Als es während meines ersten Interviews an der Haustür Sturm klingelt, fragt der 15jährige Murat mich höflich, ob es in Ordnung sei, kurz zu unterbrechen. Nickend schalte ich das Aufnahmegerät aus, während Murat zur Haustür geht und hinter sich die Durchgangstür zum Treppenhaus schließt. Er öffnet die Haustür und redet leise, aber für mich dennoch hörbar, auf die Person vor der Tür ein: „Wenn du hier noch einmal läutest, dann brech ich dir alle Knochen und trete dich die Treppe runter bis in den Keller! Verstanden?“ Der Junge vor der Tür entgegnet etwas für mich Unverständliches, worauf hin ihm Murat droht: „Verpiss dich gefälligst! Und wehe, ich seh dich hier noch mal... ich weiß wo du wohnst, klar?!“. Dann schließt er die Haustür, kommt zu mir ins Wohnzimmer zurück und setzt sich lächelnd neben mich auf die Couch: „Wir können weitermachen.“
Zwei verschiedene Murats eröffnen sich da: der eine zuvorkommend und auf gutes Benehmen achtend, der andere bedrohlich und einschüchternd. Der erste Eindruck also ein bloßer Schnappschuss? Habe ich ihn etwa falsch eingeschätzt, völlig falsch verstanden?
Wenige Monate später, am 15. September 2004, schreibt eine Münchner Tageszeitung in einem einseitigen Extrablatt zur Jugendkriminalität mit der Überschrift „Was ist bloß mit den Kindern los?“ und stellt mit stichpunktartigen Formulierungen Thesen wie „Fehlende Ideale“, „Gewalt zum Frustabbau“ oder „Zu früh erwachsen“ die heutige Jugend als hochkriminelle Individuen dar. Worauf diese Thesen basieren oder ob sie wissenschaftlich gestützt werden, wird dabei nicht erläutert. Woher aber stammen die Kategorien, die Darstellungsformen der devianten und delinquenten Jugendlichen?
Inhaltsverzeichnis
- Einleitende Worte und Abstract
- Biographieforschung
- Themenorientierte Sachdimension
- Authentische Biographie bei Schütze
- Authentische Kommunikation bei Nassehi
- Verstehen und Kommunikation als systemtheoretische Begriffe
- Operativer Ort von Biographie
- Personenorientierte Sozialdimension
- Authentische Person bei Schütze
- Kontextgebundene Erzeugung von Personen bei Nassehi
- Kontingente Zeitdimension
- Absolute Homologie bei Schütze
- Temporalisierung zur Kontingenzbewältigung bei Nassehi
- Authentische versus relative Homologie
- Temporalisierung sozialer und psychischer Systeme
- Von Authentizität zu Inklusion
- Zur Gewinnung biographischer Daten anhand narrativer Interviews
- Populationsauswahl und ihre Schwächen
- Kategorisierung des narrativen Interviews
- Aufbau und Ablauf des narrativen Interviews
- Probleme des narrativen Interviews
- Zusammenfassung des Kapitels zur Biographieforschung
- Themenorientierte Sachdimension
- Kriminalsoziologie
- Themenorientierte Sachdimension
- Kriminelles Gen beim ätiologischen Paradigma
- Klassische biologische Theorien
- Aktuelle Beiträge
- Kriminalisierendes Labeling beim interpretativen Paradigma
- Kriminalität versus Kriminalisierung
- Klassische Etikettierungstheorien
- Kriminelles Gen beim ätiologischen Paradigma
- Personenorientierte Sozialdimension
- Authentische Person beim ätiologischen Paradigma
- Anomie und ihre Weiterentwicklung
- Bindungstheorien
- Kriminogene Faktoren Peer- Relations, Lebensstile und Werte
- Situationsspezifische Erzeugung von Personen beim interpretativen Paradigma
- Kriminalisierung durch Sanktion
- Kriminalisierung durch primäre und sekundäre Devianz
- Kriminalisierung durch Normsetzung und Normanwendung
- Authentische Person beim ätiologischen Paradigma
- Kontingente Zeitdimension
- Standardisierter Stillstand beim ätiologischen Paradigma
- Prognose von Verbrechen
- Verwaltung von Verbrechen
- Machtabhängiger Wandel beim interpretativen Paradigma
- Etikettierungstheorien der Zuschreibungsprozesse
- Gründe der Zuschreibungsprozesse
- Standardisierter Stillstand beim ätiologischen Paradigma
- Zusammenfassung des Kapitels zu Kriminellem Verhalten
- Themenorientierte Sachdimension
- Analyse des Datenmaterials
- Sarah: Die personifizierte Unschuld - „Außerdem isses auch asozial, bin ja keine Pennerin“
- Themenorientierte Sachdimension: Kriminelles Leben
- Einführung der Protagonistin
- Kriminelles Leben: Verborgene Delinquenz
- Differente Kriminalitätsstufen
- Personenorientierte Sozialdimension: Die Anderen
- Positiv bewertete Dritte: Der Freund und die Oma
- Negativ bewertete Dritte: Schlampen und Gewalttätige
- Kontingente Zeitdimension: Zukunftspläne
- Einsicht durch Entscheidung
- Moral
- Expertenfrage
- Themenorientierte Sachdimension: Kriminelles Leben
- Murat: Der türkische Bruce Willis - „Ich hab halt keine Angst, egal ob des 10 oder 20 Leute sind“
- Themenorientierte Sachdimension: Kriminelles Leben
- Einführung des Protagonisten
- Kriminelles Leben: Prestigeträchtige Kriminalität
- Differente Kriminalitätsstufen
- Personenorientierte Sozialdimension: Die Anderen
- Positiv bewertete Dritte: Familie und die türkische Nationalität
- Negativ bewertete Dritte: Fremde Nationalitäten und „Alkoholiker“
- Kontingente Zeitdimension: Zukunftspläne
- Aggressivitätsproblem
- Die Rolle der neuen Freunde und der Familie
- Konkrete Zukunftspläne
- Expertenfrage
- Themenorientierte Sachdimension: Kriminelles Leben
- Max: Der Aussteiger – „Es wird sich immer irgendwas ergeben“
- Themenorientierte Sachdimension: Kriminelles Leben
- Einführung des Protagonisten
- Kriminelles Leben: Alltäglichkeit der Delinquenz
- Die Ausnahme
- Personenorientierte Sozialdimension: Die Anderen
- Positiv bewertete Dritte: Mitbewohner
- Negativ bewertete Dritte: Andere Kriminelle und Etikettierer
- Kontingente Zeitdimension: Zukunftspläne
- Keine Notwendigkeit zur Einsicht
- Expertenfrage
- Themenorientierte Sachdimension: Kriminelles Leben
- Zusammenfassung des Kapitels zur Datenauswertung
- Sarah: Die personifizierte Unschuld - „Außerdem isses auch asozial, bin ja keine Pennerin“
- Resümee und Schlussgedanken
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Erforschung von Jugendkriminalität durch die Analyse von biographischen Interviews. Die Studie verfolgt das Ziel, die Konstruktivität und Plausibilisierung von Jugendkriminalität in biographischen Interviews zu untersuchen und die Entstehung von Delinquenz aus einer biographischen Perspektive zu betrachten.
- Die Rolle von Biographieforschung und Kriminalsoziologie bei der Analyse von Jugendkriminalität
- Die Verwendung narrativer Interviews als Methode zur Erhebung biographischer Daten
- Die Untersuchung verschiedener Konzepte und Theorien zur Erklärung von Delinquenz
- Die Analyse von individuellen Lebensgeschichten und deren Einfluss auf die Entstehung von kriminellem Verhalten
- Die Bedeutung von Kontextualität und sozialer Konstruktion im Verständnis von Jugendkriminalität
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel dieser Arbeit führt in die Thematik der Jugendkriminalität und die Relevanz biographischer Daten für die Analyse dieser Thematik ein. Kapitel zwei befasst sich mit der Biographieforschung und untersucht verschiedene Ansätze zur Erfassung und Interpretation von Lebensgeschichten. Das dritte Kapitel widmet sich der Kriminalsoziologie und beleuchtet verschiedene Theorien zur Entstehung und Erklärung von kriminellem Verhalten. Das vierte Kapitel analysiert das Datenmaterial der durchgeführten Interviews und stellt die Lebensgeschichten verschiedener jugendlicher Protagonisten vor.
Schlüsselwörter
Jugendkriminalität, Biographieforschung, narrative Interviews, Kriminalsoziologie, ätiologisches Paradigma, interpretatives Paradigma, Delinquenz, Kriminalisierung, Etikettierungstheorie, Lebensgeschichten, soziale Konstruktion, Kontextualität
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- Simone Reichle (Author), 2005, Delinquenz - was oder wie?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/52883