Das Meme als mediale Funktion der Netzkultur. Eine diskursanalytische Untersuchung des Massenphänomens im Kontext von Social Media


Bachelorarbeit, 2016

58 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Mem – Über die Vielschichtigkeit eines Begriffes

2. Die Geschichte der Meme

3. Die Analyse von Internet-Memen

4. Die Analyse von Memen als mediale Funktion der Netzkultur

5. Fazit und Ausblick – Meme als rekontextualisierbarer Kommunikationsinhalt

6. Literatur- und Internetquellenverzeichnis

1. Einleitung: Mem – Über die Vielschichtigkeit eines Begriffes

Jeder Mensch, der sich hin und wieder in sozialen Netzwerken jedweder Art bewegt, trifft frü­her oder später auf ein Mem1. Nun ist man sich im ersten Moment dieser Begegnung nicht be­wusst und betrachtet das Mem einfach bloß als ein lustiges Bild, Video oder in welcher Form auch immer es auftreten mag. In den seltensten Fällen setzt man sich jedoch mit den Hinter­gründen zu dem jeweiligen Mem auseinander. Mit Hilfe dieser Arbeit soll nun aber genau die­ser Prozess vorangetrieben werden. Um eine vollwertige Analyse von Meme erst garantieren zu können, ist eine Aufarbeitung der Entwicklung des Mem-Begriffes unabdingbar. Auf diese Weise soll zunächst geklärt werden, ob und inwiefern die heutige Verwendung des Mem-Begriffes im Kontext der gegenwärtigen Netzkultur in Zusammenhang mit den Ur­sprün­gen des Mem-Begriffes steht. Weiterhin soll durch diese Verfahrensweise aufgedeckt werden, in wel­chem Maße der gegenwärtige Gebrauch respektive die Bedeutung dieses Begriffes noch auf die originär angedachte Bedeutung des Wortes eingeht und in welchen Punkten es gegebenen­falls Unterschiede gibt. Sobald die verschiedenen Gebrauchsweisen des Mem-Begriffes geklärt sind, wird auf die Verbreitungswege und im Rahmen dessen auch auf ein­zelne Plattformen innerhalb des Internets eingegangen, auf denen Meme ein oft genutztes Mit­tel darstellen. Durch dieses Prozedere soll deutlich gemacht werden, welche besondere Rolle Mem-Ökosystemen bei der Distribution von Memen innerhalb des Internets zukommt.

Bevor es zur tatsächlichen Analyse ausgewählter Meme kommt, sollen kurz die wesentlichen Charakteristi­ka von Memen in Zusammenhang mit Mem-Genres vorgestellt werden. Dabei ist es vor allem wichtig, auf Faktoren einzugehen, die zu einer erfolgreichen Verbreitung von Memen beitragen. An­schließend soll durch die Analyse zweier Meme – in diesem Fall der Grumpy Cat und des Pep­per Spray Cop-Mems – offengelegt werden, wie Meme auf verschiedene Arten die gegen­wärtige (Netz-)Kultur beeinflussen. Diese beiden Beispiele wurden vor allem deshalb aus­gewählt, da sie zum einen zeigen, wie ein Mem sich im Fall der Grumpy Cat fest in der modernen Populärkultur ver­ankern und darüber hinaus zu einem kommerziellen Produkt entwickeln kann. Zum ande­ren soll der Pepper Spray Cop eine andere Wirkungsweise der Meme offenlegen, die sich nicht primär an der Verankerung in der Popkultur orientiert, sondern viel eher auf das Auf­greifen bestimmter Ereignisse von kultureller, sozialer oder gar politischer Relevanz abzielt, um diese dann mittels Bearbeitung in andere Kontexte zu versetzen. Letzteres steht beispielshaft für eine Vielzahl an Meme, die eine bestimmte Begebenheit aufgreifen und diese re­kontextualisieren. Der Pepper Spray Cop ist bei weitem nicht das einzige Mem seiner Art und soll daher in dieser Arbeit als Musterbeispiel dienen. Im Zuge dieser Analysen wird ein weiteres Problem behan­delt, das bei der Betrachtung von Meme und Netzphänomenen im Allgemeinen auftreten kann: Die Unterscheidung zwischen mimetischer und viraler Verbreitung von Inhalten. Für ein bes­seres Verständnis dieser ähnlichen Verbreitungsarten sollen mögliche Schnittpunkte und Diffe­renzen dargelegt werden, um die Abgrenzung zwischen diesen vermeintlich ähnlichen und vor allem in Kontexten gleicher Art benutzten Begriffen deutlich zu machen.

Durch die Kenntnisse über die Herkunft und die Anwendungsgebiete des Mem-Begriffs, sowie mit Hilfe des aus den Meme-Analysen gezogenen Wissen über die Wirkungsweise und Verbreitungs­mechanismen der Meme soll schlussendlich eine Antwort auf die zentrale Frage die­ser Arbeit gefunden werden: Haben Meme durch ihre Anwendungs- und Wirkungsweise das Potenzial, sich innerhalb der gegenwärtig herrschenden Netzkultur zu einer medialen Funk­tion zu entwickeln oder diese zumindest temporär einzunehmen? Ein zusätzlicher Faktor, den es im Hinblick auf diese Fragestellung zu prüfen gilt, ist, ob es ein massenmediales Mo­ment gibt, das bei Memen, sofern sie eine mediale Funktion einnehmen sollten, ausgelöst wird. In diesem Zusammenhang werden Texte von Wolfgang Hagen und José van Dijck von zent­raler Bedeutung sein: Beide haben sich im weitesten Sinne mit den Mechanismen auseinander­gesetzt, die es braucht, um bestimmte Medien wie z. B. das Internet zu einem Massen­medium zu machen. Dabei verweigert Hagen dem Internet explizit den Status des Massen­mediums2, was es im Hinblick auf Meme, als mögliche mediale Funktion innerhalb des Inter­nets, zu prüfen gilt. Van Dijck greift diese Grundbedingungen für Massenmedien auf und spinnt sie insofern weiter, als dass sie auf spezielle Logiken der Massenmedien verweist, die von einzelnen Akteuren durchschaut und zu ihrem Vorteil genutzt werden.3 Zudem verweist sie auf den Prozess der Verlagerung von Logiken der Massenmedien zu Logiken der sozialen Me­dien, der vor allem in den 1990er Jahren durch die Entwicklung des World Wide Web voran­getrieben wurde4 und auch für diese Arbeit von Relevanz ist. So, wie Hagen in Bezug auf Luhmann von einer „gekop­pelten Vierfachfunktion“5 der Massenmedien spricht, gäbe es nach van Dijck auch bei den Logiken der sozialen Me­dien vier zentrale Elemente (Programmierbarkeit, Popularität, Konnektivität und Datifizierung), die an die neuen technischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der gegenwärtigen Netz­kultur angepasst wurden.6 Diese jeweils vier Faktoren sollen nun im Rahmen dieser Arbeit auf Meme als potenzielle (massen-)mediale Funktion der Netzkultur angewandt, kontrolliert und falls möglich miteinander verglichen werden, um letztendlich die mediale Funktion der Meme für die gegenwärtige Gesellschaft aufzudecken.

Der Thematik der Meme soll sich in dieser Arbeit mit einem diskursanalytischen Ansatz genähert werden. Zum einen bedeutet dieses, dass die Aufarbeitung des Themas mit Hilfe von verschiedenen Quellen, passend zu den jeweiligen Diskursebenen, erfolgen soll. Auf der anderen Seite sollen diese Quellen auch jeweils diskursiv miteinander verglichen werden, um die Analyse der jeweiligen Diskursebene voranzutreiben7. Nach und nach sollen Meme als Diskurs zunächst in ihrer Geschichte und ihren Verbreitungswegen, danach in ihrer praktischen Anwendung und schließlich zum Ende der Arbeit in der Aufklärung der Frage nach ihrer Medialität aufgearbeitet und in einen größeren medialen Kontext eingebettet werden. Schlussendlich soll neben der Aufklärung der zentralen Frage dieser Arbeit auch noch ein Ausblick auf die zukünftige Mem-Forschung gegeben werden.

2. Die Geschichte der Meme

Möchte man sich die Bedeutung des Mem-Begriffes vergegenwärtigen und wirft man einen Blick in das Oxford English Dictionary, so fällt auf, dass der englische Begriff „Meme“ zwei Definitio­nen hat: Als erstes wird ein Mem als „an element of a culture or system of behaviour passed from one individual to another by imitation or other non-genetic means“8 definiert, was die Kurzfassung von Richard Dawkins Theorien rund um den Mem-Begriff ist, auf die in der Folge noch genauer eingegangen wird. Die zweite und etwas mehr an gegenwärtige Entwicklun­gen angepasste Definition bezeichnet ein Mem als „an image, video, piece of text, etc., typically humorous in nature, that is copied and spread rapidly by internet users, often with slight variations.“9 Ziel dieses Kapitels ist es, den Weg von der dawkins’schen Gebrauchs­weise bis hin zur gegenwärtigen Verwendung des Mem-Begriffes nachzuzeichnen und aufzuarbei­ten, um am Ende des Kapitels ein grundlegendes Verständnis vor allem für die gegen­wärtige Verwendung und die daran angelehnte Funktion der Meme zu schaffen. Anschlie­ßend sollen ausgewählte Plattformen des World Wide Web vorgestellt werden, die durch ihre Strukturen einen wesentlichen Beitrag zu der Verbreitung der Meme beitragen.

2.1. Die Einführung des Mem-Begriffes durch Richard Dawkins

Erste Erwähnung findet der Begriff „Mem“10 im erstmals 1976 erschienenen Werk „Das egoisti­sche Gen“ von Richard Dawkins. Dawkins, zu dieser Zeit als dozierender Zoologe an der Universi­tät Oxford tätig, versuchte Merkmale auszumachen, die der menschlichen Spezies ihre Einzigartigkeit verleihen und sie von Tieren oder Pflanzen abgrenzen würden, und machte im Zuge dessen die Kultur bzw. kulturelle Überlieferungen als Merkmal fest.11 Diese Form der Weiter­gabe „ist der genetischen Vererbung insofern ähnlich, als sie zwar im Wesentlichen konser­vativ ist, aber dennoch eine Form von Evolution hervorrufen kann.“12 Demnach stellt die Über­lieferung kultureller Informationen eine Art Gegenstück zu der Überlieferung von Erb­informationen dar, jedoch sind beide Arten der Weitergabe zusammen ein elementarer Teil der menschlichen Evolution. Beide Weitergabeprozesse erfolgen über Replikatoren, die durch die Fähigkeit gekennzeichnet sind, sich selbst kopieren zu können.13 Das revolutionäre Mo­ment an Dawkins Theorie zu der kulturellen Weitergabe von Informationen war nun, dass er sich darum bemühte, einen Namen für dieses Phänomen zu finden. Gene, die der Replikator von Erbinformationen sind, sind seit jeher eine treibende Kraft der Evolution, da sie „zufällig die Replikationseinheit [ist], die auf unserem eigenen Planeten überwiegt.“14 Diese süffi­sant erscheinende Aussage Dawkins’ ist zudem an die Tatsache geknüpft, dass Gene seit Anbe­ginn menschlicher Existenz weitergegeben werden. Doch im Jahr 1976 machte Dawkins die Beobachtung, dass auf „unserem Planeten kürzlich eine neue Art von Replikator auf­getreten ist“15. Diese neue Art von Replikator eröffnet zugleich ein neues Urmeer, das letztendlich eine Art Pendant zu dem Genpool darstellen soll, das Dawkins als „die ‚Suppe’ der menschlichen Kultur“16 bezeichnet. Nun stell sich die Frage, ob der Tatsache entsprechend, dass Kultur und die Weitergabe von kulturellen Informatio­nen durch die Menschen schon weit vor 1976 stattgefunden haben, nicht schon viel frü­her ein Begriff gefunden hätte werden können, der dieser Art von Replikator einen Namen ver­leiht? Die Antwort auf diese Frage lautet wohl „ja“ und „nein“ gleichzeitig und lässt sich wie folgt aufklären: Auf der einen Seite versuchte Dawkins, einen Begriff zu finden, der dem Wort „Gen“ ähnlich ist und gleichzeitig eine Assoziation zu den zentralen Eigenschaften des neuen Replikators, der kulturel­len Vererbung und insbesondere der Imitation, herstellt. So leitet er „von einer entsprechen­den griechischen Wurzel [...] das Wort ‚Mimem’“17 ab und verkürzt dieses, um den Reim herzustellen, auf das Wort Mem.18 Wie gegenwärtig festzustellen ist, setzte sich dieser Be­griff durch und findet auch heute noch seinen Gebrauch. Wie sich aber auf der anderen Seite zeigte, gab es schon lange vor Dawkins einen Versuch, einen Begriff für diesen Imitationsprozess zu etablieren: Bereits im Jahr 1904 versuchte der Evolutionsbiologe Richard Semon erstmals der Weitergabe von Erinnerun­gen von Mensch zu Mensch einen Namen zu geben und schlug im Zuge dessen den Na­men „Mneme“19 vor. Die frappierende Ähnlichkeit zu Dawkins Begriff lässt sich nicht ab­streiten und so lässt sich festhalten, dass der Begriff aus dem Jahr 1976 selbst bloß eine Imita­tion des Begriffes von Semon ist. Insofern ist der dawkins’sche Mem-Begriff auch ein Mem und das erstbeste Beispiel dafür, wie erfolgreiche Imitation funktionieren kann; denn die Tat­sache, dass heutzutage von Memen und nicht von Mnemen gesprochen wird, zeigt den Ein­fluss, den Dawkins mit der Einführung dieses Begriffes genommen hat.

Da nun die Ursprünge des Mem-Begriffes geklärt sind, soll nun aufgezeigt werden, was Meme für eine Funktion im Evolutionsprozess einnehmen und wie sie diesen vorantreiben. Auch dazu liefert Dawkins einige Beispiele und Erklärungen:

„Beispiele für Meme sind Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen. So wie Gene sich im Genpool vermehren, indem sie sich mit Hilfe von Spermien oder Eizellen von Körper zu Körper fortbewegen, verbreiten sich Meme im Mempool, indem sie von Gehirn zu Gehirn überspringen, vermittelt durch einen Prozess, den man im weitesten Sinne als Imitation bezeichnen kann.“20

An dieser Stelle unterstreicht Dawkins deutlich, dass Meme ein rein kultureller Replikator sind. Die gewählten Beispiele verdeutlichen zudem den Kontrast der weitergegebenen Informationen zu den durch Gene weitergegebenen Informationen. Während Gene nur biologische Informationen weitergeben, so geben Meme kulturelle Techniken und Güter wie Sprache, Musik oder kommerzielle Produkte via Imitation weiter. Susan Blackmore, die ihrerseits an die Theorien Richard Dawkins anknüpfte, veranschaulicht den Vorgang der Imitation folgendermaßen:

„Wenn Sie also von einer Freundin eine Geschichte erfahren und Sie sich an das Wesentliche erinnern und sie jemandem weitererzählen, dann gilt das als Imitation. Sie haben nicht jedes Wort und jede Geste Ihrer Freundin genau imitiert, doch etwas (der Kern der Geschichte) ist von ihr an Sie und dann an jemand anderen weitergegeben worden.“21

Dieses einfache Beispiel von Blackmore lässt zwei bedeutende Rückschlüsse im Hinblick auf die Funktionsweise von Meme zu: Erstens ist der Prozess der Imitation immer gleichzeitig ein Prozess des Kopierens, wobei zweitens der jeweilige Inhalt insofern verändert werden kann, als dass die ursprüngliche Kerninformation des Mems nicht verloren geht. Darüber hinaus eröffnet Blackmore die Möglichkeit, dass Meme weitaus verschiedenartiger verbreitet werden können, als von Gehirn zu Gehirn überzuspringen. Blackmore zufolge säßen Meme nicht nur in den Gehirnen der Menschen und würden von dort aus verbreitet werden, sie fänden zusätzlich durch Bücher, über Computer und Satelliten einen Verbreitungsweg.22 Diese Menge und Arten der Verbreitungsmöglichkeiten von Meme impliziert zudem, dass die Weitergabe nicht an eine direkte Face-to-Face-Kommunikation zwischen zwei Individuen geknüpft ist, was sie grundlegend von der Weitergabe von Genen unterscheidet, die weiterhin direkt von Mensch zu Mensch mittels Fortpflanzung weitergegeben werden müssen. Aus dieser Differenz ergebe sich für Blackmore auch eine Problematik im Hinblick auf die Analogie von Memen und Genen, da es bei Memen keine „Genotyp/Phänotyp-Unterscheidung“23 wie etwa bei Genen gebe, was sie zu einem höchst ungeordneten System mache, in dem Informationen unkontrolliert und unwillkürlich kopiert würden.24 Trotz dieses vermeintlich schwer kontrollierbaren Weitergabeprozesses replizieren sich Meme stets „nach den gleichen evolutionären Gesetzmäßigkeiten wie Gene: Fruchtbarkeit, Wiedergabetreue und Langlebigkeit müssen gewährleistet sein.“25 Alle drei Komponenten zusammen können zu einem niemals endendem Fortbestand von Memen führen, solange die Kopiergenauigkeit der Meme die Beibehaltung des jeweiligen Informationswertes gewährleistet.26 Obwohl Meme und Gene den gleichen Prinzipien im Hinblick auf den Evolutionsprozess folgen, liegt der größte Unterschied der beiden Replikatoren dennoch darin, dass die Verbreitung von Genen weitaus besser nachvollzogen werden kann als die von Memen. Gibt es bei Genen noch eine geradlinige, man könnte auch sagen vertikale Verbreitung, die es einfach macht, Sender und Empfänger des jeweiligen Gens auszumachen und zudem die jeweilige Art und Weise der Weitergabe (die Befruchtung von Eizellen durch Spermien) zu identifizieren, so unterliegen Meme nicht dieser Geradlinigkeit, da sie zum einen nicht linear weitergegeben werden müssen, um zu überdauern, und zum anderen auf verschiedene Weisen zwischengespeichert und dann weitergegeben werden können, wie etwa durch Bücher, Computer oder eben die Gehirne der Menschen. Folglich ist es zumindest im Hinblick auf die jeweiligen Richtungen, aus denen Replikatoren aufgenommen und in die Replikatoren abgegeben werden, einfacher, Genen einen bestimmten Weg zuzuordnen als Memen.

Diese kleine Einführung in die Begriffs- und Anwendungsgeschichte der Memes hat gezeigt, dass der Mem-Begriff in seinen Ursprüngen nicht etwa auf Richard Dawkins zurückgeht, sondern auf Richard Semon, der den Begriff in ähnlicher Form schon Anfang des 20. Jahrhunderts gebrauchte. Dennoch war es Dawkins, der den Begriff, ob nun bewusst oder unbewusst, aufgriff und sich bei der Schaffung des heute bekannten Mem-Begriffes eine grundlegende Fähigkeit der Meme bediente: Der Imitation. Die Beständigkeit seines Begriffes bestätigt Dawkins in gewisser Weise in diesem Vorgehen und zeigt gleichzeitig, dass Meme nicht exakt imitiert oder vielmehr kopiert werden müssen, um den Informationsgehalt des Mems beizubehalten. Insgesamt wurden auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Memen und deren natürlichen Gegenstück, den Genen, offenbart: Beides sind Replikatoren, die den Evolutionsprozess der Menschen vorantreiben und dieses auf ähnliche Weisen tun. Während die Gene auf der einen Seite Erbinformationen durch Fortpflanzung weitergeben, so werden durch Meme auf der anderen Seite kulturelle Überlieferungen durch Sprache, Schriften, Computer etc. weitergeben. Da der Mem-Begriff von Richard Dawkins aus dem Jahr 1976 stammt, hat es bis zum heutigen Tag einige Anpassungen im Hinblick auf die allgemein bekannte Bedeutung des Begriffes und seiner Funktion gegeben. Jener Wandel soll nun im folgenden Kapitel nachgezeichnet und erörtert werden.

2.2. Über den Funktions- und Bedeutungswandel des Mem-Begriffes

Befasst man sich gegenwärtig mit Memen, so hat man im Allgemeinen sicherlich eine andere Vor­stellung dieses Begriffes und seiner Funktion als diejenige, die im Jahr 1976 von Richard Dawkins für diesen Begriff angedacht war. In der kontemporären Fachliteratur wird der Begriff von Dawkins zwar aufgegriffen, aber an gegenwärtige bzw. in jüngerer Vergangenheit erfolgte tech­nische und kulturelle Entwicklungen angepasst. Limor Shifman etwa, die sich im Rahmen ih­rer Studien intensiv mit der Wirkung von Internet-Memen auseinandergesetzt hat, orientiert sich ebenfalls an Dawkins und bezieht dessen ursprüngliche Idee von Memen, die mittels Imita­tion verbreitet werden, explizit auf „drei Dimensionen von kulturellen Einheiten“27, um die die Vielzahl an Ebenen zu verdeutlichen, auf denen Meme imitiert werden können: „Inhalt, Form und Haltung“28 sind die von ihr ausgemachten Dimensionen, die jede für sich ein Kerncharakteristi­kum von Memen widerspiegeln, auf die im späteren Verlauf dieser Arbeit ge­nauer eingegangen werden soll. Anhand der drei Eigenschaften versuchte Shifman eine Bestim­mung des modernen (Internet-)Mem-Begriffes herauszuarbeiten. Als Internet-Mem de­finiert sie wie folgt:

„(a) eine Gruppe digitaler Einheiten, die gemeinsame Eigenschaften im Inhalt, in der Form und/oder der Haltung aufweisen, die (b) in bewusster Auseinandersetzung mit an­deren Memen erzeugt und (c) von vielen Usern im Internet verbreitet, imitiert und/oder trans­formiert wurden.“29

Durch diese Definition schafft Shifman es auf der einen Seite einen Bezug zu Dawkins’ Defini­tion herzustellen und auf der anderen Seite gewisse individuelle Eigenschaften und ent­scheidende Momente von Internet-Memen deutlich zu machen. Zunächst einmal werden Meme nun nicht mehr als einzelne, sondern als eine Gruppe oder Kombination von Einheiten be­griffen, da sie sich gegenseitig in einem gewissen Maße beeinflussen oder gegebenenfalls auf­einander aufbauen.30 Insofern ist ein einzelner Text, ein einzelnes Bild, etc. nicht gleich ein Internet-Mem, da es der Interaktion mit anderen Meme und dem Kontakt mit einer gro­ßen Anzahl an Rezipienten bedarf, um zu einem gefestigten Internet-Mem zu avancieren. Hinzu kommt der Faktor, dass Internet-Meme digitale Einheiten sind, die sie deutlich zu den ana­log gespeicherten Einheiten, wie es die Meme nach Dawkins sind, unterscheidet. Kulturelle Informatio­nen werden als Internet-Meme auf Computern bzw. Festplatten, Websites oder in Bü­chern gesammelt, was – zumindest im Falle von Websites und Büchern – den prinzipiellen Zu­griff auf die Meme durch jedermann möglich macht. Meme im ursprünglichen Sinn werden ana­log gesammelt, d. h. in den Gehirnen bzw. Erinnerungen der Menschen, was den Zugang da­rauf erschwert und auch dessen Nachahmungs- bzw. Kopiergeschwindigkeit beeinflusst. Den­noch haben Meme im dawkins’schen Sinne und Internet-Meme gemeinsam, dass sie auf die Verbreitung mittels Imitation, Kopie oder auch Transformation angewiesen sind, um zu über­dauern. Ebenso sind Internet-Meme im Hinblick auf die evolutionären Gesetzmäßigkeiten Frucht­barkeit, Wiedergabetreue und Langlebigkeit an die von Dawkins ausgemachten Meme ge­knüpft, da gerade das Netz eine optimale Grundlage in Bezug auf schnelle und relativ un­komplizierte Verbreitung von einem Menschen zum anderen, exakte Wiedergabetreue durch die digitale Weiterleitung und immense Speicherkapazitäten bietet.31 Insofern können Internet-Meme in Anbetracht der grundsätzlichen Ähnlichkeit besonders im Hinblick auf die Verfahrens- und Verbreitungsweise zum ursprünglichen Mem-Begriff als spezielle Form der Meme behan­delt werden, die sich eben nicht in erster Linie mit der Evolutionsbiologie auseinandersetzt, son­dern schlichtweg an die zunehmend digitalisierte Gesellschaft und an die technischen Ent­wicklungen der vergangenen 40 Jahre angepasst ist. Dass es letztlich sogar notwendig war, eine angepasste Definition zu finden, zeigt zudem der Aufstieg und Fall des Journal of Meme­tics – Evolutionary Models of Information Transition von 1997 bis 2005, der zugleich mit dem im­mer größer werdenden Interesse am Internet einherging: 1997 noch ins Leben gerufen, um eine Plattform für Wissenschaftler/innen zu bieten, ihre Forschungen zu teilen und die Memetik mit all ihren Facetten miteinander zu diskutieren32, wurde das Projekt im Jahr 2005 mit einer fina­len Ausgabe für beendet erklärt33. Die Notwendigkeit einer Definition für Internet-Meme konsti­tuiert sich also darin, dass die Memetik durch sie – zwar nicht in ihrem ursprünglichen Sinne – in gewisser Weise ihre Fortsetzung findet.

Obwohl nun geklärt ist, wie eine angepasste Definition des ursprünglichen Mem-Begrif­fes aus­sehen kann, bleibt dennoch die Frage danach, was Internet-Meme für eine Funktion im Inter­net haben? Sicherlich bietet Shifman eine wissenschaftliche Definition des Begriffes an, jedoch wird dabei nicht deutlich, welche Funktion sich nun aus dieser Definition für die Inter­net-Meme ergibt. Einen Vorschlag liefert Olga Goriunova, die sich mit Memen und ihren Begleit­umstän­den befasst hat, indem sie auf den Individuationsprozess der Menschen, insbeson­dere den von Jugendlichen, verweist.34 Zunächst spricht sie im Zusammengang mit Inter­net-Memen noch von „grotesken, unkultivierten, sonderbaren, humoristischen und ‚dum­men’ kreativen Erzeug­nissen [...], die online zirkulieren und auf etwas umfassenderes verwei­sen, als es zu­nächst scheint.“35 Ihre Ausdrucksweise impliziert, dass für sie Internet-Meme vorläu­fig einen ver­meintlich einfältigen oder gar stumpfsinnigen Charakter haben, der sich je­doch in Ver­bindung mit dem Individuationsprozess verflüchtigt. „Meme und digitale Objekte des Aus­tausches werden zu ästhetischen Objekten, die diese vielschichtige Individuation vermit­teln und auslösen.“36 Aus diesen Aussagen lässt sich schließen, dass diese kulturellen Ob­jekte für Jugend­liche, aber gewiss auch für erwachsene Menschen, zum individuellen Entwicklungs­prozess beitragen und gewissermaßen auch den Charakter formen. Dabei ist es grundsätz­lich erst einmal unerheblich, ob der Charakter nun mit vermeintlich unsinnigen oder so­gar weiter­bildenden Informationen geformt wird; einen Einfluss jedweder Art haben Internet-Meme auf die eine wie auf die andere Weise. Wo früher jedoch noch ein analoger Austausch von Informatio­nen für die persönliche Entwicklung erforderlich war, liefert das Netz durch die schnel­le­ren – da digitalen – Übertragungsmöglichkeiten eine optimale Grundlage für den Individuations­prozess, der zudem auf mehreren Ebenen stattfindet, die weit über das tech­nische Moment hinausgehen. „Die Individuation ist nicht nur psychisch; sie ist im Kern kollektiv, tech­nisch und psychisch“37 lautet ihr Urteil und der kollektive Charakter, den das Internet in Be­zug auf die Individuation ermöglicht, eröffnet einerseits die von ihr angesprochene Produk­tion von gemeinschaftlichem Unfug, andererseits kann das Kollektiv jedoch auch Macht schaf­fen.38 Mit Macht ist zum einen die Macht der Masse gemeint, die Internet-Meme erst bekannt und somit in einem größeren Maße wirksam macht, zum anderen ist die Macht der jeweiligen kulturel­len Information gemeint, die sich je nach Bedeutung bzw. Wichtigkeit des Inhalts des je­weili­gen Mems richtet. Mit diesen Mächten kommt auch eine gewisse Aktionsmacht39 zu tra­gen, die sich gewisse Gruppierungen im Internet zu Nutze machen, um Bewegungen zu initi­ie­ren und mit diesen aus verschiedenen Gründen Zeichen zu setzen und bestimmte Effekte zu er­zielen.40 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Internet-Meme zunächst als Unsinn stif­tende, humoristi­sche und selten ernst gemeinte Inhalte erscheinen. Doch bei genauerer Betrach­tung wird deutlich, dass ihre Funktionen weit darüber hinaus gehen. Die technologi­schen Begleit­umstände und die damit verbundene Möglichkeit, kollektiv und global an ihnen teilzuha­ben und sie weiter zu imitieren und zu transformieren schafft Macht, die sich über jegli­chen räum­lichen Grenzen hinwegsetzt. Wie sich diese Macht letztendlich äußert, soll bei der Ana­lyse von Me­men im weiteren Verlauf dieser Arbeit offengelegt werden.

Abseits von Macht und Ästhetik von Memen hebt Alison Marwick einen anderen, aber nicht min­der wichtigen Aspekt von Memen im Internet hervor. Zwar betont auch sie, dass Meme vor­nehmlich von Jugendlichen produziert und rezipiert würden41, jedoch sehe sie die Funk­tio­nen von Memen eher positiv: „Memes typify the shift from a culture of consumption to one of production.“42 Der Fokus liegt also eher auf dem Moment des selbst kreativ Werdens von Sei­ten der Teenager aus, was nicht zuletzt mit den Möglichkeiten des Internets zusammen­hängt, das durch Applikationen wie etwa Mem-Generatoren die selbstständige Anferti­gung von Memen erleichtert.43 Internet-Meme bieten natürlich nur eine von vielen Möglich­keiten der Partizipa­tion innerhalb des Internets, doch macht die Einfachheit ihrer Produk­tion sie zu einem massen­kompatiblen Werkzeug, das von Internetusern zur kreativen Betäti­gung auf der einen Seite und zur Teilnahme und dem Mitwirken an der Netzkultur auf der anderen Seite benutzt wer­den kann. Marwick konkludiert schließlich: „Memes are the clos­est thing to a native cultural form the internet has, and, as such, they demonstrate the sprawling vari­ety of the medium.“44 Hier muss man nun beachten, dass Applikationen des Internets wie E-Mails, Chats oder Mailing­listen, die schon lange vor den heute im Internet kursierenden Me­men als Ausdrucks­formen, die ihren Ursprung im Internet haben, existierten, streng genom­men ebenfalls zu den Inter­net-Memen zählen, da schließlich auch eine per Text weitergebene Informa­tion als Mem gilt.

Ein anderer interessanter Ansatz ist es, ein Meme und deren Erfolg mit dem eines Hypes zu ver­gleichen. Vivian Büttner vergleicht die Auswirkungen von Hypes als „Mega-Mem“45, da sich bei einem Hype eine kulturelle Information in einem überaus großem Maße und in einer gro­ßen Geschwindig­keit verbreitet, dabei jedoch nicht durch übermäßige Langlebigkeit ge­kennzeichnet ist.46 In eine ähnliche Richtung geht auch Rudolf Maresch, der den Erfolg von Hypes in deren memetischer Verbreitungs- und Funktionsweise begründet sieht.47 Beide Phä­nomene funktionieren also in ähnlicher Weise und nicht zuletzt deshalb „vermischen sich [...] oft die Begrifflichkeiten ‚Hype’ und ‚Mem’, so dass ein ‚Mem’ auch synonym verwendet wird für ‚Internet-Hype’.“48 Sicherlicht ist die synonyme Verwendung der beiden Begriffe in einigen Situatio­nen angebracht, jedoch tritt dieser Fall erst ein, wenn das Mem auf die breite Masse trifft, die letztendlich den Hype schürt. Dieses ist der Fall, wenn bspw. bei einem Event, das live im Fernsehen übertragen wird, etwas Unvorhergesehenes, Spektakuläres oder auf andere Art und Weise Außergewöhnliches passiert. Ein Beispiel wäre hier ein spektakuläres Flug­kopfballtor des Niederländers Robin van Persie während der Fußballweltmeisterschaft 2014 (Abb. 1), das sofort viele Photoshop-Parodien nach sich zog (ebenfalls Abb. 1), die sich so­fort über Twitter, Facebook, etc. unter dem Begriff „VanPersieing“49 ausbreiteten.50 Hier war es nun so, dass Meme und Hype simultan entstanden sind und ihren gemeinsamen Lauf nah­men. In der Regel jedoch entsteht ein Internet-Mem an sich zeitlich weit vor dem Hype, sodass es nach der Schaffung eines Mems von der Anzahl der Rezipienten und deren Reaktion darauf ab­hängt, ob es einen größeren Hype kreieren kann.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1

Das Originalbild des „VanPersieings“ und zwei memetische Bearbeitungen. Quellen:

[http://i0.kym-cdn.com/entries/icons/original/000/015/829/persieing.jpg],

[http://i0.kym-cdn.com/photos/images/original/000/776/519/fc8.jpg],

[http://i0.kym-cdn.com/photos/images/original/000/776/525/448.jpg]

(Stand: Jeweils der 29.05.2016).

Bei all den Funktions- und Anwendungsweisen von Internet-Memen sollte man jedoch beach­ten, dass eine inhaltliche Trennung von Memen und Internet-Memen weiterhin notwendig ist, da man ansonsten der äußerst komplexen Thematik der Memetik z. B. nach der Dawkins-Blackmore-Schule nicht gerecht werden würde.51 Meme sind „eben weitaus mehr als witzige Bil­der und Videos mit popkulturellem Bezug“52 lautet Patrick Breitenbachs Urteil, ohne jedoch da­bei die Wirkung von Internet-Memen zu verklären, wie im späteren Verlauf der Arbeit noch bewie­sen wird. Daran angelehnt haben Meme im klassischen Sinne in der Regel einen nachhal­tigeren Einfluss auf das menschliche Verhalten als Internet-Meme, die einen verhältnis­mäßig zeitlich und inhaltlich begrenzten Einfluss auf das Verhalten der Menschen ha­ben, wobei die Bemessung des jeweiligen Einflusses von Situation zu Situation unter­schiedlich bewertet werden kann und muss. Nimmt man nun das Beispiel der elterlichen Er­ziehung, die ohne Zweifel einen großen Einfluss auf den Entwicklungs- bzw. Individuations­prozess im Kindes- und Jugendalter hat, so ist die analoge Weitergabe von Information deut­lich erfolgsversprechender und gewiss einflussreicher als eine digitale. Betrachtet man jedoch Phä­nomene des Internets wie z. B. die Ice-Bucket-Challenge, so ist eine Weitergabe der wich­tigen Informationen auf digitalem Wege deutlich schneller, genauer und flächendeckender als per Mundpropaganda. Anhand dieser Beispiele sollte auch deutlich geworden sein, dass Meme wie die kulturellen Informationen, aus denen die elterliche Erziehung auch besteht, deutlich länger überdauern als Internet-Meme wie die Ice-Bucket-Challenge.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Funktion von Meme in der jüngeren Vergangenheit durch­aus kontrovers diskutiert wird: Zum einen trägt die Rezeption von Internet-Meme zum Individuations­prozess bei, ob nun zum Guten oder Schlechten hängt jedoch in höchsten Maße vom Inhalt des jeweiligen Mems und davon, auf welche Weise ein jeder das Mem für sich re­zipiert und interpretiert, ab. Auch früher schon haben Meme sicherlich zu der individuellen Ent­wicklung der Menschen beigetragen, doch erschwerte die analoge Weitergabe von Memen die­sen Prozess erheblich. Das Internet und seine digitalen Verbreitungswege auf der anderen Seite sind es nämlich, das vielfältige Möglichkeiten im Hinblick auf die Partizipation an der Netz­kultur durch das selbstständige Kreieren von Internet-Memen ermöglicht. Dabei ist es zu­nächst unerheblich, was genau die selbst erstellten Meme als Inhalt transportieren mögen, denn der Fakt, dass sich Menschen vergleichsweise einfach kreativ betätigen und im besten Fall an der Weiterentwicklung der Netzkultur mitwirken können, macht Internet-Meme gegen­wärtig zu einer wichtigen kreativen Ausdrucksform.

2.3. Die Verbreitung von Internet-Memen über Mem-Ökosysteme

Nachdem nun die gegenwärtige Bedeutung von Memen herausgearbeitet und auch die Funk­tion von Memen in der Gegenwart umrissen wurden, soll sich nun explizit den Verbreitungs­wegen von Memen gewidmet werden. Zu diesem Zweck werden ausgewählte Plattformen vor­gestellt, die deutlich machen, wo Internet-Meme überhaupt entstehen, verbreitet werden und warum die Verbreitung gerade dort vergleichsweise gut funktioniert. In diesem Zusammen­hang soll auch auf den Konflikt von bekannten Mem-Hubs mit so genannten „Mem-Wiederkäuer“53 -Websites eingegangen werden, um den Unterschied zwischen diesen beiden Verbreitungs­wegen und ihren jeweiligen Charakteristika deutlich zu machen. Dieses Kapitel soll auch eine Antwort darauf liefern, welchen Weg Internet-Meme nehmen müssen, um letzt­endlich einen großen Hype zu schaffen, der ihnen eine größere, womöglich mehr als auf das Inter­net begrenzte, Aufmerksamkeit zu Teil werden lässt.

2.3.1. Imageboards als Ausgangspunkt der Internet-Mem-Verbreitung

Die Veröffentlichung und der Austausch von und über Internet-Meme beginnt in den meisten Fäl­len auf so genannten „Imageboards“, von denen 4chan54 als das bekannteste an­gesehen werden kann. Entstanden in namentlicher Anlehnung an das japanische Imageboard 2chan und in seiner partizipatorischen Funktionsweise an das ebenfalls japanische Image­board Futaba Channel erinnernd55, ist es heute das wohl am meisten genutzte Imageboard in der westlichen (Netz-)Kultur. Dort können User/innen in insgesamt 67 Unterforen, die sich ver­schiedensten Themen (von japanischer Kultur über Autos, Sport und Mode bis hin zu porno­graphischen Inhalten) widmen, ohne erforderliche Registrierung Inhalte miteinander teilen und Teil der Community werden.56 Felix Knocke bezeichnet 4chan als „eine Mem-Schleuder, eine Brut­stätte für ansteckende Ideen, aber auch ein abgründiger Ort, an dem Scheußlichkeiten, rassisti­sche und sexistische Tiraden und Bilder weit jenseits des guten Geschmacks ver­öffentlicht werden“57 und spricht damit die facettenreiche Themenvielfalt des Imageboards an. Zu­dem wird deutlich, dass die Inhalte und innerhalb des Boards geschaffene Meme nicht zwangs­läufig gesellschaftskonform sein müssen, da auch Themen angesprochen werden, die allgemein eher negativ konnotiert sind. Die Möglichkeit, solche Themen und Inhalte über­haupt zu veröffentlichen, ergibt sich vor allem dadurch, dass eine Registrierung nicht von Nö­ten ist und sich die Nutzer in der Regel den standardisierten Namen „Anonymous“ teilen, was nicht zuletzt deshalb darauf hinweist, dass das Hacktivismus-Kollektiv Anonymous seinen Ur­sprung auf 4chan fand.58 Die Gruppe entstand in einem dieser Unterforen, auf dem s. g. „Ran­dom Board“59, und begann von dort aus sich zu organisieren und Manöver wie etwa diverse De­nial of Service-Angriffe und die Enthüllung von Privatdokumenten berühmter Personen zu pla­nen und schließlich durchzuführen.60 Dabei werden jegliche Aktionen von verschiedenen Leu­ten durchgeführt, was es schwer macht, innerhalb dieses Kollektivs bestimmte Täter aus­zumachen, zumal die Identitäten der Personen, wie der Name Anonymous suggeriert, im Verbor­genen bleiben. An dieser Stelle wird der bereits angesprochene Aspekt der Macht von Inter­net-Memen und deren Fähigkeit, Individuierungsprozesse zu beeinflussen, deutlich.61

Neben 4chan existieren zahlreiche weitere daran angelehnte Imageboards, die sich ent­weder in der thematischen Ausrichtung und/oder der räumlichen bzw. sprachlichen Ausrich­tung unter­scheidet. So existiert z. B. für den deutschsprachigen Raum das Imageboard Krautchan62, in dem sich die, ebenfalls nicht registrierten, Nutzer mit dem Standardnamen Bernd an­sprechen. Obwohl kein exaktes Imitat von 4chan, orientiert sich Krautchan vor allem inhalt­lich an den Strukturen des englischsprachigen Vorbilds, im Hinblick auf die Finanzierung wird jedoch auf Spen­den der Nutzer vertraut63, statt – wie bei 4chan – durch Werbung finan­ziert zu werden.64 Trotz die­ser marginalen Unterschiede haben diese Imageboards gemein­sam, dass auf ihnen, wie der Name an sich schon verrät, Bilder auf einer Art schwarzem Brett veröffent­licht werden. Ob diese Bilder nun zu Internet-Memen im Sinne von berühmten oder gar ikonischen Bildern wer­den, hängt vom Grad der Verbreitung und der Art, wie die Nutzer auf das Mem reagieren, ab.

2.3.2. Mem-Aggregatoren als Antreiber des Verbreitungsprozesses

Für die weitere Verbreitung von Memen gibt es neben den Imageboards noch weitere Plattformen, die insgesamt mit dem Begriff „Mem-Hubs“ beschrieben werden können. Sie gel­ten als „wichtige Umschlagplätze von Memen – sei es, weil sie häufig Inhalte erzeugen, die zum Mem werden, oder weil sie selbst als memetisches Ökosystem funktionieren.“65 Dem­zufolge lassen sich diese Mem-Hubs als Knotenpunkte verstehen, die eine Art Hybridfunktion aus von Nutzern eigens für entsprechende Plattformen erstellten Inhalten und von Image­boards übernommenen und darüber diskutierten Inhalten darstellen. Schaut man sich bspw. die Website reddit66 an, so werden schnell die Unterschiede zu einem Imageboard deutlich: Wäh­rend auf einem Imageboard vornehmlich über (bewegte und unbewegte) Bilder, also vor­nehmlich visuelle Phänomene, diskutiert wird, so kann auf reddit auch schrifttextlich über ernste und weniger ernste Themen diskutiert werden.67 Zudem basiert der Erfolg von ein­zelnen Beiträgen auf einem Wertungssystem mit positiven und negativen Bewertungen, das vermeintlich spannendere oder interessantere In­halte in den Vordergrund stellt und weniger interessante Inhalte allmählich verschwinden lässt.68 Abbildung 2 zeigt beispielhaft, wie jemand eine Diskussion, in diesem Fall zu einem politi­schen Thema, eröffnet und nach welchen Prinzipien diese Diskussion ablaufen soll: Thema soll dabei die US-Politik sein, es sollen Nachrichten diskutiert werden und Mem-Bilder sind nicht erlaubt. Nun bedient sich ein Diskussionsteilnehmer der schrifttextlichen Version des s. g. „Rickroll“69 -Mems, bei dem der Text eines bekannten Liedes des Sängers Rick Astley ver­wendet wird, um mit derlei Internet-Memen unerfahrene Diskussionsteilnehmer zu ver­albern.70 Im Falle der Diskussion aus Abb. 2 und 3 entwickelt sich aus dem ernst gemeinten Versuch, ei­nen regen Meinungs- und Informationsaustausch zu initiieren, schnell eine Farce, da die Re­geln dieser Diskussion nicht genau genug definiert sind. Gleichzeitig sieht man, dass höher vo­tierte Beiträge weiter oben angezeigt werden als niedriger votierte (siehe Abb. 3). Dennoch be­dient sich eine Aggregator-Plattform wie reddit ähnlichen Strukturen wie Imageboards, in­dem sie unzählige Unterforen zu spezifischen Themen anbietet, die von den Nutzern diskutiert werden kön­nen.71

[...]


1 In dieser Arbeit wird zur Vereinheitlichung der deutsche Begriff Mem im Singular bzw. Meme im Plural in Abgrenzung zum englischen Meme bzw. Memes verwendet.

2 Vgl. Hagen, Wolfgang: Entladene Massen. Zur Krise eines Begriffs, in: Baxmann, Inge; Beyes, Timon; Pias, Claus (Hrsg.): Soziale Medien – Neue Massen, Zürich 2014, S. 125-135, hier S. 131.

3 Vgl. Van Dijck, José: Understanding Social Media Logic, in: Media and Communication, Volume 1/2013a, S. 2-14, hier S. 4.

4 Vgl. ebd., S. 5.

5 Hagen (2014), S. 131.

6 Vgl. Van Dijck (2013a), S. 5.

7 Vgl. Jäger, Siegfried: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse, in: Keller, R.; Hirseland, A.; Schneider, W.; Viehöver, W. (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Opladen 2001, S. 81-112, hier S. 103f.

8 Oxford University Press (2016): Meme, URL: http://www.oxforddictionaries.com/de/definition/englisch/meme (Stand: 29.05.2016).

9 Ebd.

10 Dawkins, Richard: Das egoistische Gen, Heidelberg 2010, S. 321.

11 Vgl. ebd., S. 316.

12 Ebd.

13 Vgl. ebd., S. 56.

14 Ebd., S. 320.

15 Ebd.

16 Ebd., S. 321

17 Ebd.

18 Vgl. ebd.

19 Semon, Richard: Die Mneme. Als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1920, S. 15.

20 Dawkins (2010), S. 321

21 Blackmore, Susan: Die Macht der Meme oder Die Evolution von Kultur und Geist, Heidelberg 2010, S. 32.

22 Vgl. Blackmore, Susan: Evolution und Meme: Das menschliche Gehirn als selektiver Imitationsapparat, in: Becker, A.; Mehr, C.; Nau, H. H.; Reuter, G.; Stegmüller, D. (Hrsg.): Gene, Meme und Gehirne. Geist und Gesellschaft als Natur. Eine Debatte, Frankfurt a. M. 2003, S. 49-89, hier S. 59.

23 Ebd., S. 58.

24 Vgl. ebd.

25 Wegener, Franz: Memetik. Der Krieg des neuen Replikator gegen den Menschen, Gladbeck 2009, S. 53.

26 Vgl. ebd.

27 Shifman, Limor: Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter, Berlin 2014a, S. 42.

28 Ebd.

29 Ebd., S. 44.

30 Vgl. dazu Kapitel 3.4. über das Pepper Spray Cop-Mem in dieser Arbeit

31 Vgl. Marwick, Alison: Memes, in: Contexts, 2013 Band 12, S, 12-13, hier S. 12.

32 Vgl. Journal of Memetics (1997): Information about JoM – EMIT, URL: http://cfpm.org/jom-emit/about.html (Stand: 29.05.2016).

33 Vgl. Journal of Memetics (2005): Volume 9 – 2005. Issue 1 – Retrospectives and Prospectives on 8 years of JoM – EMIT and Memetics. URL: http://cfpm.org/jom-emit/2005/vol9/ (Stand: 29.05.2016).

34 Vgl. Goriunova, Olga: Die Kraft der digitalen Ästhetik. Über Meme, Hacking und Individuation, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1/2013, S. 70-87, hier S. 78.

35 Ebd, S. 71.

36 Ebd. S. 78.

37 Ebd.

38 Vgl. ebd., S. 82.

39 Zu Begriffen der Macht: Vgl. Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 42ff.

40 Goriunova bedient sich hier am Beispiel der Gruppe Anonymous: Vgl. Goriunova (2013), S. 83f., vgl. auch Kapitel 2.3.1. in dieser Arbeit.

41 Vgl. Marwick (2013), S. 13.

42 Ebd.

43 Vgl. Goriunova (2013), S. 86.

44 Marwick (2013), S. 13.

45 Büttner, Vivian: Akzidentielle Medienhypes. Entstehung, Dynamik und mediale Verbreitung, Wiesbaden 2015, S. 102.

46 Vgl. ebd.

47 Maresch, Rudolf: Der Hype ist vorbei. Das Internet ist in der Realität angekommen, in: Maresch, Rudolf; Rötzer, Florian (Hrsg.): Cyberhypes. Möglichkeiten und Grenzen des Internets, Frankfurt a.M. 2001, S. 7-26, hier S. 8.

48 Büttner (2015), S. 102.

49 Know Your Meme (2015): VanPersieing, URL: http://knowyourmeme.com/memes/vanpersieing (Letzter Aufruf am 29.05.2016).

50 Vgl. ebd.

51 Vgl. Breitenbach, Patrick: Memes. Das Web als kultureller Nährboden, in: Stiegler, C.; Breitenbach, P.; Zorbach, T. (Hrsg.): New Media Culture: Mediale Phänomene der Netzkultur, Bielefeld 2015, S. 29-50, hier S. 37.

52 Ebd.

53 In dieser Arbeit wird der Begriff Wiederkäuer im Zusammenhang mit Memen direkt von Moskopp/Heller übernommen: Moskopp, Nils Dagsson; Heller, Christian: Internet-Meme: kurz & geek, Köln 2013, S. 194.

54 4chan Community Support LLC (2016): 4chan, URL: http://www.4chan.org/ (Stand: 29.05.2016).

55 4chan Community Support LLC (2016): FAQ – What is 4chan? URL: http://www.4chan.org/faq#what4chan (Stand: 29.05.2016).

56 Vgl. ebd.

57 Knocke, Felix (2010): Web-Guerilla will YouTube mit Pornos überschwemmen, URL: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/netzwelt-ticker-web-guerilla-will-youtube-mit-pornos-ueberschwemmen-a-670180.html (Stand: 29.05.2016).

58 Vgl. Moskopp/Heller (2013), S. 65.

59 Goriunova (2013), S. 83, damit meint sie: 4chan Community Support LCC (2016): /b/ - Random, URL: http://boards.4chan.org/b/ (Stand: 29.05.2016).

60 Vgl. ebd., S. 84.

61 Vgl. ebd., S. 85.

62 Krautchan (2016): Krautchan, URL: http://www.krautchan.net/ (Stand: 29.05.2016).

63 Vgl. Moskopp/Heller (2013), S. 65.

64 Vgl. 4chan Community Support LCC (2016): Advertise. URL: http://www.4chan.org/advertise (Stand: 29.05.2016).

65 Moskopp/Heller (2013), S. 187.

66 Reddit Inc. (2016): reddit – The front page of the Internet, URL: https://www.reddit.com/ (Stand: 29.05.2016).

67 Vgl. Moskopp/Heller (2013), S. 190.

68 Vgl. Reddit Inc. (2016): Über Reddit, URL: https://www.reddit.com/about/ (Stand 29.05.2016).

69 Know Your Meme (2015): Rickroll, URL: http://knowyourmeme.com/memes/rickroll (Stand: 29.05.2016).

70 Vgl. ebd.

71 Vgl. Moskopp/Heller (2013), S. 190.

Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Das Meme als mediale Funktion der Netzkultur. Eine diskursanalytische Untersuchung des Massenphänomens im Kontext von Social Media
Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg  (Medienkultur und Kommunikation)
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
58
Katalognummer
V520118
ISBN (eBook)
9783346136534
ISBN (Buch)
9783346136541
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Meme, Internet, Bachelorarbeit, Netzkultur, soziale Netzwerke, Social Media, Diskursanalyse, Medienwissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Memes, Mem
Arbeit zitieren
Sebastian Aumüller (Autor:in), 2016, Das Meme als mediale Funktion der Netzkultur. Eine diskursanalytische Untersuchung des Massenphänomens im Kontext von Social Media, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/520118

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