Zufall und Kontingenz in Kleists "Das Erdbeben in Chili"


Bachelorarbeit, 2019

43 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung: Zufall als Machtinstanz

2. Kontingenz und Zufall

3. Die Rolle von Zufall und Kontingenz in „Das Erdbeben in Chili“
3.1. Ohnmacht und die Suche nach Sinn
3.2. Reaktion und Aktion der Figuren auf den Ordnungsbruch
3.3. Narratologie des inszenierten Zufalls

4. Kausalverknüpfungen
4.1. Ursachentheorie und die Begründungen des Zufalls
4.2. Kontingenzbewältigung

5. Konklusion: Die Funktion der Funktionslosigkeit

6. Bibliographie

1. Einleitung: Zufall als Machtinstanz

Heinrich von Kleists 1807 im „Morgenblatt für gebildete Stände“ unter dem Namen „Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili vom Jahr 1647“ publizierte Novelle „Das Erdbeben in Chili“1 wird in der Forschung vor allem zusammen mit dem Lissabonner Erdbeben 1755 und der Theodizeefrage immer wieder als Exempel aufgegriffen. Tatsächlich geizt die Erzählung nicht mit theologisch biblischen Verweisen und doch fällt noch ein anderer Gesichtspunkt der Erzählung viel stärker ins Auge: der Zufall. In der Erzählung selbst treten Jeronimo und Josephe als die Protagonisten auf, die sich verbotener Weise verlieben und ein Kind zeugen, aufgrund dessen verurteilt werden sollen bis ein Erdbeben die beiden errettet und in einer idyllischen Szenerie einer harmonischen Gesellschaft wieder zusammenführt, bis sie am Ende der Erzählung durch das Wort eines Priesters und den darauf agierenden Mob von Menschen umkommen. Bedenkt man nur diese knappe Inhaltsangabe fragt man nicht zu Unrecht nach der Motivation der Erzählung und wie die Protagonisten in eine so drastische Situation hineingeraten. Sehr wohl fällt schon hier auf, dass hauptsächlich der Zufall für jegliche Situationen, in denen sich Jeronimo und Josephe befinden, verantwortlich ist. Somit wird sich diese Arbeit mit den Fragen, wie es Kleist gelingt den Zufall als Hauptmotivation in seine Erzählung einzubinden und wie genau mit welcher Funktion der Zufall in seiner Erzählung agiert, beschäftigen.

Schon früh beschäftigt sich Aristoteles in seiner Vorlesung „Physik“ mit den Begriffen Zufall und Ursache und versucht diese zu definieren, voneinander abzugrenzen und in Beziehung zu setzen, was Bubner 1998 in seinem Aufsatz „Die aristotelische Lehre vom Zufall“ erneut aufgreift. Neben Zufall ist vor allem auch Kontingenz ein wichtiges Stichwort, wozu Graevenitz und Marquard 1998 in „Kontingenz“, sowie Pflaumbaum, Rocks, Schmitt und Tezlaff 2015 in „Ästhetik des Zufalls“ und Wetz 1998 sowie Michels „Ordnungen der Kontingenz“ von 2006 wichtige Theorien und Definitionen liefern, welche diese Arbeit miteinbeziehen wird. In Bezug auf Kleist und Kleists Novelle sticht vor allem Wellberys Werk „Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili “ heraus, in welchem sich Kittler, Altenhofer und Hamacher 1993 zum Erdbeben und dessen Sinnfrage äußern. Wichtige Anhaltspunkte dazu liefert des Weiteren Breuers „Kleist-Handbuch“ von 2009 sowie Földényis „Im Netz der Wörter“ von 1999. Weitere Literatur finden sich in dieser Arbeit zu Erdbeben und Naturkatastrophen wieder, wozu Groh und Mauelshagen 2003 wichtige Daten bereitstellen, sowie auch zu Erzählmechanik und Narration durch Fischer 2003.

Diese Arbeit wird anführen, dass Kontingenz und Zufall mehrere Funktionen in Kleists Erzählung erfüllen und somit verschiedene Auswirkungen auf die Erzählung und dessen Figuren haben. Kleist etabliert den Zufall als Hauptmotivation und Hauptakteur der gesamten Erzählung samt ihren Figuren, indem er die Figuren zur Erkenntnis der Weltstruktur führt und Leerstellen generiert, die selbst der Erzähler nicht zu füllen vermag. Er bricht Ordnungssysteme auf und führt sie wieder ein, generiert eine scheinbare Funktionslosigkeit des inszenierten Zufalls, die zum Telos der Erzählung beiträgt und führt zu einer Sinneskrise und Ursachensuche bei den Figuren, die in Bewältigung dessen endet. All dies wird diese Arbeit aufzeigen, indem sie in Kapitel 3 zunächst die Begriffe Zufall, Kontingenz, Notwendigkeit und Schicksalsfügung definiert und voneinander abgrenzt. Dadurch wird deutlich, dass Kontingenz und Zufall keine Synonyme sind, sondern Kontingenz ein Spektrum von Möglichkeiten eröffnet und Zufall eine faktisch realisierte Möglichkeit darstellt. Kapitel 4.1. stellt die Sinnfrage her und thematisiert Ohnmacht und Nicht-Wissen, welches der Zufall durch Bewusstlosigkeit bei den Figuren der Erzählung auslöst. Es kommt zu einem inneren Bruch der Figuren und damit zu der Erkenntnis, dass die Welt eine kontingente ist. Kapitel 4.2. zeigt die Figuren und deren Handlungsmotivationen auf, die gänzlich unterschiedlich sind. Während Jeronimo in einer passiven handlungslosen Rolle verharrt und durch den Zufall erstarrt, treibt der Zufall Josephe aktiv zum zielgerichteten Handeln an. Weiterhin wird diese Arbeit in Kapitel 4.2. den Ordnungsbruch thematisieren, welchen der Zufall auslöst, indem er die alte vorherrschende Ordnung der autoritären Institutionen umwirft und die Stadt verwüstet, um darauffolgend eine neue Ordnung herzustellen, die aber am Ende ebenfalls so auseinanderbricht, dass die alte Ordnung ihren Platz erneut einnimmt. Kapitel 4.3. thematisiert die von Zufällen vorangetriebene Narration, den Erzähler in zuhörender Rolle sowie den Schein des Wahrhaftigen, der mit den Worten „als ob“ den Zufall inszeniert und die Verlässlichkeit des Erzählers in Frage stellt. Abschließend wird sich diese Arbeit in Kapitel 5.1. an einer Definition der Ursache wagen und drei mögliche Gründe der Erzählung aufzeigen, genauer Gott als Erretter, Gott als Strafender und die Natur, um in Kapitel 5.2. die Konsequenzen des Zufalls aufzuzeigen, welche vor allem Auslöschung und Bewältigung, soll heißen Akzeptanz, des Zufalls betreffen.

2. Kontingenz und Zufall

Um in dieser Arbeit überhaupt mit den Begriffen Zufall und Kontingenz zu argumentieren, ist es wichtig zuvor die beiden Begriffe fest zu definieren. Schon Aristoteles spricht in seiner „Vorlesung über Natur“ von Zufall und Fügung2 :

Wenn im Bereich der Geschehnisse, die im strengen Sinn wegen etwas eintreten und deren Ursache außer ihnen liegt, etwas geschieht, das mit dem Ergebnis nicht in eine Deswegen-Beziehung zu bringen ist, dann nennen wir das ‚zufällig‘.3

Er nennt als Bedingung für ein Ereignis, das ‚zufällig‘ genannt werden kann, die fehlende Ursache und das ist sicher auch die Bedeutung von Zufall, wie sie heute im alltäglichen Sprachgebrauch gemeint ist, denn etwas Zufälliges tritt unerwartet ein, oft ohne, dass wir den Grund dafür zu sehen vermögen. „[…] Gäbe es einen solchen [Grund], wäre das Ereignis, das als Zufall erscheint, vorhersehbar oder zumindest im Nachhinein erklärbar.“4 Da diese Arbeit in Kapitel 4.1 weitergehend auf die Verbindung von Zufall und Ursache eingehen wird, ist dies später auszuführen. Doch hier stellt sich die Frage, ob diese Definition ausreichend ist, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Begriffe Zufall und Kontingenz weitere Begriffe mit sich ziehen, wie Möglichkeit und Notwendigkeit. Kant stimmt Aristoteles‘ These zwar zu, denn „sofern eine Begebenheit nicht unter einer besonderen Regel ihrer Ursache geschieht, so ist’s Zufall“5, aber genau auf den Begriff der Möglichkeit geht Kant ebenfalls ein, der den Zufall „als Kategorie der Modalität“ definiert, also „etwas, dessen Nichtsein sich denken lässt“6. Aber warum spricht Kant, wenn er über den Zufall philosophiert, auch über Möglichkeit ? Graevenitz und Marquard betonen, dass zufällig bzw. kontingent „das, was auch hätte nicht sein können oder auch anders hätte sein können“7 ist. Somit ist er ebenso wenig notwendig, wie auch in der Forschung Notwendigkeit als Antonym zum Zufall gesehen wird. Wetz denkt diesen Gedanken weiter und setzt die Bedingung dafür, dass man sagen kann, dass etwas nicht sein müsste, dass es grundsätzlich „sowohl existieren als auch nicht existieren kann“8. Dies bedeutet, dass Zufall nicht nur mit der Möglichkeit verbunden ist, dass es anders hätte kommen können, sondern auch mit der Möglichkeit gar nicht existieren zu müssen:

Daß etwas ist und nicht nichts ist, und daß alles ausgerechnet so ist, wie es ist, fällt gewissermaßen erst in dem Augenblick auf, an dem sich die Möglichkeit des Überhauptnichtseinmüssens zu erkennen gibt. […] Entweder besteht etwas oder es besteht nicht, aber die Aussage, etwas könnte sowohl existieren als auch nicht da sein, gilt nur, solange noch unterschieden ist, ob es überhaupt jemals bestehen wird.9

, formuliert Wetz passend. Zusammenfassend ist der Zufall mit Möglichkeit verbunden, weil er „weder unmöglich noch notwendig ist“10. Dies nennt Wetz „zweiseitige Möglichkeit“11. Daraus ergeben sich zu diesem Zeitpunkt drei Bedeutungen von Zufall: Erstens „das Nicht- oder Andersseinkönnen von Etwas“ mit der Möglichkeit zu sein oder nicht zu sein; „zweitens das Nicht- oder Andersseinkönnen von Etwas“, weil grundsätzlich andere Möglichkeiten erdacht werden können und drittens Aristoteles‘ „unvorhersehbares Zusammentreffen unverbundener Kausalketten“12.

Einen weiteren Versuch den Zufall weitergehend zu definieren unternimmt Aristoteles, indem er ihn von der Schicksalsfügung abgrenzt. Denn tatsächlich ist es eine berechtigte Frage, ob Schicksal und Zufall die gleiche Bedeutung besitzen, denn auch die Schicksalsfügung scheint in unserem Verständnis ohne erklärenden Grund unvorhersehbar aufzutreten. Er erklärt, dass sich die Begrifflichkeit von Zufall „über einen weiteren Bereich erstreckt“13, denn eine Schicksalsfügung kann sich nur auf den Bereich der Handlung beziehen: „Alles, was nicht handeln kann, kann auch nicht etwas aus Fügung tun.“14 Im Gegensatz dazu kann der Zufall „auch auf Tiere und einen großen Teil des Unbelebten zu[treffen]“15. Somit kommt Aristoteles zu folgender Definition von Schicksalsfügung: „Auf Grund von Fügung sagen wir von solchen Ereignissen, die im Bereich sinnvoll gewollter Handlung bei Wesen, die die Fähigkeit zu planendem Vorsatz haben, zufällig eintreten“16 und generiert damit die Beziehung zwischen Zufall und Fügung, dass „Ereignisse auf Grund von Fügung […] alle auch zufällig [sind]; umgekehrt diese […] nicht alle auf Grund von Fügung [sind]“17. Kurz gesagt, sind alle Schicksalsfügungen Zufälle, aber nicht alle Zufälle müssen zwingend Schicksalsfügungen sein, womit die Fügung zu einer Art Unterkategorie von Zufall wird. Bubner formuliert, dass „wir nicht handeln können [würden], wenn die existierenden Sachverhalte es nicht zuließen, auch anders zu sein“18 und schließt damit den Kreis zum Begriff der Möglichkeit. Sprich, wäre eine andere Möglichkeit des Zufalls eingetreten bzw. wäre der Zufall überhaupt nicht eingetreten, hätte der Mensch die Möglichkeit gehabt, anders zu handeln. Also Handeln als „die Entscheidung zwischen mehreren Möglichkeiten […] und daß heißt stets: Entscheidung für eine Möglichkeit gegen all die anderen […]“19 Für Bubner bedeutet Handeln „Setzen von Wirklichkeit, die noch nicht ist“20, womit ein neuer Begriff dem Zufall entgegentritt: die Wirklichkeit. Denn „Handeln im strengen Sinne […] setzt […] eine signifikante Spannung zwischen der Wirklichkeit und mindestens einer anderen Möglichkeit voraus.“21 Auf die Begrifflichkeiten von Wirklichkeit und Schein wird in Kapitel 3.3 näher eingegangen und deswegen hier nicht weiter thematisiert. Wie der Zufall in einer festgelegten vorhergesehenen Welt keinen Platz hat, hat auch Handeln in einer solchen keinen Platz. Denn „wo etwas notwendig geschieht, unvermeidlich war oder als Tatsache längst festliegt, ist für das Handeln kein Ort“22. Handeln ist somit das zufällige Eintreten, wessen der Mensch sich „annehmen kann, in dem [er] es zur Sache [seiner] Tat macht.“23 Fortgehend ist der Mensch während des Handelns dem Zufall ausgesetzt; „das zielhaft Antizipierte kann sich später als anders geartet herausstellen“ da „von externen Faktoren begleitet, die nicht in unserer Macht sind.“24 Der Kontext, in dem das Handeln stattfindet, ist nie ganz überschaubar25. Vor dem Hintergrund des Handelns formuliert Makropoulos folgende Definition des Zufalls: „Zufällig ist […] ein Ereignis nämlich gerade dann, wenn es zwar […] in diesem ‚Spielraum der Möglichkeiten‘ eintritt, sein Eintreten aber im Unterschied zum […] begründbaren Handeln als grundlos erklärt wird.“26

Nach dem Versuch den Zufall zu definieren und von der Schicksalsfügung abzugrenzen, ist nun zu beobachten wo Kontingenz einzuordnen ist. Auf den ersten Blick scheint man Zufall und Kontingenz als Synonyme verwenden zu wollen und hier tut sich tatsächlich die Problematik auf, die beiden Begriffe klar voneinander zu trennen. Die Forschung nennt dafür oft den Grund, dass vor allem Kant den lateinischen Begriff contingens mit dem deutschen Wort zufällig übersetzt und die beiden Begriffe somit gleichstellt27. Versucht man contingens (lat.) zu übersetzen, stößt man auf vielerlei Bedeutungen: Das Andersseinkönnen, das Nichtseinkönnen; das Unbeabsichtigte, Ungewollte, Unbezweckte, Willkürliche; das Unerwartete, Ungewohnte, Unvorhergesehene, Undurchschaubare; das Gesetz- und Regellose, das Beliebige, das Grund- und Ursachenlose28. Aber trifft dies alles nicht auch auf den Zufall zu? Graevenitz und Marquard greifen die Definitionen auf, die oben schon für den Zufall genannt wurden, und ordnen sie der Kontingenz zu: „entweder ist kontingent, ‚das was auch anders sein könnte‘ und durch uns änderbar ist […] oder kontingent ist ‚das, was auch anders sein könnte‘ und gerade nicht durch uns änderbar ist […]“.29 Ihre Definition dreht sich also wieder um den Begriff der Möglichkeit und sie nennen dafür die Begriffe Beliebigkeitskontingenz (durch den Menschen änderbar) und Schicksalskontingenz (ohne Einfluss des Menschen)30. Makropoulos scheint den Begriff Kontingenz als Überbegriff zu verwenden; als „ambivalenten Bereich, in dem sich sowohl Zufälle, als auch Handlungen realisieren. Kontingent ist damit […] alles Unverfügbare, das sich Planung entzieht […]“31. Aber sind Kontingenz und Zufall nun wirklich Synonyme? Dies erscheint mir nicht ausreichend.

Vogt macht eine klare Unterscheidung der beiden Begriffe Zufall und Kontingenz. Für ihn eröffnet Kontingenz „ein Panorama des Möglichen, beziehungsweise die Dimension eines noch nicht Wirklichen, aber eben doch Möglichen“32, während Zufall „die faktische Verwirklichung“33 einer dieser Möglichkeiten, beziehungsweise „das nicht notwendige Wirkliche“34, darstellt. Diese Definition sagt also aus, dass Kontingenz das Konzept vieler Möglichkeiten darstellt und Zufall den tatsächlich eingetretenen Fall einer dieser Möglichkeiten. Pflaumbaum, Rocks, Schmitt und Tetzlaff nennen dies die „Differenzierung der Wirklichkeitsebenen“35, eben da Kontingenz noch nicht faktisch wirklich eingetreten ist im Gegensatz zum Zufall. Michel nennt den Zufall passend „grundlos fixierte Kontingenz“36, da der „Zufall […] die zweiseitige Möglichkeit der Kontingenz voraus[setzt]“37. Kurz gesagt, setzt Zufall Kontingenz voraus; die faktische Realisierung von etwas braucht die Möglichkeit dessen.

Der Begriff der Kontingenz schleicht sich in mannigfaltige Diskurse ein und führt dort zu problematisierenden Fragen. Der kreationstheologische Bereich „ordnet Gott die Souveränität [..] zu“38. Sprich, im Bereich der Möglichkeiten hatte Gott die Wahl, zu schaffen oder nicht zu schaffen bzw. genau so oder anders zu schaffen.39 Graevenitz und Marquard gehen somit auf das „Kontingenzproblem der Schöpfung“40 ein. Weitergehend bedeutet Kontingenz in der Schöpfung also, „daß die gesamte Welt nicht sein müßte, da sie die Schöpfung eines frei wirkenden Gottes ist, der ihre Erschaffung auch hätte unterlassen können.“41 Heutzutage in den modernen Naturwissenschaften wird im Gegensatz zur Erschaffenheit (im Sinne von als das Gegenteil zur Kontingenz) die Weltordnung oft als „zufällige Hervorbringung der Natur“42 gesehen, was die gesamte Weltordnung kontingent werden lässt: „alles hätte ebensogut auch fehlen oder ausbleiben können […]“43. Genauso zieht sich Kontingenz durch den Diskurs der Existenz: „Dasein ist gekennzeichnet durch seine ursprüngliche Eigenart, dazusein und dasein zu müssen, ohne Willen und Verantwortung dafür einem Subjekt […] oder einer transzendenten Instanz zuschreiben zu können.“44. Warum existiert also etwas beziehungsweise etwas nicht? Hat etwas die Möglichkeit zu existieren oder nicht zu existieren? Ist dies Zufall? Wetz nennt im gleichen Zug den Diskurs der Evolutionstheorie, „derzufolge zwar Mutationen und Selektionen grundsätzlich zu erkennende Ursachen haben, dennoch aber zufällige Ereignisse darstellen.“45. Macht dies „die Vorgänge der Natur“46 kontingent und zufällig? Diese Themenanrisse wird diese Arbeit in Kapitel 5.1 noch näher untersuchen, weswegen dieses Kapitel mit diesen Worten zum Ende kommt.

An diesem Punkt ist festzuhalten, dass Kontingenz das Panorama der Möglichkeiten von Anders- beziehungsweise Nichtsein eröffnet, Zufall die faktisch eingetretene Realisierung einer dieser Möglichkeiten darstellt und sich die Schicksalsfügung neben den Zufall einordnet, aber nur auf handelnde Wesen mit planendem Vorsatz beschränkt.

3. Die Rolle von Zufall und Kontingenz in „Das Erdbeben in Chili“

Nachdem diese Arbeit die zentralen Begriffe Zufall und Kontingenz erläutert und die Bedeutung in verschiedenen Diskursen aufgezeigt hat, wird diese Arbeit in den nächsten zwei Kapiteln nun aufzeigen, in wie fern Zufall und Kontingenz in Kleists Novelle „Das Erdbeben von Chili“ eine Rolle spielen und darüber hinaus, welche Funktionen sie erfüllen beziehungsweise zu was sie führen.

3.1. Ohnmacht und die Suche nach Sinn

Zahlreiche Aufsätze der Forschung widmen sich vor allem einem hermeneutischen Ansatz, um den Text der Novelle „Das Erdbeben von Chili“ zu deuten und zu interpretieren. In unserem heutigen Verständnis bedeutet dies der Autorintention nachzugehen und oft auch, zum Leidwesen des Textes, diesen „im Interesse einer kontinuierlichen Autorbiographie auszufüllen“47, obwohl die Forschung sich zum größten Teil einig darüber ist, dass „niemand weiß, was der Schreiber beim Schreiben dachte oder meinte […]“48. Da diese Arbeit der letzteren Auffassung geneigt ist, wird sie zwar keine Autorintentionen verfolgen, da aber trotzdem auffällt, dass „der Text als ein kunstvolles Szenario von Frage und Sinnentwurf“49 gilt, ist die Frage nach Sinn nicht unberechtigt und wird an diesem Punkt verfolgt.

Jeronimo, der inzwischen auch in ein Gefängniß gesetzt worden war, wollte die Besinnung verlieren, als er diese ungeheure Wendung der Dinge erfuhr. […] Jeronimo Rugera war starr vor Entsetzen; und gleich als ob sein ganzes Bewußtseyn zerschmettert worden wäre, hielt er sich jetzt an dem Pfeiler, an welchem er hätte sterben wollen, um nicht umzufallen. […] Besinnungslos, wie er sich aus diesem allgemeinen Verderben retten würde, eilte er, über Schutt und Gebälk hinweg […]. Als Jeronimo das Thor erreicht, und einen Hügel jenseits desselben bestiegen hatte, sank er ohnmächtig auf demselben nieder. Er mochte wohl eine Viertelstunde in der tiefsten Bewußtlosigkeit gelegen haben, als er endlich wieder erwachte […] und sich […] halb auf dem Erdboden erhob. Er befühlte seine Stirn und Brust, unwissend, was er aus seinem Zustande machen sollte […] er begriff nicht, was ihn und sie hergeführt haben konnte, und erst, da er sich umkehrte, und die Stadt hinter sich versunken sah, erinnerte er sich des schrecklichen Augenblicks, den er erlebt hatte.50

So verläuft die erste Szene, nämlich die in der das Erdbeben eintritt, für Jeronimo Rugera; „So beginnt die Novelle mit zwei Blackouts, die Deutungen unmöglich machen.“51 Das kontingente und zugleich zufällige Ereignis des Erdbebens; kontingent, da es die Möglichkeit hatte nicht einzutreten beziehungsweise anders einzutreten und zufällig, da es einen Handlungsstrang bildet der unvorhergesehen in den der Figuren hereinbricht, weitgehend auch grundlos aufzutreten scheint; nimmt Jeronimo, der sich versucht in dem Chaos zurecht zu finden, allein in der Eingangsszene dreimal das Bewusstsein. „Lebenskontinuität und Identität [scheinen] in Frage [gestellt worden zu sein.]“52 Diese Szenerie zeigt auf, dass der Zufall als Machtinstanz über seinen betroffenen Figuren herrscht und ihnen jede Art von Bewusstsein nimmt, die eine Deutung des Geschehens möglich hätten machen können. Aber Jeronimo ist nicht der Einzige:

Josephe war, auf ihrem Gang zum Tode, dem Richtplatze schon ganz nahe gewesen, als durch den krachenden Einsturz der Gebäude plötzlich der ganze Hinrichtungszug aus einander gesprengt ward. Ihre ersten entsetzensvollen Schritte trugen sie hierauf dem nächsten Thore zu; doch die Besinnung kehrte ihr bald wieder, und sie wandte sich, um nach dem Kloster zu eilen, wo ihr kleiner, hülfloser Knabe zurückgeblieben war.53

Auch seiner Geliebten Josephe scheint das Erdbeben mit Besinnungslosigkeit zuzusetzen, sodass die Besinnung ihr erst ‚wiederkehren‘ muss. So beginnt „das Rätsel [über das ‚was ist‘]“54. Nun könnte man annehmen, es wäre einfach die Schocksituation der äußeren Umstände des Bebens, doch Földényi begründet die Ohnmacht der Figuren mit einem „inneren Unvorbereitetsein“55. Weiterführend zeigt er auf, wie Ohnmacht bei den Figuren Bewusstwerdung generiert: „Kleists Helden [fallen] immer dann in Ohnmacht, als das Bild, das sie von sich und der Welt gemacht haben, erschüttert wird […] weil sie da erst die wirkliche Struktur der Welt […] erkennen.“56 Dies lässt sich im Text erkennen, wenn man die Ausgangssituation betrachtet, in der sich Jeronimo und Josephe befinden: Jeronimo sitzt im Gefängnis kurz davor sich zu erhängen; Josephe sitzt anfangs ebenfalls im Gefängnis, um dann für ihre Hinrichtung zum Richtplatz geführt zu werden57. Kurz, die Situation erscheint für beide aussichtslos und beide scheinen sich mit ihrem Fatum abgefunden zu haben, bereit die Situation höchstens durch veränderte Todesarten (für Josephe statt Feuertod Enthauptung; für Jeronimo ein kürzeres Ende des Erhängens) erträglich zu gestalten. Nun tritt in diese aussichtslose Situation aber nun mal das Erdbeben und das Bild ihres Lebens, womit sie sich vorher abgefunden hatten, wird umgeworfen. Man könnte also behaupten, dass Jeronimo und Josephe ihre Welt statisch fest geformt wahrnehmen bis das Erdbeben sie eines Besseren belehrt, nämlich dass die Welt ebenso dynamisch von Zufällen durchzogen ist, „launisch“ und „rätselhaft“58 erscheint. Der Fakt, dass ausgerechnet das zufällige plötzliche Erdbeben die beiden aus der aussichtlosen Situation errettet, spitzt dies weiter zu:

Eben stand er […] an einem Wandpfeiler, und befestigte den Strick [...]; als plötzlich der größte Theil der Stadt, mit einem Gekrache […] versank […] Der Boden wankte unter seinen Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße einzustürzen und nur der […] Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, die gänzliche Zubodenstreckung desseben. […] Josephe war, auf ihrem Gang zum Tode, dem Richtplatze schon ganz nahe gewesen, als durch den krachenden Einsturz der Gebäude plötzlich der ganze Hinrichtungszug aus einander gesprengt ward.

Gerade das eigentlich tod- und vernichtungsbringende Erdbeben verschont die beiden Figuren vor dem Tod. Der Zufall ergreift auch hier wieder die Machtinstanz und leitet Jeronimos und Josephes Schicksal in eine völlig andere Richtung. Auffällig ist hier Kleists Wortwahl von „plötzlich“, die „den Ausdruck des Unerwarteten“59 verstärkt und somit die „absolute Gegenwart“60 betont. Der Ausdruck scheint weniger den zeitlichen Augenblick zu betreffen, umso mehr „den Konflikt mit sich selbst“61, der bei den Figuren in der Situation des Plötzlichen aufkommt: „‘Plötzlich‘ kommt es nicht in der Zeit, sondern in der Seele zum Bruch, als dessen Folge sie auch die Welt nicht mehr verstehen und ihrerseits für die Welt unverständlich werden.“62 Diese Unverständlichkeit für die Welt, die der plötzlich eintretende Zufall generiert, scheint somit auch für die Ohnmacht der Figuren verantwortlich zu sein; innerhalb der Figuren scheint sich etwas gravierend zu verschieben. Das bedeutet, der Zufall ist nicht nur die Machtinstanz über Jeronimos und Josephes weiteren Lebensverlauf, sondern auch über Jeronimo und Josephe selbst; der Zufall entzieht den beiden Macht und lässt sie in Ohnmacht zurück. Auch Eidecker geht auf den „Fall in die Bewusstlosigkeit“63 ein und nennt als Grund dafür Präsenz: „Sobald also Präsenz als Möglichkeit entsteht, entzieht sich das Bewußt-sein und bescheinigt so regelrecht die Unmöglichkeit der Wahrnehmung von Präsenz.“64 Es entsteht an diesem Punkt ein Paradox: Einerseits folgt nach dem zufälligen Eintreten des Bebens ein Bruch in den Figuren selbst, der sie die Welt mit ihren Zufällen erkennen lässt; andererseits raubt die Ohnmacht, die der Zufall generiert, den Figuren im gleichen Zug die Möglichkeit, die Präsenz des Zufalls überhaupt wahrzunehmen. Ein „Moment extremer Verunsicherung“65 tritt bei den Figuren ein, genauso wie die „schmerzhafte und gewaltsame Erkenntnis, daß es so etwas wie bloße Präsenz nicht gibt.“66 In den Momenten der Ohnmacht sind Jeronimo und Josephe „nicht in der Lage, sich zu besinnen“67, sprich der Begriff der Besinnungslosigkeit sagt es schon in sich: sie sind nicht in der Lage „Sinn zu machen, Sinn herzustellen.“68 Eidecker knüpft hier das „Nicht-Wissen“69 an, welches Folge der Ohnmacht der Figuren ist. Nicht-Wissen „als Aussetzen aller mentaler Kapazitäten im Moment eines Umbruchs der Wahrnehmung, beziehungsweise des Durchbruchs durch alte Wahrnehmungsgewohnheiten.“70 Dies ist genau das, was oben schon bemerkt wurde; Jeronimos und Josephes Wahrnehmungsgewohnheiten werden durchbrochen, indem ihnen der rettende Zufall aufgezeigt wird. Heimböckel nennt Nicht-Wissen das „Unbestimmtheitsphänomen“71. Wichtig ist hier, dass „ein Mehr an Wissen gleichzeitig mit Nicht-Wissens-Vermehrung einhergeht.“72 Dies erscheint auf den ersten Blick völlig logisch, denn je mehr man lernt, desto mehr anderes wird man wahrscheinlich im gleichen Zug vergessen; jedoch fällt hier ein weiteres Paradox auf. Das Nicht-Wissen, welches die Bewusstlosigkeit hervorruft, generiert bei Jeronimo und Josephe ein Mehr an Wissen. Sie fallen in Ohnmacht, haben aber im gleichen Zug einen Augenblick der Erkenntnis; Erkenntnis der eigentlichen Struktur der Welt. Setzt nun Heimböckel Wissen mit der „Intaktheit menschlichen Bewusstseins und Geistesvermögen“73 gleich, unterstreicht dies wiederrum den Bruch des Inneren, den die Figuren in diesem Moment durchleben. Festzuhalten ist also, dass Zufall „konsequent als ein Phänomen des Nicht-Wissens reflektiert wird“74 Jung nennt die textlichen Stellen der Ohnmacht „Leerstellen“75: „[D]er Zufall [kann] als etwas beschrieben werden, was eine bestimmte ‚Leerstelle‘ markiert. […] Der Zufall ist offenbar ein Nichts; er hat keine Substanz […]“76 Jung bezieht hier die Leerstellen vor allem auf die Handlungsintentionen77, die fehlt, wenn etwas zufällig passiert. Aber auch Jeronimo und Josephe fehlt in den Augenblicken der Ohnmacht eine Handlungsintention die Ihnen der Zufall raubt. So könnte man sagen, die Augenblicke der Ohnmacht bilden Leerstellen im Text, die der Zufall verursacht.

[...]


1 Vgl. Breuer: Kleist-Handbuch, S. 114.

2 Aristoteles: Physik. Vorlesung über Natur, Kapitel 4-9.

3 Aristoteles: Physik. Vorlesung über Natur, S. 81.

4 Bubner: Die aristotelische Lehre vom Zufall, S. 3.

5 Eisler: Kant-Lexikon, S. 620.

6 Ebd.

7 Gravenitz und Marquard: Kontingenz. Vorwort.

8 Wetz: Die Begriffe „Zufall“ und „Kontingenz“, S. 27.

9 Wetz: Kontingenz der Welt, S. 84.

10 Wetz: Die Begriffe „Zufall“ und „Kontingenz“, S. 27.

11 Ebd., S. 28.

12 Vgl. ebd., S. 29.

13 Aristoteles: Vorlesung über die Natur, S. 79.

14 Ebd.

15 Ebd., S. 81.

16 Ebd.

17 Aristoteles: Vorlesung über Natur, S. 79.

18 Bubner: Die aristotelische Lehre vom Zufall, S. 7.

19 Makropoulos: Modernität als Kontingenzkultur, S. 61.

20 Bubner: Die aristotelische Lehre vom Zufall, S. 7.

21 Makropoulos: Modernität als Kontingenzkultur, S. 61.

22 Bubner: Die aristotelische Lehre vom Zufall, S. 7.

23 Ebd.

24 Ebd., S. 8.

25 Vgl. ebd.

26 Makropoulos: Modernität als Kontingenzkultur, S. 61.

27 Vgl. Gravenitz und Marquard: Kontingenz. Vorwort, S. XIII.

28 Vgl. Wetz: Die Begriffe „Zufall“ und „Kontingenz“, S. 30.

29 Vgl. Graevenitz und Marquard: Kontingenz. Vorwort, S. XIV.

30 Ebd., S. XIV.

31 Makropoulos: Modernität als Kontingenzkultur, S. 61.

32 Pflaumbaum, Rocks, Schmitt und Tetzlaff: Ästhetik des Zufalls, S. 11.

33 Ebd.

34 Ebd.

35 Ebd., S. 12.

36 Michel: Kontingenz und Ordnung, S. 11.

37 Ebd.

38 Graevenitz und Marquard: Kontingenz. Vorwort, S. XIV.

39 Vgl. ebd.

40 Ebd.

41 Wetz: Die Begriffe „Zufall“ und „Kontingenz“, S. 30.

42 Ebd.

43 Ebd.

44 Bubner: Die aristotelische Lehre vom Zufall, S. 14.

45 Wetz: Die Begriffe „Zufall“ und „Kontingenz“, S. 31.

46 Ebd.

47 Kittler: Ein Erdbeben in Chili und Preußen, S. 26.

48 Ebd.

49 Altenhofer: Der erschütterte Sinn, S. 41.

50 von Kleist: Das Erdbeben in Chili, S. 9-14.

51 Kittler: Ein Erdbeben in Chili und Preußen, S. 28.

52 Altenhofer: Der erschütterte Sinn, S. 45.

53 von Kleist: Das Erdbeben in Chili, S. 17.

54 Altenhofer: Der erschütterte Sinn, S. 48.

55 Földényi: Im Netz der Wörter, S. 308.

56 Ebd.

57 Vgl. von Kleist: Das Erdbeben in Chili, S. 7-8.

58 Vgl. Földényi: Im Netz der Wörter, S. 512.

59 Ebd., S. 324.

60 Ebd.

61 Ebd.

62 Ebd., S. 325.

63 Eidecker: Unmittelbarkeit als Illusion, S. 62.

64 Ebd.

65 Eidecker: Unmittelbarkeit als Illusion, S. 64.

66 Ebd., S. 67.

67 Ebd., S. 68.

68 Ebd.

69 Ebd., S. 62.

70 Ebd.

71 Heimböckel: Nicht-Wissen bei Heinrich von Kleist, S. 59.

72 Ebd., S. 60.

73 Ebd., S. 61.

74 Ebd.

75 Jung: Leerstellen des Zufalls, S. 29.

76 Jung: Leerstellen des Zufalls, S. 29.

77 Ebd., S. 41.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Zufall und Kontingenz in Kleists "Das Erdbeben in Chili"
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Deutsche Sprache und Literatur I)
Note
2,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
43
Katalognummer
V516747
ISBN (eBook)
9783346108258
ISBN (Buch)
9783346108265
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zufall, Kontingenz, Kleist, Heinrich von Kleist, Das Erdbeben von Chili, Literaturwissenschaften, Germanistik, von Kleist
Arbeit zitieren
Katharina Wagner (Autor:in), 2019, Zufall und Kontingenz in Kleists "Das Erdbeben in Chili", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/516747

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