gründe dafür sind so zahlreich wie die Lösungsansätze(Alewijnse, Mesters, Metsemakers & van den Borne, 2008; Bø, Kvarstein & Nygaard, 2005).

Die vorliegende Abschlussarbeit untersucht im Rahmen einer Pilotstudie die Auswirkungen eines gerätegestützten Trainings der Beckenbodenmuskulatur auf subjektiv wahrgenommene Symptome des unteren Harntrakts. Die eingesetzten Verfahren umfassen dabei einerseits ein sogenanntes Biofeedback, welches in der Lage ist den Trainierenden eine Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur grafisch darzustellen. Andererseits wird eine moderne Methode der elektrischen Stimulation eingesetzt. Beide genutzten Verfahren haben die Besonderheit, dass die Messungen oder Reize rein oberflächlich erfolgen und dadurch die Grenzen der Intimität nicht überschreiten.

Die elektrische Stimulation erfolgt mit einer Methode, die allgemein als Elektromyostimulation (EMS) bezeichnet wird. Sie zeichnet sich primär durch ihre relativ kurze Dauer der Trainingseinheiten aus: EMS-Trainingseinheiten sind in der Regel nicht länger als 20 Minuten. Als ehemaliger Studioleiter eines örtlichen EMS-Studios begleitet mich die moderne Trainingsmethode nun schon seit insgesamt fast zehn Jahren. In die vorliegende Arbeit sind neben den Erfahrungen aus der Praxis auch die Erkenntnisse meiner 2015 der Bergischen Universität Wuppertal vorgelegten Bachelorarbeit „Anwendung und Wirkungen von EMS-Training im Sport“ eingegangen.

Vor der genauen Beschreibung des methodischen Ansatzes der vorliegenden Pilotstudie erfolgt eine gewissenhafte Darstellung des theoretischen Hintergrunds, in dem sowohl die anatomischen Beschaffenheiten des Beckenbodens als auch dessen Pathogenese und deren Behandlungsmöglichkeiten erläutert werden. Die Arbeit wird mit Definitionen und der epidemiologischen Darstellungen der Beckenbodendysfunktionen thematisch eingeleitet.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Inkontinenz und Beckenbodendysfunktionen

Übersetzt aus dem lateinischen bedeutet „continentia“ Zurückhaltung. Im medizinischen Sinne ist damit die willkürliche Fähigkeit der Zurückhaltung von flüssigen, festen oder gasförmigen Körperausscheidungen gemeint. Besteht diese Fähigkeit nicht und kommt es zu einem unwillkürlichen Abgang von Ausscheidungen, spricht man von einer „Inkontinenz“ und spezifiziert diese nach der jeweiligen Ausscheidung. Es wird grundsätzlich zwischen der Stuhl- und Harninkontinenz unterschieden. Im deutschen Sprachgebrauch wird die Harninkontinenz auch allgemeinhin als „Blasenschwäche“, die Stuhlinkontinenz auch als „Darmschwäche“ bezeichnet(Schön, 2017). Da bei der Darmschwäche nicht nur feste oder flüssige, sondern auch gasförmige Ausscheidungen unfreiwillig abgehen können, wird sie auch allgemein als „anale Inkontinenz“ bezeichnet(Milsom et al., 2017).

Die International Continence Society (ICS) definiert bereits jeden unwillkürlichen Abgang von Urin auch in geringsten Mengen als „Harninkontinenz“(Abrams et al., 2003). Bei der Harninkontinenz sind generell Speicherstörungen und Entleerungsstörungen der Blase voneinander zu unterscheiden, wobei beide Störungen auch gemeinsam auftreten können(Perabo, 2009a).Schön(2017)liefert eine Übersicht der auftretenden Symptome und die damit einhergehende Bezeichnung der zugrundeliegenden Störung und Harninkontinenzform (vgl.Tabelle 1, S.4).

Tabelle1: Harninkontinenzformen mit auftretenden Symptomen und der zugrundeliegenden Störung; eigene Darstellung modifiziert nach Schön (2017, S. 42)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu übersteigen, liegt der Fokus der zu betrachtenden Harninkontinenzformen grundsätzlich auf den drei am häufigsten vorkommenden Arten: der Belastungsinkontinenz, der Dranginkontinenz und der Mischinkontinenz.

2.2 Prävalenz

Allgemein lässt sich feststellen, dass mit zunehmendem Alter die Prävalenz aller Inkontinenzformen unabhängig vom Geschlecht ansteigt. Frauen sind im Vergleich zu Männern insgesamt zwei- bis viermal so häufig von Inkontinenz betroffen. Je höher das Alter, desto mehr nähern sich die Inkontinenzraten im Vergleich der Geschlechter an, wobei Frauen weiterhin häufiger betroffen sind. Das Vorkommen bestimmter Formen der Inkontinenz variiert je nach Geschlecht: Frauen sind unabhängig vom Alter häufiger von der Belastungsinkontinenz betroffen, Männer hingegen sind eher von einer Dranginkontinenz betroffen(Niederstadt et al., 2007).

Das Vorkommen der Harninkontinenz in epidemiologischen Studien rangiert von fünf bis 69 % der Gesamtbevölkerung, wobei die meisten Studien Werte von 25 bis 45 % angeben(Milsom et al., 2017). In Deutschland sollen nach konservativen Schätzungen sechs bis neun Millionen Menschen unter einer Harninkontinenz leiden(Schäffler, 2011).

Die Schätzungen für die Prävalenz der Inkontinenz variieren stark, da die statistische Erfassung durch eine Vielzahl von Erhebungsproblemen erschwert wird. Grundsätzlich beruhen Prävalenzstudien für Inkontinenz auf Befragungen. Diese verwenden jedoch uneinheitliche Definitionen der Inkontinenz und greifen auf verschiedene Befragungsmethoden zurück. Darüber hinaus konzentrieren sich die Studien auf unterschiedliche Zielgruppen. Selten wird der Schweregrad oder die Art der Inkontinenz mit in die Befragung einbezogen. Ein Vergleich der vorliegenden Prävalenzstudien ist auf dieser Grundlage schwierig(Perabo, 2009e).

Weiterhin bestehen Diskrepanzen zwischen dem medizinischen Verständnis einer Inkontinenz und dem subjektiv wahrgenommenen Schweregrad. Das Thema Inkontinenz wird innerhalb der Bevölkerung stark tabuisiert und häufig sind noch andere psychische Faktoren präsent, die eine akkurate und wahrheitsgemäße Beantwortung der in den epidemiologischen Studien gestellten Fragen erschweren (Niederstadt et al., 2007).

Ferner wird für epidemiologische Studien ein definitorischer Standard gefordert(ebd.). Um die Prävalenz der Inkontinenz präziser darzustellen, versuchen einige Studien die Ergebnisse der Befragungen durch objektive klinische Verfahren zu verifizieren(Sandvik et al., 1995). Eine Möglichkeit der Durchführung solcher Studien bietet eine Matrix, die den Schweregrad der Harninkontinenz und zusätzlich die Beeinträchtigung der Probanden abfragt. Dabei werden drei Schweregrade unterschieden („leichte Harninkontinenz“, „moderate Harninkontinenz“ & „schwerwiegende Harninkontinenz“) und durch subjektive Einschätzungen die Beeinträchtigungen abgefragt („kein Problem“, „geringe Belästigung“, „mäßige Belästigung“, „erhebliche Belastung“ & „sehr große Belastung“). Bei einer solchen einheitlichen Definition der signifikanten Harninkontinenz reduziert sich die große Streuung der international durchgeführten Studien deutlich und die Prävalenzraten nähern sich an(Niederstadt et al., 2007 aus Hunskaar et al., 2003). Eine signifikante Inkontinenz würde ab einer „moderaten Harninkontinenz“ und gleichzeitig mindestens bei einer empfundenen „mäßigen Belästigung“ vorliegen. Das Ergebnis dieses Verfahrens wird als „Sandvik Severity Index“ oder „Incontinence Severity Index“ bezeichnet(Klovning, Avery, Sandvik & Hunskaar, 2009; Sandvik et al., 1993). Die groß angelegte EPINCONT-Studie unter Frauen ab 20 Jahren, die den beschriebenen Index verwendet hat, kommt zu folgenden Ergebnissen: 25 % der Frauen verlieren ungewollt Harn und 7 % haben eine signifikante Inkontinenz(Hannestad, Rortveit, Sandvik & Hunskaar, 2000).

Wie bereits festgestellt, ist der unfreiwillige Verlust von Urin – unabhängig davon, welche Art der Inkontinenz vorliegt – lediglich ein Symptom zugrundeliegender Störungen im Bereich des Beckenbodens. Möchte man zusätzlich zur Inkontinenz die Prävalenz weiterer allgemeiner Beckenbodenstörungen (Pelvic Floor Disorders) darstellen, müssen weitere Symptomatiken mitbetrachtet werden. Nimmt man zur Harninkontinenz zusätzlich weitere allgemeine Symptome des unteren Harntrakts (Lower Urinary Tract Symptoms) hinzu, wie beispielsweise den Beckenorganprolaps (Pelvic Organ Prolaps) oder die überaktive Blase (Overactive Bladder), so schätzenMilsom et al.(2017)die Prävalenz solcher Symptome weltweit auf 46 % in der erwachsenen Bevölkerung.1 Die allgemeine Harninkontinenz soll 8 % der erwachsenen Bevölkerung weltweit betreffen, wovon der größte Anteil auf die Belastungsinkontinenz fällt. Nennenswert ist ein Anstieg aller Personen mit Symptomen des unteren Harntrakts um 18 % von 2008 bis 2018 (2008: 1930 Millionen Betroffene, 2018: 2277 Millionen Betroffene weltweit).

Sofern kein Durchbruch in der Therapie und Prävention der verschiedenen Inkontinenzformen erfolgt, ist aufgrund der steigenden Lebenserwartung eine weitere Zunahme der Anzahl der Betroffenen zu erwarten. Vor diesem Hintergrund sind weiterführende vergleichende Studien erforderlich, um eine situationsgerechte Diagnostik sowie neuartige therapeutische Verfahren, operative Behandlungsmethoden und medikamentöse Therapien zu entwickeln (siehe Kapitel2.5, S.21). Inkontinenz stellt zudem nicht nur ein medizinisches, sondern ebenso ein soziales Problem dar, dessen Tabuisierung durch adäquate Aufklärung zu begegnen ist, um die Lebensqualität der Betroffenen zu erhöhen (siehe Kapitel2.4.2, S.19).

2.3 Anatomie und Physiologie

Zwischen Mann und Frau bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede der Anatomie des Beckenbodens. Der männliche Beckenboden ist im direkten Vergleich grundsätzlich stabiler und fester, da primär keine zusätzliche Öffnung für einen Geburtskanal besteht und das knöcherne Becken weniger breit ist(Martellucci et al., 2015). Auch wenn die Physiologie des Beckenbodens für beide Geschlechter größtenteils gleich ist, konzentriert sich die nachfolgende Darstellung der Anatomie lediglich auf den weiblichen Beckenboden, da die vorliegende Pilotstudie ausschließlich weibliche Probandinnen einbezieht.

Der Beckenboden ist ein komplexes Konstrukt im anatomisch bezeichneten „kleinen Becken“ (pelvis minor), welches aus Knochen, Muskeln, Faszien und Bindegewebe besteht und diverse Aufgaben erfüllt. Zu den Aufgaben gehören u.a. das Stützen von darüberliegenden Bauch- und Beckenorganen. Zu den Beckenorganen zählen die Scheide (Vagina), Gebärmutter (Uterus), Harnblase (Vesica urinaria), Harnröhre (Urethra) und der Mastdarm (Rektum). Weiterhin ist die Erhaltung der Kontinenz und das kontrollierte Ableiten von Harn, Stuhl und Gasen Aufgabe des Beckenbodens. Das kontrollierte Ableiten von Harn wird als „Miktion“, der kontrollierte Abgang von Stuhl als „Defäkation“ bezeichnet. Zusätzlich ist der Beckenboden bei der Frau ein Teil des Geburtskanals(Goeschen & Petros, 2009; Martellucci et al., 2015)

Die Beckenbodenmuskulatur bildet die untere muskuläre Begrenzung des Bauchraums. Zwei sich teilweise überlappende Skelettmuskelplatten und zugfeste Faszienlagen sorgen für funktionelle Stabilität bei diversen Belastungen und müssen gleichzeitig genug Flexibilität für Durchtrittsstellen von Enddarm, Harn- und Geschlechtsorganen besitzen. Zu den täglichen Belastungen, die auf den Beckenboden wirken, zählen einerseits statische Belastungen durch den aufrechten Stand oder Sitz und andererseits dynamischen Belastungen, die z.B. durch das Heben und Tragen von schweren Lasten oder den aufrechten Gang entstehen. Weitere dynamische Belastungsspitzen für die Beckenbodenmuskulatur im Alltag stellen z.B. das Husten, Lachen oder Niesen dar. Bei allen genannten Szenarien steigt der Druck im Innenraum des Bauches mehr (z.B. beim Husten) oder weniger (z.B. beim Gehen) stark an. Die entstehende Belastung wird als „intraabdomineller Druck“ bezeichnet(Sapsford, 2004; Tittel, 2009).

Diesen Druck macht man sich bei der „Bauchpresse“ zunutze: Die Bauchpresse, auch „Valsalva-Manöver“ genannt, ist ein Zusammenspiel der gesamten Rumpfmuskulatur, welche u.a. die Miktion, Defäkation und Presswehen unter der Geburt durch eine Steigerung des intraabdominellen Drucks unterstützt(Schmeiser & Putz, 2001). Durch das Anhalten der Atemluft wird das Zwerchfell nach unten gepresst, die Bauch- und Rückenmuskulatur wird angespannt, von kaudal (von unten) unterstützt die Beckenbodenmuskulatur. Dadurch wird die Wirbelsäule insgesamt stabilisiert und die Kraftübertragung verbessert. Auch beim Heben schwerer Lasten ist die Bauchpresse aktiv. Diesen Effekt machen sich Sportlerinnen und Sportler explosiver Disziplinen zunutze. In dieser Kette des synergistischen Zusammenspiels stellt der Beckenboden jedoch aufgrund seiner weiter unten beschriebenen anatomischen Beschaffenheit das schwächste Glied dar(Tittel, 2009).

Bei der ruhigen Atmung ist physiologisch ein antagonistisches Zusammenspiel des Zwerchfells und des Beckenbodens zu beobachten. Bei der Einatmung kommt es zu einer Kontraktion des Zwerchfells, welches dadurch nach kaudal absinkt. Zeitgleich ist eine Entspannung der Beckenbodenmuskulatur zu beobachten, die dadurch ebenfalls nach kaudal absinkt. So erhöht sich der intraabdominelle Druck kaum und das Gewebe des Beckenbodens wird nicht zusätzlich belastet (ebd.,Sapsford, 2004). Daraus lassen sich Implikationen für allgemeine körperliche Betätigungen, sportliche Aktivitäten, aber auch für die Therapie und Rehabilitation von Beckenbodenstörungen ableiten. Darauf wird näher im Kapitel2.5.2„Training der Beckenbodenmuskulatur“ (S.26) eingegangen.

Beginnend mit den Knochen und der dadurch entstehenden knöchernen Begrenzung des kleinen Beckens wird der weibliche Beckenboden nachfolgend vereinfacht schematisch dargestellt. Ventral ist das Schambein (Os pubis) und die Beckensymphyse, dorsal das Steißbein (Os coccygis) und Kreuzbein (Os sacrum) die knöcherne Begrenzung des Beckenbodens. Die beiden Sitzbeinhöcker (Tubera ossis ischii) stellen die seitliche Begrenzung des Beckenbodens dar. Diese vier Punkte erinnern von unten betrachtet an eine leicht nach oben (bzw. vorne) gezogene Raute und sind inAbbildung 1(S.9) dargestellt(Hanzal, Bartosch, Stelzhammer & Udier, 2015).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Knöcherne Begrenzung des Beckenbodens(aus Hanzal et al., 2015)

Zu der oberflächlichen Beckenbodenmuskulatur zählen der M. bulbocavernosus, der auch als M. bulbospongiosus bezeichnet wird (Schmeiser und Putz, 2001), und der M. ischiocavernosus, welche sich in der schematischen Darstellung in der oberen, längeren Hälfte der Raute befinden (Abbildung 2, S.9). Diese sind besonders für die Sexualfunktion wichtig. Der M. sphincter ani externus (Anus) gehört ebenfalls zu den oberflächlichen Beckenbodenmuskeln. Er sorgt für einen willkürlichen Verschluss des Analkanals und hilft dabei, den Stuhldrang zurückzuhalten(Hanzal et al., 2015).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: „Oberflächliche Schließ- und Schwellkörpermuskulatur.“(Hanzal et al., 2015, S.7)

Das dreieckige diaphragma urogenitale ist die untere und kleinere der beiden Muskel- und Bindegewebsplatten. Es umschließt den Harn- und Geschlechtsweg, spannt sich zwischen den Sitzbeinhöckern und dem Schambein auf und schließt über eine Faszienstruktur den Beckenboden zur oberflächlichen Haut ab(Schmeiser & Putz, 2001). Muskulär werden dem diaphragma urogenitale der M.transversus perinei superficialis (sieheAbbildung 2, S.9) und der höherliegende M. transversus perinei profundus zugeteilt (sieheAbbildung 3, S.10). Die Darmmembran (membrana perinei) zählt man ebenfalls zum diaphragma urogenitale. Funktionell bildet dieses zusammen mit den Schließmuskeln des Anus (M. sphincter ani externus) und der Harnröhre (M.sphincter urethrae, sieheAbbildung 4, S.10) eine Einheit(Tittel, 2009).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Tieferliegender Anteil des "diaphragma urogenitale“(Hanzal et al., 2015, S.7)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Harnröhrenschließmuskel (M. sphincter urethrae)(Hanzal et al., 2015, S.7)

Dem diaphragma urogenitale liegt, abgetrennt durch weiteres Faszien- und Bindegewebe, das diaphragma pelvis auf, eine im Vergleich größere Einheit bestehend aus Muskeln und Faszien. Zu den Muskeln im diaphragma pelvis zählt man den M. coccygeus (Steißbeinmuskel) und den M. levator ani (sieheAbbildung 5, S.11) . Diese Schicht wird auch häufig auch als Levatorplatte bezeichnet. Der M.piriformis (sieheAbbildung 5, S.11) befindet sich ebenfalls in der Ebene des diaphragma pelvis, wird jedoch nicht zu den Beckenbodenmuskeln hinzugezählt. Zusammen mit dem M.coccygeus schließt der M. piriformis muskulär das Becken nach dorsal ab. Der M.levator ani ist der größte der dem Beckenboden zugeordneten Muskeln und besteht aus insgesamt drei Anteilen: dem M.pubococcygeus (lateral), M. puborectalis (medial) und M. iliococcygeus (dorsal). Bis auf den M. coccygeus strahlen alle Beckenbodenmuskeln in das centrum tendineum perinei hinein. Letzterer Begriff bezeichnet eine Bindegewebsplatte am Damm, welche die beiden dargestellten Diaphragmen und alle zugehörigen Muskeln und Faszien miteinander verbindet. Sie stellt den mechanischen Mittelpunkt des Beckenbodens dar und befindet sich im Zentrum der dargestellten Rauten(Schmeiser & Putz, 2001).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: „Levatormuskel von unten betrachtet"(Hanzal et al., 2015, S.8)

Der M. puborectalis ist U-förmig und bildet so eine physiologische Durchtrittsstelle für Harnröhre, Mastdarm und Vagina, sowie für den kindlichen Kopf bei einer vaginalen Entbindung. Diese Durchtrittsstelle wird als Levator-Tor oder auch Levatorschlitz (hiatus levatorius) bezeichnet, welcher sich anatomisch nochmals in den hinteren hiatus analis und den vorderen hiatus urogenitalis unterteilen lässt. Die Fasern des M.puborectalis ziehen sich wie eine Schlinge bis um den Mastdarm und sorgen physiologisch durch ihre tonische Dauerkontraktion u.a. für den Erhalt der analen Kontinenz, indem sie einen „Knick“ erzeugen, welcher auch als anorektaler Winkel bezeichnet wird und physiologisch etwa 90 Grad beträgt. Eine Entspannung dieser Fasern sorgt entsprechend für eine Vergrößerung des anorektalen Winkels und erleichtert die Defäkation(Tittel, 2009).

Die etwa vier cm lange Harnröhre führt über den trichterförmigen Blasenhals zur Harnblase, einem muskulären Hohlorgan, das Harn speichert und bei Frauen ein variables Füllvolumen von etwa 300 bis 500 ml besitzt. Die Harnblase wird häufig mit einem elastischen Gummiballon verglichen. Sie liegt dem Beckenboden und dem dazugehörigen Faszien- und Bändersystem auf, die die Blase wie ein Trampolin tragen. Füllt sich die Blase mit Harn, erhöht sich auch der Druck auf die sogenannte Trampolinmembran. Zusammen mit den Signalen der im Blasenboden vorhandenen Dehnungsrezeptoren wird der Spannungszustand der Membran über das Rückenmark an das Gehirn weitergeleitet. Auf diese Weise entsteht Harndrang. Sollte eine Miktion nicht möglich sein, spannt sich durch die Aktivität der Beckenbodenmuskulatur die Membran an, wodurch die Blase angehoben wird; der Harndrang nimmt zunächst wieder ab. Bei möglicher Miktion entspannt sich die Beckenboden- und Schließmuskulatur. Die glatte Muskulatur in der Harnblasenwand (M.detrusorvesicae), die nicht der willentlichen Kontrolle unterliegt, kontrahiert gleichzeitig und ermöglicht so einen Abfluss des Harns(Goeschen & Petros, 2009).

Die Beckenboden- und Schließmuskulatur sowie das umliegende Faszien- und Bindegewebe enthalten zusätzlich zu quergestreiften Muskelfasern weitere glatte Muskelstränge und -zellen, welche nicht willkürlich ansteuerbar sind(Schmeiser & Putz, 2001). Die Innervation der Muskelsysteme erfolgt sowohl über das somatische als auch über das autonome Nervensystem(Fritsch, 2009).

Diese unterstützen die unwillkürliche Prä-Kontraktion des gesamten Beckenbodens, welche unmittelbar vor dem Auftreten einer Belastung, wie z.B. eines Hustenstoßes, einsetzt. Durch diese Kontraktion wird u.a. die Position des Blasenhalses stabilisiert und die Harnröhre sowie zusätzlich das Rektum abgedrückt. Für eine Erhaltung der Kontinenz ist die Betrachtung der im Bauchraum wirkenden Druckverhältnisse essenziell. Die Kontinenz kann nur erhalten werden, wenn der von Beckenboden- und Schließmuskulatur erzeugte Gegendruck dem intraabdominellen Druckanstieg durch auftretende Belastungen standhalten kann. Der gesamte Gegendruck wird durch mehrere Mechanismen und deren Interaktion bestimmt: zum einen durch die oben beschriebene Prä-Kontraktion des Beckenbodens und zum anderen durch den Verschlussdruck der Harnröhre, der wiederum von der zusätzlichen Anspannung des M. puborectalis und des Harnröhrenschließmuskels (M. sphincter urethrea) abhängig ist(Baessler & Jungiger, 2015).Goeschen und Petros(2009)nennen als Synergist auch explizit den M. pubococcygeus, der zusätzlich zum M. puborectalis durch eine elastische Dauerkontraktion seiner slow-twitch Muskelfasern die Harnröhre und das Rektum kontinuierlich verschließt. Die Anteile des M. levator ani ziehen muskulär in unterschiedliche Richtungen und tragen einzeln zum Kontinenzerhalt bei(Betschart, Kim, Miller, Ashton-Miller & DeLancey, 2014). Insgesamt übernimmt der M. levator ani mit allen seinen Anteilen sowohl eine zentrale Rolle beim Erhalt der Kontinenz als auch bei der Stabilisierung der Beckenorgane im kleinen Becken(Hanzal et al., 2015).

2.4 Pathogenese und Risikofaktoren

2.4.1 Körperliche Auswirkungen

Der gesamte Beckenboden sieht sich täglich diversen Kräften unterschiedlicher Stärke ausgesetzt. Einige dieser Kräfte, wie z.B. die Schwerkraft, wirken dauerhaft auf den Beckenboden. Andere, wie der bereits beschriebene intraabdominelle Druck, sind variable, dynamische Einwirkungen mit einzelnen Phasen hoher Belastungsspitzen. Bestimmte alltägliche oder sportliche Aktivitäten können weitere Belastungsspitzen erzeugen. Zu diesen Aktivitäten zählen z.B. Sprung- und Landebelastungen, wie auch die täglichen Toilettengänge(Tittel, 2009).

Dadurch kann in Bezug auf die Konstitution des Beckenbodens geschlossen werden, dass der Beckenboden physiologisch in der Lage sein muss, den statisch und dynamisch einwirkenden Kräften über den gesamten Tag standzuhalten. Verliert er diese Funktion, kann es primär zum unfreiwilligen Verlust von Harn und Stuhl (Inkontinenz), einer erhöhten Miktionsfrequenz oder anderen Störungen des Miktionsverhaltens kommen, wie auch zu einer Absenkung der Beckenorgane oder unspezifischen Beckenschmerzen(Goeschen & Petros, 2009). Auch sexuelle Empfindungsstörungen werden zu den möglichen Folgen gezählt(Schneider-Affeld, 2014). Einzelne Beckenbodendysfunktionen können unterschiedliche Ursachen und Risikofaktoren haben. So ist prinzipiell nicht einmal die Symptomatik einer Harninkontinenz isoliert darstellbar, da z.B. eine Belastungsinkontinenz andere Ursachen als eine Dranginkontinenz haben kann. Weiterhin könnten beide dieser Symptomatiken gleichzeitig vorliegen. Diesen Umstand bezeichnet man als „Mischinkontinenz“. Liegt lediglich eine Drangsymptomatik ohne unfreiwilligen Harnverlust vor, so wird dies als überaktive Blase (overactive bladder) bezeichnet. Trotz fehlender Inkontinenzepisoden leiden die Betroffenen dennoch stark unter ihren Symptomen(Hanzal et al., 2015).

Bei Probandinnen mit diagnostizierter Belastungsharninkontinenz können im Vergleich zu gesunden Frauen mittels Elektromyographie (EMG), Ultraschall und speziellen Kathetern eine in Ruhe tiefer liegende Blasenhalsposition und ein erniedrigter Verschlussdruck der Harnröhre dargestellt werden. Bei einem Hustenstoß verringert sich weiterhin die Höhe der Blasenhalsposition stärker, gleichzeitig steigt der Harnröhrenverschlussdruck weniger stark an. Bei allen gesunden Frauen ist eine schützende Beckenboden-Prä-Kontraktion nachweisbar, während bei 26 % der inkontinenten Frauen diese gänzlich ausbleibt. Gesunde Frauen sind in der Lage, eine willentliche submaximale Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur für 33 Sekunden zu halten. Inkontinente Frauen erreichen dagegen lediglich elf Sekunden im Durchschnitt(Baessler & Jungiger, 2015).

Die Pathophysiologie und Therapie der einzelnen Harninkontinenzformen, der überaktiven Blase, analen Inkontinenz oder dem Beckenorganprolaps können sich unterscheiden(Salvatore et al., 2017). Andererseits sind die im Becken befindlichen Nerven und die Funktion des M. levator ani bei allen Beckenbodenstörungen in irgendeiner Form beteiligt(DeLancey, Kane Low, Miller, Patel & Tumbarello, 2008).

Für unterschiedliche Symptomatiken kann es also auch gleiche Ursachen und Behandlungen geben. Korrigiert man z.B. operativ das pubourethrale Ligament, lassen sich sowohl die Stuhl- als auch die Belastungsharninkontinenz erfolgreich behandeln. Veränderungen der Faszien-, Bänder- und Bindegewebssysteme stehen im Mittelpunkt der Integraltheorie. Der Beckenboden verliert durch eine Bindegewebsschwäche im Halte- und Stützapparat seine physiologische Funktion, was die anfangs beschriebenen Symptome zur Folge haben kann. Kann die Form und Struktur wiederhergestellt werden, soll sich auch die Funktion des Beckenbodens normalisieren. Die Struktur des Bindegewebes wird durch das Altern, Hormone, Schwangerschaften und Geburten, sowie Operationen und ihre möglichen Folgen beeinflusst. Ist die Struktur einmal negativ beeinträchtigt, kann selbst die gesunde und starke Beckenbodenmuskulatur möglicherweise nicht mehr optimal arbeiten. Sind beispielsweise die Ligamente überdehnt und die Beckenorgane bereits leicht abgesunken, ändert sich damit auch die Effektivität und Zugrichtung der Muskulatur. Der biomechanische Verschluss von Harnröhre und Rektum ist dann aufgrund eines veränderten bzw. vergrößerten Winkels nicht mehr gegeben. Eine Inkontinenz ist die Folge(Goeschen & Petros, 2009; Gunnemann, Liedl & Goeschen, 2017).

DeLancey et al.(2008)stellen ein theoretisches Modell vor, das die weibliche Beckenbodenfunktion im zeitlichen Verlauf eines Lebens beschreibt. An einem Beispiel wird dies inAbbildung 6(S.15) dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Theoretisches Lebensspannen-Modell der weiblichen Beckenbodenfunktion im Lebensverlauf (Alter in Jahren); frei übersetzt und modifiziert nachDeLancey et al.(2008, S.7)

In Phase I bestimmen prädisponierende Faktoren, wie die Genetik oder mögliche Geburtstraumata, die Ausgangslage der potenziellen Beckenbodenfunktion. Nachdem das körperliche Wachstum abgeschlossen ist, soll der weibliche Beckenboden den Höhepunkt der physiologischen Funktion erreicht haben. Symptome der Inkontinenz treten bei jungen Frauen demnach nur selten auf. Es gibt allerdings durchaus Lebenssituationen, die das temporäre Auftreten von Symptomen einer gestörten Beckenbodenfunktion auch in dieser Altersgruppe zur Folge haben, wie beispielsweise das Auftreten der Belastungsharninkontinenz oder die überaktive Blase aufgrund einer Schwangerschaft. Diese der Phase II2 zugeordneten Faktoren werden grafisch durch einen plötzlichen steilen Abfall der Geraden dargestellt (vgl. Abbildung 6, S.15). Erfolgt nach diesen Ereignissen eine vollständige Regeneration, nimmt die Darstellung der Beckenbodenfunktion wieder ihren ursprünglichen Verlauf an. Durch das Altern verliert der Beckenboden allmählich an Funktion. Die negative Steigung und damit die Rate, mit der dies geschieht, variiert je nach den im Leben auftretenden Belastungen und vorhandenen Risikofaktoren. Diese intervenierenden Risikofaktoren werden der Phase III zugeordnet. Symptome sollen grundsätzlich erst dann auftreten, wenn eine theoretische Schwelle der Beckenbodenfunktion unterschritten wird. Die symptomfreie Reduktion der Beckenbodenfunktion beginnt allerdings schon deutlich früher im Leben. Liegt die Gerade über der Symptomschwelle, so weist der Beckenboden eine Funktionsreserve auf. Bei schadensbegünstigenden Faktoren, wie einer mit Komplikationen verbundenen Geburt, treten dann nicht unmittelbar Symptome auf. Sollte nach diesen Ereignissen jedoch keine vollständige Regeneration möglich sein, sinkt die Gerade ab und die Symptomschwelle wird früher im Leben unterschritten(DeLancey et al., 2008).

Die Ätiologie von Beckenbodendysfunktionen ist weiterhin Objekt laufender Forschungen und nicht zufriedenstellend geklärt(Salvatore et al., 2017). Neben allgemeinen genetischen Prädispositionen für Beckenbodendysfunktionen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, lassen sich einige Risikofaktoren feststellen. Die Prävalenz und die Schwere von Beckenbodendysfunktionen korreliert am stärksten mit dem Alter(Hallock & Handa, 2016). Das Altern als solches kann jedoch nur bedingt als eigenständiger Risikofaktor betrachtet werden, da mit dem Altern parallel weitere altersassoziierte Risikofaktoren bestehen, die isoliert betrachtet teilweise vermeidbar sind(Niederstadt et al., 2007). Zu diesen gehören z.B. eine mit dem Altern häufig korrelierende Gewichtszunahme(Statistisches Bundesamt, 2018). Unabhängig von diesen Risikofaktoren lässt sich jedoch feststellen, dass es durch den Alterungsprozess zu Veränderungen im Gewebe kommt, die ein Auftreten von Inkontinenz oder Beckenbodendysfunktionen begünstigen können. Diese Prozesse stehen in stetiger Wechselwirkung mit diversen Hormonen, die sich negativ und positiv auf die Funktion des Bindegewebes auswirken können(Goeschen & Petros, 2009). Früher galt die Menopause lange Zeit als Risikofaktor für das Auftreten einer Harninkontinenz, die mit einer Hormonersatztherapie behandelt wurde. Nach neueren Erkenntnissen stellt die Hormonersatztherapie jedoch einen eigenständigen Risikofaktor für eine Harninkontinenz dar(Niederstadt et al., 2007; Salvatore et al., 2017). Die lokale Gabe von Östrogenen im Bereich des Beckenbodens zur Kollagenerhaltung bleibt jedoch weiterhin eine legitime Therapie(Goeschen & Petros, 2009; Salvatore et al., 2017).

Altersbedingte Veränderungen sind natürliche Faktoren, die sich zwar negativ auf die Beckenbodenfunktion auswirken, jedoch wahrscheinlich nicht vermeidbar sind. Für die Erhaltung der Kontinenz spielt beispielsweise die stetige altersbedingte Reduktion des Harnröhrenverschlussdrucks eine wichtige Rolle(Baessler & Jungiger, 2015). Sobald dieser Druck irgendwann nicht mehr ausreichend stark ist, muss die abdrückende Beckenbodenmuskulatur bei länger anhaltenden Anstrengungen, wie z.B. Spaziergängen, eine zunehmend größere Ausdauerleistung erbringen(Goeschen & Petros, 2009). Grundsätzlich scheinen im Alter besonders die glattmuskulären Systeme des Beckenbodens an Funktion zu verlieren(Fritsch, 2009).

Im bereits beschriebenen Lebensspannen-Modell nachDeLancey et al.(2008)stellt das Altern die konstante negative Steigung der Geraden dar. Ist die Lebensspanne lang genug, wird die Symptomschwelle irgendwann zwangsläufig unterschritten, auch bei einem „gesunden“ Beckenboden. Ein Ziel der Prävention von Beckenbodendysfunktionen ist somit, die negative Steigung durch geeignete Verfahren zu reduzieren und dadurch die theoretische Gerade der Beckenbodenfunktion abzuflachen. Auf diese Weise soll das Unterschreiten der Symptomschwelle verzögert werden.

Der größte Risikofaktor für die Entstehung von allgemeinen Beckenbodendysfunktionen sind Geburten und Schwangerschaften(Hallock & Handa, 2016). Besteht eine genetische Prädisposition für die Entwicklung einer Harninkontinenz, verlagern Schwangerschaften ihr Auftreten deutlich zeitlich nach vorne(Milsom et al., 2017). Während der Schwangerschaft tragen hormonelle Veränderungen zu einer physiologischen Lockerung von Bändern und des Bindegewebes des Beckenbodens bei. Diese natürlichen Veränderungen sollen den Geburtsvorgang erleichtern und Schäden am Gewebe reduzieren. Nach der Schwangerschaft bilden sich jedoch einige dieser Gewebsveränderungen bei rund 30 % der Frauen nicht wieder zurück – unabhängig davon, ob vaginal oder per Kaiserschnitt entbunden wurde. Solche Bindegewebelockerungen können dann unter anderem ein Absinken der Beckenorgane oder das Auftreten einer Inkontinenz begünstigen(Goeschen & Petros, 2009).

Die vaginale Entbindung stellt durch das Passieren des Säuglingskopfes durch den Geburtskanal eine hohe mechanische Belastung für den Beckenboden dar. Bänder, Bindegewebe und Muskeln werden dabei stark gedehnt. Dies gilt auch für komplikationsfreie Entbindungen(Tittel, 2009). Treten zusätzlich Geburtstraumata auf, wie z.B. Damm- oder Muskelrisse, wird die spätere Entstehung von Beckenbodendysfunktionen begünstigt(Hallock & Handa, 2016). Einige Geburtstraumata können langfristige, konservativ nicht heilbare Veränderungen der Muskel- und Bändersysteme verursachen: So wird bei Mehrfachgebärenden der M.transversus perinei profundus, ein für die Beckenstabilisation wichtiger Muskel, häufig zerstört und ist nach der Geburt nur noch als Bindegeweberest vorhanden(Schmeiser & Putz, 2001). Schäden am M. levator ani sollen bei 13 bis 36 % der Frauen, die vaginal entbunden haben, nachzuweisen sein. Die Quote steigt auf 35 bis 64 %, wenn im Entbindungsverlauf eine Zangengeburt notwendig gewesen ist(Schwertner-Tiepelmann, Thakar, Sultan & Tunn, 2012).

Eine vaginale Entbindung begünstigt zwar insgesamt das Auftreten einer Belastungsharninkontinenz, doch die Entbindung per Kaiserschnitt stellt keinen Schutzfaktor für eine allgemeine Harninkontinenz im späteren Verlauf des Lebens dar. Im langfristigen Gesamtvergleich gleichaltriger Frauen, die ausschließlich per Kaiserschnitt entbunden haben, und Frauen ohne Schwangerschaften bestehen keine signifikanten Unterschiede bzgl. des Auftretens einer Harninkontinenz. Geburten per Kaiserschnitt reduzieren jedoch das spätere Auftreten von Beckenorganprolapsen(Milsom et al., 2017).

Weiterhin muss auch das Geburtsgewicht des Kindes als Risikofaktor für Geburtstraumata und schlussfolgernd auch für spätere Beckenbodendysfunktionen betrachtet werden, da ein kleinerer und leichterer Fötus für den Beckenboden potenziell weniger belastend ist(Hallock & Handa, 2016). Die Belastung bezieht sich dabei sowohl auf die auf den Beckenboden einwirkende Gewichtskraft während der Schwangerschaft, die im dritten Trimester besonders hoch ist, als auch auf die mechanischen Belastungen bei der vaginalen Entbindung, die zusätzlich vom Kopfumfang des Fötus abhängig ist(Schwertner-Tiepelmann et al., 2012).

Übergewicht und Adipositas gelten als am stärksten gesicherte Risikofaktoren für die Entstehung einer Harninkontinenz, besonders der Belastungsinkontinenz. Die Prävalenz und Schwere der Harninkontinenz korrelierten mit dem Anstieg des Body Mass Index der Befragten in zahlreichen epidemiologischen Studien. Im Hinblick auf die Entstehung von anderen Inkontinenzformen oder einem Beckenorganprolaps ist die Studienlage nicht ganz eindeutig(Hunskaar, 2008; Milsom et al., 2017).

Es ist davon auszugehen, dass das erhöhte abdominelle Gewicht eine Belastungsinkontinenz akut begünstigt. Die durch das Übergewicht induzierte Belastungsinkontinenz lässt sich jedoch durch einen Gewichtsverlust in Kombination mit einem Bewegungsprogramm gut therapieren bzw. lassen sich die Symptome deutlich reduzieren(Hallock & Handa, 2016; Hunskaar, 2008).Nambiar et al.(2018)sprechen für einen Gewichtsverlust als präventive oder therapeutische Maßnahme den höchsten Empfehlungsgrad aus.

Einige Risiken stellen alltägliche Aktivitäten dar, die die auf den Beckenboden einwirkenden Kräfte erhöhen, wie beispielsweise bei einem Anstieg des intraabdominellen Drucks. Die Gefahr entsteht allerdings nicht durch das einmalige und isolierte, sondern durch das häufige und regelmäßige Auftreten dieser Aktivität. Diese einwirkenden Kräfte akkumulieren sich und sorgen dadurch für die konstante Überlastung des Beckenbodens. Zu diesen Aktivitäten würde man z.B. das Husten zählen. Obwohl ein einzelner Hustenstoß ebenfalls physiologisch den intraabdominellen Druck ansteigen lässt, ist bei einem gesunden Beckenboden keine dysfunktionale Symptomatik, wie dem unfreiwilligen Harnverlust, zu erwarten. Ist der Husten jedoch chronisch, wie bei einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD), stellt dieser Umstand einen Risikofaktor sowohl für einen akuten Harnverlust als auch für ein spätere Beckenbodendysfunktion im Alter dar(DeLancey et al., 2008). In diesem Zuge muss auch das Rauchen zumindest als indirekter Risikofaktor genannt werden. Das Rauchen als solches erwirkt keinen Anstieg des intraabdominellen Drucks, begünstigt jedoch die Entstehung eines chronischen „Raucherhustens“, der wiederum den Beckenboden konstant überlastet(Niederstadt et al., 2007).

Weitere stärkere Erhöhungen des intraabdominellen Drucks sind bei einem gestörten Stuhlgang zu erwarten. Sind die Verstopfungen (Obstipationen) chronisch, erhöht sich das Risiko für Beckenbodendysfunktionen aufgrund des regelmäßig notwendigen Einsatzes der intensiven Bauchpresse, welche Muskulatur und Nerven im Beckenboden schädigen kann(Niederstadt et al., 2007). Chronische Verstopfungen erhöhen damit sowohl das Risiko für eine Harninkontinenz als auch für den Beckenorganprolaps(Nambiar et al., 2018). Erfordert der ausgeübte Beruf körperlich schwere Arbeit, besonders durch das Heben und Tragen von schweren Gegenständen, wird der dabei aufgebaute intraabdominelle Druck ebenfalls chronisch und ist somit als Risikofaktor für ein späteres Auftreten von Beckenbodendysfunktionen zu sehen(Niederstadt et al., 2007; Salvatore et al., 2017).

2.4.2 Psychische Auswirkungen

Wie bereits erläutert, werden Beckenbodendysfunktionen und besonders die Inkontinenz in der Gesellschaft häufig tabuisiert. Die psychischen Auswirkungen und der Einfluss auf die Lebensqualität der Betroffenen können jedoch erheblich sein. Hierbei spielt besonders die subjektive Bewertung des Betroffenen eine wichtige Rolle, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden kann. Die psychischen und sozialen Folgen von Inkontinenz können unter anderem die Einschränkung von sozialen Kontakten, Alltags- und Freizeitaktivitäten, Bewegung sowie verminderte Sexualität sein. Durch die gesellschaftliche Tabuisierung von Inkontinenz können Betroffene Minderwertigkeitsgefühle entwickeln und sich aus Scham zurückziehen. Diese sozialen Auswirkungen können wiederum einen Einfluss auf die Angehörigen der Betroffenen und die wechselseitigen Beziehungen haben(Niederstadt et al., 2007).

Des Weiteren berichten Patientinnen von erhöhten Arbeitsunfähigkeitszeiten, Behinderungen der beruflichen Entwicklung, Depressionen, Angstzuständen und Traurigkeit. Auch die starke finanzielle Belastung kann zu negativen psychischen Folgen führen. Aus Scham und/oder Unwissenheit nehmen viele Patientinnen keine Hilfe in Anspruch, sondern versuchen ihre Symptome durch Vorlagen zu verbessern(Bader, Dimpfl, Hagemeier & Reisenauer, 2012).

Auch der Zusammenhang zwischen Inkontinenz und Depressionen kann durch mehrere Studien belegt werden. Eine Kohortenstudie vonVrijens et al.(2017)zeigt einen Zusammenhang zwischen Funktionsstörungen des Beckenbodens, Inkontinenz, Prolaps und affektiven Störungen, wie Angstzuständen und Depressionen. 30,9 % der Testpersonen leiden unter Depressionen, 20,3 % von ihnen erleben regelmäßig Angstzustände. Unter der Einbeziehung zusätzlicher Kontrollvariablen, welche ebenfalls einen Einfluss auf die Entstehung von Inkontinenz haben könnten, hat sich gezeigt, dass 12 % der Depressionen und 7,4% der Angststörungen im direkten Zusammenhang zu den Beckenbodendysfunktionen stehen(Vrijens et al., 2017).

Korrelationen sprechen allerdings noch nicht für eine Kausalität. Die Kausalität zwischen Inkontinenz und Depressionen ist noch nicht eindeutig erforscht. Die Möglichkeit eines Stigmas dieser intimen Beschwerden in Zusammenhang mit möglichen Einschränkungen des alltäglichen Lebens scheint zumindest plausibel. Die aktuelle Studienlage tendiert jedoch eher zu einer umgekehrten Kausalität: So sollen Depressionen und psychische als auch psychosoziale Belastungen eigene Risikofaktoren für die Entwicklung einer Inkontinenz darstellen(Milsom et al., 2017). Ein Erklärungsversuch dieses Zusammenhangs stützt sich exemplarisch auf den Neurotransmitter Serotonin: Eine verminderte Serotoninfunktion kann sowohl die Entstehung einer Dranginkontinenz als auch Depressionen fördern(Zorn, Montgomery, Pieper, Gray & Steers, 1999).

Auch wenn die Kausalität zwischen psychosozialen Faktoren und Inkontinenz noch nicht eindeutig erforscht ist, besteht kein Zweifel an einem Zusammenhang. Für bessere diagnostische Ergebnisse und personalisierte Behandlungsmöglichkeiten empfehlen Forscher daher einen multidisziplinären Ansatz, der auch die psychosozialen Aspekte von Funktionsstörungen des Beckenbodens miteinbezieht(Vrijens et al., 2017).

Wie bereits erläutert, können auch psychosoziale Belastungen die Entstehung von Inkontinenz beeinflussen. Berichten zufolge kann umgekehrt auch die Veränderung des psychosozialen Umfelds eine Besserung der Symptomatik erzielen(Macaulay, Stern, Holmes & Stanton, 1987). Während der Behandlung sollten die psychische und emotionale Verfassung der Patienten in Betracht gezogen werden. Eine Beobachtungsstudie der Abteilung für uro-gynäkologische Physiotherapie am Singleton Hospital in Swansea hat den Einfluss von psychiatrischen Symptomen von Angstzuständen und Depressionen auf den Erfolg eines sechsmonatigen Physiotherapieprogramms bei Patientinnen mit Beckenbodendysfunktionen untersucht. Die Patientinnen, die den größten Erfolg erzielten, haben entweder keine oder nur leichte Angstzustände bzw. Depressionen. Der Mangel an Motivation könnte eine Ursache für die geringe Teilnahmebereitschaft und niedrige Erfolgsquote bei den depressiven Patientinnen sein. Diese Studie wirft die Frage auf, ob Patienten mit psychischen Symptomen eine angepasste Behandlung erhalten sollten(Khan et al., 2013).

Aufgrund der multiplen Ursachen und der Auswirkungen von Inkontinenz kann eine psychosoziale Unterstützung bei der Behandlung von Inkontinenz, z.B. durch Psychologen, Sozialpädagogen oder Sozialarbeiter, sinnvoll sein. Eine Studie konnte darstellen, dass eine verhaltenstherapeutische Behandlung, die auf eine Änderung des Verhaltens im Alltag zielt, auch bei niedriger Betreuungsintensität wirksam war(Subak, Quesenberry, Posner, Cattolica & Soghikian, 2002).

2.5 Therapie

2.5.1 Übersicht verschiedener Therapiemöglichkeiten

Aufgrund des komplexen Zusammenspiels der einzelnen Strukturen des Beckenbodens und ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit existieren mehrere Therapieansätze von Beckenbodendysfunktionen. Die Therapie variiert je nachdem, welche dieser Strukturen negativ beeinträchtigt ist.

Nach der Integraltheorie würden operative Eingriffe ihre Wirkung z.B. dadurch erzielen, dass sie die Ausgangslage der Bindegewebestruktur wiederherstellen, sodass die anderen im Beckenboden befindlichen Strukturen, besonders die Beckenbodenmuskulatur, wieder korrekt wirken können(Goeschen & Petros, 2009; Gunnemann et al., 2017). Grundsätzlich existieren diverse operative Eingriffe. Darunter sind auch minimalinvasive Eingriffe, die evidenzbasiert positive Ergebnisse bei Beckenbodendysfunktionen liefern können: Besonders fortgeschrittene Senkungsbeschwerden oder Organprolapse werden häufig operativ behandelt(Favero & Baessler, 2018). Operation bergen allgemein allerdings auch ihre eigenen nachhaltigen Risiken, da beispielsweise entstehendes Narbengewebe die Beckenbodenfunktion verändern kann(Goeschen & Petros, 2009). Weiterhin könnten operative Korrekturen von Beckenorganprolapsen Symptome, wie eine Belastungsinkontinenz,3 überhaupt erst entstehen lassen(Baessler et al., 2018). Eingriffe, die eine Anhebung des Blasenhalses bewirken, könnten beispielsweise Blasenentleerungsstörungen oder Drangsymptomatiken verstärken oder entstehen lassen(Gunnemann et al., 2017).

Im Falle der Harninkontinenz gilt bisher nur die Belastungsinkontinenz als operativ heilbar. Eine Drang- oder Mischinkontinenz wird eher konservativ behandelt, z.B. per Verhaltenstherapie, einem Training der Beckenbodenmuskulatur und/oder medikamentös(Goeschen & Petros, 2009).

Bei der medikamentösen Therapie einer Dranginkontinenz wird primär die Wiederherstellung der Speicher- und Entleerungsfunktion der Blase angestrebt(Perabo, 2009b). Insgesamt soll die medikamentöse Therapie jedoch nur eingeschränkt wirksam sein und aufgrund von Nebenwirkungen häufiger schlecht toleriert werden(Goeschen & Petros, 2009). Aufgrund hoher Abbruchraten in Studien und in der Praxis lassen sich trotz möglicher nachgewiesener Wirkungen daher nur eingeschränkte allgemeine Empfehlungen für die medikamentöse Behandlung diverser Inkontinenzformen aussprechen(Nambiar et al., 2018).

Grundsätzlich ist bei Beginn der Therapie von Beckenbodendysfunktionen oder Inkontinenzen eine Beratung zur Lebensführung durch Fachärzte oder spezialisierte Beratungsstellen angeraten(Schön, 2017). Zusätzlich zur psychosozialen Betreuung kann in einem ersten Beratungsgespräch auf Fragen der Patienten zu ihrer Erkrankung eingegangen werden. Dabei kann über mögliche Risikofaktoren oder Situationen aufgeklärt werden, die sich negativ auf die Beschaffenheit des Beckenbodens auswirken oder Symptome auftreten lassen bzw. verstärken können. So könnten das Ernährungs- und Trinkverhalten angesprochen werden, welche Symptome des Beckenbodens direkt und indirekt beeinflussen können(Niederstadt et al., 2007). Über Komorbiditäten, die Beckenbodendysfunktionen möglicherweise verstärken können, sollte aufgeklärt werden. Ihre Therapien sollten daraufhin eingeleitet oder bei bereits bestehender Therapie unter Umständen angepasst werden. Besonders bei älteren Patienten können diverse Komorbiditäten mit unterschiedlichen medikamentösen Therapieansätzen bestehen, die Beckenbodendysfunktionen direkt oder indirekt beeinflussen können(Nambiar et al., 2018).

Bei den Ernährungsgewohnheiten ist bei entsprechender medizinischer Indikation auf eine Reduktion des Körpergewichts als sinnvolle Maßnahme hinzuweisen. Dies ist im Allgemeinen durch eine Kombination aus bewegungsförderlichen Maßnahmen und einer kalorienreduzierten Ernährungsweise zu bewerkstelligen. Im Zusammenhang mit der Ernährung muss auf den Risikofaktor Verstopfung hingewiesen werden. Verstopfungen können durch den Konsum bestimmter Lebensmittel begünstigt oder auch gelindert werden. Auch körperliche Aktivität kann das Auftreten von Verstopfungen reduzieren(Hayder, 2009).

Patienten sollten auf Trinkgewohnheiten angesprochen werden, da viele Inkontinenzbetroffene ihre Flüssigkeitsaufnahme stark einschränken, um Symptome zu reduzieren(Nambiar et al., 2018). Dies kann in erster Linie zu einer erhöhten Infektanfälligkeit des unteren Harntraktes oder einer globaleren Dehydratation führen und ferner Verstopfungen begünstigen(Hayder, 2009). Weiterhin besitzen einige Getränke eine harntreibende Wirkung. So können Kaffee und andere koffeinhaltige Getränke eine Drangsymptomatik beispielsweise verstärken(Nambiar et al., 2018). Eine Aufklärung zur Intimhygiene sollte im Beratungsgespräch ebenfalls zur Sprache kommen, um Irritationen, Schäden oder Entzündungen der Haut im Intimbereich zu reduzieren(Hayder, 2009).

Eine Verhaltenstherapie zielt auf nachhaltige Veränderungen der Lebensführung, durch die die Patienten lernen, besser mit ihrer Erkrankung oder Symptomatik umzugehen. Die Führung eines Miktionskalenders, auch Trink- und Blasentagebuch genannt, wird als einfache und wirksamer Therapieansatz empfohlen. Patienten können dadurch unter anderem die Wechselwirkung von aufgenommener Flüssigkeit und den Zeitpunkt des Ausscheidens dieser besser nachvollziehen. Auch hier kann auf die harntreibende Wirkung bestimmter Getränke hingewiesen werden. Das Blasentagebuch kann somit nicht nur zu einer Sensibilisierung und Aufklärung bei Patienten führen, sondern ebenfalls therapeutisch und diagnostisch genutzt werden(Niederstadt et al., 2007).

Mit einer einfachen Dokumentation kann die Aufmerksamkeit auf bestimmte Verhaltensmuster gelegt werden. Außerdem ermöglichen diese Daten dann einen Übergang zu intensiveren Therapieformen, wie einem Miktions-, Toiletten- oder Blasentraining. Auch wenn Verhaltenstherapien zu den einfachen Behandlungsmethoden gehören, sind sie häufig mit einem hohen organisatorischen, personellen und zeitlichen Aufwand verbunden(Perabo, 2009c). Es gibt jedoch auch methodische Herangehensweisen, die mit sehr geringem Aufwand positive Ergebnisse vorweisen und Symptome der Beckenbodendysfunktionen reduzieren können(Subak et al., 2002).

Es sollen nachfolgend nur jene konservativen Therapieformen näher dargestellt werden, die bei einer schwachen Beckenbodenmuskulatur indiziert sind – ungeachtet der genauen zugrunde liegenden Erkrankungen oder Symptomatiken. Zu diesen Therapieformen zählt primär ein Training der Beckenbodenmuskulatur, bei dem es wiederum unterschiedliche Ansätze und Formen der Vermittlung gibt.

Hagen und Stark(2011)unterteilen diese grundsätzlich in:

- Training der Beckenbodenmuskulatur (Pelvic Floor Muscle Training),
- Training der Beckenbodenmuskulatur mit Biofeedback,
- Erlernen einer willkürlichen muskulären Anspannung des Beckenbodens zur Kontinenzerhaltung vor Belastungssituationen (genannt: „The Knack“4 ) und
- Elektrische Stimulation.

„The Knack“ ist eine vonMiller, Ashton-Miller und DeLancey(1998)bezeichnete, willkürliche Anspannung der Beckenbodenmuskulatur, die etwa eine Sekunde vor dem Anstieg einer intraabdominellen Belastung erfolgen soll. Durch dieses Manöver soll eine Kontinenz bei einem plötzlich einsetzenden Belastungsanstieg, wie bei einem Hustenstoß, erhalten bleiben oder die Menge des unfreiwillig verlorenen Harns reduziert werden.Miller et al.(1998)konnten zeigen, dass nach einer verbalen Anleitung des „Knacks“ bereits in der ersten Woche eine signifikante Reduktion des unfreiwillig verlorenen Harns bei einem standardisierten Husten-Test in aufrecht stehender Position nachweisbar ist. Da man diese Form der muskulären Anspannung erlernen kann, ist sie von der unwillkürlichen Prä-Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur zu unterscheiden (siehe Kapitel2.3, S.12), wobei es natürlich bisher unbekannte Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Mechanismen geben könnte.Miller, Sampselle, Ashton-Miller, Hong und DeLancey(2008)vermerken jedoch, dass rund 20 % der Studienteilnehmerinnen als „non-responder“ gelten und die Menge an unfreiwillig verlorenem Urin nach verbaler Vermittlung des „Knacks“ nicht reduzieren können. Auch wenn das Manöver ursprünglich als Therapieansatz für mildere Formen der Belastungsinkontinenz eingesetzt wurde(Miller et al., 1998), soll das Erlernen des „Knacks“ abseits der Inkontinenz auch bei Senkungsbeschwerden zu positiven Ergebnissen führen(Hagen & Stark, 2011).

Das Erlernen des „Knacks“ setzt sich zusammen aus der Vermittlung einer allgemeinen willentlichen Kontraktionsfähigkeit der Beckenbodenmuskulatur und einer Verhaltensschulung, da das Manöver für die positiven Effekte entsprechend vor belastenden Aktivitäten willentlich ausgeführt werden muss. Es existiert also auch eine Komponente der Sensibilisierung für jene Alltagssituationen. Allgemein ist die Vermittlung des „Knacks“ demnach eher als Verhaltenstherapie zu sehen, deren Wirkung getrennt von der Wirkung eines Trainings der Beckenbodenmuskulatur zu sehen ist(Miller et al., 2008). Andere Autoren bezeichnen diese Therapieform als „Koordinations-Training“ der Beckenbodenmuskulatur(Dumoulin, Glazener & Jenkinson, 2011).

Eine genaue Trennung der beiden Wirkmechanismen ist schwierig, da das Erlernen des „Knacks“ häufig unfreiwillig Bestandteil oder gar „Standard“ bei Trainings der Beckenbodenmuskulatur bei Harninkontinenz ist(Hagen & Stark, 2011, nach Dumoulin & Hay-Smith, 2010). Aufgrund der schnell eintretenden positiven Effekte bei einer Belastungsinkontinenz gehenMiller et al.(2008)davon aus, dass das Manöver für die frühe Wirkung vieler anderer Trainingsformen der Beckenbodenmuskulatur zumindest teilweise verantwortlich ist. Der Erfolg ist somit eine positive Nebenwirkung anderer Trainingsformen, auch wenn der „Knacks“ nicht explizit geschult wurde (ebd.).

Weiterhin könnte das regelmäßige Einsetzen des Manövers im Alltag für einen eigenen Trainingsreiz sorgen. Über die akute Wirkung hinausgehend könnte folglich jede Situation, in der ein „Knack“ erfolgreich eingesetzt wurde, aufgrund des durch die Muskulatur aufgebauten Widerstands, als eine Art Wiederholung eines Krafttrainings zu verstehen sein. Eine Progression der Trainingsintensität könnte unbewusst erreicht werden, da sich die Betroffenen mit dem erlernten Manöver zunehmend sicherer fühlen, wenn sie sich im Alltag fortlaufend intensiveren Belastungssituationen aussetzen. In der vorliegenden Arbeit wird aufgrund der anspruchsvollen definitorischen Abgrenzung und den möglichen Wechselwirkungen bei den Methoden nicht explizit zwischen einem Training der Beckenbodenmuskulatur und der Vermittlung des „Knacks“ unterschieden. Die nachfolgenden Unterkapitel lehnen sich daher an die weiter oben beschriebene Gliederung vonHagen und Stark(2011)an, fassen jedoch simplifiziert die Vermittlung des „Knacks“ und die Durchführung eines Trainings der Beckenbodenmuskulatur zusammen.

2.5.2 Training der Beckenbodenmuskulatur

Systematische Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur werden in der englischsprachigen Literatur allgemeinhin häufig als „ Kegel exercises “ oder „ Kegels “ bezeichnet. Benannt sind sie nach dem amerikanischen Gynäkologen Arnold Kegel, der im Jahre 1948 darstellen konnte, dass diese systematischen Kontraktionen zu einer Symptomlinderung bei einer Belastungsinkontinenz führen(Hanzal et al., 2015, nach Kegel, 1948).

Bø et al. (2017) empfehlen, diese als einzelne „Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur“ („ pelvic floor muscle contractions “ oder „- exercises “) zu bezeichnen, da dies wissenschaftlich akkurater sei und eine weitere definitorische Unterteilung erlaube. Sobald diese Kontraktionen systematisch eingesetzt werden, soll diese Systematik als „Training der Beckenbodenmuskulatur“ („ pelvic floor muscle training “) bezeichnet werden. Diese werden dann weiter als spezielle Übungen zur Steigerung von Kraft, Ausdauer, Leistung, Entspannung oder einer beliebigen Kombination dieser Parameter definiert. Im Kontext des Beckenbodens soll sich die Geschwindigkeit (speed) der Muskelkontraktion durch ein Training kaum beeinflussen lassen, sodass effektiv nur eine Steigerung der Kraft (strength) zu einer erhöhten Leistung führt(Bø et al., 2017).

Im weiteren Kapitelverlauf wird auf die Komponente Leistung (power) nicht weiter eingegangen und Trainingseffekte des Trainings über Kraft und Ausdauer dargestellt.

Dumoulin et al.(2011)empfehlen folgende Darstellung der einzelnen Komponenten eines Trainings der Beckenbodenmuskulatur:

- Kraft: die maximale erzeugte Kraft in einer einzelnen Anspannung,
- Ausdauer:

- Sowohl die Fähigkeit, mehrere Anspannungen hintereinander durchzuführen,
- als auch eine einzelne Anspannung über einen längeren Zeitraum anzuhalten und

- Koordination: muskuläre Aktivität vor und während einer Belastungssituation.

Diese Komponenten beziehen sich dabei auf die willentliche Anspannung der quergestreiften Beckenbodenmuskulatur. In dieser Darstellung findet sich die Komponente Entspannung (relaxation) nicht wieder. Im Gesamtkonzept eines Trainings der Beckenbodenmuskulatur sollte jedoch auch die Fähigkeit zur willentlichen Entspannung geschult werden, da Verspannungen oder Verkrampfungen der Beckenbodenmuskulatur zu Störungen der Miktion oder dem Auftreten anderer Symptome führen können(Naumann, 2009). Für erfolgreiche An- und Entspannungen der Muskulatur ist jedoch ein gewisser Grad an Wahrnehmung des eigenen Beckenboden notwendig(Hanzal et al., 2015).

Diese Wahrnehmung kann unterschiedlich geschult werden. Neben einfachen verbalen Instruktionen zur Visualisierung der An- und Entspannungen bieten sich auch gezielte Atemübungen an. Der Atem wird im Training der Beckenbodenmuskulatur besonders im Anfängerbereich häufig falsch eingesetzt, sodass hier gezielte Hinweise auf die Atmung sinnvoll sind. So können mögliche Komplikationen vermieden werden, wie beispielsweise sich einstellende Kopfschmerzen, wenn die Luft willentlich angehalten wird (Pressatmung)(Bø & Mørkved, 2008).

2.5.2.1 Studienlage

Für die weibliche Harninkontinenz wird einem betreutem Training der Beckenbodenmuskulatur als erster Therapieansatz der höchste Empfehlungsgrad ausgesprochen(Cacciari, Dumoulin & Hay-Smith, 2019; Dumoulin et al., 2017; Nambiar et al., 2018). Der Empfehlungsgrad gilt für Frauen aller Altersgruppen in allen Lebenslagen(Dumoulin et al., 2017). Ein Training der Beckenbodenmuskulatur gilt allgemein als praktisch frei von Nebenwirkungen oder unerwünschten Vorkommnissen(Bø, 2012)und ist als erste alleinige Therapie der Harninkontinenz, wie auch als Teil eines multimodalen Therapieansatzes, wirksam(Dumoulin et al., 2017). In der Therapie von Belastungsinkontinenz, Dranginkontinenz und Mischinkontinenz schneidet ein Training in allen untersuchten Studien besser ab als kein Training, ein Placebomedikament oder inaktive Kontrolltherapien (Scheinbehandlungen)(Dumoulin & Hay-Smith, 2010). Für eine Belastungsinkontinenz ist ein Training allgemein effektiver als für andere Formen der Harninkontinenz(Cacciari et al., 2019). Bei Stuhlinkontinenz kann für ein Training der Beckenbodenmuskulatur als alleinige Therapie angesichts der aktuellen Studienlage bisher keine Empfehlung ausgesprochen werden(Scott, 2014). In Kombination mit anderen konservativen Therapieformen scheint ein Training jedoch legitim zu sein(Bliss et al., 2017). Abseits der Inkontinenz wird auch bei einem Beckenorganprolaps oder bei Senkungsbeschwerden der höchste Empfehlungsgrad für ein muskuläres Training ausgesprochen(Dumoulin et al., 2017; Hagen & Stark, 2011).

Die einzelnen Komponenten Kraft, Ausdauer, Koordination und Entspannung werden innerhalb eines Trainings der Beckenbodenmuskulatur in der Praxis unterschiedlich stark bedient(Dumoulin et al., 2011). Die Trainingskonzepte scheinen primär auf einzelnen Erfahrungswerten der Therapeuten zu beruhen. Andere Therapeuten empfehlen aus diesem Grund ausschließlich individualisierte Trainingsprotokolle, besonders wenn standardisierte Verfahren wenig Erfolg versprechend sind(Hanzal et al., 2015). Ein Vergleich oder eine Wertung einzelner Trainingskonzepte gestaltet sich aufgrund der Heterogenität und eines Mangels an Konsens schwierig. Es herrscht im Bereich der Therapieauswahl und -anwendung keine Einigkeit, weder für die Trainingshäufigkeit pro Woche noch für die Parameter innerhalb einer Trainingseinheit(Beyar & Groutz, 2017).

Neben den Trainingsparametern können zusätzliche Faktoren die Wirksamkeit eines Trainings der Beckenbodenmuskulatur beeinflussen. Dazu zählen die didaktische Herangehensweise, der Grad an therapeutischer Betreuung und die Compliance der Teilnehmerinnen und Teilnehmer(Dumoulin et al., 2017).

Die langfristige Wirksamkeit eines Trainings der Beckenbodenmuskulatur auf Beckenbodendysfunktionen ist umstritten. So könnenAgur, Steggles, Waterfield und Freeman(2008)acht Jahre nach einer therapeutischen Intervention keinen signifikanten Unterschied der Belastungsinkontinenzepisoden zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe feststellen, obwohl 68,4 % der Teilnehmerinnen der Interventionsgruppe berichten, das Training der Beckenbodenmuskulatur weiter wöchentlich durchzuführen. VonBø et al.(2005)werden diese Ergebnisse bei einem untersuchten Zeitraum von 15 Jahren bestätigt, auch wenn die Adhärenz nach dieser Zeitspanne bei lediglich 28 % lag.Beyar und Groutz(2017)liefern in einer subjektiven Befragung ähnliche Ergebnisse der Studienteilnehmerinnen. Dabei werden nach fünf Jahren erneuerte Ergebnisse verglichen, denen ebenfalls eine erfolgreich erscheinende Intervention vorausging. Diese Ergebnisse decken sich mit der These vonGoeschen und Petros(2009), wonach ein muskuläres Training der Beckenbodenmuskulatur keine ausreichend starken Effekte auf die geschädigten Bänder- und Bindegewebssysteme des Beckenbodens bewirke und folglich in diesen Fällen keine langfristigen Erfolge erzielten. Es wird die Vermutung postuliert, dass die größten und schnell eintretenden Effekte eines Trainings hauptsächlich über die Trainingskomponente Koordination erreicht werden, also beispielsweise durch das intuitive Erlernen des „Knacks“(Beyar & Groutz, 2017; Miller et al., 2008, siehe Kapitel2.5, S.24).

2.5.2.2 Funktionelles Training der Beckenbodenmuskulatur

Ein Training der Beckenbodenmuskulatur könnte auch in bestehende Trainingskonzepte oder Freizeitaktivitäten als zusätzlicher Bestandteil integriert werden. Auf diese Weise soll ein besserer Transfer zu Belastungen des Alltags geschaffen werden. Dieser Ansatz findet sich in der Literatur häufig als „funktionelles Training der Beckenbodenmuskulatur“ wieder(Bø, 2008b). Für eine erfolgreiche Integration sollte allerdings eine korrekte Anspannung der Beckenbodenmuskulatur beherrscht werden. Aufgrund dieser Anforderung und dem damit verbundenen erhöhten Schwierigkeitsgrad gilt diese Therapieform als Herangehensweise für Fortgeschrittene. Exemplarisch dafür ist beispielsweise ein Spaziergang mit bewussten zusätzlich gehaltenen Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur zur Steigerung ihrer Ausdauer. Gezielte Pausen sollen eingelegt werden, bevor es zu einem unfreiwilligen Harnverlust kommt. Eine Progression des Trainings könnte erreicht werden, wenn die Belastungsintervalle bei erfolgreicher Kontinenzerhaltung zunehmend verlängert werden(Hanzal et al., 2015).

Weiterhin könnte auch ein Fokus auf die Beckenbodenmuskulatur während der dynamischen Belastungen eines Kraft- oder Fitnesstrainings gelegt werden. Auch dies stellt eine eher fortgeschrittene Praxis dar. Die Intensität der Übungen sollte nur langsam gesteigert werden, da zu hohe Belastungsspitzen Inkontinenzepisoden bedingen können. Besonders Sprung- und Landebelastungen sollten daher vermieden werden(Yang et al., 2019). Wird in solchen dynamischen Krafttrainings die Übung Kniebeuge (squat) durchgeführt und mit Kontraktionen des Beckenbodens kombiniert, könnten weitere Vorteile entstehen. Die Kniebeuge hat einen besonderen Bezug zum Beckenboden, da sie in ihrem tiefsten Punkt der natürlichen Position der Defäkation und Miktion ähnelt. Sinkt bei aufgestellten Füßen das Hüftgelenk unter die Höhe des Knies, kann sich die Beckenbodenmuskulatur effektiver entspannen. Der anorektale Winkel wird vergrößert und die Defäkation durch den optimalen Nutzen eines geringen von einer Bauchpresse erzeugten Druck erleichtert(Bhattacharya, Chattu & Singh, 2019; Sakakibara et al., 2010; Sikirov, 2003). Gleichzeitig konntePetros(2011)zeigen, dass die Kontraktionsfähigkeit der Beckenbodenmuskulatur in der tiefen Kniebeuge verbessert ist und empfiehlt daher die Aufnahme dieser Position in ein Trainingskonzept der Beckenbodenmuskulatur.

Je nach Schweregrad der Beckenbodendysfunktion könnten sich dynamische Bewegungsformen mit Kräftigungselementen niedriger Intensität anbieten, wie beispielsweise eine Yoga- oder Pilatespraktik. Diese Praktiken enthalten meist auch entspannungs- und wahrnehmungsfördernde Elemente, die neben einer Kräftigung auch andere symptomlindernde Wirkweisen auf den Beckenboden haben können(Sha, Palmer & Yeo, 2019).

Bei allen Mischformen ist besonders auf das Zusammenspiel des Atemrhythmus und der Beckenbodenkontraktionen während einer dynamischen Ausführung der Übungen zu verweisen. In der konzentrischen Phase der Übungen wird häufig intuitiv die Luft angehalten, um den abdominellen Druck zu erhöhen (Pressatmung). Dies führt normalerweise zu einer verbesserten Kraftübertragung durch die erhöhte Stabilisierung der Wirbelsäule. Um den Beckenboden jedoch nicht zusätzlich zu belasten, empfiehlt es sich bei einem solchen funktionellen Training, die Beckenbodenmuskulatur erst mit der Ausatmung zunehmend anzuspannen(Sapsford, 2004; Tittel, 2009).

2.5.3 Feedback

Rein verbale Anweisungen als alleinige Herangehensweise zur Vermittlung einer korrekten Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur bergen ein Problem: Viele Frauen sind anfangs nicht in der Lage, allein mit einer verbalen Instruktion, ihre Beckenbodenmuskulatur willentlich anzuspannen. Bei gesunden Frauen soll nachBø(2012)die Quote derjenigen, die eine inkorrekte Kontraktion bei verbaler Anweisung ausführen, bei über einem Drittel liegen. Sind bereits Beckenbodendysfunktionen diagnostiziert, kann sich dieser Anteil sogar drastisch erhöhen(Ahlund, Nordgren, Wilander, Wiklund & Fridén, 2013).5 Dies deckt sich auch mit den Beobachtungen der sogenannten „Non-Responder“ durchMiller et al.(2008)bei der Vermittlung des „Knacks“ (siehe Kapitel2.5, S.24). Die genauen Ursachen dieses Umstandes sind nicht eindeutig und in der Literatur werden mehrere Erklärungen diskutiert. Exemplarisch werden Verletzungen und Narben und daraus resultierende neurologische Einschränkungen im Bereich des Beckenbodens als mögliche Störfaktoren einer korrekten Kontraktion genannt(Hanzal et al., 2015). Inkorrekt durchgeführte Kontraktionen könnten sogar gänzlich kontraproduktiv sein und Inkontinenzepisoden verursachen. Wird statt der Beckenbodenmuskulatur fälschlicherweise die Bauchmuskulatur angespannt, könnte der intraabdominelle Druck ansteigen und den nicht angespannten Beckenboden dadurch zusätzlich belasten(Bump, Hurt, Fantl & Wyman, 1991). Anstatt für eine Anhebung sorgt diese Bauchpresse (Valsalva-Manöver) für eine Absenkung der Levatorplatte. Die Bauchpresse wird unbewusst von bis zu 43 % der Frauen mit Beckenbodendysfunktionen eingesetzt(Thompson & O'Sullivan, 2003).

[...]


1 Als „erwachsen“ gelten in dieser Studie Personen ab einem Alter von 20 Jahren.

2 Im englischen Original vonDeLancey, Kane Low, Miller, Patel und Tumbarello (2008)werden die Faktoren der Phase II als „inciting factors“ bezeichnet. „Inciting“ könnte man mit „anstachelnd“, „aufhetzend“ oder „anregend“ übersetzen. Die Entscheidung ist hier jedoch auf den Begriff „begünstigend“ gefallen und bezieht sich auf schadensbegünstigende Faktoren.

3 Diese Form der Belastungsharninkontinenz wird als de novo stress urinary incontinence bezeichnet und tritt bei etwa 8 % der Patientinnen auf, die operativ für einen Vaginalprolaps behandelt wurden (Favero & Baessler, 2018)

4 Ins Deutsche übersetzt bedeutet „the knack“ „der Kniff“ oder „der Trick“.

5 66 % der Teilnehmerinnen waren nicht in der Lage, postpartum eine korrekte Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur durchzuführen (Ahlund, Nordgren, Wilander, Wiklund & Fridén, 2013).

Ende der Leseprobe aus 141 Seiten

Details

Titel
Gerätegestütztes Training der Beckenbodenmuskulatur
Untertitel
Eine Pilotstudie
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Note
1.0
Autor
Jahr
2019
Seiten
141
Katalognummer
V514810
ISBN (eBook)
9783346132710
ISBN (Buch)
9783346132727
Sprache
Deutsch
Schlagworte
EMS, EMS-Training, Biofeedback, Beckenboden, Inkontinenz
Arbeit zitieren
Patrick Marszalek (Autor:in), 2019, Gerätegestütztes Training der Beckenbodenmuskulatur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/514810

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