Mythologische Verfremdung in Jean-Paul Sartres "Die Geschlossene Gesellschaft"

Sartres Darstellung der Hölle als mythologische Verfremdung seines existentialistischen Atheismus


Seminararbeit, 2016

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Sartres Konzept eines atheistischen Existentialismus
2.1. Sartres Atheismus-Begriff
2.2. Sartres philosophische Hauptthesen

3. Die mythologische Verfremdung als Mittel moderner Literatur
3.1.Der Mythos in der modernen Literatur
3.2.Der Mythos bei Sartre als Verfremdung

4. Die literarische Verarbeitung der philosophischen Theorie anhand der mythologischen Verfremdung in „huis clos“
4.1. Objektwelt/Subjektwelt
4.1.1. Der Raum
4.1.2. Der Tod
4.2. Der Mensch ist nichts, als die Summe seiner Handlungen
4.3. Der Mensch ist verantwortlich und verlassen
4.4. Der Existentialismus ist ein Sozialismus
4.5. Es gibt keine festgeschriebene Moral
4.6. Der Existentialismus ist ein Optimismus und die Rolle der Freiheit
4.7. Die Existenz geht der Essenz voraus. Sartres Hölle als mythologische Verfremdung

5. Konklusion

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Als einer der radikalsten und einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts fasziniert das Phänomen Jean-Paul Sartre bis heute. Der Einfluss seiner Philosophie, einer atheistisch angelegten Form des Existentialismus, prägt die Nachkriegszeit, während er durch seinen Lebenswandel, seine persönliche Präsenz und seine literarischen Erfolge als Inbegriff des französischen Intellektuellen gilt. Sartre ist sowohl als Literat als auch als Philosoph in Erinnerung geblieben.

Als Philosoph steht Sartre in der Tradition von Kirkegaard, Husserl und besonders Heidegger. Als Existentialist greift seine Philosophie die Fragen nach dem guten Leben auf, die seit der griechischen Philosophie Grundlage der praktischen Philosophie ist, und lässt sich damit nicht mit den gleichen Maßstäben messen, die man auf die wissenschaftliche Philosophie anwendet.1

Nach dem Motto „Man kann das Leben nicht leben, ohne die Grenzen des Rationalen zu überschreiten “2, versteht sich der Existentialismus als Antwort auf den ihr vorangegangenen Positivismus, der jegliche Erkenntnisse auf das (objektiv) Messbare beschränkt.3 Denn der Existentialismus rückt das Individuum ins Zentrum und damit dessen Emotionen und subjektives Empfinden. Sartres Philosophie baut zudem auf einem positiven Atheismus-Begriff auf, der die Existenz Gottes nicht nur verneint, sondern sich aktiv gegen die Religion und ihre Strukturen wendet.4 Aus dieser atheistischen Grundhaltung folgt ein besonderes Interesse für religiöse Inhalte, Darstellungsweisen und Strukturen, die Sartre zu einem ausgesprochenen Kenner der christlichen Religion machen, gegen die er sich hauptsächlich wendet.5 Sein philosophisches Hauptwerk „l´être et la néant“ gilt als schwierig und umfasst mehr als 1000 Seiten, was Sartre 1945 dazu veranlasst einen Vortrag zu halten, aus dem sein bis heute meistgelesener philosophischer Text „l´existentialism est un humanism“ hervorgeht, eine Zusammenfassung, Erläuterung und Ergänzung seines philosophischen Hauptwerks.6 Neben dem Hauptwerk und einschlägiger Sekundärliteratur wird dieser Text im Rahmen dieser Arbeit vor allem strukturell eine Grundlage darstellen, auf der Sartres wichtigste Thesen erläutert werden.

Der Grund für diesen praxisorientierten Ansatz ist unter anderem auch in Sartres Biographie zu finden. Da Sartre davon ausgeht, dass das Schicksal des Einzelnen stellvertretend für seine Epoche steht, spricht er Biografien historische Relevanz zu.7 Daher scheint es auch nicht verwunderlich, dass Sartre bei näherer Betrachtung in vielen Punkten seine eigene Geschichte als Ausgangspunt für seine Philosophie wählt. Als sein Vater früh stirbt, wächst Sartre mit seiner Mutter bei den Großeltern auf. Der Großvater, ein gebildeter, autoritativer Mensch und Professor, stellt eine zentrale Figur für den jungen Sartre dar. Aufgrund der Präsenz in einem fremden Haus hat, fühlt Jean-Paul sich nur geduldet, was ihm die Mutter häufig auch deutlich macht. Daher ist der Junge überzeugt, dass dem Menschen das Recht seiner Existenz nicht inhärent ist, man muss es sich verdienen. Daher spielt er unter anderem Theater für den Großvater, um sich beliebt zu machen.8 Diesen Erfahrungen in der Kindheit entspringt sein Existentialismus.

Da Sartres Konzept ein lebensphilosophisches ist, stellt es den Anspruch, angewendet zu werden. Darum findet Sartre Mittel seine Philosophie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, allen voran die Literatur, durch die er seine Thesen exemplarisch zu verdeutlichen versucht. Mit seinem Konzept der literature engagé spricht Sartre der Literatur, im Gegensatz zur Dichtung, einen inhärenten Eigenwert im Sinne von l´art pour l´art ab. Stattdessen verlangt er, dass die Worte des Schriftstellers den Zugang zu den Dingen vermitteln. Sie sollen verschwinden, wie das Glas, um die Dinge sichtbar zu machen Die Dinge interessieren, nicht das, was und den Zugang vermittelt.9 Damit argumentiert er ganz im Sinne Heideggers. Sartres Leben ist daher geprägt durch einen Grundzug: „das Wirken-Wollen durch das geschriebene Wort“10.Das Stück „huis clos“ ist im Herbst 1943 als Situationsdrama in einem Akt geschrieben worden.11 Sartre konzipiert dabei eine geschlossene Situation, in der er die drei Figuren, Estelle, Ines und Garcin nach ihrem Tod in der Hölle für immer zusammen in einem Zimmer einsperrt. Das Geschehen des Dramas findet hauptsächlich in den Gesprächen der Figuren statt. Was überrascht ist die Qual der Hölle, die nicht in den erwarteten Folterinstrumenten besteht, sondern in der Anwesenheit der anderen, was an einem Punkt des Stücks zu Sartres berühmten

Ausspruch: „Die Hölle, das sind die anderen“12, führt.

In diesem Sinne beschäftigt sich die vorliegende Seminar-Arbeit damit, wie Sartre seine philosophischen Theorien ausgehend von seinem Atheismus in einem seiner bedeutendsten und gelungensten Werke „huis clos“ verarbeitet, indem er die Methode der mythologischen Verfremdung anwendet. Zu diesem Zweck wird zunächst Sartres atheistische Existentialismus in seinen Grundzügen erläutert. Anschließend wird erörtert, wie das Mittel der mythologischen Verfremdung in der modernen Literatur eingesetzt wird, um ein atheistisches Konzept, wie Sartres zu transportieren. Schließlich wird These für These gezeigt, wie Sartre anhand der mythologischen Verfremdung strukturell und inhaltlich seine Philosophie in Literatur verpackt.

2. Sartres Konzept eines atheistischen Existentialismus

2.1. Sartres Atheismus-Begriff

Am Anfang von Sartres Existentialismus steht ein Atheismus-Begriff, auf dem seine gesamte philosophische Theorie aufbaut.13 Er stellt also als Voraussetzung dieser Theorie dar und muss deshalb geklärt werden.

Innerhalb des Existentialismus gibt es bezüglich der Gottesfrage zwei Hauptströmungen. Einerseits geht die theistische Richtung davon aus, dass das herausragende Merkmal des Menschen seine „Offenheit“ (i.S.v. Heidegger) einer Gottheit gegenüber ist, die versteht und nicht gleichgültig ist, das heißt vereinfacht, ausgedrückt, dass der Mensch seiner körperlichen und geistigen Voraussetzungen fähig ist, sich die Existenz einer Gottheit vorzustellen. Die Freiheit ist ein reales Gut, aber geschaffen als Geschenk für den Menschen, das ihn zur Treue und Liebe seinem Schöpfer gegenüber auffordert.14 Die atheistische Strömung hingegen verneint den Schöpfer, indem sie die Freiheit als absolutes Gut betrachtet, als wesentliches Merkmal des Menschen. Die grundsätzliche Fähigkeit zur Vollkommenheit, die religiöse Menschen Gott zuschreiben, beansprucht sie für den Menschen und sieht in der Religion lediglich eine Art verdrehte Anthropologie.15

Als Atheist argumentiert Sartre im Sinne der zweiten Richtung, dass ein Handwerker, der einen Brieföffner anfertigt, bereits vor der Fertigung das Wesen des Gegenstandes festlegt.16 Die Annahme eines Schöpfergottes, der den Menschen geschaffen hat, bedeutet daher, dass dieser das Wesen des Menschen festgelegt hat. Wenn dem so ist, dann gibt es keine Freiheit. Die vollkommene Determination des Menschen lehnt Sartre ab, weil der Mensch dann stets dem Schicksal die Verantwortung für sein Handeln aufträgt, anstatt sie selbst zu übernehmen. Daher muss der Mensch also durch Zufall entstanden sein. Es gibt keinen Schöpfergott und damit keine Einschränkung der Freiheit für den Menschen. Für Sartre können Gott und die menschliche Freiheit nicht koexistieren. Wenn Gott existiert, dann ist der Mensch ihm als sein Eigentum völlig ausgeliefert. Daher zieht er den Schluss, dass Gott nicht existiert und der Mensch durch Zufall „ins Dasein geworfen wurde“17. Er argumentiert diesbezüglich, dass, selbst wenn eine Gottheit existiere, es für den lebenden Menschen keinen Unterschied machen würde, weil Gott offensichtlich nicht präsent ist und den Menschen allein lässt. Da man sich also nicht auf Gott verlassen kann, weil er, salopp gesagt, nicht antwortet, ist die bessere Option die Freiheit dem Menschen zuzusprechen und Gott zu verneinen. Im Grunde beweist diese Argumentation nicht unbedingt, dass Gott nicht existiert. Sie legt lediglich offen, dass die Konzeption von Religion sich sowohl einem Beweis, als auch einer Widerlegung entzieht, was, dem Existentialismus nach, den Menschen nötigt, selbst eine Entscheidung für oder gegen die Existenz Gottes zu fällen.

Sartre selbst führt die eigene Entfremdung von der Religion bereits in der Kindheit „auf die Gleichgültigkeit seiner Großeltern“18 zurück, welche die Praktizierung der Religion auf Anstandsbesuche in der Kirche an Ostern und Weihnachten beschränken. Auf die Entfremdung folgt eine endgültige Entscheidung im Alter von elf Jahren:

„Einige Jahre verkehrte ich dann noch offiziell mit dem Allmächtigen; auf den privaten Umgang hatte ich verzichtet. Ein einziges Mal hatte ich das Gefühl, es gäbe ihn. Ich hatte mit Streichhölzern gespielt und einen kleinen Teppich versengt; ich was im Begriff, meine Untat zu vertuschen, als plötzlich Gott mich sah. Ich fühlte seinen Blick im Innern meines Kopfes und auf meinen Händen; ich drehte mich im Badezimmer bald hierhin, bald dorthin, grauenhaft sichtbar, eine lebende Zielscheibe. Mich rettete meine Wut, ich wurde furchtbar böse wegen dieser dreisten Taktlosigkeit, ich fluchte, ich gebrauchte alle Flüche meines Großvaters. Gott sah mich seitdem nie wieder an.“19

Das Bild, das Sartre in dieser Szene übermittelt, zeigt einen repressiven Schöpfergott, vor dem der Mensch sich rechtfertigen muss. Dieses Bild von Gott ist ein Produkt westlicher Zivilisationsgeschichte, ein Kulturprodukt. Die Idee geht einerseits auf die sakralen Könige der Vormoderne zurück, die ihre gottgegebene Legitimation nutzten, um durch ihren omnipräsenten Blick die Menschen allumfassend zu kontrollieren. Vor dem archaischen Gott in Form des Königs muss man sich rechtfertigen. Bei Platon wandelt sich dieser archaische Königsgott zum Gott der Philosophen. „Der universelle Blick verschmilzt mit der Weisheit eines höheren Handwerkers, des Demiurgen, der die Welt durch ewige Ideen ordnet, die dem Einzelnen den Spielraum von Seinsmöglichkeiten vorschreiben.“20 Auf diese Hybridform aus Demiurgen und rechtfertigendem Blick bezieht sich Sartre in seinem Brieföffner-Argument. Der omnipräsente christliche Schöpfergott ist es, den Sartre konkret ablehnt und damit ist seine „Selbstwahl“ eingebettet in das Milieu der Aufklärung und er wählt die Religion nicht als theoretisches Gedankengebäude ab, sondern als konkrete geschichtliche Macht, die Jahrtausende-lang das Denken der Menschen dominiert hat.21

Das teleologische Weltbild, das die Religion propagiert, stellt für Sartre eine gigantische Mystifikation dar, die das Leid, das Menschen durch die Natur oder andere Menschen erleben, instrumentalisiert.22 Als aufgeklärter Mensch sieht er es daher als seien Aufgabe an, dem entgegenzutreten. Dabei richtet er sich vor allem gegen die säkulare Mystifizierung des Leids durch den modernen Fortschrittsglauben bzw. die Entmystifizierung der bürgerlichen und humanistischen Scheinwelten, die die Ideale der Aufklärung untergräbt, indem sie sie zu einer Ideologie verkommen lässt.

2.2. Sartres philosophische Hauptthesen

Da Sartre philosophisches Hauptwerkt „l´être et la néant“ auf über tausend Seiten ein sehr umfangreiches Kompositum von Aspekten des Existentialismus anspricht, ist es im Rahmen dieser Seminar-Arbeit leider nicht möglich, das ganze Werk Punkt für Punkt abzuarbeiten, um es anschließend auf „huis clos“ anzuwenden. Aus diesem Grund wird sich die Besprechung auf Sartres Hauptthesen beschränken. Bei der Auswahl jener Thesen wird „l´existentialism est un humanism“ herangezogen, das laut Sartre als Zusammenfassung und Erläuterung seiner wichtigsten Thesen für ein breites Publikum gedacht war und sich daher für die Zwecke dieser Arbeit hervorragend eignet.

Ausgehend davon, dass Gott nicht existiert, formuliert Sartre die Hauptthese seiner Theorie: Die Existenz geht dem Wesen voraus. Wenn der Mensch nicht von einem Schöpfergott geschaffen wurde, dann existiert er zuerst und definiert sich erst davon ausgehend, da es ohne Plan Gottes keine vorgeschriebene menschliche Natur gibt, die ihm vorgegeben wird. Wenn Gott also nicht existiert, dann gibt es mindestens ein Lebewesen dessen Existenz dem Wesen vorausgeht und das aufgrund dessen absolut frei ist, sich selbst zu entwerfen.

In Anlehnung an Descartes cogito ergo sum, folgt daraus: Ich denke, also existiere ich. Sartre unterscheidet die Existenz vom bloßen Sein und damit die Objekt- von der Subjektwelt. Unter der Objektwelt ist die Welt der Dinge zu verstehen. Das Sein der Objekte bezeichnet Sartre dabei als An-sich-sein. Die Objektwelt ist ebenso wenig geschaffen, wie der Mensch, da es ja keinen Schöpfer gibt. Daher ist sie zufällig, ohne inhärenten Sinn und dadurch absurd. Die Subjektwelt hingegen stellt das menschliche Bewusstsein dar, das über die Existenz hinausgeht, es existiert als Nicht-Sein bzw. Für-sich-sein. Sartre vertritt damit eine Art dualistische Position im Sinne des Leib-Seele-Problems. Der Mensch vereint in sich kontingent das Sein durch seine körperliche Präsenz und das Nicht-Sein, das ihm als Bewusstsein die Möglichkeit gibt sich weiterzuentwickeln. Diese Seins-Zustände stehen in einem Spannungsverhältnis.

Wenn die Existenz der Essenz vorausgeht, dann entsteht der Mensch erst und definiert sich dann durch sein Bewusstsein selbst, da es keine ihm inhärente Natur gibt, die dies überflüssig machen würde. Zwischen dem An-sich-sein und dem Für-sich-sein liegt dabei der Moment des Erkennens, den Sartre dort festlegt, wo als Kind unsere Erinnerung einsetzt. Wenn wir uns erkennen, dann erkennen wir einen Entwurf von uns, der beeinflusst von Umweltfaktoren, wie unserer Epoche und unserem Milieu ist, wobei Sartre nicht darauf eingeht, wie wir ohne Bewusstsein zu diesem Erstentwurf gelangen können. Ab dem Zeitpunkt des Erkennens entwerfen wir uns mit der Hilfe des Bewusstseins neu, bis wir mit unserem Tod wieder Teil der Objektwelt werden. Dabei ist unser Entwurf jederzeit durch Entscheidungen, die jeder Mensch trifft und treffen muss, abänderbar. Indem wir uns entwerfen, treten wir über das Sein und damit die Objektwelt hinaus, und begeben uns ins Werden, was uns durch das Bewusstsein möglich ist. Da wir an jedem Punkt immer nur ein Entwurf sind, entwerfen wir uns ständig neu und sollen dies auch tun, um uns weiterzuentwickeln. Deshalb kann man als lebender Mensch eigentlich zu keinem Zeitpunkt sagen „man ist“, da sich der Entwurf erst mit dem Tod verfestigt. Daraus folgt, dass der Mensch nichts ist, als die Summe seiner Handlungen. Potential, das in ihm vorhanden ist, dass er aber nicht mit Hilfe des Bewusstseins ausschöpft und in Handlungen umsetzt, ist nichtig. Wenn jemand also mit dem Gedanken spielt ein Buch zu schreiben, dies aber nie in die Tat umsetzt, dann kann er sich nicht über diese Fähigkeit definieren, da verborgene Talente und Ressourcen nicht als Teil seines Entwurfs wahrgenommen werden können. Denn unseren Handlungen und unseren Entwürfen unserer selbst, gehen Entscheidungen dafür voraus und dieser Mensch hat sich nicht dafür entschieden ein Buch zu schreiben, weshalb es nicht Teil seiner Person werden kann.

Da der Mensch erst entsteht und sich dann selbst definiert, ist er absolut frei. Diese Freiheit beinhaltet sowohl die Art der Selbstentwürfe, als auch deren Dauer, da wir befähigt sind uns jederzeit neu zu entwerfen. Es bedeutet aber auch, dass das Leben a priori keinen Sinn hat und daher jeder Mensch für sich entscheidet, welchen Sinn sie/er ihrem/seinem Leben geben will. Für welches Leben wir uns entscheiden steht uns frei, aber entscheiden müssen wir uns. Sartres Freiheitsbegriff ist ein absoluter, unter einer Einschränkung: dass jede/r von dieser Freiheit Gebrauch machen muss, wenn sie/er leben will. Der Mensch ist gewissermaßen also zur Freiheit verdammt.

Denn der Mensch ist verlassen bei seinem Selbstentwurf. Niemand schreibt ihr/ihm vor, was für ein Leben sie/er zu führen hat, welche Entscheidungen und Handlungen sie/er zu treffen und auszuführen hat, denn eine menschliche Natur gibt es nicht. Das heißt jedoch auch, dass niemand einem anderen Menschen eine Entscheidung abnehmen kann, und dass niemand ihr/ihm einen Rat geben kann, welche Entscheidung sie/er treffen soll. Mit unseren Entscheidungen sind wir völlig allein gelassen. Wir müssen sie treffen und wir müssen sie alleine treffen.

Aus der Freiheit und der Verlassenheit folgt schließlich auch die absolute Verantwortung für alle Konsequenzen, die aus unseren Entscheidungen und Handlungen folgen. Diese Verantwortung stellt die Kehrseite der Freiheit dar. Sie macht dem Menschen Angst und daher will er ihr entkommen, indem er sich religiösen Dogmen und Gottheiten unterwirft, um sich von Institutionen sagen zu lassen, was er tun soll, um sich von der Verantwortung zu befreien. Der Mensch tendiert dazu, seine Freiheit der Sicherheit zu opfern – aus Bequemlichkeit, – aus Unaufrichtigkeit. Denn wenn wir Götter anbeten, die uns nicht antworten, dann täuschen wir uns selbst, indem wir eine Wahrheit vor sich verbergen, die wir eigentlich kennen.23 Innerhalb einer Religion sagt nicht Gott den Menschen, was sie zu tun haben, sondern seine Vertreter auf Erden, denen sich die Gläubigen eigentlich unterwerfen. Dieser Gedanke liegt Sartres Bezeichnung der Religion als geschichtliche Macht zugrunde. Sartre lehnt die Unaufrichtigkeit ab, da sie in seinen Augen eine Selbst-Objektivierung darstellt und den Werten der Aufklärung, im Sinne von Kants: Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, widerspricht. Die Unaufrichtigkeit ist dabei völlig unnötig, weil der Mensch als denkendes Wesen in der Lage ist, selbst zu entscheiden, was er tun soll, indem er abwägt. Diese Fähigkeit hat jeder denkende Mensch und sobald er das kann, ist er auch verantwortlich für alles, was er tut und kann diese Verantwortung auch übernehmen.

[...]


1 Vgl. Thomas R. Flynn: Existentialismus. Eine Einführung. Wien [u.a.]: Turia + Kant 2013. S.17.

2 Ebd. S.17.

3 Vgl. Ebd. S.18.

4 Vgl. Amaso Ilagen: Jean-Paul Sartre And His Atheism. Dissertation. University of Notre Dame. Indiana. 1967. S.18.

5 Vgl. Hans Schelkshorn: Gott und das Absurde. Hans Schelkshorn. Gott und das Absurde. Zur Gottesfrage bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus. In.: Wolfgang Treitler (Hg.): Die Gottesfrage in der europäischen Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts. Wien; Köln; Weimar: Böhlau 2007. S.162.

6 Vgl. Ebd. S. 30.

7 Vgl. Hans Schelkshorn: Gott und das Absurde. S. 158.

8 Vgl. Ebd. 158f.

9 Walter Biemel: Sartre. Hrsg. v. Kurt Kusenberg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1964. S. 24f.

10 Vgl. Ebd. S.7.

11 Vgl. Walter Biemel: Sartre. S.52.

12 Jean-Paul Sartre: Geschlossene Gesellschaft. – Dt. übers. Von Traugott König. Hrsg. von Vincent von Wroblewksy. In: Gesammelte Werke und Schriften. Theaterstücke Bd. 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverl. 1986, S.59.

13 Vgl. Hans Schelkshorn: Gott und das Absurde. S. 155.

14 Vgl. Thomas Flynn. Existentialismus. Eine Einführung. S. 84f.

15 Vgl. Ebd. S. 85f.

16 Vgl. Jean-Paul Sartre: Der Der Existentialismus ist ein Humanismus. Materialismus und Revolution. Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis und andere philosophische Essays. 1943-1948. Übers. Von Werner Bökencamp et al. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverl. 1994. S. 117-156.

17 Ebd. S. 121.

18 Hans Schelkshorn. Gott und das Absurde. S. 159.

19 Jean-Paul Sartre: Les mots. – Dt.: Die Wörter. Übers. Von Hans Mayer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verl. 1983. S.58.

20 Hans Schelkshorn. Gott und das Absurde. S.159.

21 Vgl. Ebd.S.158.

22 Vgl. Ebd. S. 162.

23 Vgl. Jean-Paul Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus. S. 117-156.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Mythologische Verfremdung in Jean-Paul Sartres "Die Geschlossene Gesellschaft"
Untertitel
Sartres Darstellung der Hölle als mythologische Verfremdung seines existentialistischen Atheismus
Hochschule
Universität Salzburg  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Seminar Atheismus in Literatur und Philosophie
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
27
Katalognummer
V514896
ISBN (eBook)
9783346106681
ISBN (Buch)
9783346106698
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jean Paul Sartre, huis clos, Hölle, mythologische Verfemdung, Existentialismus, Mythos
Arbeit zitieren
Marina Molnar (Autor:in), 2016, Mythologische Verfremdung in Jean-Paul Sartres "Die Geschlossene Gesellschaft", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/514896

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