Der Kommunitarismus - Amitai Etzionis Idee einer Verantwortungsgesellschaft


Hausarbeit, 1999

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Das Kommunitaristische Programm
1.1 Was ist Kommunitarismus ?
1.2 Die Stimme der Moral

2. Anwendbarkeit des Kommunitaristischen Konzepts
2.1 Unterschiedliche Voraussetzungen in Europa
2.2 Diskussion am Beispiel der kommunitären Familie
2.3 Zwang und Gewalt

3. Der Kommunitarismus - eine neue Perspektive?
3.1 Historisch-Philosophische Parallelen
3.2 Der Kommunitarismus als praktikable Alternative
3.3 Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

In den westlichen Industrienationen wird zunehmend die Tendenz hin zu mehr Individualismus verbunden mit einem vermeintlichen Verlust von Werten beklagt. Basierend auf dieser Kritik formierte sich Ende der 80er Jahre in den Vereinigten Staaten die kommunitaristische Bewegung, die eine gesellschaftsweite Diskussion über das Verhältnis von Rechten und Pflichten jedes Einzelnen fördern will[1]. Der amerikanische Soziologe Amitai Etzioni gilt als Motor dieser Bewegung. Die von ihm vertretene sozialphilosophische Denkschule des Kommunitarismus und das darauf basierende Modell einer „Verantwortungsgesellschaft“ wendet sich gegen die Tendenzen eines übertriebenen Individualismus und will durch eine Erneuerung gemeinsamer Werte wieder ein Fundament für eine gerechte politische Ordnung schaffen.

In dieser Hausarbeit soll der Versuch unternommen werden, die Grundzüge des kommunitaristischen Projekts darzustellen.

Der Kommunitarismus will eine Veränderung auf allen Ebenen der Gesellschaft erreichen – sozial, politisch und wirtschaftlich. Da er diese Veränderung vor allem durch Erziehung und Bildung erreichen will, wird die kommunitaristische Familienpolitik näher betrachtet .

Zunächst wird untersucht, ob der Kommunitarismus tatsächlich eine globale Alternative sein kann, wie sie Etzioni fordert; vor allem im Hinblick auf die unterschiedlichen Voraussetzungen in Deutschland und den USA. Schließlich soll am Beispiel historisch-philosophischer Parallelen die Diskussion angerissen werden, ob der Kommunitarismus wirklich neue Alternativen bietet, oder ob nicht jene Aspekte der kommunitaristischen Forderungen, die weitgehend akzeptiert werden können, selbstverständlicher Teil der sozialphilosophischen Tradition sind.

Durch den begrenzten Umfang einer Hausarbeit kann das Thema nicht erschöpfend erläutert werden, vielmehr soll eine Diskussionsgrundlagen geschaffen werden, um das von Etzioni entworfene Bild einer „neuen Verantwortungsgesellschaft“ kritisch zu hinterfragen.

Grundlage der Betrachtungen ist Etzionis 1993 in den USA erschienenes Buch „Die Entdeckung des Gemeinwesens – das Programm des Kommunitarismus“. Die Begriffe Kommunitarist und Kommunitarier werden synonym verwendet.

Der Autor

Amitai Etzioni wurde 1929 in Köln als Werner Falk geboren. Nach der Flucht mit seinen Eltern nach Palästina 1935 nahm er den hebräischen Namen Amitai Etzioni an. Nach seinem Studium an der hebräischen Universität in Jerusalem siedelte er in die USA über, wo er heute als Professor an der George Washington University lehrt. 1994 gründete er das „Communitarian Network“ und ist Herausgeber der vierteljährlich erscheinenden kommunitaristischen Zeitschrift „The Responsive Community: Rights and Responsibilities“. 1995 veröffentlichte er in Deutschland sein Buch „Die Entdeckung des Gemeinwesens – Das Programm des Kommunitarismus“, 1997 erschien sein zweites Buch „Die Verantwortungsgesellschaft“.

1. Das kommunitaristische Programm

1.1 Was ist Kommunitarismus?

„Kommunitarismus bezeichnet eine sozial-philosophische Theorie, die sich gegen die Tendenz zum (Hyper-) Individualismus stellt, für eine Erneuerung gemeinsamer Werte eintritt und damit ein Fundament für eine gerechte politische Ordnung schaffen will. Das gemeinsame, durch sozialen Austausch geschaffene Gute hat daher höhere Priorität als (kurzfristig) individuelle Interessen.“ (Lexikon der Politik 1995)

Etzioni selbst formuliert das Anliegen der Kommunitaristen im Vorwort. Es geht den Kommunitariern um „die Rekonstruktion der Gemeinschaft, der community, um die Wiederherstellung der Bürgertugenden, um ein neues Verantwortungsbewußtsein der Menschen, um die Stärkung der moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft.“ (Etzioni 1995, S. IX). Dabei unterscheidet er zwei Typen sozialer Bindungen. In einer Gesellschaft (society) seien „Gruppen von Menschen, die nur wenig verbindet, wie die Menschenmenge oder die Massengesellschaft“ (Etzioni 1995, S. 137), dagegen seien Gemeinschaften (community) „soziale Netze von Menschen, die einander persönlich kennen – und zugleich moralische Instanzen. Sie nutzen interpersonelle Bande, um ihre Mitglieder zur Beachtung gemeinsamer Werte und Normen ... zu erziehen. Sie tadeln jene, die gemeinsame moralische Normen verletzen, und loben jene, die sie beachten. Den Staat (Justiz, Polizei) rufen sie erst, wenn alle anderen Mittel versagen.“ (Ebd. S. IX) In den Gemeinschaften soll ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Individualrechten und sozialen Pflichten hergestellt werden, sie darf „weder zur Anarchie des Extremindividualismus und zur Vernachlässigung des Gemeinwohls tendieren noch zum Kollektivismus [exzessiver Sozialkonservatismus (vgl. Ebd., S.74)], der das Individuum abwertet“ (Etzioni 1995, S.X).

Ordnung und Autonomie stehen sich in Etzionis Gesellschaftsbild nicht kontradiktorisch gegenüber. Vielmehr hat er hierfür die Theorie einer inversen Symbiose[2] entwickelt, bei der er davon ausgeht, daß sich die Elemente Ordnung und Autonomie bis zu einem gewissen Grad gegenseitig befruchten, so daß in einer Gesellschaft, in der eines der beiden Elemente stärker vertreten ist, automatisch auch das andere zunimmt. Erst wenn ein Element über einen bestimmten Punkt hinauswächst, mindert es das andere und die Symbiose schlägt in Antagonismus um. Wann aber jener kritische Punkt erreicht ist, darüber sagt Etzioni nichts.

Ordnung entspricht in Etzionis Schema den moralischen Bindungen der Gesellschaftsmitglieder und beruht maßgeblich auf normativen Mitteln. Als solche führt er Erziehung, Konsens und Gruppendruck an. Autonomie muß in eine „soziale Struktur von Bindungen und Werten eingebettet und darf nicht von ungebundenem Charakter sein.“ (Etzioni 1997, S. 96f)

1.2 „Die Stimme der Moral“

Kommunitaristen sehen eine Diskrepanz zwischen Recht und (moralischer) Richtigkeit. Eines der normativen Mittel, mit denen diese Lücke geschlossen werden soll, ist die „Stimme der Moral“, das soziale Gewissen jedes Einzelnen, das durch Erziehung, Bildung und Förderung von Gemeinschaften wie Familie, Schule und Vereine geformt werden soll. Nur gegen die Minderheit der „Unverbesserlichen“ wollen Kommunitaristen mit staatlichem Zwang vorgehen. (Etzioni 1997, S. 59f)

„Die Stimme der Moral ist eine besondere Form der Motivation, da sie Menschen ermutigt, an bestimmten gemeinsam geteilten Werten festzuhalten...Sie ist informell, subtil und in hohem Maße dem Alltagsleben eingegliedert.“ (Etzioni 1997, S. 173) Dabei resultiert sie aus zwei Quellen: einer inneren, bestehend aus Werten, „von denen eine Person aufgrund ihrer Erziehung, Erfahrung und persönlichen Entwicklung glaubt, daß sie von allen geteilt werden sollten“ und einer äußeren, nämlich „die Ermutigung durch Mitmenschen, gemeinsamen Werten anzuhängen.“ (Etzioni 1997, S. 169f). Die Definition solcher gemeinsam geteilter Werte erfolgt jedoch in Etzionis Konzept nicht. Er führt lediglich aus, es seien „Werte, denen sich die meisten Mitglieder einer Gesellschaft verpflichtet fühlen (wenn auch nicht immer im selben Ausmaß)..., soziale Werte, die sich allgemeiner Zustimmung erfreuen.“ (Etzioni 1997, S. 127f). Eine wesentliche Quelle von Grundwerten sei die Religion (vgl. ebd. S. 132). In einer kommunitären Gesellschaft werden Werte eher von einer Generation an die nächste weitergegeben, als das sie erfunden oder ausgehandelt werden“ (Etzioni 1997, S. 137). Etzioni beruft sich auf die „universelle menschliche Natur“, nach der der Mensch von Natur aus „roh und wild“ sei, aber „ausgestattet mit dem Potential, tugendhafter zu werden“ (Etzioni 1997, S. 221) – eine Vorstellung, die Thomas Hobbes als „homo homini lupo“[3] prägte.

Für menschliche Tugendhaftigkeit gebe es drei Bedingungen, erstens die Internalisierung von Werten, zweitens die Entwicklung sozialer Gebilde zur Wertuntermauererung und drittens die Reduzierung des Widerspruchs zwischen Ordnung und Autonomie.

„Internalisierung meint jene Prozesse, durch die Kinder Werte in ihr sich entwickelndes Selbst aufnehmen, bis diese zu ihren eigenen Werten ...werden“ (Etzioni 1997, S. 225f). Diese Primärinitialisierung könne sich nur in engen, affektgeladenen Bindungen vollziehen, bedürfe jedoch zusätzlich sekundärer Verinnerlichung über das Kindesalter hinaus. Die moralische Infrastruktur zehre von vier Phänomenen, nämlich Familie, Schule, den Gemeinschaften in einer Gesellschaft sowie der „Gemeinschaft der Gemeinschaften“ – der Gesellschaft (vgl. Etzioni 1997, S. 235). Deren Aufgabe sei neben der Vermittlung der Werte die ständige Bestärkung moralischer Verpflichtungen, an der auch die Medien (bestärkend oder untergrabend) beteiligt seien. Die Bedeutung der Erziehung in der Familie wird im nächsten Abschnitt näher betrachtet.

In seinem Fazit bemerkt Etzioni, daß „die Kommunitarier glauben, so utopisch es klingen mag, daß eine weltweite Verbreitung demokratischer Gemeinschaften das Entstehen einer globalen Gemeinschaft ermöglichen würde, die mit vereinten Kräften die Menschheitsprobleme angeht“ (Etzioni 1995, S. 298) – die kulturellen Unterschiede zwischen den Nationen[4] und die verschiedenen Ordnungsvorstellungen säkularisierter und religiös geleiteter Staatsformen scheinen dabei für ihn kein Hindernis zu sein, er bemerkt lediglich zwei Jahre später lapidar, daß „ein solcher Ansatz mehrere Schwierigkeiten aufwerfe.“ (Etzioni 1997, S. 296).

2. Anwendbarkeit des Konzeptes

2.1 Unterschiedliche Voraussetzungen in Europa

Um den Kommunitarismus im europäischen Kontext diskutieren zu können, muß die Frage gestellt werden, ob er ein verallgemeinerbares, weltweit auftretendes Phänomen ist, oder doch ein typisch US-amerikanisches.

Viele der Forderungen, für die Etzioni vehement eintritt, sind im westlichen Europa längst Realität. Über die Notwendigkeit von Kindergeld und Erziehungsurlaub wird hier nicht mehr diskutiert.

Auch in der ehemaligen DDR war, bei aller Kritik an zu autoritärer und kontrollierter Erziehung, in staatlichen Kindergärten doch immer gewährleistet, daß Alleinerziehende nie in finanzielle Nöte gerieten oder Väter sich nicht ihrer Unterhaltspflicht entziehen konnten.

Die Kommunitaristen begründen ihre Forderungen mit einem Verfall von Werten und Moral. Auch in Deutschland wird häufig die Phrase des „Werteverfalls„ zitiert. Doch selbst wenn man für die westlichen Industrienationen tatsächlich von einem Verfall von Werten statt eines Wandels ausgeht, ist dieser zwar zum Teil auch Folge des zunehmenden Wohlstands, andererseits ermöglichte aber eben jene Wirtschaftskraft in Deutschland auch die Umsetzung etlicher kommunitaristischer Forderungen wie beispielsweise der nach Kindergeld, bezahltem Erziehungsurlaub oder steuerlichen Vorteilen für Familien.

Den beklagten Werteverfall, der ja Ausgangspunkt der kommunitaristischen Forderungen ist, untersuchte der Meinungsforscher Daniel Yankelovich, indem er die Veränderung der Wertelandschaft im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichem Erfolg eines Landes analysierte (vgl. Dettling 1995, S. 46ff). Für die sozialen und psychologischen Veränderungen kommt es demnach nicht nur auf die ökonomischen Faktoren wie Bruttosozialprodukt oder Lebensstandard an, sondern ebenso sehr darauf, wie die Menschen die wirtschaftliche Entwicklung und den wachsenden Wohlstand wahrnehmen und interpretieren. Der englische Wissenschaftler Robert Worcester, Professor an der Londoner School of Economics ließ nach Befragungen in 54 Ländern eine Glücksrangliste erstellen. Deutschland belegte hier nur Rang 42, auf Platz eins landete Bangladesch.

Eine Zusammenfassung von Yankelovichs These aus seinem Beitrag „Wie der wirtschaftliche Erfolg die Gesellschaft verändert„ soll helfen zu verdeutlichen, wie es in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu Werteverfall und Orientierungslosigkeit kommt, einem Phänomen, das er „Wohlstandseffekt„ nennt.

Auf seine Entstehung im westlichen Nachkriegsdeutschland soll hier zur Verdeutlichung etwas näher eingegangen werden.

Eine erste von drei Phasen ist gekennzeichnet durch die Absolutheit der Systemgegensätze eines „freien, demokratischen Westens“ und eines „totalitären Ostens“.

Innergesellschaftlich sorgten wachsender Wohlstand, Einheitsgewerkschaften und die fehlende Emanzipationsbewegung der Frau dafür, daß alte Werte nicht in Frage gestellt wurden. Die ausschließliche Orientierung an materiellen Werten machte nach Yankelovich diese Phase, die zeitlich mit der Ära Adenauer von 1949-1963 zusammenfällt, zur orientierungssichersten der drei. Umweltschutz oder die menschlichen Kosten der Modernisierung waren noch kein Thema.

[...]


[1] Siehe auch: Das Kommunitaristische Programm: Rechte und Verantwortlichkeiten (Etzioni 1995, S.282ff)

[2] in Anlehnung an symbiotische Beziehungen in der Biologie

[3] „der Mensch ist des Menschen Wolf“: die Idee eines „rohen und wilden Menschen“ und einem alles menschliche Handeln bestimmenden Selbsterhaltungstriebes wurde bereits Anfang des 17.Jhd. in der materialistisch-mechanistischen Anthropologie von Thomas Hobbes formuliert. Dieser hielt allerdings daraus die Konsequenz für zwingend notwendig, alle Gewalt auf den Staat zu übertragen. Recht im Hobbesschen Sinne bedarf zu ihrer Legitimation also lediglich autoritative Gesetztheit.(Vgl. Thomas Hobbes 1651: „Leviathan“)

[4] Interessante Aspekte, die der These einer universellen Zivilisation widersprechen enthält Samual P. Huntingtons 1996 erschienenes Buch „Kampf der Kulturen“, in der er u.a. die Theorie entwickelt, daß die Grenzen verschiedener Kulturen (auch innerhalb einer Nation) unüberwindbar seien. Auf das Thema der kulturellen Divergenz und die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Definition kommunitaristischer gemeinsamer Werte näher einzugehen, würde den Rahmen dieser Hausarbeit sprengen.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Der Kommunitarismus - Amitai Etzionis Idee einer Verantwortungsgesellschaft
Hochschule
Universität der Künste Berlin  (Institut für Theorie und Praxis der Kommunikation)
Veranstaltung
Lebensstile und Kommunikation
Note
1,0
Autor
Jahr
1999
Seiten
16
Katalognummer
V5285
ISBN (eBook)
9783638132220
Dateigröße
546 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kommunitarismus, Etzioni, Lebensstile
Arbeit zitieren
Thorsten Kadel (Autor:in), 1999, Der Kommunitarismus - Amitai Etzionis Idee einer Verantwortungsgesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/5285

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