Heinrich von Kleists 1807 im „Morgenblatt für gebildete Stände“ unter dem Namen „Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili vom Jahr 1647“ publizierte Novelle „Das Erdbeben in Chili“ wird in der Forschung vor allem zusammen mit dem Lissabonner Erdbeben 1755 und der Theodizeefrage immer wieder als Exempel aufgegriffen. Tatsächlich geizt die Erzählung nicht mit theologisch biblischen Verweisen. Und doch fällt noch ein anderer Gesichtspunkt der Erzählung viel stärker ins Auge: der Zufall. In der Erzählung selbst treten Jeronimo und Josephe als die Protagonisten auf, die sich verbotener Weise verlieben und ein Kind zeugen, aufgrund dessen verurteilt werden sollen bis ein Erdbeben die beiden errettet und in einer idyllischen Szenerie einer harmonischen Gesellschaft wieder zusammenführt, bis sie am Ende der Erzählung durch das Wort eines Priesters und den darauf agierenden Mob von Menschen umkommen. Bedenkt man nur diese knappe Inhaltsangabe fragt man nicht zu Unrecht nach der Motivation der Erzählung und wie die Protagonisten in eine so drastische Situation hineingeraten. Sehr wohl fällt schon hier auf, dass hauptsächlich der Zufall für jegliche Situationen, in denen sich Jeronimo und Josephe befinden, verantwortlich ist. Somit wird sich diese Arbeit mit den Fragen, wie es Kleist gelingt den Zufall als Hauptmotivation in seine Erzählung einzubinden und wie genau mit welcher Funktion der Zufall in seiner Erzählung agiert, beschäftigen.
Diese Arbeit wird anführen, dass Kontingenz und Zufall mehrere Funktionen in Kleists Erzählung erfüllen und somit verschiedene Auswirkungen auf die Erzählung und dessen Figuren haben. Kleist etabliert den Zufall als Hauptmotivation und Hauptakteur der gesamten Erzählung samt ihren Figuren, indem er die Figuren zur Erkenntnis der Weltstruktur führt und Leerstellen generiert, die selbst der Erzähler nicht zu füllen vermag. Er bricht Ordnungssysteme auf und führt sie wieder ein, generiert eine scheinbare Funktionslosigkeit des inszenierten Zufalls, die zum Telos der Erzählung beiträgt und führt zu einer Sinneskrise und Ursachensuche bei den Figuren, die in Bewältigung dessen endet.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Zufall als Machtinstanz
- Kontingenz und Zufall
- Die Rolle von Zufall und Kontingenz in „Das Erdbeben in Chili“
- Ohnmacht und die Suche nach Sinn
- Reaktion und Aktion der Figuren auf den Ordnungsbruch
- Narratologie des inszenierten Zufalls
- Kausalverknüpfungen
- Ursachentheorie und die Begründungen des Zufalls
- Kontingenzbewältigung
- Konklusion: Die Funktion der Funktionslosigkeit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Rolle von Zufall und Kontingenz in Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“. Sie analysiert, wie Kleist den Zufall als zentrale Motivation in seine Erzählung integriert und welche Funktionen er innerhalb der Geschichte erfüllt.
- Die Ohnmacht der Figuren angesichts des Erdbebens und die daraus resultierende Suche nach Sinn
- Die unterschiedlichen Reaktionen von Jeronimo und Josephe auf den Ordnungsbruch, der durch das Erdbeben ausgelöst wird
- Die Rolle des Erzählers und die narratologische Konstruktion des inszenierten Zufalls
- Die Versuche der Figuren, eine Ursache für das Erdbeben zu finden und die Theodizeefrage
- Die Bewältigung der Kontingenz durch Akzeptanz und die Funktion der Funktionslosigkeit
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit untersucht zunächst die Begriffe Zufall und Kontingenz, um sie anschließend auf Kleists Novelle anzuwenden. Sie analysiert die Auswirkungen des Erdbebens auf Jeronimo und Josephe, die in Ohnmacht verfallen und die Welt mit neuen Augen sehen. Kapitel 4.2. untersucht die unterschiedlichen Reaktionen der beiden Protagonisten auf die Katastrophe, die zu einem Bruch der alten Ordnung und der Entstehung einer neuen führt. Kapitel 4.3. widmet sich der Narratologie des inszenierten Zufalls und der Rolle des Erzählers. In Kapitel 5.1. werden die Versuche der Figuren, eine Ursache für das Erdbeben zu finden, analysiert, während Kapitel 5.2. sich mit der Bewältigung der Kontingenz und der Akzeptanz des Zufalls auseinandersetzt.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit den zentralen Begriffen Zufall und Kontingenz, der Rolle von Ohnmacht und Nicht-Wissen, der Funktionslosigkeit des Zufalls, der Suche nach Sinn, der Zerstörung und Wiederherstellung von Ordnung sowie mit der Kontingenzbewältigung durch Akzeptanz. Sie beleuchtet die These vom zunehmenden Kontingenzbewußtsein in der neuzeitlichen Ära.
- Arbeit zitieren
- Katharina Wagner (Autor:in), 2019, Zufall und Kontingenz in Kleists "Das Erdbeben in Chili", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/516747