Die Selbstbestimmungsaufklärung im Medizinstrafrecht. Limitierte Zivilrechtsakzessorietät zur Begrenzung strafrechtlicher Haftung für Aufklärungsmängel?


Studienarbeit, 2015

35 Seiten, Note: 14 Punkte (sehr gut)


Leseprobe


Gliederung

I. Einleitung

II. Funktion und Begründung der Selbstbestimmungsaufklärung
1. Funktion
2. Begründung
a. Verfassungsrechtlicher Schutz der Selbstbestimmungsaufklärung
aa. Auffassungen
bb. Stellungnahme
b. Hochrangige Rechtsgüter und Informationsasymmetrie

III. Rechtshistorische Entwicklung der Selbstbestimmungsaufklärung
1. Ausgangspunkt und Entwicklung zu einer Pflicht
2. Erweiterung der Anforderungen
3. Ergebnis

IV. Anforderungen an die Selbstbestimmungsaufklärung
1. Arten der Selbstbestimmungsaufklärung
a. Diagnoseaufklärung
b. Verlaufsaufklärung
c. Risikoaufklärung
2. Umfang
a. patientenbezogene Aufklärung im „Großen und Ganzen“
b. Spezielle Kriterien
c. Alternative Behandlungsmethoden
3. Durchführung
4. Wegfall

V. Lösungsansatz: Limitierte Zivilrechtsakzessorietät
1. Darstellung
a. Grundüberlegung
b. Begrenzung durch Eingriffsbezug
2. Kritik
a. Rechtsgut der Körperverletzungsdelikte
aa. Schutz des Bestands
bb. Gegenargumente
cc. Zwischenergebnis und Folge
b. Begrenzung des Selbstbestimmungsrechts
aa. Sinnlose Körperverletzung für den Patienten
bb. Missbrauch durch den Arzt
cc. Unterscheidung nach objektivem Kriterium
dd. Zwischenergebnis
c. Missachtung der Einheit der Rechtsordnung bei Rechtfertigungsgründen und ultima-ratioPrinzip
d. Täuschung
e. Vergleich mit anderen Rechtsfiguren
f. Keine richtige Haftungsbeschränkung
g. Sonstige Gründe
h. Ergebnis

VI. Alternativen
1. Anwendung des Patientenrechtegesetzes im Strafrecht
2. Grobe Fahrlässigkeit

VII. Schluss

Literatur

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I. Einleitung

Nach Kant wird in der Autonomie der Person der „Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ gesehen.1 In unserer heutigen Gesellschaft hat die Autonomie einen hohen Stellenwert, obgleich in welcher Lage sich der Mensch befindet. Auch dem Patienten in der Medizin wird versucht, diese Autonomie mittels der Selbstbestimmungsaufklärung2 zu gewährleisten. Danach soll der Patient regelmäßig zunächst vom Arzt gewisse Informationen erhalten, um sich dann für oder gegen eine ärztliche Behandlungsmaßnahme entscheiden zu können. An diese Aufklärung sind Anforderungen gestellt, an die sich der Arzt halten muss. Wenn er diese Vorgaben nicht einhält, dann kann gegebenenfalls seine Einwilligung (§ 228 StGB) nicht mehr als autonom angesehen werden, sodass es zur Unwirksamkeit der Einwilligung führt und damit die Strafbarkeit des Arztes nach §§ 223, 229 StGB begründet wird.3 Der Arzt trägt somit ein hohes strafrechtliches Risiko.

Es muss daher ein Kompromiss zwischen dem Interesse des Patienten an Beachtung seiner Selbstbestimmung und dem Interesse des Arztes, keinen hohen strafrechtlichen Risiken ausgesetzt zu sein, gefunden werden. Eine mögliche Lösung stellt die „Limitierte Zivilrechtsakzessorietät“ von Karsten Gaede dar, nach dem die Anforderungen an die Aufklärungspflicht begrenzt werden sollen.4

Im Rahmen dieser Seminararbeit wird zunächst auf die Selbstbestimmungsaufklärung im Strafrecht eingegangen. Anschließend wird der neue Ansatzpunkt „Limitierte Zivilrechtsakzessorietät“ zur Begrenzung der ärztlichen Haftung bei Aufklärungsmängeln dargestellt sowie kritisiert. Zum Schluss soll ein eigener Lösungsvorschlag aufgezeigt werden.

II. Funktion und Begründung der Selbstbestimmungsaufklärung

1. Funktion

Die Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff setzt eine vorherige Selbstbestimmungsaufklärung des Patienten durch den Arzt voraus. Durch seine Einwilligung kann der Patient dann die körperbezogenen Schutznormen außer Kraft setzen.5

Da eine unzureichende Aufklärung zur Unwirksamkeit der Einwilligung und damit zu einer Strafbarkeit des Arztes führen kann, ist der Einzelne somit vor unerwünschten Eingriffen, über die er nicht hinreichend aufgeklärt wurde, über die Körperverletzungsdelikte geschützt.6

Außerdem wird, soweit der Eingriff lege artis durchgeführt wird, die Risikozuständigkeit des Arztes für den Eingriff auf den Patienten verschoben, wenn er ordnungsgemäß aufgeklärt wurde und in den Eingriff eingewilligt hat.7

2. Begründung

Im englischen Recht beispielsweise kann eine Aufklärungspflichtverletzung grundsätzlich nur Gegenstand einer fahrlässigen zivilrechtlichen Haftung sein. Nur ausnahmsweise liegt eine unwirksame Einwilligung aufgrund einer Aufklärungspflichtverletzung vor, die dann eine Strafbarkeit des Arztes nach dem „Offences against the Person Act (1861)“ begründet.8 Damit eine wirksame Einwilligung in der englischen Rechtsordnung vorliegt, muss der Patient lediglich einwilligungsfähig sein, über die Natur des Eingriffs, einschließlich des Zwecks, angemessen informiert worden sein und die Zustimmung freiwillig erteilt haben.9 Dies beruht auf der Vorstellung, dass das Strafrecht kein geeignetes Mittel ist, um die ärztliche Aufklärung durchzusetzen.10 Dieser Rechtsvergleich zeigt, dass es nicht selbstverständlich ist, dass die Aufklärung eine Voraussetzung der Einwilligung im Strafrecht darstellt.

a. Verfassungsrechtlicher Schutz der Selbstbestimmungsaufklärung

Die Strafrechtsnormen stellen ein Mittel zur Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht durch den Staat dar,11 sodass zunächst eine Ableitung aus der Verfassung in Betracht kommt.

Die Selbstbestimmungsaufklärung durch den Arzt wird aus dem im Grundgesetz verankerten Selbstbestimmungsrecht des Patienten abgeleitet.12 Der ärztliche Eingriff des Patienten wird als Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gesehen.13 Es ist jedoch umstritten, aus welchem Grundrecht das körperbezogene Selbstbestimmungsrecht des Patienten abgeleitet wird.

aa. Auffassungen

Einer Auffassung zufolge wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG hergeleitet.14

Einer anderen Ansicht zufolge wird das körperbezogene Selbstbestimmungsrecht durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG geschützt.15

bb. Stellungnahme

Grundrechte sollen dem Träger Freiheit gewährleisten. Art. 2 Abs. 2 GG ist eine Ausprägung von Art. 2 Abs. 1 GG, das der persönlichen Entfaltung dient und einen Auffangtatbestand darstellt. Daraus kann man schließen, dass auch Art. 2 Abs. 2 GG als individuelles Freiheitsrecht gesehen wird und somit auch das körperbezogene Selbstbestimmungsrecht schützt.16 Außerdem sprechen die regelmäßig stattfindende Einwirkung auf den Körper sowie die durch die Einwilligung zum Ausdruck kommende Duldung dieses Eingriffs für eine Herleitung aus dem spezielleren Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG.17 Schließlich würde es zu einer Kollision der zwei Grundrechte kommen, wenn Art. 2 Abs. 1 GG das körperbezogene Selbstbestimmungsrecht schützt und Art. 2 Abs. 2 GG die Pflicht des Gesetzgebers zum objektiven Schutz der körperlichen Unversehrtheit beinhaltet. Dies würde zu einer Isolierung des Schutzguts und dem Willen des Patienten führen sowie das Freiheitsrecht mindern.18 Durch den einheitlichen Schutz des Schutzguts körperliche Unversehrtheit sowie des auf dieses bezogene Selbstbestimmungsrechts in Art. 2 Abs. 2 GG wird eine Aufspaltung des Patientenschutzes auf unterschiedliche Grundrechte vermieden.19 Somit wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet.20 Voraussetzung für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts mittels der Einwilligung ist, dass der Patient vorher von einem Arzt aufgeklärt wird.

b. Hochrangige Rechtsgüter und Informationsasymmetrie

Die Voraussetzung einer ärztlichen Aufklärung zur Abgabe einer Erklärung steht im Widerspruch zu dem grundsätzlich geltenden Prinzip der Privatautonomie, nach dem jeder für sich selbst verantwortlich handelt und Informationspflichten grundsätzlich nicht verlagert werden.21 Es soll im Folgenden verdeutlicht werden, warum der Arzt trotz dessen den Patienten grundsätzlich aufklären muss.

Der Arzt hat zunächst durch den Eingriff einen großen Einfluss über die hochrangigen verfassungsrechtlichen Rechtsgüter Leben und Gesundheit. Über diese Rechtsgüter disponiert der Patient und verzichtet mit seiner Einwilligung auf den Schutz darauf,22 sodass es auch infolge des mit dem ärztlichen Eingriff verbundenen Risikos angemessen erscheint, dass er vor dem Eingriff von einem Spezialisten in diesem Gebiet aufgeklärt wird, nämlich von einem Arzt,23 der regelmäßig auch zugleich der Eingreifende ist und den Überblick hat.

Außerdem handelt es sich bei ärztlichen Eingriffen um komplizierte Zusammenhänge, die dem Patienten als regelmäßig medizinischen Laien unbekannt sind und erst durch die ärztliche Aufklärung veranschaulicht werden.24 Es besteht eine Informationsasymmetrie zwischen dem Arzt aufgrund seines Wissens und dem Patienten, der regelmäßig strukturell unterlegen ist. Die Verlagerung der Informationszuständigkeiten soll dieser asymmetrischen Beziehung entgegentreten.25 Schließlich ist eine Risikoübernahme durch Einwilligung in Anlehnung an die Rechtsfigur der einverständlichen

Fremdgefährdung nur möglich, wenn der Gefährdete, nämlich der Patient, das Risiko im gleichen Maß übersehen kann wie der Gefährdende, nämlich der Arzt.26

III. Rechtshistorische Entwicklung der Selbstbestimmungsaufklärung

Dass der Patient als mündig angesehen wird, der selbst entscheiden soll, und dass der Arzt und der Patient die Krankheit gemeinsam angehen,27 lag nicht immer vor.

1. Ausgangspunkt und Entwicklung zu einer Pflicht.

Ausgangspunkt ist die Entscheidung vom Reichsgericht im Jahr 1894, in der der ärztliche Eingriff unabhängig von einem möglicherweise eintretenden Heilerfolg als tatbestandsmäßige Körperverletzung angesehen wurde. Der Wille des Patienten sei maßgeblich, der zur Straflosigkeit des ärztlichen Eingriffs führen könne.28 Diese Auffassung wird im Anschluss in ständiger Rechtsprechung übernommen.29

Erst im Jahr 1912 beschäftigte sich das Reichsgericht in Zivilsachen mit der ärztlichen Aufklärungspflicht. Es hat eine Aufklärung über alle möglichen Folgen des Eingriffs abgelehnt, da der Patient dadurch abgeschreckt werde und den gebotenen Heileingriff nicht zulassen würde oder die Heilung gefährde.30 Die Aufklärung wurde somit in das Ermessen der Ärzte gelegt und der Patient musste sie vielmehr einfordern.31 Von einer Selbstbestimmung konnte nicht gesprochen werden.

Seit den 1930er Jahren forderte das Reichsgericht nunmehr in einigen Entscheidungen eine ärztliche Aufklärung.32 Dem Patienten soll der Befund33 mitgeteilt werden und er soll darüber informiert werden, wenn der Eingriff nicht zweifelslos zum gewünschten Erfolg führt und wenn bestimmte Nebenfolgen eintreten können.34 Wenn durch die Aufklärung das Allgemeinbefinden des Patienten beeinträchtigt wird, dann muss dies hingenommen werden.35 In dieser Entscheidung hat das Reichsgericht dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und nicht der ärztlichen Fürsorgepflicht den Vorrang eingeräumt.36

Der Bundesgerichtshof in Strafsachen leitete dann den Schutz vor eigenmächtiger Heilbehandlung aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ab und stellte fest, dass der Arzt nicht auf die Entscheidung eines vernünftigen Patienten abstellen soll, sondern auf den konkreten Patienten.37 Die Rechtsprechung entwickelte die Anforderungen an die Selbstbestimmungsaufklärung fort38 und bemüht sich, die Anforderungen im Zivilund Strafrecht weitestgehend anzugleichen.39

2. Erweiterung der Anforderungen

Der Grund der Erweiterung der Aufklärungspflichten liegt insbesondere im Zivilrecht. Sie wurden überwiegend an Fällen erarbeitet, in denen der Behandlungsfehler schwer nachweisbar war, und vom Patienten deswegen oft eine Aufklärungspflichtverletzung geltend gemacht wurde.40 Diese leichter beweisbare Aufklärungspflichtverletzung anknüpfend an die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts und nicht immer an die Körperverletzung41 kommt gelegen, da im Zivilrecht dem Opfer Recht durch einen Schadensausgleichs widerfahren soll. Außerdem wird aus Mitgefühl mit dem Patienten berücksichtigt, dass der Arzt versichert und zahlungskräftig ist.42 Diese Erweiterung der Aufklärungspflichten mag im Zivilrecht vertretbar sein.43 Das Strafrecht hat jedoch das Ziel, angemessen auf das Fehlverhalten des Täters zu reagieren. Das Verhalten muss einen sozialen Unwert haben, um eine Kriminalstrafe zu legitimieren.44 Schließlich muss die Aufklärungspflichtverletzung an die körperliche Unversehrtheit anknüpfen, die Willensfreiheit als solche wird nicht strafrechtlich geschützt.45 Aufgrund der zivilrechtlichen Entwicklung der Aufklärungspflicht zu einer Auffangfunktion und den unterschiedlichen Zweckbestimmungen der Rechtsgebiete schlägt eine Ansicht eine eigenständige Beurteilung der Anforderungen an die Selbstbestimmungsaufklärung im Strafrecht vor.46

Am 26.02.2013 ist schließlich das Patientenrechtegesetz in Kraft getreten, das die zivilrechtlichen Anforderungen an die Selbstbestimmungsaufklärung zusammenfasst, um die Patientenrechte zu stärken und Rechtssicherheit zu schaffen. Zu klären ist unten, ob es auch im Strafrecht angewendet werden kann.

3. Ergebnis

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Patientenautonomie mittlerweile einen hohen Stellenwert erlangt hat. Die Entwicklung zu den hohen Anforderungen an die Selbstbestimmungsaufklärung wurde insbesondere durch die Annahme, dass der ärztliche Eingriff eine tatbestandliche Körperverletzung darstellt, durch die verfassungsrechtliche Verankerung des Selbstbestimmungsrechts, durch die ständige Fortentwicklung der Medizin und aufgrund des Umstands, dass Behandlungsfehler schwer nachweisbar sind, beeinflusst.

IV. Anforderungen an die Selbstbestimmungsaufklärung

Im Folgenden wird dargestellt, welche Anforderungen an die Selbstbestimmungsaufklärung nach der Rechtsprechung und der herrschenden Meinung gestellt werden. In der Literatur werden die Aufklärungsarten nicht einheitlich terminologisch festgelegt und die Grenzen gehen ineinander über.47 Abzugrenzen ist sie von der therapeutischen Aufklärung, die die Belehrung über Verhaltensregeln zur Sicherung des Behandlungserfolgs bezweckt und Teil der ärztlichen Behandlung ist.48

1. Arten der Selbstbestimmungsaufklärung

Die Selbstbestimmungsaufklärung umfasst die Diagnose-, Verlaufssowie die Risikoaufklärung.

a. Diagnoseaufklärung

Die Diagnoseaufklärung bezweckt die Mitteilung des ärztlichen Befunds und damit des Eingriffsgrundes. Ein Beispielsfall für einen Verstoß gegen die Diagnoseaufklärung ist das Urteil des Bundesgerichtshofs im Jahr 2004.49 Bei einer Schulteroperation war die Bohrerspitze im Knochen stecken geblieben. Um diese mit einer weiteren Operation zu entfernen, wurde dem Patient eine Schulterinstabilität vorgetäuscht.50

Wenn kein Eingriff bevorsteht, muss der Arzt aus strafrechtlicher Sicht grundsätzlich nicht über die Diagnose aufklären.51 Er muss den Patienten nur informieren, wenn dieser die Diagnose kennen muss, um notwendige Maßnahmen gegen die Verschlechterung seines Zustands zu unternehmen.52 Die genaue Diagnose muss wie in dem Gebärmutterhalskrebs-Fall des Bundesgerichtshofs53 geschehen nicht unbedingt vollständig mitgeteilt werden. Sie soll aber ganz mitgeteilt werden, wenn nur dadurch der Patient sich auf eine gebotene ärztliche Behandlung einlässt.54

b. Verlaufsaufklärung

Durch die Verlaufsaufklärung soll der Patient über die Art, Schwere, Umfang, Durchführung sowie Schmerzhaftigkeit des geplanten ärztlichen Eingriffs informiert werden.55 Außerdem muss dem Patienten die voraussichtliche Entwicklung seines Gesundheitszustandes bei Vornahme sowie bei Nichtvornahme des ärztlichen Eingriffs mitgeteilt werden, nämlich welche sicheren Folgen, Erfolgssowie Heilungsaussichten und Gefahren sowie Quoten des Misserfolgs mit dem geplanten Eingriff verbunden sind.56 Des Weiteren muss der Patient über mögliche Alternativen der Behandlung informiert werden.57

[...]


1 Kant in: Werke, A 79 (S.69).

2 Geilen, Einwilligung, S.80ff.

3 Schöch in: Medizinstrafrecht, S.54.

4 Gaede, Limitiert akzessorisches Medizinstrafrecht, S.48ff.

5 Schroth in: Medizinstrafrecht, S.31; BGHSt 11,111 (113f).

6 Schroth (Fn.5),S.37f.

7 Knauer in: Medizinstrafrecht, (2. Aufl.), S.23.

8 Fateh-Moghadam in: Medizinstrafrecht, S.907 ff.

9 Kennedy/Grubb in: Medical law, Rn. 3.06; 3.93ff; Fateh-Moghadam (Fn.8), S.907 f.

10 Fateh-Moghadam (Fn.8),S.909; Williams, Criminal Law: The General Part, S.570.

11 BVerfGE 39,1 (44 ff.); Hollenbach, Grundrechtsschutz, S. 75.

12 Fateh-Moghadam, Einwilligung S.191; Schöch (Fn.3), S.54.

13 Koppernock, Selbstbestimmung,S.56.

14 Ulsenheimer in: Arztstrafrecht,Rn.329.

15 Fateh-Moghadam (Fn.12),S.80.

16 Fateh-Moghadam (Fn.12)S. 83.

17 Hollenbach (Fn.11), S.51f.

18 Fateh-Moghadam (Fn.12) S.83f.

19 Hollenbach (Fn.11), S.52.

20 Minderheitenvotum zu BVerfGE 52,131(171, 175).

21 Gödicke, Formularerklärungen, S.55.

22 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn.434.

23 Gödicke (Fn.21),S.67.

24 Gödicke (Fn.21),S.67.

25 Fateh-Moghadam (Fn.12) S.192.

26 Fateh-Moghadam, (Fn.12), S.192; Roxin,AT I, §11 Rn.124.

27 Tag, Körperverletzungstatbestand, S.333.

28 RGSt 25,375 (379,387).

29 BGHSt 11,111; BGH NStZ 96,34.

30 RGZ 78,432 (433 f.).

31 Geilen (Fn.2), S.80; Tröndle, MDR 1983, S.881f.

32 RGZ JW 1936, 3112; RGZ 168,206 (213).

33 RGSt 66,181.

34 RG JW 1932,3328 (3328f.).

35 RGZ 163,129.

36 RGZ JW 1936, 3112; RGZ 163,129; Kim, Aufklärungspflicht, S.22.

37 BGHSt NJW 1958, 267 (268).

38 etwa BGHSt 12, 379; BGHSt 16, 309; Gödicke (Fn.21), S.63.

39 Gödicke (Fn.21),S.63.

40 Tröndle (Fn.31),S. 882f; Ulsenheimer, NStZ 1996,S.132.

41 Knauer (Fn.7),S.16.

42 Tröndle (Fn.31),S.882.

43 Schöch (Fn.3), S.55.

44 Schöch, (Fn.3),S.55.

45 s.u. in Punkt V.2.a.

46 Schöch (Fn.3), S.55; Knauer (Fn.7),S. 22; Rigizahn, JR 1996,S.73; Tröndle (Fn.31),S.887.; Gaede (Fn.4), s.u.

47 z.B. Biermann in: Arztstrafrecht, Rn.341,349 ff.; Schöch (Fn.3), S.57.

48 Biermann (Fn.47), Rn.341f.

49 BGH, NStZ 2004,442.

50 Schöch (Fn.3), S.58; Fischer, StGB, §228 Rn.13a.

51 Schöch (Fn.3), S.58; Knauer (Fn.7), S.23f.

52 Schöch (Fn.3),S.58.

53 BGHZ NJW 1959,814(815):Arzt hat nicht den Begriff „Krebs“ ausdrücklich benutzt.

54 Laufs in:Arztrecht,§59 Rn.14.

55 Biermann (Fn.47),Rn.350; BGH NJW 1984,1395.

56 Biermann (Fn.47),Rn.350; Laufs (Rn.54) §59 Rn.18f; BGH NJW 1992,1558(1560).

57 s.u. IV.2.c.

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Details

Titel
Die Selbstbestimmungsaufklärung im Medizinstrafrecht. Limitierte Zivilrechtsakzessorietät zur Begrenzung strafrechtlicher Haftung für Aufklärungsmängel?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
14 Punkte (sehr gut)
Autor
Jahr
2015
Seiten
35
Katalognummer
V518505
ISBN (eBook)
9783346111289
ISBN (Buch)
9783346111296
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Limitierte Zivilrechtsakzessorietät, Selbstbestimmungsrecht des Patienten, Medizinstrafrecht, Aufklärung, Einwilligung, hypothetische Einwilligung
Arbeit zitieren
Maria Arakelyan (Autor:in), 2015, Die Selbstbestimmungsaufklärung im Medizinstrafrecht. Limitierte Zivilrechtsakzessorietät zur Begrenzung strafrechtlicher Haftung für Aufklärungsmängel?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/518505

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