Entstalinisierung - Mythos oder Wirklichkeit?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

36 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Grundlagenforschung
II. 1. Definitionen „Entstalinisierung“ und „Tauwetter“
II. 1. 1. Definition „Entstalinisierung“
II. 1. 2. Definition „Tauwetter“
II. 2. Aktueller Forschungsstand

III. Nach Stalins Tod – Der Beginn einer neuen Epoche?
III. 1. Das Prinzip der „kollektiven Führung“
III. 2. Erste Reformbemühungen: Die frühen Reformer Berija und Malenkow
III. 2. 1. Berija als Initiator
III. 2. 2. Nach Berija – Malenkow setzt den „Neuen Kurs“ fort
III. 3. Chruschtschows Aufstieg
III. 4. Reformen unter Chruschtschow
III. 4. 1. Der XX. Parteitag der KPdSU
III. 4. 2. Der XXII. Parteitag der KPdSU
III. 4. 3. Sonstige Reformen

IV. „Entstalinisierung“ durch Stalinisten?

V. Schlussbetrachtungen

VI. Bibliographie
VI. 1. Quellen
VI. 2. Monographien
VI. 3. Aufsätze aus Sammelbänden
VI. 4. Zeitschriftenaufsätze

I. Einleitung

In der langen Geschichte Russlands und der Sowjetunion gibt es eine Vielzahl wichtiger Ereignisse und damit verbundener historischer Zäsuren. Die Oktoberrevolution 1917, der große Vaterländische Krieg 1941 bis 1945 oder auch die von Gorbatschow geprägten Perestroika und Glasnost und der damit zusammenhängende Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems im Jahre 1989. Bei einer solchen Aufzählung historischer Ereignisse werden jedoch oft die Geschehnisse und Veränderungen, die unmittelbar nach Stalins Tod einsetzten, vernachlässigt. Zieht man wissenschaftliche Gesamtdarstellungen über die russische und sowjetische Geschichte heran, nimmt die nach dem wichtigsten Politiker jener Zeit benannte „Ära Chruschtschow“ oft nur wenige Seiten ein. Dabei haben die Reformen, die jedoch nicht alleine mit den Namen Chruschtschow verbunden werden können, gerade für die einfache Bevölkerung spürbare Verbesserungen der Lebensbedingungen bewirkt und dürften somit positiv in dem Gedächtnis der Arbeiter und Bauern verblieben sein. Aus eben diesem Grunde scheint es mir wichtig, sich einmal genauer mit den Jahren 1953 bis 1964 auseinander zusetzten. Diese Zeitepoche wird in der Literatur oft als eine Periode der „Entstalinisierung“ bezeichnet. Auf den ersten Blick ergeben sich jedoch Zweifel, ob diese Begrifflichkeit richtig gewählt worden ist. Kann eine wirkliche „Entstalinisierung“ von den getreuen Anhängern des verstorbenen Diktators durchgeführt werden? Andere Historiker sprechen in diesem Zusammenhang vom sogenannten „Tauwetter“. Doch ergeben sich bei der genaueren Analyse nicht auch eine Reihe von Repressionen durch die sowjetische Führung, die den ersten Anzeichen eines „Tauwetters“ nicht einen massiven „Frosteinbruch“ haben folgen lassen?

Große Bedeutung bei der Aufarbeitung des stalinistischen Terrorsystems wird dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 in Moskau entgegengebracht. Chruschtschow hielt seine berühmte „Geheimrede“, in welcher er mit den Verbrechen der stalinistischen Zeit, aber auch mit dem Stalin selbst, dessen Fehlern und dem mit ihm verbundenen Personenkult, abrechnete. Durch diesen geschickten Schachzug rückte Chruschtschow sich selbst in den Focus der Entstalinisierungsbemühungen. Die Reformen, die bereits vorher von Malenkow und Berija ins Rollen gebracht worden sind, scheinen in den Hintergrund zu treten. Hier schließen sich nun die zentralen Fragen an, die sich wie ein roter Faden durch diese Arbeit ziehen werden: Werden die Bemühungen und Maßnahmen Chruschtschows nicht überschätzt? Und welche Motivationen verfolgte Chruschtschow mit seiner Reformpolitik? War sie Ausdruck eines wirklichen Bemühens der Aufarbeitung der Verbrechen seines Vorgängers und dem Versuch die Lebensbedingungen der einfachen Menschen im Sowjetreich einwenig erträglicher zu machen? Oder war die Reformpolitik ein Teil der Politik, die Chruschtschow einsetzte um seine Macht zu sichern und auszubauen?

Um eine genaue Aufarbeitung des Themas zu gewährleisten, werde ich zu Beginn meiner Arbeit versuchen, erst einmal die Begrifflichkeiten zu definieren. In diesem Zusammenhang ist es ebenso unumgänglich, den Untersuchungszeitraum einzugrenzen. Wie lange kann beispielsweise von einem „Tauwetter“ gesprochen werden? Wichtig wird zudem ein erster Einblick in die aktuelle Forschungs- und Literaturlage sein.

Anschließend wird die Frage zu klären sein, ob nach Stalins Tod wirklich eine neue Epoche in der Historie der Sowjetunion eingeleitet worden ist oder ob seine Nachfolger stalinistische Politik nicht einfach in modifizierter und auf die veränderten Bedingungen angepasster Form fortgeführt haben. Um dies zu beantworten, müssen zuerst die unmittelbar folgenden Monate im Mittelpunkt der Analyse stehen. Eine genauere Untersuchung der „kollektiven Führung“ (Malenkow, Berija, Chruschtschow) und der internen Machtkämpfe wird erste Ergebnisse liefern. Ein zweites Kapitel über die von Berija und Malenkow durchgeführten Reformen wird dann den Verbindungspunkt zu einem weiteren zentralen Bestandteil der Arbeit darstellen: Der Aufstieg Chruschtschows und die Methoden mit denen es ihm gelingt seine Widersacher aus dem Weg zu räumen. Es versteht sich von selbst, dass in diesem Unterkapitel eine Darstellung des XX. und des XXII. Parteitages, ebenso wie der berühmten chruschtschowschen Rede vonnöten sein wird. Nachfolgend soll die Aufmerksamkeit dann den von Chruschtschow selbst initiierten und durchgeführten Reformen gehören, dabei wird besonders die Frage Bedeutung erlangen, um mit den Erneuerungen in der Landwirtschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ein weiteres Indiz für die Abkehr der Sowjetunion vom Stalinismus festgestellt werden kann oder ob seine Reformen im Vergleich zu denen von Malenkow und Berija nicht einen Schritt zurück bedeuten. Bevor ich in einem kurzem Schlusskapitel die von mir gefundenen Erkenntnisse noch einmal kurz zusammenfasse, werde ich der ironischen Frage nachgehen, ob eine „Entstalinisierung“, die von ehemaligen Stalinisten durchgeführt worden ist, denn auch wirklich als eine solche bezeichnet werden kann.

II. Grundlagenforschung

II. 1. Definitionen „Entstalinisierung“ und „Tauwetter“

II. 1. 1. Definition „Entstalinisierung“

Die nachfolgende, von Stephan Merl im Rahmen seines Aufsatzes „Berija und Chruščev: Entstalinisierung oder Systemerhalt? Zum Grunddilemma sowjetischer Politik nach Stalins Tod“ in der Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“ publizierte Definition des Phänomens „Entstalinisierung“ scheint für die weiteren Untersuchungen des Themas gut geeignet:

„Außer als Bezeichnung für die verwendete Politik kann der Begriff auch zur Charakterisierung des Zustandes der Gesellschaft benutzt werden. In diesem Sinne ist unter Entstalinisierung die Lösung der Gesellschaft aus der Erstarrung, der Angst vor Verfolgung, umschrieben mit dem Begriff „Tauwetter“, zu verstehen. Dazu gehörte auch, sich wieder zu trauen, eigenständig zu denken und seine eigene Meinung zu sagen. Diese Entwicklung konnte durch die öffentliche Abrechnung mit Stalin gefördert werden.“[1]

Aus der Definition lassen sich zwei zentrale Elemente extrahieren: „Entstalinisierung“ als die angewandte Politik, charakterisiert durch die Reformen und Maßnahmen unmittelbar nach Stalins Tod. Und zweitens, eine Art psychische Befreiung der sowjetischen Gesellschaft aus der stetig vorhandenen Angst vor Verfolgung und Terror durch staatliche Stellen.

Für Merl ist somit die „Entstalinisierung“ nicht auf einen einzigen Politikbereich einzugrenzen, sie ist in allen Bereichen des Lebens vorzufinden.[2] Martin Malia geht sogar noch einen Schritt weiter. Für ihn war das Ziel der „Entstalinisierungspolitik“ das „gesamte sowjetische Leben zu entstalinisieren und neu zu gestalten – die Landwirtschaft, die Industrie, die internationalen Beziehungen und selbst die Funktionsweise der Partei.“[3]

Erwähnenswert ist zudem, dass der Begriff „Entstalinisierung“ als Abkehr von den Herrschaftsmethoden Stalins und einiger seiner ideologischen Maximen besonders in der nichtkommunistischen Welt Verbreitung gefunden hat.[4] Aus dieser Ergänzung der Definition kann somit ein weiteres wichtiges Element der „Entstalinisierung“ konkretisiert werden: Verschiedene von Stalin aufgestellte ideologischen Grundsätze werden von seinen Nachfolgern verändert oder widerrufen. Als Beispiel kann in diesem Zusammenhang die Theorie der „Friedlichen Koexistenz“ in den internationalen Beziehungen angeführt werden. Diese analysiert und erklärt den Wettbewerb zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen System, welcher demzufolge auf eine friedliche Art und Weise ausgetragen werden sollte.[5] Stalin hatte im Gegensatz dazu die theoretische Idee vertreten, dass eine militärische Konfrontation zwischen den beiden Blöcken unvermeidbar war und unmittelbar bevorstand. Für ihn konnte die Unvermeidlichkeit eines Krieges nur dadurch verhindert werden, dass man den Imperialismus, welcher zwangsläufig den Krieg heraufbeschwören würde, beseitigt.[6]

II. 1. 2. Definition „Tauwetter“

Anne Herbst-Oltmanns liefert in ihrem Aufsatz „Entstalinisierung. Der Einzelne zählt wieder in der Sowjetunion“ eine Definition des Begriffes Tauwetter:

„[...] Tauwetter umschriebene Phase der Renaissance der sowjetischen Kunst und Wissenschaft, unmittelbar nach dem Tode Stalins einsetzte.“[7]

Der Name, der dieser historischen Epoche von 1953 bis 1964 ihren Namen gab, entlieh die Wissenschaft dem gleichnamigen Roman „Tauwetter“ von Ilja Ehrenburg. Festzustellen bleibt erst einmal, dass der Begriff „Tauwetter“ in erster Linie auf den kulturellen Bereich begrenzt ist. In Literatur, Kunst, Musik, Theater und Film wurden erste nonkonformistische Tendenzen erkennbar.[8] Edward Crankshaw spricht sogar davon, dass nun erstmals, innerhalb gewisser Grenzen, eine politische Kritik durch Literaten und Künstler möglich gewesen wäre.[9] Hier erscheint nun der Hinweis, dass diese Kritik nur „innerhalb bestimmter Grenzen“ geäußert werden konnte von großer Wichtigkeit. Führt man sich die historischen Tatsachen vor Augen, liegt der Schluss nahe, dass die Grenzen der „freien“ Meinungsäußerung stets von der politischen Führung der UdSSR bestimmt worden sind. Gingen die Kulturschaffenden zu weit und die Führung sah sich in ihrer Machtposition gefährdet reagierte sie darauf mit Repressionsmaßnahmen. Somit kann das „Tauwetter“ in der Sowjetunion auf einen Zeitraum von etwas mehr als zwei Jahren begrenzt werden. Das Anzeichen für einen erneuten „Frost“ im kulturellen Bereich ist die Auseinandersetzung der sowjetischen Presse mit dem von Wladimir Dudizew publizierten Roman „Nicht vom Brot allein“, in welchen sich Dudizew kritisch mit der sowjetischen Bürokratie auseinandersetzt. Den Höhepunkt dieser Entwicklung lässt sich jedoch auf das Jahr 1957 datieren, als der Roman „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak erschien. Der Autor distanziert sich in seinem Roman vom offiziellen, von der Partei vorgegebenen Bild der bolschewistischen Revolution. Den Nobelpreis, den Pasternak für sein Werk bekam, musste er aufgrund politischen Drucks zurückweisen.[10]

II. 2. Aktueller Forschungsstand

Bei der genaueren Analyse der vorhandenen Literatur zur „Entstalinisierungsperiode“ bleibt festzustellen, dass eine umfassende Aufarbeitung der historischen Fakten bis Heute nicht eingesetzt hat. Die zur Verfügung stehenden Materialien beziehen sich zum Großteil auf die politische Geschichte, eine gesellschaftshistorische Analyse und besonders des seit dem Zusammenbruch der UdSSR neu aufgetauchten historischen Archivmaterials hat noch nicht stattgefunden.[11] Weiterhin fällt auf, dass die „Ära Chruschtschow“ im Verhältnis zu anderen Zeitabschnitten der russischen und sowjetischen Geschichte, besonders in Sammelbänden, nur unzureichend gewürdigt worden ist.

Innerhalb der Literatur sind zwei diametrale Tendenzen bei der Beurteilung der Jahre 1953 bis 1964 auszumachen: Auf der einen Seite gibt es Abhandlungen, die die Verdienste Chruschtschows bei der „Entstalinisierung“ offensichtlich überhöhen. Hierzu kann man besonders die von Roy Medwedew vorgelegte politische Biographie,[12] aber auch neuere Werke wie Luks,[13] Malia[14] und Altrechter[15] zählen. Dieser Forschungsmeinung steht eine zweite Schule gegenüber, die das Werk von Chruschtschow und dessen Rolle realistischer einschätzt. Zu den Vertretern gehören Stephan Merl[16] und Marek Ciesielczyk[17].

Eine Einteilung in eine neuere und eine ältere Forschungsmeinung scheint nicht sinnvoll, da Ciesielczyk seine Sicht der Dinge bereits im Jahre 1986 publiziert hat. Allerdings sollte eine Berücksichtigung der antisowjetische Perspektive, aus der Ciesielczyk argumentiert, wichtig für die Beurteilung seines Aufsatzes sein.

III. Nach Stalins Tod – Der Beginn einer neuen Epoche?

III. 1. Das Prinzip der „kollektiven Führung“

Nach dem Tode Stalins (5. März 1953) rückte die Frage nach dessen Nachfolge in den Mittelpunkt der Beratungen der obersten Sowjetführer. Malenkow galt als der unumstrittene Nachfolger des Diktators. Bereits am 12. März sprach ihm Mao Tse-Tung, der Vorsitzende der „Zentralen Volksregierung“ Chinas, sein Vertrauen aus, indem er ihm bescheinigte, dass mit ihm an der Spitze der Regierung diese und die kommunistische Partei der Sowjetunion „unbedingt in der Lage sind, das Werk des Genossen Stalin weiterzuführen.“[18] Sechs Tage zuvor, am 06. März war Malenkow zum Vorsitzenden des Ministerrates gewählt worden. An die Stelle der bisherigen autoritären Diktatur, verkörpert durch die Person Stalin, trat nun eine „kollektive Führung“, auch weil keine genaue Regelung für die Nachfolge von Stalin nach dessen Tod vorhanden war.[19] Weitere wichtige Positionen in der Führung des sowjetischen Staates übernahmen Berija, der die Leitung des Ministeriums für Inneres und Staatssicherheit übernahm. Molotow wurde Außenminister, Bulgamin Verteidigungsminister. Chruschtschow rückte ebenfalls in die erste Reihe der neuen Sowjetführung auf. Er wurde auf seinen eigenen Wunsch hin von seinem Amt als Moskauer Parteisekretär entbunden mit der Aufgabe sich von nun an nur noch um seine Arbeit im Sekretariat des Zentralkomitees zu kümmern.[20] Damit gelang Chruschtschow ein wichtiger Schritt um seinen Aufstieg zu festigen. Die Führungsebenen von Staat und Partei waren von nun an getrennt, zumal Malenkow am 14. März auf eigene Bitte auch von seinen Pflichten als Sekretär des ZK entbunden wurde. Er wollte sich stärker auf die eigentliche Regierungsarbeit konzentrieren. Doch dies war nicht die einzige strukturelle Veränderung, die von der neuen Führung unverzüglich vorgenommen wurde. Noch an Stalins Todestag revidierte sie die von Stalin auf dem XIX. Parteitag getroffene Entscheidung, wonach die Mitgliederzahl des Politbüros (dieses wurde auch in ZK-Präsidium umbenannt) von elf auf 25 erhöht wurde. Die Zahl der Mitglieder des höchsten Parteigremiums wurde sogar auf nur noch zehn reduziert.[21]

Obwohl auf den ersten Blick nun eine neue Ordnung in der obersten Führung von Staat und Partei etabliert schien, trügt dieser Schein. Heftige interne Auseinandersetzung über die zukünftige Ausrichtung der sowjetischen Politik bestimmten das Bild. Dies war jedoch nicht die einzige Diskrepanz, die zwischen den neuen Führern Malenkow, Berija und Chruschtschow zu erkennen ist. Im Zentrum der Auseinadersetzung stand die Machtfrage. Wer sollte in Zukunft den Kurs der Sowjetunion durch seine Visionen und Vorstellungen bestimmen?[22]

III. 2. Erste Reformbemühungen: Die frühen Reformer Berija und Malenkow

III. 2. 1. Berija als Initiator

Wie bereits aus den vorangegangen Ausführungen zu entnehmen ist, sind die von Berija initiierten Reformen oft unterschätzt oder sogar ganz verschwiegen worden.[23] Dies mag besonders mit den Tatsachen zusammenhängen, dass Berija zum einen auf eine sehr dunkle Vergangenheit in stalinistischer Zeit zurück blicken konnte (er war maßgeblich an den Säuberungsaktionen beteiligt), zum anderen aber auch, da er durch seine Vorhaben den übrigen sowjetischen Führern zu gefährlich geworden war. Merl sieht einen weiteren Anhaltspunkt. Er machte den Umstand, dass die historische Aufarbeitung der „Ära Chruschtschow“ auf dessen eigenen Memoiren beruht verantwortlich. Zudem seien wichtige Archive für die wissenschaftliche Aufarbeitung erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugänglich gemacht worden. Allerdings seien die neuen Erkenntnisse nur unzureichend in neuere Forschungsansätze eingeflossen.[24]

Die von Berija durchgeführten Reformen bezogen sich auf viele Bereiche des sowjetischen Lebens. Bereits am 13. März, also nur acht Tage nach Stalins Tod, ordnete Berija die Schaffung von Untersuchungsgruppen zur Überprüfung einer „besonders wichtigen Angelegenheit“ an.[25] Gemeint ist damit die sogenannte „Ärzte-Verschwörung“. In Folge dessen wurden am 04. April die Kreml-Ärzte aus der Haft entlassen und auch rehabilitiert. Damit war einer der letzten willkürlichen Terrorakte stalinistischer Prägung vor seinem Abschluss vereitelt worden.[26] Berija gab sogar öffentlich bekannt, dass die Anklagen gegen die Ärzte gefälscht worden seien, und dies ohne vorrausgehende Absprache mit dem ZK-Präsidium. Damit gehen die ersten Distanzierungen vom stalinistischen Politikstil auf seine Anregungen zurück. Die Öffentlichkeit nahm erstmals den Bruch mit dem stalinistischen Terrorregime und dessen Ende direkt wahr.[27] Nur zwei Wochen später wurde der eingeschlagene Kurs der Rehabilitierungen von Berija in erheblichem Maße ausgedehnt. Er legte dem Präsidium des ZK eine Notiz „über die Notwendigkeit der Durchführung einer Amnestie“ vor. Darin gibt er genaue Zahlen über den Gefangenstand in den Arbeitserziehungslagern, den Gefängnissen und Strafkolonien wieder. Er sieht „keine Notwendigkeit [für den Staat], eine große Zahl von Häftlingen, von denen ein bedeutender Teil für Verbrechen verurteilt wurde, die keine große Gefahr für die Gesellschaft darstellen, darunter auch Frauen, Jugendliche, alte Menschen und Kranke, in Lagern, Gefängnissen und Strafkolonien unterzubringen“. Im folgenden macht er dem ZK-Präsidium den Vorschlag ungefähr eine Million Menschen frei zu lassen. Dies wären im einzelnen „bis zu fünf Jahren Verurteilte; wegen Amts-, Wirtschafts- oder bestimmte Militärverbrechen verurteilte unabhängig von der Haftdauer; schwangere Frauen, Frauen, die Kinder im Alter bis zu zehn Jahren haben; Minderjährige bis 18 Jahren; alte Männer und Frauen; Kranke, die an schweren, unheilbaren Krankheiten leiden“. Zudem sollte die Haftdauer von Verurteilten über fünf Jahren um die Hälfte reduziert werden. Des weiteren forderte er auch eine Überprüfung des gültigen Strafrechts, in welcher das Strafmaß für geringere Delikte durch Verwaltungs- und Disziplinarmaßnahmen ersetzt bzw. abgemildert werden sollte.[28] Ausgenommen von der Amnestie waren politische Gefangene, die wegen „konterrevolutionären Verbrechen“ in Haft saßen. Diese Gruppe stellte jedoch einen großen Teil der Lagerinsassen.[29] Ebenso wenig galt die Verordnung für Personen, die wegen „Banditentum, schwerem Diebstahl von sozialistischem Eigentum und vorsätzlichem Mord“ zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt worden waren.[30] Nur einen Tag später wurde die Eingabe von Berija durch eine offizielle Anordnung des Präsidiums des ZK bestätigt und in die Tat umgesetzt.[31] Doch diese Amnestiewelle, die nach neusten Schätzungen im Laufe des Jahres 1953 über 1600000 Menschen die Freiheit schenkte[32] war nur eine von zahlreichen Reformbemühungen, die von Berija ins Leben gerufen worden waren. Im gleichen Zusammenhang muss die Tatsache Berücksichtigung finden, dass auf seine Initiative die Hauptverwaltung der Lager und der Strafkolonien mit allen dazugehörigen Arbeitsstellen und örtlichen Organen aus seinem Machtbereich, dem Innenministerium, herausgelöst und der Verantwortung des Justizministeriums überstellt wurden.[33] Allerdings verblieben beim Innenministerium die sogenannten „speziellen Lager für die Inhaftierung besonders gefährlicher Staatsverbrecher und die Lager für als Kriegsverbrecher verurteilte ehemalige Kriegsgefangene“.[34] Eine Präzisierung des Begriffs „besonders gefährlicher Staatsverbrecher“ ist im „Verordnungsentwurf des Ministerrates der UdSSR“ vom 28. März 1953 zu finden. Gemeint sind damit „Spione, Saboteure, Terroristen, Trotzkisten, rechte Abweichler, Menschewiken, Sozialrevolutionäre, Anarchisten, Nationalisten, weiße Emigranten und Mitglieder anderer antisowjetischer Organisationen und Gruppen und andere Personen, die infolge ihrer feindlichen Tätigkeiten eine Gefahr darstellen“. Mit Recht kann die Feststellung getroffen werden, dass alle politischen Gefangene weiterhin in der Gewalt von Berijas Ministerium waren.[35] Von zentraler Bedeutung ist der Befehl Berijas „Über das Verbot der Anwendung von beliebigen Zwangsmaßnahmen und körperlicher Gewaltanwendung gegenüber Verhafteten“, datiert auf den 04. April 1953. Zuerst einmal stellt er fest, dass durch „grausame Verhörmethoden“ viele „unschuldig Verhaftete von den Untersuchungsleitern bis zum Zustand der totalen physischen Erschöpfung und der moralischen Depression gebracht wurden“. Und „unter Ausnutzung dieses Zustandes der Verhafteten haben die betrügerischen Untersuchungsleiter ihnen im voraus fabrizierte Schuldbekenntnisse über antisowjetische sowie Spionage- und Terroraktivitäten untergeschoben“.[36] Ein Eingeständnis, dass durch Folter Geständnisse erpresst worden sind. Dadurch, dass ebenfalls die „Sondergerichte“ abgeschafft wurden, kehrt für jeden einzelnen Sowjetbürger ein kleines Stück Rechtssicherheit zurück. Die Geheimpolizei war fortan von der Tätigkeit der Strafverfolgung ausgeschlossen. Das offizielle Parteiorgan „Prawda“ verkündete am 06. April unter der Überschrift „Die sowjetisch sozialistische Gesetzlichkeit ist unantastbar“, dass nun die Bürger „ruhig und sicher arbeiten in dem Bewusstsein dass ihre Bürgerrechte unter dem verlässlichen Schutz der sowjetischen sozialistischen Gesetzlichkeit stehen“.[37] Ein weiterer Mosaikstein in den Reformbemühungen Berijas ist eine Art „Entrussifizierungspolitik“, die er besonders innerhalb seines eigenen Machtbereichs durchführte. Er ersetzte russische Funktionäre und Offiziere in den Sowjetrepubliken und Ministerien durch einheimische Kader. Bei den Spitzenfunktionären der regionalen kommunistischen Parteien verfolgte er das gleiche Prinzip, so gelang es ihm den russischen Ersten Sekretär der Ukrainischen KP durch einen Ukrainer zu ersetzen.[38] Berija machte mit seinen Reformen allerdings nicht an den Grenzen der Sowjetunion halt. Er versuchte seine Reformbemühungen auch auf die Volksdemokratien auszuweiten.[39] Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Politik, die er gegenüber der DDR vertrat. Er übte massiven Druck auf die Funktionäre in Ost-Berlin aus, um diese so zur Aufgabe stalinistischer Traditionen wie die forcierte Sozialisierungspolitik in der Landwirtschaft oder den Personenkult um Walter Ulbricht zu bewegen.[40] Zudem war er offensichtlich bereit die DDR aus dem System der sowjetischen Volksdemokratien zu entlassen. Er bezweifelte, dass innerhalb der DDR das sowjetische Herrschaftssystem hätte gefestigt werden können.[41]

[...]


[1] Merl, Stephan: Berija und Chruščev: Entstalinisierung oder Systemerhalt? Zum Grunddilemma sowjetischer Politik nach Stalins Tod, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Nr. 09/01 (2001), S. 484 – 507, hier S. 491.

[2] Ebenda, S. 484.

[3] Malia, Martin: Vollstreckter Wahn. Russland 1917 – 1991, Stuttgart 1994, S. 369.

[4] „Entstalinisierung“, in: Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Neunzehnte, völlig neu bearbeitete Auflage. Sechster Band, DS – EW und erster Nachtrag, Mannheim 1988, S. 434.

[5] Altrechter, Helmut: Kleine Geschichte der Sowjetunion: 1917 – 1991, München 1993, S. 128.

[6] Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000, S. 435ff.

[7] Herbst-Oltmanns, Anne: Entstalinisierung. Der Einzelne zählt wieder in der Sowjetunion, in: Crusius, Reinhard; Wilke, Manfred (Hrsg.): Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt/Main 1977, S. 50 – 65, hier S. 62.

[8] Fischer, Alexander: Kollektive Führung: Malenkow, Bulganin, Chruschtschow, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Die Sowjetunion 1953 – 1991 (Informationen zur politischen Bildung Nr. 236 (1992)), S. 1 – 3, hier S. 2.

[9] Crankshaw, Edward: Russland und Chruschtschow, Berlin 1960, S. 120.

[10] Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, S. 459.

[11] Merl, Stephan: Berija und Chruščev: Entstalinisierung oder Systemerhalt?, S. 484.

[12] Medwedew, Roy: Chruschtschow. Eine politische Biographie, Stuttgart 1984.

[13] Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000.

[14] Malia, Martin: Vollstreckter Wahn. Russland 1917 – 1991, Stuttgart 1994.

[15] Altrechter, Helmut: Kleine Geschichte der Sowjetunion: 1917 – 1991, München 1993.

[16] Merl, Stephan: Berija und Chruščev: Entstalinisierung oder Systemerhalt? Zum Grunddilemma sowjetischer Politik nach Stalins Tod, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Nr. 09/01 (2001), S. 484 – 507.

[17] Ciesielczyk, Marek: Verfeindeter Stil: Die Entstalinisierung, die keine war, in: Die politische Meinung. Monatsschrift zu Fragen der Zeit, J. 31, H. 226 (1986), S. 49 – 58.

[18] Heller, Michail; Kekrich, Alexander (Hrsg.): Geschichte der Sowjetunion. Zweiter Band 1940 – 1980, Königstein/Taunus 1982, S. 199.

[19] Fischer, Alexander: Kollektive Führung: Malenkow, Bulganin, Chruschtschow, S. 1.

[20] Heller, Michail; Kekrich, Alexander (Hrsg.): Geschichte der Sowjetunion, S. 199.

[21] Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, S. 428.

[22] Fischer, Alexander: Kollektive Führung: Malenkow, Bulganin, Chruschtschow, S. 1.

[23] Merl, Stephan: Berija und Chruščev: Entstalinisierung oder Systemerhalt?, S. 485.

[24] Ebenda, S. 485f.

[25] Pleines, Lina: Der „Neue Kurs“ Berijas nach Stalins Tod. Anordnung des Innenministers der UdSSR, L.P. Berija, „Über die Schaffung von Untersuchungsgruppen zur Überprüfung einiger besonders wichtiger Angelegenheiten“, in: Osteuropa-Archiv 48 (November-Dezember 1998), S. A 367 – A 375, hier S. A 368.

[26] Herbst-Oltmanns, Anne: Entstalinisierung. Der Einzelne zählt wieder in der Sowjetunion, S. 51.

[27] Merl, Stephan: Berija und Chruščev: Entstalinisierung oder Systemerhalt?, S. 488.

[28] Pleines, Lina: Der „Neue Kurs“ Berijas nach Stalins Tod. Notiz des Innenministers der UdSSR, L.P. Berija, an das Präsidium des ZK der KPdSU „Über die Notwendigkeit der Durchführung einer Amnestie“, S. A 368f.

[29] Herbst-Oltmanns, Anne: Entstalinisierung. Der Einzelne zählt wieder in der Sowjetunion, S. 51.

[30] Pleines, Lina: Der „Neue Kurs“ Berijas nach Stalins Tod. Notiz des Innenministers der UdSSR, L.P. Berija, an das Präsidium des ZK der KPdSU „Über die Notwendigkeit der Durchführung einer Amnestie“, S. A 370.

[31] Ebenda: „Entwurf für eine Anordnung des Präsidiums des ZK der KPdSU über eine Amnestie“, S. A 370.

[32] Merl, Stephan: Berija und Chruščev: Entstalinisierung oder Systemerhalt?, S. 507.

[33] Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, S. 429.

[34] Pleines, Lina: Der „Neue Kurs“ Berijas nach Stalins Tod. Notiz des Innenministers der UdSSR, L.P. Berija, an das Präsidium des ZK der KPdSU „Über die Übergabe der Arbeitserziehungslager in die Kompetenz des Justizministeriums der UdSSR“, S. A 370.

[35] Ebenda: Verordnungsentwurf des Ministerrates der UdSSR, S. A 371; sowie: Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, S. 430.

[36] Pleines, Lina: Der „Neue Kurs“ Berijas nach Stalins Tod. Befehl des Innenministers der UdSSR, L.P. Berija, „Über das Verbot der Anwendung von beliebigen Zwangsmaßnahmen und körperlicher Gewalteinwirkung gegenüber Verhafteten“, S. A 372.

[37] Herbst-Oltmanns, Anne: Entstalinisierung. Der Einzelne zählt wieder in der Sowjetunion, S. 51f.

[38] Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, S. 430f.

[39] Merl, Stephan: Berija und Chruščev: Entstalinisierung oder Systemerhalt?, S. 489.

[40] Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, S. 433.

[41] Merl, Stephan: Berija und Chruščev: Entstalinisierung oder Systemerhalt?, S. 501.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Entstalinisierung - Mythos oder Wirklichkeit?
Hochschule
Universität Trier
Veranstaltung
Die sozialistischen Staaten und Gesellschaften in Europa 1945 - 1990
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
36
Katalognummer
V52184
ISBN (eBook)
9783638479622
ISBN (Buch)
9783656787433
Dateigröße
661 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In der langen Geschichte Russlands und der Sowjetunion gibt es eine Vielzahl wichtiger Ereignisse und damit verbundener historischer Zäsuren. Die Oktoberrevolution 1917 oder die von Gorbatschow geprägten Perestroika und Glasnost und der damit zusammenhängende Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems im Jahre 1989. Bei einer solchen Aufzählung historischer Ereignisse werden jedoch oft die Geschehnisse und Veränderungen, die unmittelbar nach Stalins Tod einsetzten, vernachlässigt.
Schlagworte
Entstalinisierung, Mythos, Wirklichkeit, Staaten, Gesellschaften, Europa
Arbeit zitieren
M.A. Marc Brandstetter (Autor:in), 2004, Entstalinisierung - Mythos oder Wirklichkeit?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52184

Kommentare

  • Gast am 20.4.2008

    Verfeinerter Stil.

    Mein Beitrag "Die 'Entstalinisierung', die keine war" wurde in "Die Politische Meinung", no 226, Mai-Juni 1986, veroeffentlicht

Blick ins Buch
Titel: Entstalinisierung - Mythos oder Wirklichkeit?



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