Leseprobe
(AS) Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Analytik)
7) Wie argumentiert Kant gegen den moralischen Hedonismus (Glückseligkeitsethik)?
In seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ nennt Kant sechs wesentliche Gründe, die seiner Meinung nach dagegen sprechen, dass die Glückseligkeitsethik für die Fundierung moralischer Grundsätze taugt. Bevor ich die sechs wesentlichen Einwände gegen den moralischen Hedonismus im Folgenden anführe und erläutere, will ich zunächst in groben Zügen die Moralvorstellung Kants skizzieren, damit der Hauptgrund für seine Kritik an der Glückseligkeitsethik ersichtlich wird, aus der sich die restlichen Einwände ergeben.
Das Hauptanliegen Immanuel Kants ist es, eine Moralphilosophie zu begründen, der dieselbe objektive Gültigkeit zukommt wie den Naturwissenschaften.1 Um die objektive Gültigkeit der Naturwissenschaften zum Fundament seiner Moralphilosophie zu machen, nimmt Kant durch „ein der Chemie ähnliches Verfahren, [eine] Scheidung des Empirischen vom Rationalen“2 vor. Durch diese Scheidung wird nämlich nach Kant deutlich, „was jedes für sich allein leisten könne“3. Während das Empirische keine objektive, sondern lediglich subjektive Gültigkeit hervorbringen kann, schreibt Kant dem Rationalen die für seine Moralphilosophie notwendige objektive Gültigkeit zu. Die objektive Gültigkeit, die in den Naturwissenschaften den Naturgesetzen zukommt, gilt in der Moralphilosophie für das Sittengesetz. Obwohl das Natur- als auch das Sittengesetz objektive Gültigkeit besitzen, sind sie nach Kant Gesetze zwei diverser Welten: der Sinnen- und der intelligiblen Welt4. Das in der intelligiblen Welt verankerte Sittengesetz ist frei von jeglicher Empirie und apriorisch, das bedeutet, dass es nicht den Gesetzen der Natur, sondern einer eigenen, vernünftigen Kausalität unterworfen ist. Das Vermögen, den Willen nach Gesetzen zu bestimmen, die von jeglicher Empirie unabhängig und somit in der Verstandeswelt verankert sind, ist die Autonomie, die nach Kant „das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze“5 ist. Indem die reine Vernunft also vermöge der Autonomie praktisch wird, d. h. den Willen nach dem Sittengesetz bestimmt, liegt der Ursprung der Willensbestimmung in der intelligiblen, nicht in der Sinnenwelt. Einzig und allein eine Handlung, die sich aus solch einer Willensbestimmung ergibt, hat den Anspruch auf Moralität. Da der Glückseligkeitsethik – genauso wie all den restlichen religiösen, pädagogischen, asketischen und rechtlichen Ethiken bis dahin – jedoch ein materiales Prinzip bei der Willensbestimmung zugrunde liegt, ist Kants Haupteinwand gegen diese, dass es sich um Heteronomie (Fremdbestimmung) der Vernunft handelt und somit nicht als ein moralischer Grundsatz taugt6. Wie Kant im achten Paragraphen der Analytik der „Kritik der praktischen Vernunft“ darlegt, liegt Heteronomie der Vernunft immer dann vor, wenn der Wille nicht durch die bloße Form des Gesetzes, sondern durch „das Objekt einer Begierde“ bestimmt wird, was „Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgendeinem Antriebe oder [einer] Neigung“ bedeutet7. Die Glückseligkeitsethik kann somit keine objektive Gültigkeit beanspruchen. Die Grundsätze einer solchen Ethik sind bloß subjektiv, d. h. Maximen, die nicht für alle Vernunftwesen gleichermaßen und unbedingt gelten, denn sie lassen sich durch den kategorischen Imperativ nicht universalisieren. Es handelt sich bei den Maximen der Glückseligkeitsethik also um hypothetische Imperative, denen eine Zweck-Mittel-Relation zugrunde liegt, wodurch die Fremdbestimmung der Vernunft erneut deutlich wird: Es ist nicht die reine Vernunft, die bestimmt, nach welchen Gesetzen gehandelt werden soll, sondern Neigungen, subjektive Prinzipien, die nach einem in der Sinnenwelt verankerten Zweck streben, sind es, die den Willen bestimmen.
Die Subjektivität der Maximen der Glückseligkeitsethik führt zu zwei weiteren Einwänden, die Kant gegen diese erhebt und selbst wie folgt formuliert:
„Was aber wahren dauerhaften Vorteil bringe, ist allemal [...] in undurchdringliches Dunkel eingehüllt und erfordert viel Klugheit, um die praktisch darauf gestimmte Regel [...] auf erträgliche Art den Zwecken des Lebens anzupassen.“8
Die zwei Argumente gegen die Glückseligkeitsethik, die begriffsdefinitorischer und pragmatischer Art sind, sind zum einen, dass es keinen klar definierten Glücksbegriff gibt („in undurchdringliches Dunkel eingehüllt“), man folglich kein festes Fundament hat, worauf man eine wissenschaftlich exakte und objektive Moralphilosophie gründen kann, die nicht der Relativität subjektiver Einstellungen unterworfen ist; und zum anderen, dass es viel einfacher ist, nach dem kategorischen Imperativ zu handeln, der klar vorgibt, was man tun soll und nicht „viel Klugheit“ erfordert, weil man seine Grundsätze nicht an die Bedingungen der Sinnenwelt anpassen muss, sondern die Sinnenwelt sich nach unseren Grundätzen zu richten hat.
Der vierte Einwand, den Kant gegen die Glückseligkeitsethik erhebt, ist der, dass das Streben nach Glückseligkeit niemals zur „Selbstgenusamkeit“ oder „Zufriedenheit mit seiner [eigenen] Person“ führen kann, und somit das Gegenteil dessen bewirkt, wonach sie eigentlich strebt9. Der Grund für diese Annahme Kants ist, dass „die Neigungen wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen widerfahren läßt, und [...] immer ein noch größeres Leeres übrig [lassen], als man auszufüllen gedacht hat.“10 Um dem permanenten Rückfall in die „Leere“ zu entgehen, ist es nach Kant unerlässlich, dass die Neigungen vollkommen ausgeschlossen werden bei der Bestimmung des Willens, sodass das moralische Gesetz um seiner selbst willen ausgeführt wird und nicht, um einen anderen Zweck zu erreichen, der außerhalb des praktischen Gesetzes liegt. Alle Handlungen, die moralischen Anspruch erheben, müssen demnach aus Pflicht zum Sittengesetz ausgeführt werden und nicht weil man sich durch ihre Ausübung Glückseligkeit verspricht.
Der fünfte Einwand Kants gegen den moralischen Hedonismus ist, dass der Mensch bereits von Natur aus so veranlagt ist, dass er nach Glückseligkeit strebt und es folglich überflüssig („töricht“) wäre „ein Gebot [zu] [formulieren], daß jedermann sich glücklich zu machen suchen sollte [...]; denn man gebietet niemals jemandem das, was er schon unausbleiblich von selbst will.“11 Mit dieser Argumentation führt uns Kant vor Augen, dass eine Glückseligkeitsethik, die bestrebt ist, das Wohlergehen der Menschen zu befördern, überflüssig ist, weil es keiner moralischen Gesetze bedarf, um den Menschen zum Befolgen derselben zu nötigen. Kants Moralphilosophie hingegen, die jegliche Neigung bei der Willensbestimmung ausschließt, zeichnet sich dadurch aus, dass das Sittengesetz in Form eines kategorischen Imperativs formuliert wird, der das Subjekt dazu nötigt, nach dem Sittengesetz zu handeln, weil die Neigungen dem moralischen Gesetz meist zuwiderlaufen12.
Der sechste Einwand, den Kant gegen die Glückseligkeitsethik erhebt, ist, dass der Mensch seiner Meinung nach für „höhere[...] Zwecke“13 bestimmt ist und das alleinige Streben nach Glückseligkeit ihn nicht „im Werte über die bloße Tierheit erhebt“14. Die Vernunft ist demnach nicht nur dazu da, um nur „zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses als Sinnenwesens [...]“15 gebraucht zu werden, sondern ein vom Tierreich distinktives Leben zu führen, in dem nicht die Instinkte die Existenz bestimmen, sondern die reine Vernunft, die vollkommen frei von jeglichen Neigungen ist und den Menschen zu einem autonomen Wesen macht, das im Gegensatz zum Tierreich nach moralischen und nicht nur nach der Kausalität der Sinnenwelt handelt. Moralität ist dementsprechend nur dann möglich, wenn die Vernunft nicht zur Glücksmaximierung instrumentalisiert wird, wie es die Glückseligkeitsethik propagiert, sondern zum „Vormund“16 der Neigungen wird und das alleinige Zepter über den Willen führt.
[...]
1 Vgl. Otfried Höffe, Immanuel Kant, München, Verlag C. H. Beck, 7. Aufl. 2007, S. 174.
2 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 187 (A 291).
3 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 187 (A 291).
4 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 101 (A 155).
5 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 39 (A 59).
6 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 49f (A 71f).
7 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 39 (A 59).
8 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 43 (A 64).
9 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 137 (A 214).
10 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 136 (A 213).
11 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 44 (A 65).
12 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 44 (A 65).
13 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 73 (A 109).
14 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 73 (A 109).
15 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 73 (A 109).
16 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1993, S. 136 (A 213).