Der autoritäre Charakter in Literatur und sozialwissenschaftlichen Theorien


Diplomarbeit, 1995

89 Seiten, Note: Gut


Leseprobe


Vorwort

"Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt." (H. MANN, S. 5) Mit diesen Worten beginnt Heinrich Mann, in seinem Roman "Der Untertan" die Sozialisation von Diederich Heßling zu beschreiben. Diese einfache Charakterisierung von Diederich blieb mir, als ich den Roman zum erstenmal in meiner Schulzeit las, lange im Gedächtnis verhaftet. Je weiter ich den Lebensweg und damit die Sozialisation und später die Karriere von Diederich Heßling verfolgte, desto öfters kam mir dieser Satz wieder ins Gedächtnis. Denn es wird immer deutlicher, daß von der Weichheit des Kindes nicht mehr viel übrig bleibt, und das "war", welches Heinrich Mann benutzt, gewinnt eine unheimliche Bedeutung. Es zeigt, wie veränderlich Charaktereigenschaften sind, wenn sie den entsprechenden Kräften ausgesetzt werden.

Diese Erkenntnis war für mich der bleibende Eindruck dieses Werkes. Als ich im Laufe meines Studiums mit den verschiedenen Theorien über Sozialisationsprozeße konfrontiert wurde, da dachte ich sehr bald an den Untertan zurück. So wurde die Idee geboren, diesen speziellen Sozialisationprozeß näher zu betrachten und zu untersuchen.

Die Hauptfigur des Romans, Diederich Heßling, symbolisiert den Menschen der Wilhelminischen Ära. Heinrich Mann sieht den Untertanengeist, als den dominanten Charakterzug dieser Zeit an. Da Charaktereigenschaften Konstrukte sind, die aus Verhaltensweisen abgeleitet werden, gibt es eigentlich keine bessere Möglichkeit, diese an einem anderen Konstrukt, nämlich einer Romanfigur, aufzuzeigen. So versucht Heinrich Mann an der Figur des Diederich Heßling, prototypisch die Entwicklung der Charakterzüge deutlich zu machen, die einen Untertanen ausmachen. Heßling ist so zu sagen das Musterbeispiel für eine gelungene Sozialisation zum Untertan. An diese Tatsache muß man sich bei der Untersuchung dieser Prozesse immer erinnern.

Natürlich wird es mir nicht gelingen, alle Faktoren und Variablen des Sozialisationprozeßes aufzuzeigen oder gar zu definieren. Dazu ist dieser Prozeß zu komplex. Ich möchte vielmehr die im Roman geschilderten Situationen, die für Heinrich Mann die entscheidenden Stationen zum Untertan sind, anhand verschiedener Theorien beleuchten. Im Zentrum meiner Betrachtungen steht "Autorität und Familie", ein Werk von Max Horkheimer, Erich Fromm und Herbert Marcuse. Weiterhin möchte ich mich auf Sigmund Freud und Theodor Adorno stützen.

Da die Wilhelminische Ära mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende ging, stellt sich die Frage, ob eine solche Untersuchung noch zeitgemäß ist. Ich denke schon, denn bestimmte Eigenschaften des Untertan, oder besser des "autoritär - masochistischen Charakters", wie Adorno ihn bezeichnet (ADORNO 1973), wie Opportunismus, Konformität und Mitläufertum sind auch heute noch aktuell. Besonders wenn man an den Rechtsruck denkt, der in unserer Gesellschaft Einzug gehalten hat, sollte man sich verstärkt mit den Prozessen beschäftigen, die solche Charaktereigenschaften fördern. Darüber hinaus werde ich am Schluß meiner Arbeit kurz auf einen anderen Charakter eingehen, der heute wohl die Position der Untertanenmentalität eingenommen hat. Ich möchte in diesem Teil in aller Kürze auf den narzißtischen Charakter eingehen. Meiner Meinung nach konnte man den Untertanengeist als die vorherrschende Persönlichkeitsstruktur des Deutschen im Kaiserreiches ansehen. Heute allerdings ist der Narzißmus typisch für unserer pluralistische Gesellschaft. In einer Gesellschaft, in der Individualismus und Selbstbestimmung des Individuums die höchsten Ideale sind, und in der die meisten danach streben, auf ihre ganz persönliche Art und Weise glücklich zu werden, entspricht das Charakterkonstrukt des Narzißten dieser Form des Zusammenlebens.

Im ersten Teil meiner Arbeit möchte ich zuerst auf Heinrich Mann eingehen, indem ich, in kurzen Worten, seine Biographie aufzeige. Danach werde ich mit einigen wenigen Daten versuchen, die Wilhelminische Ära zu beschreiben. Hierbei möchte ich mich vor allem auf die Daten konzentrieren, die mit dem Roman im Zusammenhang stehen. Im dritten Teil des ersten Kapitels werde ich dann den Roman selbst kurz vorstellen. Während ich mich im ersten Kapitel meiner Arbeit mit dem situativen - und normativen Kontext des Romans auseinandersetze, werde ich mich im zweiten Kapitel darum bemühen, den Bezug zu den verschiedenen Sozialisationstheorien herzustellen. Dies geschieht an Hand ausgesuchter Textpassagen. Dabei ist es mir wichtig, die Verbindung zwischen der Charakterentwicklung des Individuums und der Gesellschaft aufzuzeigen. Weiterhin werde ich die literarische Konstruktion, die Heinrich Mann in seinem Roman aufgebaut hat beleuchten. Am Schluß des zweiten Kapitel werde ich in einer Zusammenfassung die beiden Punkte, die mich dazu bewegt haben diese Arbeit anzufertigen, konkret verbalisieren.

In meinen Schlußbetrachtungen gehe ich dann auf den Narzißmus ein. Zunächst einmal werde ich an den Entwicklungsmodellen von Freud, Balint und anderen die Entstehung von Narzißmus verdeutlichen. Im weiteren Verlauf meiner Arbeit möchte ich mit Hilfe von Lebensweltanalysen auf narzißtische Perspektiven in unserer Gesellschaft hinweisen. Abschließend werde ich den autoritären und den

narzißtischen Charakter vergleichen und Unterschiede, sowie Gemeinsamkeiten aufzeigen. Dieser Teil meiner Arbeit soll einen Ausblick darstellen.

Ich hoffe, daß gerade durch den letzten Abschnitt das Ziel meiner Arbeit deutlich wird. Ich gehe davon aus, daß die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Form des dominierenden Charakters interaktiv miteinander verbunden sind. Das heißt, bestimmte Strömungen bzw. Formen der Gesellschaft fördern die Bildung eines bestimmten Charakters. Aber auch umgekehrt fördern diese Charaktere bestimmte Tendenzen in der Gesellschaft. Ich hoffe, ich kann in meiner Arbeit Strukturen aufzeigen, die dies deutlich machen.

Am Schluß meiner einführenden Worte möchte ich noch einmal betonen, daß es sich bei dem Charakter des Untertan und dem des Narzißten um Konstrukte handelt, theoretische Produkte, die in der Wirklichkeit niemals anzutreffen sind. Trotzdem bilden sie einen Teil der Realität ab, so wie jede Theorie. Das Problem liegt im hohen Abstraktionsgrad dieser Konstrukte. Um empirisch belegbare Aussagen treffen zu können, müssen Verhaltensweisen und Charaktermerkmale operationalisiert werden. Dies bedeutet, daß nicht mehr das Ganze des Charakters wiedergegeben wird, sondern nur charakterisierende Bruchstücke. Diese Fragmente dienen dann als Indikatoren, um auf den Charakter zurück zu schließen. Wie schon erwähnt, finde ich es gerade deswegen interessant, eine konstruierte Persönlichkeit zu untersuchen.

Ich hoffe, es gelingt mir, in dieser Arbeit, die sich auf hermeneutische Art dem Problem nähert, die Daten so aufzuarbeiten, daß der Leser den Text im hermeneutischen Sinn verstehen kann. Leider werde ich dies nur in Grundzügen schaffen. Deshalb möchte ich jedem, der sich für die Entstehung von Opportunismus und Konformität interessiert, die kritische Auseinandersetzung mit der von mir angeführten Literatur ans Herz legen.

1. Kapitel: Kontext und Inhalt des Untertan

Heinrich Mann

Bevor ich mit der inhaltlichen Analyse des "Untertans" beginne, möchte ich kurz den Autor des Werkes vorstellen. Meiner Meinung nach kann das Wissen über den Verfasser eines Textes den Zugang zu dessen Text erleichtern. Allerdings sollte man sich davor hüten, die Textpassagen nur unter dem Aspekt zu sehen, inwieweit es eine Entsprechung im Leben des Autors gibt. Informationen über das Leben des Autors sollen dem Leser keine Brille aufsetzen, die seinen Blick einengt, sondern sie sollen einen Hintergrund aufbauen, vor dem sich der Roman abspielt. Im hermeneutischen Sinne stellen diese Informationen einen Teil des Vorwissen dar.

Heinrich Mann wurde am 27.03.1871, also kurz nach der Reichsgründung am

18.01.1871, in Lübeck geboren. Er entstammte einer gut begüterten und angesehenen Kaufmannfamilie. Er war der älteste Sohn von fünf Kindern. Ebenfalls sehr bekannt wurde sein jüngerer Bruder, Thomas Mann. Sein Vater, der ebenfalls Heinrich hieß, war niederländischer Konsul und Senator der freien Hansestadt Lübeck. Aufgrund der einflußreichen Stellung seines Vaters lernt H. Mann das Leben und die Gesellschaft aus der Perspektive der gehobenen Oberschicht kennen. Er vergleicht das gesellige Leben im Elternhaus mit dem Leben am Hofe Napoleon IPI. Man übt sich in bürgerlichen Spielen. Die Frauen bemalen ihre Fächer oder schreiben Briefchen, während sich die Männer im Salon unterhalten. Die gesellschaftliche Stellung der Manns resultierte auf der einen Seite aus der Traditionsreichen Herkunft der Familie und zum anderen auf dem kaufmännischen Geschick des Hausherrn. Das Ansehen wuchs noch, als Heinrich Mann senior für die Steuern der Stadt verantwortlich wird.

Die Mutter von Heinrich, Julia Mann (geb. da Silva-Bruhns), brachte ein wenig Exotik in die gutbürgerliche Familie. Sie war die Tochter einer portugiesisch - kreolischen Brasilianerin und eines Skandinaviers der sich in Brasilien, als Kaffee - und Zuckerplantagenbesitzer, einen Namen erwarb.

Betrachtet man die Familienverhältnisse der Manns, so kann man behaupten, daß diese dem bürgerlichen Ideal des 19. Jhdt. entsprachen.

Heinrich Mann verbrachte seine Kindheit im neugebauten Stadthaus der Manns, welches, zusammen mit anderen Patrizierhäusern, zwischen dem Stadttheater und Hafenviertel lag. Heinrich Mann wird als introvertiertes Kind dargestellt, das seine schönsten Stunden alleine beim Lesen und Malen verbrachte. Das Malen war schon sehr früh eine große Leidenschaft von ihm. Sein Bruder Thomas berichtet, daß Heinrich als Kind den Wunsch hatte, Maler zu werden, und daß er sein Talent unter

Beweis stellte, als er die Dekoration des Puppentheaters selbst bemalte. Durch das Lesen, die andere große Leidenschaft seiner Kindheit, machte er Bekanntschaft mit zahlreichen französischen Autoren und deutschen Romantikern, wie Arnim, Fouqué und E.T.A. Hoffmann. Mit fünfzehn war Heinrich Heine sein großes Vorbild. Der immense Lesehunger von Heinrich wurde von Anfang an durch die Familie gefördert.

Auch seine literarische Begabung zeigte sich schon früh. Mit dreizehn Jahren verfaßte er ein Reisetagebuch über einen Aufenthalt in St. Petersburg. 1885, ein Jahr später, begann Mann mit seinen ersten erzählerischen Versuchen. Wiederum zwei Jahre später übte er sich in Poesie.

Seine Schulzeit empfand Heinrich als schrecklich. Dies gründete weniger darauf, daß er Probleme mit dem Unterrichtsstoff hatte, als mehr darauf, daß er die Unterrichts - und Lehrsituation als unterdrückend und belastend empfindet. Er bezeichnet den Typ Lehrer, den er kennenlernt, als den alten Gymnasialprofessor - Typ. Dieser Typ dient Mann sowohl als Vorlage für den Professor Unrat, als auch für die Figur des Prof. Kühnchen, der im Untertan, als sozialisierende Instanz eine Rolle spielt. 1889 verläßt er das Gymnasium mit dem Abschluß der Unterprima und beginnt in Dresden eine Lehre im Buchhandel.

Schon in seiner Jugendzeit erwarb sich Heinrich Mann eine bestimmte Sicht über die Funktion des öffentlichen Lebens. Für ihn war dieses öffentliche Leben eine zur Schaustellung bürgerlichen Reichtums. Schmerzlich bewußt wird ihm dies besonders durch die Entfremdung des Theaters und der Kultur. Das Lübecker Kulturleben war auf der einen Seite geprägt durch die Normen und Regeln des Bürgertums und auf der anderen Seite durch das tief verwurzelte Mißtrauen der Bürger gegen die Kunst und die Künstler. Für den jungen Mann waren diese Normen und Regeln zu eng, so daß er von sich selbst sagt, daß er " der Menge seiner lieben Verwandten sehr zuwiderlaufende Ansichten über Liebe, Ehe, Religion und Kirche etc in seinem revolutionären Kopfe (trage; Fournier)" (SCHRÖTER 1967, S. 21). So wird für ihn die Anordnung der Patrizierhäuser auf dem Berg unterhalb des Theaters, aber oberhalb der bunten Welt des Hafenviertels, zum Symbol.

Die immer stärker zu Tage tretende Tendenz von Heinrich, einer literarischen Tätigkeit nachzugehen, stieß bei seinem Vater auf Ablehnung. Dieser sagt in seinem Testament, daß Heinrich die Kenntnisse und die Vorbildung zu diesem Beruf fehle und er sich von Träumereien leiten ließe. Diese Aussage spiegelt die Einstellungen des Vaters wider, die die Basis für einen Konflikt darstellt, der das

Vater - Sohn - Verhältnis lange bestimmt hatte. Heinrich reagiert darauf mit einer Mischung aus Trotz, Resignation und Auflehnung. Dieses väterliche Verbot stellte für ihn die Manifestation dessen dar, was er in jüngeren Jahren schon in seiner bürgerlichen Umwelt beobachten konnte.

Aber dennoch versucht er, den Wunsch des Vaters nach einer praktischen Ausbildung und seinen eigenen Wunsch nach einem literarischen Beruf zu vereinbaren und beginnt eine Lehre im Buchhandel. Diese bricht er jedoch nach einem Jahr ab, da es zu Differenzen zwischen ihm und seinem Vorgesetzten kommt. Kurz darauf, im Jahr 1890, tritt er, als Volontär, in den S. Fischer - Verlag ein. Allerdings muß er auch diese Ausbildung abbrechen, als 1892 bei ihm Lungenblutungen auftreten. Im Jahr davor starb sein Vater und die Firma der Familie wurde liquidiert, so daß Heinrich jetzt finanziell unabhängig ist. Er fühlt sich auch nicht mehr an den Wunsch seines Vaters gebunden und versucht, nach seiner Genesung, erst gar nicht seine praktische Ausbildung abzuschließen. Vielmehr geht er nach Berlin und besucht dort verschiedene Vorlesungen.

In dieser Zeit gewinnt Mann einige kritische Erkenntnisse, nicht zuletzt über sich selbst. Während er in seiner Jugendzeit aus der Sicht eines resignierten Außenseiters, der seiner Umwelt mißtraut, schreibt, versucht er ab seiner Berliner Zeit diesen haltlosen Pessimismus zu überwinden und Erklärungen bzw. Aussöhnungen zwischen den Gegensätzen in der Welt zu finden. Er versucht dies zunächst durch die Übernahme bürgerlicher, wilhelminischer Normen und Moralvorstellungen. Am Ende der Dekade muß er allerdings erkennen, wie ungenügend und inhaltslos dies ist. Die Folge davon ist, daß er "sich in der radikalen Negation aller gesellschaftlich verbindlicher Werte aussprach" (SCHRÖTER 1967, S. 30)

Er beschäftigte sich in jener Zeit mit philosophischen Fragen, wie zum Beispiel nach "dem Verhältnis des Bewußtseins zur Materie" (SCHRÖTER 1967, S. 33). Er widmete sich ebenfalls der von Hermann Bahr geäußerten Kritik am Naturalismus, der Psychologie Paul Bourgets und den erkenntnistheoretischen Erörterungen von Emil Da Bois - Reymonds. Er begreift seine Literatur als eine Art Postnaturalismus, gleichsam als Überwindung des Naturalismus. Mann benutzt die Ergebnisse der Psychologie und der Naturwissenschaften nur als Mittel für seine Ziele, nämlich die Darstellung der Grenzen eben dieser Einsichten. Ihm ist die reine Stoffanhäufung zu wenig und er möchte dies um die emotionale Komponente bereichern. Eine Einstellung, die auch von Hermeneutikern geteilt wird. Die Fakten allein reichen nicht aus, um den Menschen in seiner Ganzheit zu beschreiben. Mann möchte Gefühlswerte aus diesen Fakten gewinnen.

So ist sein erster großer Roman "In einer Familie" (1894), finanziert durch seine Mutter, eine Fabel, in der zwischenmenschliche Beziehungen1 sorgfältig analysiert und psychologisch angemessen bearbeitet werden. Dieser Roman entsteht vor allem während seiner Reise durch Italien zwischen September 1892 und Oktober 1893.

1893 siedelt die Familie nach München um. Heinrich Mann kehrt nie wieder in seine Heimatstadt zurück.

In den folgenden Jahren, die er hauptsächlich in München verbringt, treten mehr und mehr politische Themen bei seinen Arbeiten in den Vordergrund. Er entwickelt eine konservative Staatstheorie, in der eine stark ausgeprägte monarchistische Hierarchie existiert. Diese sieht er als natürlich gegeben an. Damit geht er konform mit der herrschende Staatsform, so daß kaum verwunderlich ist, daß in seinen Schriften das wiederzufinden ist, was auch in den öffentlichen Verlautbarungen publiziert wird. In späteren Jahren sieht Heinrich Mann kritisch auf diese Jahre seines Lebens zurück. Allerdings sind es auch lehrreiche Jahre, denn hier lernt er die Denkweise des deutschen Bürgertums und des imperialistischen Staates kennen. Am Ende dieser Zeit erkennt er auch, daß geistige Strömungen, Literatur, politische und soziale Vorgänge in einem Zusammenhang stehen. Aus diesen Erkenntnissen heraus schreibt er 1896 seine erste gesellschaftskritisch - satirische Erzählung. In "Das gestohlenen Dokument" stellt er die Werte des Bürgertums, der Familie und des Vaterland in Frage.

Heinrich Mann beginnt sich nun von dem Konservatismus seiner Münchner Zeit zu lösen und wendet sich Nietzsche und seinen Werken zu. Während er Nietzsche noch vor ein paar Jahren ablehnte, schließen sich er und sein Bruder Thomas nun rückhaltlos den Ideen des Philosophen an. Die beiden Brüder versuchen, sich von den gesellschaftlichen Normen und Werten zu distanzieren. So ist Heinrich Mann von 1899 bis 1914 ohne festen Wohnsitz. Er hält sich zumeist in München, Berlin, Italien oder an der Cote d´Azur auf. Er läßt sich treiben und beobachtet die Gesellschaft gleichsam von außerhalb. 1906 kommt er zu der Einsicht "Es ist notwendig soziale Zeitromane zu schreiben. Die deutsche Gesellschaft kennt sich selbst nicht. Sie zerfällt in Schichten, die einander unbekannt sind, und die führende Klasse verschwimmt hinter Wolken." (SCHRÖTER 1967, S. 41). Diese Begründung, warum er zu dieser Zeit anfing, Gesellschaftsromane zu schreiben, spiegelt in knappen Worten den gesellschaftlichen Zustand der Jahrhundertwende wieder. Ich werde hierauf noch genauer in meinem nächsten Kapitel eingehen.

In seiner scharfen Satire "Im Schlaraffenland" (1900) greift er alle Leitbilder an, die ihm in seiner Jugend begegnet sind. In den folgenden Jahren erscheinen seine Werke dicht aufeinander. So erscheint 1905 "Professor Unrat".

Zu dieser Zeit ist allerdings auch eine zunehmende Vereinsamung von Heinrich Mann festzustellen. Sie findet ihren Gipfelpunkt (1905 / 1906) darin, daß sein Roman "Jagd nach Liebe" (1904) von seiner Schwester Julia mißverständlich aufgenommen wird und sie sich mit der geäußerten Kritik nicht abfindet. Als sich der Konflikt mit der konservativen Schwester verstärkt, löst Heinrich die Beziehung zu ihr. Aber auch die Beziehung zu seinem Bruder Thomas gestaltet sich immer schwieriger, da dessen Frau aus einem großbürgerlichen Haus stammt und Thomas Mann darauf Rücksicht zu nehmen hat. Hier wird der Grundstein zu einem Konflikt gelegt, der später eskaliert und in einen offenen Streit um weltanschauliche Positionen ausartet. So verbleiben Heinrich nur noch die Beziehungen zu seiner Mutter und seiner geliebten Schwester Clara. Durch ihren Beruf als Schauspielerin spürte sie, genau wie ihr Bruder, die Kluft zwischen Gesellschaft und Künstler. Clara ist seine einzige wahre Vertraute, so daß er ihren Selbstmord (1910) nie versteht und verarbeitet.

Literarisch gesehen findet Heinrich Mann in der Mitte der ersten Dekade des Jahrhunderts zu seinem Stil. In mitten seiner persönlichen Problemen entwickelt er eine eigene Ausdrucksform. "Exakte Schilderung, prunkende Metaphorik, Satire und Groteske waren in seinen Romanen eine durchaus eigene und neue Verbindung eingegangen" (SCHRÖTER 1967, S. 59). Heinrich Mann fasziniert durch eine knappe, treffende, aber auch bilderreiche Sprache.

Balzac tritt für ihn jetzt in den Vordergrund und wird sein großes Vorbild. Bald schon schreibt er im Sinne Balzac' und wird von einigen Kollegen und Kritikern als der deutsche Balzac bezeichnet. Auch ansonsten fühlt er sich zu Frankreich hingezogen. Politisch läßt er sich von Rousseau leiten, kulturpolitisch dagegen durch den Rassendeterminismus von Hippolyte Taines. Hier wird noch einmal der immer noch vorhandene Zwiespalt seines Denkens sichtbar. Auf der einen Seite läßt er sich von positivistischen Gedankengut, auf der anderen Seite von naturrechtlichen Ideen inspirieren.

Ende 1907 äußert Mann, daß " (d)er Roman des Deutschen müßte geschrieben werden, die Zeit ist überreif für ihn." (SCHRÖTER 1967, S.65) Damit legt er den Grundstein für den Untertan. Er beginnt Notizen und Gedanken zu sammeln. Zunächst verfaßt er allerdings das Stück " Die kleine Stadt", in der er meisterhaft eine große Menge von Charakteren miteinander agieren läßt. Er orientiert sich bei

diesem Werk an seinem neuen Weltbild und will sein Stück auch politisch verstanden haben. Allerdings glaubt er nicht, daß seine Leser dies erkennen. Für ihn wird immer deutlicher, daß erst der Autoritätsmensch das kaiserliche System möglich macht und deshalb der Feind des freien Geist sei.

Privat verbrachte Mann zwischen 1907 und dem 1. Weltkrieg eine gelöste und amüsante Zeit, in der er von schönen Frauen und Luxus umgeben war. Die junge Generation bewunderte ihn, aber verstanden seine Anliegen wohl nicht.

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1912 beginnt Heinrich Mann mit der Auswertung seiner Notizen und Gedankenfragmente, die er seit den letzten fünf Jahren gesammelt hatte und beginnt mit dem Untertan. Er schreibt fast zwei Jahre an diesem Werk, da es ihm Probleme bereitet die aktuelle Zeit und all ihre Strömungen angemessen in einem Roman abzubilden. Dies fällt einfacher, wenn eine gewisse Distanz zwischen Autor und der darzustellenden Epoche liegt. Da Heinrich Mann die politische und moralische Situation sehr detailliert nachzeichnen wollte, wurde er von den Informationen geradezu überschwemmt. Aber trotz des Termindrucks, der durch ein Verlagskontrakt entstand, unterbrach er die Arbeit am Untertan, um das Revolutionsdrama "Madame Legros" zu schreiben.

Während der Entstehungsphase des Untertan trägt dieser noch den Untertitel "Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II" und macht dadurch deutlich, welchen Anspruch Mann mit dem Roman verfolgt. Seine Kritik an der deutschen Nation und ihrer Staatsform wird dargestellt durch die Gegenüberstellung des Oben und des Unten. Das Sinnbild hierfür ist das Verhalten des Untertan, der das Produkt einer reglementierten Erziehung ist. Heinrich Mann läßt sowohl die

unterschiedlichsten Zeitereignisse, die für ihn von Bedeutung sind, einfließen, als auch Eindrücke aus seiner Jugend in Lübeck.

Zunächst begann die Veröffentlichung am 1. Januar 1914 als Fortsetzungsroman in einer Münchner Zeitschrift. Diese wurde allerdings am 13. August abgebrochen, da die Zeitung davor zurückschreckte eine solche Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen zu drucken. Da mittlerweile der Krieg ausgebrochen war, fügte sich Heinrich dem Wunsch der Redaktion. Erst vier Jahre später (1918) erscheint "Der Untertan" als Roman.

Am 12. August 1914 hatte Heinrich Mann eine Schauspielerin aus Prag, Maria Kanova, geheiratet. Ansonsten wurde sein Privatleben überschattet durch die zunehmende Entfremdung von seinem Bruder Thomas. Dieser konnte die politische Wanderung seines Bruders nicht verstehen und wendete sich von ihm ab. Selbst öffentlich distanzierten sich die beiden voneinander. Das Werk "Gedanken zum Krieg", von Thomas Mann im November 1914 verfaßt, enttäuscht und verletzt Heinrich tief. Thomas Mann schreibt darin von einer "deutschen Seele" und verfällt der allgemeinen Kriegsbegeisterung. Dies führt dazu, daß Heinrich alle Brücken zu seinem Bruder abbricht. Nun entbrannte ein langer Konflikt zwischen den beiden, der oftmals literarisch ausgetragen wurde. Am Ende des Jahres 1917 bietet Heinrich Mann die Versöhnung an, die aber von Thomas schroff abgelehnt wurde. Erst vier Jahre später kam es zur Aussöhnung zwischen den beiden Brüdern.

1916 erblickte Manns Tochter, Henriette Maria Leonie, das Licht der Welt. Mittlerweile war Heinrich Manns Lebenswandel ruhiger und sittsamer geworden. Die Eheleute Mann hatten eine gemeinsame Wohnung im Zentrum von München und Heinrich hatte sich einen regelmäßigen Arbeitsstil mit festen Arbeitszeiten angewöhnt.

1917 erschien die Fortsetzung des Untertan unter dem Titel "Die Armen". Eine weitere Fortführung des Themas wurde 1925 durch "Der Kopf" erreicht. Als einer der ersten Schriftsteller weißt er in diesem Werk auf die Gefahren des aufkommenden Faschismus hin.

Als am 11.11.1918 der 1. Weltkrieg zu Ende ging, stellte sich Heinrich Mann sofort der neuen bayrischen Regierung zur Verfügung. Er versuchte die bürgerlichen und die sozialistischen Tendenzen zu einem Standpunkt zu vereinen. Radikale Positionen lehnte er ab, außer die Radikalität des Geistes. Den ideologischen und machtpolitischen Kämpfen der folgenden Jahren stand er mit Verachtung gegenüber. Er trat für den Ausgleich der herrschenden sozialen Differenzen ein. Er propagiert ein Programm, daß für den kleinen Bürger eintritt. Alles in allem kann

man sein Verhalten und seine Äußerungen, während der ersten Jahre der Republik, als positive Kritik an den herrschenden Umständen zusammenfassen. Die Kritik bleibt so formuliert, daß sie die Staatsform unangetastet läßt.

Allerdings reifte in ihm immer mehr die Einsicht, daß die Industrie die Demokratie für ihre Zwecke benutzte und so in Deutschland langsam aber sicher eine Plutokratie entstand, in der nur die Besitzenden etwas zu sagen hatten. Diese Erkenntnis über das Versagen der bürgerlichen Staatsform, brachte ihn dazu immer öfters eine soziale Demokratie zu fordern. Mit dieser Forderung entfernte er sich von seinen bürgerlichen Schriftstellerkollegen und war ihnen damit weit voraus.

1928 war Heinrich Mann nach Berlin gezogen, dem kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Zentrum Deutschlands. Berlin stellte in dieser Zeit einen unvergleichbaren Schmelztiegel dar. Hier mischte sich Bürgerliches mit Sozialistischem, amerikanisches mit deutschem Gedankengut und vieles mehr. Der Entschluß nach Berlin zu ziehen war schon länger in Heinrich Mann gereift, aber erst nach der Trennung von seiner Frau setzte er ihn in die Tat um. In Berlin freundete er sich bald mit Trude Hesterberg an, die ihn dazu bewegen konnte, den "Professor Unrat" zur Verfilmung freizugeben. 1931, als sein Ansehen in Deutschland seinen Höhepunkt erreichte, wurde er zum Präsident der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste ernannt.

In dieser Funktion setzte er sich immer wieder für die Freiheit der Dichtkunst und deren erzieherischen Anspruch ein. Er trat öffentlich und auf recht scharfe Art für die Geistesfreiheit ein. Schon früh warnt er vor den Gefahren des Dritten Reiches und befürchtet, daß sowohl die Errichtung, als auch der Untergang dieses Reiches mit sehr viel Blut verbunden sein werde.

1933 unterschreibt er zusammen mit Käthe Kollwitz und Albert Einstein einen Aufruf zur Einigung von SPD und KPD um gemeinsam gegen die Nationalsozialisten vorzugehen. Daraufhin wird der Akademie der Künste nahegelegt Heinrich Mann aus seinem Amt zu entlassen, was am 15.02.1933 dann auch geschieht. Am 21.02.1933 reißt Heinrich Mann aus Berlin ab. Er weiß nicht, daß er Deutschland niemals wieder betreten wird. Er reißt über Frankfurt, Straßburg nach Nizza, wo er die nächsten acht Jahre seines Lebens verbringt.

Im französischen Exil tritt Heinrich Mann verschiedenen Organisationen bei, die gegen Faschismus und Krieg wirken. 1936 erlangt er die tschechische Staatsbürgerschaft. Seine geschiedene Frau und seine Tochter leben bereits seit 1933 in Prag.

1939 heiratet er die siebenundzwanzig Jahre jüngere Nelly Kröger, mit der er das Exil teilt. Trotz Ausbruch des Krieges, Blitzkrieg gegen Frankreich und schließlich

Kapitulation Frankreichs bleibt er so lange wie nur möglich in Nizza. Erst 1940 flieht er über Spanien und Portugal in die USA. Der Abschied von Europa trifft ihn schwer, schwerer als der Abschied von Deutschland.

In den USA erhält er eine Wohnung in Los Angelos, genauer gesagt in Santa Monica, Hollywood. Dort lebt und arbeitet er bis zu seinem Tod. Dieses letzte Jahrzehnt seines Lebens ist durch Vergessenheit, Einsamkeit und Undankbarkeit gekennzeichnet. Dennoch sammelt der nunmehr siebzigjährige Heinrich Mann seine dichterischen und produktiven Kräfte und schreibt eine Reihe erzählerische Arbeiten, die einen durchweg kritischen Charakter aufweisen. Im ersten Jahr seines Aufenthalt in den USA arbeitet er mit anderen emigrierten deutschen Schriftstellern für Warner Bros. Ansonsten ist er auf Unterstützung durch seinen Bruder Thomas, der schon vor ihm ins amerikanische Exil ging, angewiesen.

1944 wird er durch den Freitod seiner zweiten Frau Nelly erschüttert. Einer seiner bedeutendsten Schriften aus der amerikanischen Periode "Ein Zeitalter wird besichtigt" erscheint 1945. In den letzten Jahren seines Lebens kehrt Heinrich Mann zu den Gewohnheiten aus jungen Jahren zurück und ließt französische und deutsche Romantiker und Prosa. 1949 wird er zum ersten Präsidenten der neu geschaffenen Deutschen Akademie der Künste zu Berlin (Ost) berufen. Sein Bruder Thomas bereitet alles für eine Rückkehr nach Deutschland vor. Am 28.04.1950 soll ein polnisches Schiff Heinrich Mann aus seinem zehn jährigen amerikanischen Exil nach Hause bringen. Doch zwei Monate vor der geplanten Heimkehr stirbt Mann am 28.02.1950 in folge einer überraschenden Hirnblutung. Seine Urne wird 1961 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zu Berlin zur ewigen Ruhe gebettet.

Zusammenfassend kann man sagen, daß sich die frühen Erfahrungen in seinem Elternhaus, wie ein roter Faden durch sein Leben ziehen. Durch die Ablehnung, der von den Eltern vorgelebten bürgerlichen Normen, baut der junge Heinrich Mann eine Position auf, in der er seiner Umwelt mißtraut, ja sie sogar verachtet. Er kritisiert seine Umgebung, kann allerdings nichts eigenes produktives entgegensetzen. So sucht er nach Alternativen und findet sie scheinbar in konservativen Theorien und Ansichten. Jedoch wird ihm, je länger er sich mit diesen Ansichten auseinandersetzt, deutlich, daß sie gar keine Alternativen darstellen. Im Gegenteil, entweder sind leere Worthülsen oder gerade die Theorien, die die ungeliebte Umwelt erst erschaffen haben. Um sich davon zu distanzieren, auch räumlich, führt er um die Jahrhundertwende ein unstetes, unbürgerliches Leben. Der Wunsch nach Alternativen zur bürgerlichen Welt spiegelt sich auch in seiner Zuneigung zur Welt der Künstler wieder. Aber trotz aller seiner kritischen Werke und Ansichten bleibt er doch in der bürgerlichen Welt verwurzelt, eine

Tatsache, die auch Mann selbst bewußt wurde. Seine Werke spiegeln neben der Kritik auch immer ein Stück Verbundenheit mit der bürgerlichen Welt wieder. Die von ihm geäußerte Kritik ist aus der Sicht des Betroffenen geschrieben und nicht aus der, des Außenstehenden. Das verleiht ihr eine besondere Prägnanz und Treffsicherheit. Auch die Tatsache, daß er im Leben selbst isoliert und ein Außenstehender war, erklärt manche Stellen in seinem Werk. Trotz, oder gerade wegen seiner zeitgenössischen Kritik, steht er heute im Bekanntschaftsgrad hinter seinem Bruder Thomas Mann zurück.

Die Wilhelminische Ära

In diesem Abschnitt meiner Arbeit möchte ich die Zeit, in der "Der Untertan" spielt, ein wenig beleuchten. Ich werde dazu einige Daten und Geschehnisse dieser Epoche, die als Wilhelminische Ära oder Gründerzeit in die Geschichtsbücher eingegangen ist, aufzeigen. Mit diesem Anschnitt der deutschen Geschichte verbindet man allgemein Schlagwörter wie Bismarck, Flottenaufbau, Kannonenbootpolitik, Marokokrise, Kolonialismus, Imperialismus und vieles mehr. Ich denke, daß es sinnvoll für den Leser des Untertan ist, Informationen zu erhalten, die diese Schlagwörter und die damit verbundene Zeit ordnen. Ich möchte deshalb an dieser Stelle einen kleinen Einblick geben, der sowohl politische, als auch wirtschaftliche, wie auch kulturelle Informationen enthält. Durch die Darstellung der Wilhelminischen Ära erreiche ich zwei Ziele, zum einem wird dem Leser die Zeit näher gebracht in der der Roman spielt, und zum anderen wird der situative Kontext deutlich, in dem Heinrich Mann den Untertan geschrieben hat.

Der Vorabend der Reichsgründung

Im Vorfeld der Reichsgründung beherrschte die Dualität zwischen Preußen und Österreich die Politik in Deutschland. Beide Staaten stritten um die Vormachtstellung im Deutschen Bund. In den Jahren 1865 und 1866 wurden die Konflikte der beiden Kontrahenten immer heftiger. Beide Seiten versuchten durch geschickte Bündnisse den anderen zu isolieren. Allerdings verstießen diese Bemühungen gegen bestehende Bundesgesetze, so daß Preußen, aus Protest, Holstein besetzte, während Österreich gegen Preußen mobil machte. Es entwickelten sich rasch zwei Blöcke, denen sich die verschiedenen deutschen Fürsten und Staaten anschlossen, kaum einer blieb neutral. Während sich Preußen schnell und zielsicher formierte, liefen die Vorbereitungen in Österreich etwas zögerlich und schleppend an.

Die entscheidende Schlacht findet am 03. Juli 1866 bei Königgrätz statt. Diese Schlacht geht in die Geschichtsbücher ein, da sich hier fast eine halbe Million Soldaten auf engsten Raum gegenüber gestanden haben. Österreich schickte 215028 Mann in die Schlacht und Preußen bot 220982 Mann auf. Zuerst wogte der Kampf über längere Zeit hin und her und keiner der Gegner konnte einen klaren Vorteil erlangen, dann konnten allerdings die preußischen Truppen die Initiative an sich reißen und gewannen die Schlacht. Trotz der Masse an Menschen die an dem Gefecht beteiligt waren, hielten sich die Verluste in Grenzen. Preußen verlor 9153 Mann, während Österreich zusammen mit den verbündeten Sachsen 44360 Mann

verloren. Dieser Sieg Preußens macht den Weg frei für die Kleindeutsche Lösung, einer Vereinigung der deutschen Staaten ohne die Beteiligung Österreichs. Als Folge des Deutschen Krieges wurde 1867 der Norddeutsche Bund unter Vorherrschaft Preußens gegründet und das Kaiserreich Österreich wurde in die Doppelmonarchie Österreich - Ungarn umgegliedert.

3 Jahre später, am 16. Juli 1870 bricht der Deutsch - Französische Krieg aus, der im Januar 1871 mit der Kapitulation der Franzosen endet. Am 18.01.1871 wird im Spiegelsaal von Versailles Wilhelm I zum deutschen Kaiser proklamiert.

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Reichsgründung und Gründerjahre

Mit diesem Datum endet in Deutschland eine Jahrhunderte alte Zersplitterung. Der Flickenteppich des alten deutschen Reiches wird durch das neue Kaiserreich zusammengefügt. Für viele Deutsche ist dies der Grund einen starken Nationalstolz zu entwickeln. Die Reichseuphorie läßt sich fast in allen Lebensbereichen wiedererkennen. Die letzten Zollbarrieren fallen und die Einigung des Reiches führt dazu, daß auch der Zersplitterung des Kapitals und der Wirtschaft entgegen gewirkt wird. Überall in Deutschland wird investiert und neue Firmen schießen wie Pilze aus dem Boden. Allerdings kommt es zunächst nicht zu einer Blüte der Wirtschaft, sondern im Gegenteil die 1873 einsetzende Weltwirtschaftskrise reißt auch Deutschland mit. Hauptauslöser im Reich war allerdings die Tatsache, daß in

Deutschland seit dem Sieg über Frankreich ungeheure Geldmassen in Umlauf kamen. Denn nach dem Kriege zahlte Frankreich die geforderten Reparationszahlungen in Höhe von über 5 Milliarden Mark, in bar an das Deutsche Reich. Die Reichsregierung wiederum bezahlte damit augenblicklich die aufgenommenen Kriegsanleihen zurück und erhöhte so drastisch die Menge, des sich im Umlauf befindlichen Geldes. Dies führte zunächst zu einem kurzen Aufblühen des Aktien- und Bankgeschäfts. Allerdings waren viele dieser Aktien ihr Geld nicht wert oder gehörten zu Scheinfirmen. Die Euphorie der Gründerzeit ließ die Menschen blind werden. Ein zeitgenössischer Historiker, Heinrich von Trietschke meinte dazu:"... in der Gründerzeit hätten sich anscheinend die Grenzen der menschlichen Dummheit ins unermeßliche erweitert, ... " (BECHTEL, S.378) Schon im Oktober 1873 wird den Spekulanten, aber auch den soliden Geschäftsleuten, die Rechnung präsentiert. Es erfolgt der Zusammenbruch der Börse, gefolgt von unzähligen Banken und Industrieunternehmen. Dieser Krise folgten sechs Jahre stetigen Niedergang der Wirtschaft. Insgesamt dauert die Stockungsspanne von 1873 bis 1894. Besonders die ersten Jahre dieser Rezession bedeuteten zunehmende Arbeitslosigkeit und eine Verschärfung der sozialen Gegensätze. Diese Folgen der Wirtschaftskrise waren wiederum die Ursache für die Sozialgesetzgebung von Bismarck, sowie für den Erlaß des Sozialistengesetzes. Ab 1895 setzte dann ein wirtschaftlicher Aufschwung ein, der bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieg anhielt.

Ideologische Strömungen

Neben den wirtschaftlichen Gegebenheiten, gab es natürlich noch eine große Anzahl weiterer Faktoren, die diese Zeit prägten und gestalteten. Wichtige Phänomene dieser Epoche waren: Kolonialismus, Imperialismus und Militarismus. Der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts unterschied sich von dem früherer Zeiten dadurch, daß die Ausbeutung der Kolonien durch die Wirtschaft bzw. der Industrie bestimmt wurde. Es war ein arbeitsteiliger Prozeß. In den Kolonien wurden die Rohstoffe gewonnen, um die Industrie in den Mutterländern zu versorgen. Die dort hergestellten Fertigprodukte wurden dann wieder in alle Welt exportiert, nicht zuletzt wieder zurück in die Kolonien. Der hohe Gewinn, der dabei in den Mutterländern erwirtschaftet wurde, ließ natürlich alle Unternehmer nach neuen Kolonien verlangen. So auch in Deutschland. Bismarck stand dem Erwerb von Kolonien zuerst skeptisch gegenüber, da er Konflikte mit England und Frankreich befürchtete. Er mußte sich allerdings Mitte der achtziger Jahre dem "Verlangen breiter bürgerlicher Kreisen" (NEUGEBAUER, S.197) beugen. Bald schon beteiligte sich Deutschland am Rennen der Nationen um einen Platz an der Sonne,

wie das Schlagwort dieser Zeit es nannte. Andere Zitate, die die Runde machten, beschreiben den Zeitgeist jener Tage sehr treffend. So richtete sich die Politik nach dem Motto: Weltmacht oder Niedergang, und im Sinne des aufkommenden Sozialdarwinismus, der das Recht des Stärkeren propagiert, sagten die Deutschen voll Überzeugung: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.

Zuerst waren die neuen außereuropäischen Erwerbungen meist private Grund- und Eigentumskäufe. Doch bald schon sahen sich die Mutterstaaten in die Pflicht genommen den auswärtigen Besitz ihrer Bürger zu schützen, verteidigen und zu verwalten. So mußte man sich Sicherungsmaßnahmen einfallen lassen. Außerdem wollte man diesen Besitz nicht nur schützen sondern auch vermehren, so daß die Sicherungsmaßnahmen immer aggressiver wurden und eine gewisse Eigendynamik entwickelten. So verwandelte sich der Kolonialismus immer mehr in den Imperialismus. In Deutschland waren die Auswirkungen der Wirtschaftskrise ein entscheidender Grund, für die Aufnahme imperialistischer Politik. Ab und zu wurde Versuche unternommen die imperialistischen Strategien in Bahnen zu lenken, wie zum Bsp. bei der Berlin - Konferenz Anfang der achtziger Jahre. Hier wollte man sich auf diplomatischem Wege über die Verteilung der Kolonien einigen. Doch die Staaten setzten auf ein anderes Mittel als die Diplomatie, um ihre Interessen durchzusetzen, nämlich auf das Militär.

Der Militarismus, der sich daraus entwickelte, war nicht allein auf Deutschland begrenzt. Allerdings erlangte dieses Phänomen hier eine besondere Qualität. Nirgendwo sonst in Europa wurde das Militärische so in den Vordergrund gestellt wie hier. In Deutschland hielten militärische Sitten und Formen in alle Gesellschafts- und Lebensbereiche Einzug. Ob dies Studentenvereinigungen, Schulen, Vereine oder die Kindermode (Matrosenanzüge) waren, überall spürte man die Präsenz des Militarismus. Auch politische Entscheidungen unterlagen militärischen Aspekten. Der Krieg war legitimes Mittel der Politik geworden und wurde sogar moralisch aufgewertet, indem man sagte, daß im Krieg die edelsten Tugenden, wie Opferbereitschaft, Vaterlandsliebe, Treue und Tapferkeit zum Vorschein kämen. Der Krieg wurde verherrlicht und herbei gesehnt.

Der Fortschritt

Ein weiterer Faktor, den ich kurz anreißen möchte, ist der technische Fortschritt, der die Industrialisierung ermöglichte und so zu erheblichen gesellschaftlichen Konsequenzen geführt hat. Während die Industrialisierung in anderen Ländern schon weit fortgeschritten war, steckte sie in Deutschland (vor der Reichsgründung) noch in den Kinderschuhen. Sie entfaltete sich erst nach 1870 / 71.

Auch im technisch / wissenschaftlichen Bereich wirkte sich der Militarismus des Kaiserreichs aus. Dadurch, daß das Militär Ausrüstungsgegenstände in hoher Stückzahl benötigte, wurde neue Produktionsmethoden in der Industrie eingeführt. Der Herstellungsprozeß wurde arbeitsteilig organisiert und durch neue Verfahren konnte die Massenproduktion ermöglicht werden. Da dies bis zu jener Zeit für zivile Produkte so gut wie unbekannt war, stellte es einen erheblichen Fortschritt dar. Als diese Produktionsmethode dann auch im zivilen Bereich übernommen wurden, konnten die Waren billiger produziert werden und verkauft werden, was zu einem enormen Wirtschaftsaufschwung führte. Dieses ermöglichte erst das, was heute als Konsum bekannt ist. Natürlich hatte die Veränderung der Produktionsmethoden auch andere Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben. Diese Auswirkungen sind ebenfalls Gegenstand des Untertans.

Aber nicht nur die Produktionsart, sondern natürlich auch die Produkte selbst wurden durch den technischen Fortschritt revolutioniert. Die Innovationen auf dem Sektor Transport und Kommunikation, die für immer mehr Menschen zugänglich wurden, veränderten ebenfalls die Gesellschaft.

Eine weiterer wichtiger Punkt ist, daß die Erfindungen und Forschungen immer weiteren Wissensdurst und Forscherdrang hervorbrachten. Diese Tatsache und der Stolz auf das bisher erreichte, legten den Grundstein für einen ungeheuren Fortschrittsoptimismus und ein Glauben an die Technik der besonders nach der Jahrhundertwende deutlich sichtbar wird.

Die Politik des Kaiserreichs

Nach der Betrachtung der wirtschaftlichen - und technischen Vorgängen, sowie der vorherrschenden konservativen Geistesströmungen, möchte ich mich nun der deutschen Politik jener Zeit widmen.

Sowohl Außen - als auch Innenpolitik des Deutschen Reiches wurden nachhaltig von Bismarck geprägt. Die Grundmaxime seines Handelns, war es immer, daß "... der Staat nach außen und innen stark und unerschüttert ... (KELLNER. S.94) dasteht. Bismarck war Staatspraktiker und folgte keiner Doktrin, außer der des preußischen Staatsgedanken.

Die Außenpolitik Bismarcks wurde durch sein Bündnissystem berühmt, daß durch seine Nachfolger nicht weitergeführt wurde. Die außenpolitische Lage des neu gegründeten Reiches war nicht einfach. Schon kurz nach dem Deutsch - Französischen Krieg, kam es 1875 schon fast wieder zu einem Konflikt mit Frankreich. Frankreich hatte sich überraschend schnell vom Krieg erholt und verabschiedete ein neues Wehrgesetz, welches als Vorbereitung für einen Revanchekrieg in Deutschland aufgefaßt wurde. Trotz Stimmen, die einen

[...]


1 Mann orientiert sich an Goethes "Wahlverwandschaften" und erzählt "eine Ehebruchsgeschichte, mit versöhnlichem Ausgang" (SCHRÖTER 1967, Seite 34)

Ende der Leseprobe aus 89 Seiten

Details

Titel
Der autoritäre Charakter in Literatur und sozialwissenschaftlichen Theorien
Hochschule
Universität der Bundeswehr München, Neubiberg  (Fakultät Pädagogik)
Note
Gut
Autor
Jahr
1995
Seiten
89
Katalognummer
V51788
ISBN (eBook)
9783638476652
Dateigröße
965 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Vergleichende Arbeit zwischen dem psychologischen Konstrukt "Autoritärer Charakter" gemäß Adorno und der Romanfigur Dietrich Hessling aus dem Roman "Der Untertan" von Heinrich Mann.
Schlagworte
Charakter, Literatur, Theorien
Arbeit zitieren
Christoph Fournier (Autor:in), 1995, Der autoritäre Charakter in Literatur und sozialwissenschaftlichen Theorien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/51788

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