Mit dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 standen die einzelnen Sowjetrepubliken vor einem politischen Neuanfang. Dabei stellte sich nach Jahrzehnten kommunistischer bzw. sozialistischer Herrschaft vor allem die Frage, welchen Charakter die politischen Systeme nun erhalten würden. Sollte es tatsächlich möglich sein, relativ unkompliziert und zügig stabile Demokratien zu installieren oder würden sich unter dem Deckmantel der Demokratie dennoch autoritäre und totalitäre Systeme entwickeln können? Wie sich im Zeitraum seit 1991 herausstellte, haben die Transformationsbewegungen der Staaten der ehemaligen UdSSR in jeglicher Hinsicht immer wieder für Schlagzeilen gesorgt, sei es der Bürgerkrieg in Tschetschenien, die friedliche Revolution in der Ukraine oder der Beitritt der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zur Europäischen Uni-on.
Besonders interessant jedoch erscheint das Schicksal Weißrusslands, das seitdem die negativen Schlagzeilen nicht hinter sich lassen konnte. Ein Präsident, der seit 1994 ununterbrochen regiert; Berichte über gefälschte Wahlergebnisse oder die Verfolgung unliebsamer Gegner werfen die Frage auf, ob und in welchem Umfang dort überhaupt eine Transformation stattfindet. Schon die Medienberichterstattung über Weißrussland legt die Vermutung nahe, dass das Land von einer Demokratie noch sehr weit entfernt ist. Eine wissenschaftliche Herangehensweise scheint hier also geeignet, um hinter die Kulissen der Berichterstattung zu blicken und das politische System näher zu betrach-ten.
Es drängt sich nun die Frage auf, ob das politische System Weißrusslands im Gegenzug als totalitär zu bewerten ist. Anhand der von Merkel 1999 entwickelten „Typologie poli-tischer Systeme“ soll Weißrussland in dieser Arbeit auf die sechs Klassifikationskriterien bezüglich der Herrschaft schrittweise untersucht und beurteilt werden. Im weiteren Verlauf folgen daher zunächst eine Einführung in Merkels Typologie sowie ein Über-blick über die von Merkel herausgestellten Merkmale von demokratischen, autoritären und totalitären Systemen. Anschließend wird Weißrussland im Hinblick auf die Herr-schaftslegitimation, den Herrschaftszugang, das Herrschaftsmonopol, die Herrschafts-struktur, den Herrschaftsanspruch sowie die Herrschaftsweise analysiert. Am Ende der Ausführungen soll die eingangs gestellte Forschungsfrage anhand der Untersuchungser-gebnisse beantwortet werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Typologie politischer Systeme nach Merkel
3. Die Einordnung des politischen Systems Weißrusslands in Merkels Typologie
3.1 Herrschaftslegitimation
3.2 Herrschaftszugang
3.3 Herrschaftsmonopol
3.4 Herrschaftsstruktur
3.5 Herrschaftsanspruch
3.6 Herrschaftsweise
4. Fazit
Literaturverzeichnis
Eidesstattliche Versicherung
1. Einleitung
Mit dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 standen die einzelnen Sowjetrepubliken vor einem politischen Neuanfang. Dabei stellte sich nach Jahrzehnten kommunistischer bzw. sozialistischer Herrschaft vor allem die Frage, welchen Charakter die politischen Systeme nun erhalten würden. Sollte es tatsächlich möglich sein, relativ unkompliziert und zügig stabile Demokratien zu installieren oder würden sich unter dem Deckmantel der Demokratie dennoch autoritäre und totalitäre Systeme entwickeln können? Wie sich im Zeitraum seit 1991 herausstellte, haben die Transformationsbewegungen der Staaten der ehemaligen UdSSR in jeglicher Hinsicht immer wieder für Schlagzeilen gesorgt, sei es der Bürgerkrieg in Tschetschenien, die friedliche Revolution in der Ukraine oder der Beitritt der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zur Europäischen Union.
Besonders interessant jedoch erscheint das Schicksal Weißrusslands, das seitdem die negativen Schlagzeilen nicht hinter sich lassen konnte. Ein Präsident, der seit 1994 ununterbrochen regiert; Berichte über gefälschte Wahlergebnisse oder die Verfolgung unliebsamer Gegner werfen die Frage auf, ob und in welchem Umfang dort überhaupt eine Transformation stattfindet. Schon die Medienberichterstattung über Weißrussland legt die Vermutung nahe, dass das Land von einer Demokratie noch sehr weit entfernt ist. Eine wissenschaftliche Herangehensweise scheint hier also geeignet, um hinter die Kulissen der Berichterstattung zu blicken und das politische System näher zu betrachten.
Es drängt sich nun die Frage auf, ob das politische System Weißrusslands im Gegenzug als totalitär zu bewerten ist. Anhand der von Merkel 1999 entwickelten „Typologie politischer Systeme“ soll Weißrussland in dieser Arbeit auf die sechs Klassifikationskriterien bezüglich der Herrschaft schrittweise untersucht und beurteilt werden. Im weiteren Verlauf folgen daher zunächst eine Einführung in Merkels Typologie sowie ein Überblick über die von Merkel herausgestellten Merkmale von demokratischen, autoritären und totalitären Systemen. Anschließend wird Weißrussland im Hinblick auf die Herrschaftslegitimation, den Herrschaftszugang, das Herrschaftsmonopol, die Herrschaftsstruktur, den Herrschaftsanspruch sowie die Herrschaftsweise analysiert. Am Ende der Ausführungen soll die eingangs gestellte Forschungsfrage anhand der Untersuchungsergebnisse beantwortet werden.
2. Die Typologie politischer Systeme nach Merkel
Merkel entwickelte im Zuge der Transformationsforschung eine Grundtypologie politischer Systeme, um Veränderungen eines politischen Systems analysieren zu können (vgl. Merkel 1999b, 24). Dabei geht er in seiner Beschreibung defekter Demokratien zunächst auf drei wesentliche Dimensionen ein: Erstens ist die „vertikale Legitimitätsdimension zwischen Wählern und Gewählten wie Regierten und Regierenden“ betroffen (Merkel 1999a, 364). Zweitens wird die „Dimension der Gewaltenkontrolle des Rechtsstaats und der gesicherten Grundrechte“ berührt (Merkel 1999a, 364). Drittens geht es um „die Ausübung der politischen Macht, also die autoritative Verteilung von Gütern und Werten“ (Merkel 1999a, 365). Basierend auf diesen drei Dimensionen führt Merkel „wesentliche, die politischen Herrschaftsordnungen charakterisierende Merkmale“ ein, in denen er sich „einzig auf das Kriterium der ‚politischen Herrschaft‘“ bezieht (Merkel 1999, 25). Merkels Klassifikationskriterien sollen im Folgenden kurz erläutert werden.
Zunächst stellt sich die Frage der Herrschaftslegitimation. Gemeint ist damit, in welchem Umfang und auf welche Weise die Herrschaft legitimiert ist (vgl. Merkel 1999b, 25): „Geschieht das mit dem Prinzip der Volkssouveränität, über die Indienstnahme bestimmter Mentalitäten Nationalismus, Patriotismus, Sicherheit und Ordnung oder durch geschlossene Weltanschauungen mit absolutem Wahrheitsanspruch?“ (Merkel 1999, 25).
Des Weiteren ist zu klären, wie der Herrschaftszugang geregelt ist, d.h. wie die Regierenden ausgewählt werden. Vor allem die Frage nach einem universellen Wahlrecht ist hier betroffen, d.h. ob die Wahlen gleich, frei, allgemein und geheim sind (vgl. Merkel 1999b, 25). Im Gegenzug ist dabei zu untersuchen, ob das Wahlrecht Einschränkungen verschiedener Art unterliegt bzw. überhaupt existiert.
Merkel führt weiterhin die Frage nach dem Herrschaftsmonopol als Kriterium auf. Hier geht es darum, welche Instanz politisch bindende Entscheidungen trifft, also etwa demokratisch gewählte Institutionen oder nicht legitimierte Akteure (vgl. Merkel 1999b, 26).
Ein viertes Merkmal ist in der Herrschaftsstruktur auszumachen; hierbei spielt die Machtverteilung innerhalb des Staates eine Rolle. Merkel fragt: „Ist die staatliche Macht auf mehrere Herrschaftsträger verteilt oder in der Hand eines einzigen Machtträgers vereint?“ (Merkel 1999, 26). Auch Fragen der Gewaltenteilung spielen hier eine Rolle.
Der Herrschaftsanspruch ist ein weiteres Kriterium zur Einordnung in ein politisches System. Hier stellt sich die Frage nach der Begrenzung des staatlichen Herrschaftsanspruchs gegenüber den Staatsbürgern (vgl. Merkel 1999b, 26). Es soll dabei untersucht werden, inwieweit ein Staat die „Regelungs- und Interventionstiefe [...] gegenüber der Gesellschaft und ihren Mitgliedern“ beansprucht (Merkel 1999, 26).
Schließlich führt Merkel die Herrschaftsweise an. Dabei geht es um die Frage, ob die staatliche Herrschaft rechtsstaatlichen Grundsätzen folgt oder gegensätzlich ausgeübt wird (vgl. Merkel 1999b, 26). Auch die Frage nach der Ausübung staatlicher Gewalt stellt sich hier.
Je nach Ausprägung der einzelnen Kriterien kann im Anschluss an eine Untersuchung eine Einordnung eines politischen Systems als demokratisches, autoritäres oder totalitäres System vorgenommen werden (vgl. Merkel 1999b, 28). Bezüglich der hier behandelten Fragestellung, ob Weißrussland ein totalitäres System ist, sei folgende Definition Merkels eingeführt (1999, 27): „In totalitären Systemen ist der Herrschaftszugang geschlossen, die Herrschaftsstruktur monistisch, d.h. auf ein einziges Herrschaftszentrum ausgerichtet, der Herrschaftsanspruch total, die Herrschaftsweise repressiv, terroristisch und von einer umfassenden Weltanschauung mit absolutem Wahrheitsanspruch überwölbt. Anders formuliert: Während autoritäre Systeme die sechs demokratischen Herrschaftskriterien nur verletzen, heben totalitäre Systeme sie völlig auf.“ Auch Lauth (2002, 117) beruft sich auf Merkels Typologie und kommt zu dem Ergebnis, dass in totalitären Systemen politische Freiheit, politische Gleichheit sowie politische und rechtliche Kontrolle nicht gegeben sind.
3. Die Einordnung des politischen Systems Weißrusslands in Merkels Typologie
3.1 Herrschaftslegitimation
Inwieweit die Herrschaft in Weißrussland legitimiert ist, lässt sich daran überprüfen, wie Wahlen durchgeführt werden. In Minsk regiert seit 1994 Staatspräsident Alexander Lukaschenko. Gewählt wurde er nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht (vgl. Steinsdorff 2002, 428). Während Lukaschenkos Erstwahl noch unter fairen Bedingungen stattfand (vgl. Merkel 1999a, 361), entzog er sich der später fälligen Legitimation durch eine eigenmächtige Verlängerung der fünfjährigen Amtsperiode um zwei Jahre und stellte sich erst 2001 erneut zur Wahl (vgl. Steinsdorff 2002, 417). Begründet wurde dies mit einem scheinbar späteren Beginn seiner Amtszeit, die nach Lukaschenkos Auffassung erst mit dem Inkrafttreten der Verfassungs von 1996 begann (vgl. Steinsdorff 2002, 417). Durch diese willkürliche Handhabung wird bereits deutlich, dass selbst das scheinbare Prinzip der Volkssouveränität in Weißrussland nicht gewährleistet ist. Zudem kam es bei der Präsidentschaftswahl 2001 zu Unregelmäßigkeiten: Oppositionelle Kräfte wurden während des Wahlkampfes massiv behindert und bei der Auszählung der Stimmen benachteiligt (vgl. Steinsdorff 2002, 417). Nachträglich wurden Wahlergebnisse verfälscht und unerwünschte Ergebnisse manipuliert. Regierungsfreundliche Medien trugen ebenfalls dazu bei, dass die Wahl Lukaschenkos ausschließlich auf fadenscheinige Art und Weise legitimiert wurde (vgl. Steinsdorff 2002, 418). Die OSZE stellte gravierende Mängel im Wahlverfahren fest und bewertete die Wahl Lukaschenkos als undemokratisch (vgl. Steinsdorff 2002, 417). Auch die einseitige Beschränkung der Kompetenzen des Parlaments deuten auf eine Verletzung der Volkssouveränität hin: Per (nicht gestattetem) Referendum ließ Lukaschenko 1996 eine Verfassungsänderung beschließen, die ihm mehr Macht zusicherte und gleichzeitig das Parlament in seinen Kompetenzen stark einschränkte (vgl. Steinsdorff 2002, 431).
Während festzustellen ist, dass die Herrschaft nur scheinbar demokratisch legitimiert ist, bleibt noch die Frage nach anderen Begründungen der Herrschaftslegitimation offen. Lukaschenko vertritt zwar keine geschlossene Weltanschauung, wohl aber scheint er seine Herrschaft durch die Begriffe „Sicherheit und Ordnung“ legitimiert zu sehen. Der Kampf gegen Korruption oder die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit sind Beispiele dafür, wie Lukaschenko seine Macht legitimiert sieht (vgl. Steinsdorff 2002, 432).
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- Arbeit zitieren
- Johannes Neufeld (Autor:in), 2005, Handelt es sich beim politischen System Weißrusslands um ein totalitäres System nach der Typologie von Merkel?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52545
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