Der Entfremdungsbegriff in der Marxschen Theorie und sein Bezug auf kleinbürgerliche und proletarische Frauenbewegungen um 1900


Doktorarbeit / Dissertation, 2000

208 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Nichtentfremdung
1. Theoretisches
1.1. Allgemeines zur Nichtentfremdung
1.2. Allgemeines zur Dialektik von Natur, Gesellschaft und Individuum
1.3. Nichtentfremdete Arbeit
1.4. Zur Einheit von Individuum, Gesellschaft und Natur

III. Entfremdung
1. Allgemeines
1.1. Allgemeines zur Entfremdung
1.2. Allgemeines zur entfremdeten Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft
2. Besonderes zur entfremdeten Arbeit
2.1. Lohnarbeit und Kapital
2.2. Allgemeines zur Frauenarbeit in der bürgerlichen Gesellschaft
2.2.1. Exkurs: Die Entstehung des „Geschlechtscharakters“
2.3. Allgemeines zu den Tätigkeiten proletarischer und kleinbürger-
licher Frauen
2.3.1. Tätigkeiten kleinbürgerlicher Frauen
2.3.1.1. Allgemeines zu Hausarbeit, Repräsentation und Sozialisation
2.3.1.2. Sozialisation
2.3.1.3. Repräsentation
2.3.1.4. Hausarbeit
2.3.2. Tätigkeiten proletarischer Frauen
2.3.2.1. Allgemeines zu Sozialisation, Haus- und Lohnarbeit
2.3.2.2. Sozialisation
2.3.2.3. Hausarbeit
2.3.2.4. Lohnarbeit
2.3.3. Exkurs: Frauenarbeit in der Textilindustrie
3. Bedürfnis, Geld, Genuß
3.1. Allgemeines zur Vermittlung von Bedürfnissen und Genüssen
in der bürgerlichen Gesellschaft
3.2. Allgemeines zur Bedürfnisbefriedigung im Kleinbürgertum und im Proletariat
3.3. Allgemeines zur Bedürfnisbefriedigung im Kleinbürgertum
3.3.1. Wohnung
3.3.2. Sexualität
3.4. Allgemeines zur Bedürfnisbefriedigung im Proletariat
3.4.1. Wohnung
3.4.2. Sexualität
4. Individuum, Gesellschaft, Natur
4.1. Allgemeines zum Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und
Natur in der bürgerlichen Gesellschaft
4.2. Allgemeines zur gesellschaftlichen Lage des Kleinbürgertums
und des Proletariats
4.3. Allgemeines zum Verhältnis von Individuum, Gesellschaft
und Natur im Kleinbürgertum und im Proletariat
4.3.1. Besonderes zum Verhältnis von Individuum, Gesellschaft
und Natur bei Kleinbürgerinnen
4.3.2. Besonderes zum Verhältnis von Individuum, Gesellschaft
und Natur bei Proletarierinnen

IV. Emanzipation
1. Allgemeines
1.1. Emanzipation in der Marxschen Entfremdungstheorie
1.2. Allgemeines zur Frauenbewegung
2. Besonderes
2.1. Bürgerliche und proletarische Frauenbewegung
2.2. Allgemeines zum Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum
bei Gertrud Bäumer und Clara Zetkin
2.3. Gertrud Bäumer
2.3.1. Frauenarbeit
2.3.2. Bedürfnisse und Genüsse
2.3.3. Individuum, Gesellschaft und Natur
2.3.4. Emanzipation
2.4. Clara Zetkin
2.4.1. Frauenarbeit
2.4.2. Bedürfnisse und Genüsse
2.4.3. Individuum, Gesellschaft und Natur
2.4.4. Emanzipation

V. Ergebnisse
1. Nichtentfremdung
2. Entfremdete Arbeit
3. Bedürfnisse und Genüsse
4. Individuum, Gesellschaft und Natur
5. Emanzipation
6. Abschließende Bemerkungen

VI. Literatur
1 Quellen
2 Sekundärliteratur
3. Hilfsmittel

Lebenslauf

Eidesstattliche Erklärung

Abstract

Das zentrale Thema der vorliegenden Dissertation besteht darin, die Marxsche Entfremdungstheorie an empirischen Beispielen zu veranschaulichen.

Geordnet nach den Bestandteilen der Marxschen Konzeption, Nichtentfremdung, Entfremdung und Emanzipation, werden zunächst anhand ausgewählter Schriften Marx` die theoretischen Grundlagen dargestellt. Darauf folgenden exemplarische Untersuchungen zur Situation von Kleinbürgerinnen und Proletarierinnen im deutschen Kaiserreich um 1900. Basierend auf der Darlegung ihrer Tätigkeiten, wird analysiert, wie sich diese „weiblichen“ Arbeiten gesellschaftlich entwickeln, in welchem sozialen Umfeld sie geleistet werden und welche Bedeutung sie für die betreffenden Frauen haben.

Nach der Analyse der mit diesen Arbeiten für Kleinbürgerinnen und Proletarierinnen verbundenen sozialen Bedingungen, stellt sich die Frage, welches Verhältnis sich daraus für die Individuen zur Gesellschaft und zur Natur ergibt und welche sozialen Konsequenzen daraus resultieren; d. h., inwiefern Kleinbürgerinnen und Proletarierinnen am Erhalt bzw. an der Veränderung oder sogar Revolutionierung bürgerlicher Strukturen interessiert sind.

Schlagwörter

Entfremdungstheorie

Kleinbürgertum

Proletariat

I. Einleitung

Die Entfremdungstheorie ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeiten Karl Marx´. Inhaltlich außerordentlich reich, wird sie in etlichen Schriften thematisiert. Zurückgreifend auf die materiellen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, entwickelt Marx 1844 in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ ein dialektisches Konzept, in dem er sich mit philosophischen und erstmals auch ausführlicher mit ökonomischen Fragen befaßt. Dabei ist Marx´ Sprache noch sehr einer von Feuerbach und Hegel beeinflußten philosophischen Terminologie verhaftet, die er wenige Jahre später nicht mehr in dem Maß verwendet[1]. Die Inhalte der Entfremdungstheorie werden aber weiterhin problematisiert[2]. Grundlegend dafür ist die 1844 noch unzureichende Bearbeitung ökonomischer Themen, der sich Marx in den folgenden Jahrzehnten widmet. Deshalb sind nicht nur terminologische[3], sondern auch inhaltliche Veränderungen feststellbar[4]. Die Bestandteile des Marxschen Konzepts, Nichtentfremdung, Entfremdung und Emanzipation, werden jedoch durchgehend, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, bearbeitet. Deshalb müssen auch die ökonomischen Schriften, die Marx immer als Kritiken verfaßt hat, als politische Arbeiten betrachtet werden.

„Arbeit“ ist die zentrale Kategorie des Marxschen Konzepts. Dieser zunächst abstrakt erscheinende Begriff ist von größter Bedeutung, um das dialektische Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum[5], aus dem sich wiederum die Entwicklung von Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnissen und Genüssen ergibt, analysieren zu können. Theoretisch umfaßt er jede Form der Aneignung und Äußerung, die in dieser Beziehung entstehen kann. Praktisch wird er durch die sich historisch entwickelnden Produktionsweisen und -verhältnisse konkretisiert.

Arbeit, die das Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum vermittelt, verfügt über die unterschiedlichsten qualitativen Bestimmungen, in denen wiederum die individuellen Beziehungen zur Gesellschaft und zur Natur manifest werden. D. h., der Arbeitsbegriff impliziert entfremdete und nichtentfremdete Tätigkeitsformen, die ihrerseits objektive und subjektive Komponenten enthalten[6]. Damit berücksichtigt die Entfremdungstheorie immer die Veränderungen des gesellschaftlichen Kontexts und die Modifikationen konkreter Formen der Arbeit, die mit dieser Vermittlung verbunden sind.

Wegen der Dialektik von Natur, Gesellschaft und Individuum ist die Entfremdungstheorie grundsätzlich dynamisch[7], und nicht nur auf die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch auf andere historische Verhältnisse anwendbar. Die Berücksichtigung dieser dialektischen Entwicklungen ist von größter Bedeutung für eine andere gesellschaftliche Konzeption, die hier als Nichtentfremdung[8] bezeichnet wird.

Nichtentfremdung erscheint zunächst als Abstraktion; und das bleibt sie auch mangels historischer Faßbarkeit. Sie ist jedoch außerordentlich wichtig für das Verständnis des Marxschen Konzepts. Denn sie ist nicht nur dessen theoretische Basis, sondern ebenso revolutionäres Ziel. Tendenziell, d. h. im Hinblick auf sozio-ökonomische Entwicklungen, verfügt die Nichtentfremdung aber durchaus über konkrete Inhalte. Es geht dabei um natürliche, gesellschaftliche und individuelle Potentiale, die entweder von vornherein gegeben sind[9] oder unter entfremdeten Bedingungen entstehen; und um Möglichkeiten, diese voneinander abhängigen Bereiche nichtentfremdet zu gestalten. Nichtentfremdung ist somit als theoretische Basis und revolutionäres Ziel des Marxschen Konzepts weniger abstrakt, als es auf der ersten Blick erscheint. Denn im Mittelpunkt des Interesses stehen immer Menschen und deren sich wandelnde Fähigkeiten, die zur Emanzipation notwendigen ökonomischen und gesellschaftlichen Potentiale hervorzubringen; und denen darüber hinaus zugestanden wird, ihre eigenen Lebensbedingungen selber gestalten zu können. „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“[10].

Entfremdung und Nichtentfremdung beinhalten die gleichen Kategorien mit jeweils unterschiedlichen qualitativen Inhalten. Die Begriffe der Nichtentfremdung sind dabei umfassender, als die der Entfremdung, die immer mit diversen Formen der Reduktion zu tun haben.

Methodisch müssen die reicheren Kategorien den reduzierten vorangestellt werden, was gewissermaßen einer achronologischen Vorgehensweise entspricht. Denn das „...Beispiel der Arbeit zeigt schlagend, wie selbst die abstraktesten Kategorien, trotz ihrer Gültigkeit - eben wegen ihrer Abstraktion - für alle Epochen, doch in der Bestimmtheit dieser Abstraktion selbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse sind und ihre Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse besitzen. Die bürgerliche Gesellschaft ist die entwickeltste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliederung, gewähren daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangnen Gesellschaftsformen, mit deren Trümmern und Elementen sie sich aufgebaut, von denen teils noch unüberwundne Reste sich in ihr fortschleppen, bloße Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen entwickelt haben etc.“[11]. Dementsprechend muß das Marxsche Konzept dargestellt werden. D. h., Nichtentfremdung bildet als die höher entwickelte Gesellschaftsformation den Ausgangspunkt für die Untersuchung von Tätigkeitsformen der bürgerlichen Gesellschaft. Damit dienen die dem Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum innewohnenden Entwicklungsmöglichkeiten, deren freie Gestaltung revolutionäres Ziel ist, zur Beurteilung ihrer reduzierten historischen Formen. Dies verhindert die Idealisierung vergangener und gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse. Gleichzeitig wird die Nichtentfremdung zum Maßstab, mit dem entfremdete Strukturen beurteilt werden. Infolgedessen kann Entfremdung nicht als „normale“ menschliche Existenzweise mißverstanden werden. Darüber hinaus verdeutlicht dies, weswegen erst in der bürgerlichen Gesellschaft Nichtentfremdung und Entfremdung durch die Möglichkeit der Emanzipation, die mit bestimmten gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen zusammenhängt, ergänzt werden.

Die Möglichkeit der Emanzipation ist wesentlich für Marx´ Interesse an der bürgerlichen Gesellschaft. Denn im Verhältnis von Lohnarbeit[12] und Kapital, dem er sich schwerpunktmäßig widmet, könnten die objektiven und subjektiven Bedingungen zur Aufhebung der Entfremdung erstmals wirklich gegeben sein.

Bei Entfremdung und Nichtentfremdung sind die Beziehungen von Natur, Gesellschaft und Individuum zu untersuchen. Es geht um Relationen, die diese Verhältnisse bestimmen, sich entwickeln und verändern. Abstrahiert man hingegen von diesen Zusammenhängen und den ihnen innewohnenden Abhängigkeiten, betreibt man nicht mehr als bürgerliche „Wissenschaft“[13], weil man zwangsläufig Natur, Gesellschaft und Individuum voneinander trennt. Da Nichtentfremdung als Produkt der Entfremdung aufzufassen ist, handelt es sich bei beiden Problemfeldern nicht um die Gegenüberstellung von Gegensätzen, sondern um die Analyse von Zusammenhängen und Unterschieden.

Die Relationen von Natur, Gesellschaft und Individuum können nicht als absolut begriffen werden, ohne die materialistische Dialektik aufzuheben. Es gibt weder absolute Entfremdung noch absolute Nichtentfremdung, sondern unterschiedliche, sich entwickelnde Möglichkeiten, diese Verhältnisse zu gestalten. Kein einziger Aspekt des Marxschen Konzepts kann als absolut betrachtet werden, ohne seine Methode - und damit eine spezifische Betrachtungsweise gesellschaftlicher Verhältnisse - zu mißachten[14]. Zu seinem Verständnis gehört vielmehr die Bereitschaft, sich mit komplexen, auch widersprüchlichen gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen und deren Dialektik zu untersuchen.

Mit den Kategorien der Entfremdungstheorie liefert Marx das theoretische Instrumentarium, um jede Gesellschaftsformation und die ihr entsprechenden Produktions- und Existenzweisen untersuchen zu können[15]. Bei den in dieser Arbeit zu analysierenden Arbeits- und Lebensbedingungen interessiert es weniger, abstrakte ökonomische Prozesse in den Vordergrund zu stellen[16]. Im Mittelpunkt stehen vielmehr konkrete gesellschaftliche und individuelle Verhältnisse, die mit Hilfe eines bestimmten theoretischen Gerüsts untersucht und beurteilt werden. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Betrachtung der Arbeit unter Aspekten wie Bedürfnis, Genuß, Vergnügen und Lust bzw. Bedürfnislosigkeit, Mißvergnügen und Unlust.

Im folgenden soll es darum gehen, Nichtentfremdung, Entfremdung und Emanzipation in ihrem Zusammenhang darzustellen. Deshalb bildet auch hier die bürgerliche Gesellschaft den Mittelpunkt. Das Ziel der Arbeit besteht darin, die auf materiellen Bedingungen basierende Entfremdungstheorie an einem Beispiel zu demonstrieren, das einerseits eine gewisse Vielfalt bietet und andererseits geeignet ist, den Zusammenhang von Natur, Gesellschaft und Individuum zu verdeutlichen. Das erfordert zeitliche, räumliche und soziale Einschränkungen. Darüber hinaus muß das Beispiel geeignet sein, den Kontext von Nichtentfremdung, Entfremdung und Emanzipation aufzuzeigen. D. h. als Beispiel müssen reduzierte Formen der Arbeit dienen, in deren Zusammenhang Emanzipation thematisiert wird. Prädestiniert dafür sind die Tätigkeiten von Frauen aus dem kleinbürgerlichen und proletarischen Milieu des deutschen Kaiserreichs um die Jahrhundertwende, weil hier tradierte Vorstellungen von „weiblicher“ Arbeit vorhanden sind; gleichzeitig aber von den betreffenden Frauenbewegungen Forderungen entsprechend ihrem Verständnis von Emanzipation formuliert werden.

Das bürgerliche Frauenbild, das in den deutschen Staaten zum Ende des 18. Jahrhunderts entsteht, ist von der ökonomischen Situation des beamteten und nichtbeamteten akademischen Kleinbürgertums geprägt. Dieser Teil des Bürgertums, der nicht in der Lage ist, Kapital zu akkumulieren, mußte sich einerseits vom Adel abgrenzen und gleichzeitig „Tugenden“ wie etwa Fleiß und Sparsamkeit kultivieren; andererseits in Theorie und Praxis eine Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung entwickeln, die ihrerseits in engem Zusammenhang mit der Trennung von Wohn- und Arbeitsbereich steht[17]. Diese Trennung betrifft auch das sich im 19. Jahrhundert konstituierende Proletariat[18], das allerdings nicht mit dieser strikten Form geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung lebt.

Es gibt Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Existenzweise der hier zu untersuchenden Teile des Bürgertums und des Proletariats, die geeignet sind, zu einer differenzierten Betrachtung der Entfremdungsproblematik zu führen. Folglich stehen die Existenzweisen kleinbürgerlicher und proletarischer Frauen der deutschen Gesellschaft um 1900 im Zentrum dieser Arbeit. Einen groben Rahmen bildet die Zeit von 1871 bis 1914. Maßgeblich für diese Begrenzungen sind folgende Aspekte: Die Untersuchung der Existenzweisen bürgerlicher und proletarischer Frauen bietet die Möglichkeit, die konkreten Formen der Entfremdung beider, die bei Marx zumeist auf einer abstrakten Ebene bleiben, näher zu bestimmen. Dabei muß bedacht werden, daß Arbeit in ihrer umfassenden, nichtentfremdeten Bedeutung als Bedürfnis und Genuß betrachtet wird. Geht es aber um reduzierte, entfremdete Formen der Arbeit, ist zu berücksichtigen, in welcher Weise von Bedürfnis und Genuß abstrahiert wird.[19] Diesbezüglich stellt sich nicht nur die Frage, inwieweit reduzierte Arbeit von diesen Faktoren absieht, sondern wie Bedürfnisse und Genüsse quantitativ und qualitativ durch Arbeit bzw. Lohn, Gehalt etc. vermittelt werden. Die Untersuchung dessen eröffnet die Möglichkeit, anhand der unterschiedlichen Befriedigung gleicher Bedürfnisse Entfremdung im Proletariat und im Kleinbürgertum zu konkretisieren. Mit Hilfe ausgewählter Beispiele können so Verhältnisse verschiedener Individuen zur Gesellschaft und zur Natur analysiert werden.

Entscheidend für die zeitliche Begrenzung ist die Tatsache, daß Entfremdung immer an möglichst „normalen“ Verhältnissen dargestellt werden sollte. Selbstverständlich kann sie auch unter Berücksichtigung diverser Ausnahmesituationen, z. B. Krieg, exemplifiziert werden. Das birgt m. E. aber die Gefahr in sich, ihre Alltäglichkeit zu übersehen.

Trotz dieser Einschränkungen ist es wichtig, jeden Reduktionismus möglichst zu vermeiden. Diese Tendenz ist sowohl in der Literatur zur Marxschen Theorie vorhanden, wo Entfremdung nur in bezug auf das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital gesehen wird; als auch in den Arbeiten zur Frauengeschichte und zum Geschlechterverhältnis, wo beispielsweise ökonomische Aspekte, etwa die Konkurrenz von Lohnarbeitern und Lohnarbeiterinnen, von ihrer gesellschaftlichen Dimension „befreit“, und auf die Beziehungen von Mann und Frau reduziert bzw. biologistisch interpretiert werden.

Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, müssen Tätigkeitsformen, die sich außerhalb des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital befinden, und gegebenenfalls gesellschaftliche Entwicklungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ergänzend berücksichtigt werden.

Marx äußert sich nicht allzu oft zu den Situationen von Frauen[20] ; und es sind sicherlich auch Zweifel angebracht, ob er deren Lage immer richtig einschätzt[21]. Allerdings schreibt er als politischer Mensch 1868 an Louis Kugelmann: „Jeder, der etwas von der Geschichte weiß, weiß auch, daß große gesellschaftliche Umwälzungen ohne das weibliche Ferment unmöglich sind. Der gesellschaftliche Fortschritt läßt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts (die Häßlichen eingeschlossen)“[22]. Es sind also nicht nur die Mittel der Entfremdungstheorie, die sich für die Untersuchung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen eignen, sondern es geht auch um die Berücksichtigung des möglichen emanzipatorischen Elans des Teils der bürgerlichen Gesellschaft, dem politisch wie ökonomisch noch nicht einmal auf formal-rechtlicher Ebene Gleichheit zugestanden wird.

Die Verbindung von Theorie und Empirie eröffnet die Chance gegenseitiger Bereicherung. Denn die abstrakten Kategorien der Entfremdungstheorie setzen eine möglichst umfassende Betrachtung der Gesellschaft voraus, um diese Begriffe konkretisieren zu können.

Dem o. a. entsprechend, besteht diese Arbeit aus den Teilen Nichtentfremdung, Entfremdung und Emanzipation. Nichtentfremdung und Entfremdung werden wie erwähnt zunächst im Hinblick auf das Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum und die Entwicklung von Fähigkeiten, Tätigkeiten, Bedürfnissen und Genüssen untersucht. Handelt es sich beim ersten Teil um die theoretischen Grundlagen des Marxschen Konzepts, geht es im zweiten und dritten Teil zusätzlich um die gesellschaftliche Praxis. Entfremdung und Emanzipation umfassen jeweils den theoretischen Ausgangspunkt, die allgemeine gesellschaftliche Situation und schließlich besondere Beispiele entfremdeter Existenzweisen und der entsprechenden Emanzipationsbestrebungen.

Anhand ausgewählter Tätigkeiten ist zu untersuchen, wie Kleinbürgerinnen und Proletarierinnen auf bestimmte Funktionen reduziert werden und wie sich die Reduktionen auf ihr Verhältnis zu sich selbst und zu anderen auswirken; inwieweit Frauen diese gesellschaftlichen Strukturen akzeptieren und reproduzieren bzw. ablehnen und welche Emanzipationskonzepte sie dagegen entwickeln[23].

Sowohl zur Marxschen Theorie als auch zur Frauengeschichte und zum Geschlechterverhältnis ist umfangreiche Literatur vorhanden. Beide sind in der vorliegenden Arbeit zu berücksichtigen. Problematisch ist jedoch, daß sich die Literatur zur Entfremdungstheorie zumeist durch eine sehr eingeschränkte Rezeption der Marxschen Schriften und eine entsprechend bescheidene Argumentation[24] auszeichnet. Da diese Dissertation aber keine primär theoretische Darstellung sein soll, ist eine umfassende Berücksichtigung dieser Literatur weder nötig noch möglich. Statt dessen bezieht sich die Bearbeitung theoretischer Aspekte schwerpunktmäßig auf Marx´ Schriften. Besondere Beachtung finden neben den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ die späten ökonomischen Werke.[25] Ergänzend werden Arbeiten hinzugezogen, in denen sich Marx mit vorwiegend politischen Fragen befaßt[26].

Bei der umfangreichen Literatur zur Frauengeschichte und zum Geschlechterverhältnis interessieren neben den zumeist neuesten Werken auch Quellen, in denen Frauen die Situation von Frauen beschreiben, kritisieren oder rechtfertigen[27].

Allerdings erfordert die Komplexität des Themas hinsichtlich der zu bearbeitenden Literatur möglichst klar umrissene Grenzen. Deshalb ist es von vornherein notwendig, zwischen Quellen, Sekundärliteratur und Hilfsmitteln zu differenzieren, und unterschiedlich zu gewichten, damit insbesondere die theoretischen Teile keinen allzu großen Raum einnehmen. Infolgedessen sind sowohl einige Schriften Marx´ als auch sämtliche Arbeiten zur Marxschen Theorie als Hilfsmittel aufgeführt. Dazu kommt Literatur, die aus verschiedenen Gründen nicht in vollem Umfang berücksichtigt werden kann. Mit diesen als Hilfsmitteln fungierenden Arbeiten, die in den Anmerkungen kursiv gesetzt sind, soll nur auf weiterführende Untersuchungen hingewiesen werden, da die angedeuteten Probleme nicht eingehend behandelt werden können. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird dabei nicht erhoben, denn den Schwerpunkt dieser Arbeit bilden die Existenzweisen von Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft, die mit Hilfe der Marxschen Entfremdungstheorie zu analysieren sind.

Um einen einheitlichen Lesefluß zu gewährleisten, werden Zitate[28] im Präsens wiedergegeben. Die entsprechend veränderten Verben befinden sich in Klammern.

II. Nichtentfremdung

1. Theoretisches

1.1. Allgemeines zur Nichtentfremdung

Der Nichtentfremdung liegt ein umfassender Arbeitsbegriff zugrunde. Dieser beinhaltet jede Form der Aneignung und Äußerung, die sich aus dem Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum[29] entwickeln kann.

Natur, Gesellschaft und Individuum sind nichtidentische Teile einer Totalität. D. h. Menschen[30] sind Teil der Natur, aber eben ein besonderer innerhalb der vielfältigen, gleichfalls besonderen Erscheinungsweisen des Natürlichen. Als natürliche Wesen sind Menschen von dieser Vielfalt abhängig. Als gesellschaftliche Wesen sind sie aufgrund ihrer besonderen physischen und intellektuellen Potentiale imstande, diese anderen Teile der Natur für sich zu nutzen; also natürliche in gesellschaftliche Gegenständlichkeit zu verwandeln, wobei es zu unterschiedlichen Formen der Arbeitsteilung kommt. Ursächlich dafür sind die zunächst natürlichen Bedürfnisse, die bewirken, daß produktive Potentiale entstehen, die Schritt für Schritt in lang andauernden Prozessen differenziert werden und das Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum verändern[31]. Deren Einheit muß durch Arbeit vermittelt werden. „Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln“[32]. Jedoch sind die aus dieser Notwendigkeit resultierenden sozialen Prozesse langwierig und widersprüchlich. Denn die gesellschaftliche Aneignung der Natur vollzieht sich nicht von vornherein in der möglichen Vielfalt, die diese zu bieten hat. Gerade die Vielfalt setzt historische Entwicklungen voraus, um erarbeitet werden zu können[33]. Ferner ist die Aneignung der Natur und die Entwicklung gesellschaftlicher Gegenständlichkeit nicht identisch mit der individuellen Aneignung. Diese wird durch unterschiedlichste Mechanismen unterbunden (Entäußerung)[34]. Die Aneignung der Natur, die durch die Bedürfnisse der Menschen motiviert wird, verursacht Prozesse, in denen Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse verändert werden. Da sich aber die individuelle Aneignung des sozialen Potentials unter entfremdeten Bedingungen nur reduziert vollzieht, sind den Individuen große Teile gesellschaftlicher und natürlicher Gegenständlichkeit entäußert. Dies trifft auf alle vergangenen und gegenwärtigen historischen Perioden zu, weil die sozialen Verhältnisse entweder zu wenig entwickelt sind oder der antagonistische Charakter einer Gesellschaftsformation dominiert.

Da die Nichtentfremdung auf dem entwickelsten Arbeitsbegriff basiert, sind ihr praktisch etliche konkrete Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse vorausgesetzt. Nichtentfremdung ist somit das Produkt der ökonomisch und gesellschaftlich fortgeschrittensten Entfremdungsverhältnisse. Aber im Unterschied zu diesen ist es für eine nichtentfremdete Gesellschaft vonnöten, soziale Antagonismen aufzuheben, damit die Universalität der Natur zur gesellschaftlichen und individuellen Vielfalt, die nur durch die Gesellschaft vermittelbar ist, entwickelt werden kann.

Wesentliches Merkmal nichtentfremdeter Strukturen ist die freie Entfaltung von Gesellschaft und Individuum, deren Basis die Natur bildet. Mit Hilfe entwickelter ökonomischer Verhältnisse und der Aufhebung sozialer Antagonismen, könnte die Beziehung von Individuum, Gesellschaft und Natur so gestaltet werden, daß es einerseits zu einer bewußten Anerkennung der Abhängigkeit voneinander, andererseits zur gegenseitigen Bereicherung kommt.

Damit bedingt Nichtentfremdung ein grundsätzlich anderes Verhältnis des Menschen zum Menschen, als dies unter entfremdeten Bedingungen[35] gegeben ist. Die Negation von Klassengegensätzen ist dabei zwar ein wesentliches Moment. Darüber hinaus geht es aber darum, daß die Möglichkeit der freien und bewußten Entwicklung und Vergegenständlichung individueller Produktivkräfte nur im gesellschaftlichen Rahmen stattfinden kann. Sie ist bei Marx mit der Auffassung verbunden, daß das Verhältnis des Individuums zur eigenen Person wesentlich für die Beziehung zu anderen Menschen ist. „Was von dem Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit, zum Produkt seiner Arbeit und zu sich selbst, das gilt von dem Verhältnis des Menschen zum andren Menschen, wie zu der Arbeit und dem Gegenstand der Arbeit des andren Menschen“[36].

Dementsprechend muß der Zweck jeder revolutionären Aktion darin bestehen, soziale Strukturen zu schaffen, die geeignet sind, menschliche Verhältnisse entstehen zu lassen, die potentiell beziehungs- und damit eigenschaftsreich[37] sind. Denn gerade dadurch eröffnet sich die Chance, reiche Individualität, die ihrerseits gesellschaftlich wirken kann, sozial zu bilden.

Die freie und bewußte[38] Gestaltung der Einheit von Mensch und Natur hat also den Sinn, mittels zweckmäßiger Aktivitäten, die den vielfältigen natürlichen, gesellschaftlichen und individuellen Erfordernissen und Möglichkeiten entsprechen, vielfältige, d. h. auch qualitativ hochwertige Beziehungen der Individuen zu sich, zur Gesellschaft und zur Natur zu erzeugen, um Individuum und Gesellschaft zu bereichern.

Arbeit ist unter nichtentfremdeten Bedingungen synonym mit sämtlichen Tätigkeiten, die natürliche und gesellschaftlich entwickelte Bedürfnisse der Individuen befriedigen. Die Tätigkeiten können als notwendige oder freie Prozesse unterschiedliche Charaktere hinsichtlich ihrer Bedeutung als Genuß aufweisen, müssen aber zumindest mittellbar dazu beitragen, die gesellschaftliche und individuelle Genußfähgikeit zu erhalten und zu modifizieren. Dabei könnten die sich frei entfaltenden Subjekte als gesellschaftliche „Produkte“ diese Gesellschaft so gestalten, daß eine neue Qualität sozialer Existenz entsteht, die gerade mittels freier Aktivität zu einem neuen Verhältnis der Individuen zum Reich der Notwendigkeit führt. Deshalb implizieren die gesellschaftlichen Verhältnisse individuelle Beziehungen, die jede Form der Reduktion ausschließen, damit Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse frei weiterentwickelt werden können[39].

1.2. Allgemeines zur Dialektik von Natur, Gesellschaft und Individuum

Die menschliche Existenz ist von der Natur, ihrem „unorganischen Körper“[40], abhängig. Der „unorganische Körper“ ist die materielle Basis, die die menschliche Existenz sichert. 1844 schreibt Marx dazu: „Daß der Mensch ein leibliches, naturkräftiges, lebendiges, gegenständliches Wesen ist, heißt, daß er wirkliche, sinnliche Gegenstände zum Gegenstand seines Wesens, seiner Lebensäußerung hat oder daß er nur an wirklichen, sinnlichen Gegenständen sein Leben äußern kann...Der Hunger ist ein natürliches Bedürfnis; er bedarf also einer Natur außer sich, eines Gegenstandes außer sich, um sich zu befriedigen, um sich zu stillen. Der Hunger ist das gestandne Bedürfnis meines Leibes nach einem außer ihm seienden, zu seiner Integrierung und Wesensäußerung unentbehrlichen Gegenstande“[41]. Diese Bindung kann nicht aufgelöst, aber verändert werden. Maßgeblich dafür, dieses Verhältnis modifizieren zu können, sind die physischen und intellektuellen Fähigkeiten (Arbeitskraft)[42], die den Menschen befähigen, die Natur als Grundlage des Lebens zu nutzen, um so Bedürfnisse[43] zu befriedigen. Die spezifische Form menschlicher Arbeitskraft, d. h. die Fähigkeit, bewußt verändernd auf die Natur einzuwirken, ist diesem Akt, in dem sie sich weiterentwickelt, vorausgesetzt[44].

Arbeit ist ein notwendiger Prozeß, um das Verhältnis von Mensch und Natur zu vermitteln. Dabei setzt der Mensch „die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand,...in Bewegung, um sich den Naturstoff anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit“[45]. Natur ist dabei mehr als nur bloßes Objekt menschlicher Tätigkeit. Denn als deren materielle Basis ist sie nicht menschliches ... Produkt, sondern vorgefunden; als natürliches Dasein außer ihm ihm (dem Menschen, A. B.) vorausgesetzt“[46]. Damit bestimmen die vielfältigen Erscheinungsformen der Natur die Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen[47], die diese wiederum in einem sozialen Zusammenhang zwischen Individuum und Natur vermitteln. „Alle Produktion ist Aneignung der Natur von seiten des Individuums innerhalb und vermittels einer bestimmten Gesellschaftsform“[48] .

Diese Gesellschaftsformationen, und damit die Aneignungsweisen natürlicher und gesellschaftlicher Gegenständlichkeit, können unterschiedliche Charaktere aufweisen. Damit aber die Universalität der Natur durch gesellschaftliche Aktivität zur individuellen Vielfalt entwickelt werden kann, sind historische Prozesse vorausgesetzt[49]. Diese Aktivitäten entwickeln sich zwischen Individuen verschiedener und gleicher Generationen, wodurch sich die Menschen von der Natur differenzieren, weil Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse gesellschaftlich verändert werden[50]. Deswegen sind „die universal entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen, auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind,...kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte. Der Grad der Universalität der Entwicklung, worin diese Individualität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit der Entfremdung des Individuums von sich und von andren, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert“[51]. D. h. Nichtentfremdung setzt eine materielle Basis voraus, die sich durch eine Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse auszeichnet. Diese Grundlage wird letztendlich mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, und der sie kennzeichnenden Eigentumsverhältnisse, gebildet.

Mit der Entstehung von Lohnarbeit und Kapital setzt eine Entwicklung ein, die dazu tendiert, die Beziehung von notwendiger und Mehrarbeit zugunsten letzterer zu revolutionieren[52]. Mit der sich steigernden Produktivität erhöht sich einerseits der gesellschaftliche Reichtum, andererseits sinkt der Anteil der notwendigen Arbeit, wodurch sich objektiv die Chance zur freien Entfaltung der sozial vermittelten Individualität eröffnet[53]. „Zeit ist der Raum zu menschlicher Entwicklung“[54] ; und dieser Faktor ist ein maßgebliches Moment für die Gestaltung nichtentfremdeter Verhältnisse. Notwendige und Mehrarbeit bleiben zwar Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens, weil die Beziehung von Mensch und Natur vermittelt werden muß[55]. Aber ihre soziale Funktion, in der sich der Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital manifestiert, muß aufgehoben werden, denn „die Maschinerie verliert ihren Gebrauchswert nicht, sobald sie (aufhört) Kapital zu sein“[56]. Die objektiven Bedingungen, die das Kapital hervorbringt, indem es bemüht ist, notwendige Arbeit auf ein Minimum zu reduzieren, ermöglicht mit der Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft durch ein revolutionäres Subjekt[57] die Schaffung neuer gesellschaftlicher Strukturen, in der die Zeit eine erheblich andere Rolle spielt. Der Unterschied zwischen entfremdeten und nichtentfremdeten Verhältnissen besteht dabei nicht nur in der Negation gesellschaftlicher Antagonismen, sondern ist wesentlich durch den positiven Gehalt bestimmt, der Nichtentfremdung charakterisiert. Dieser zeigt sich sowohl in der Anerkennung der Abhängigkeit von Individuum und Gesellschaft zur Natur, als auch in der freien und bewußten Gestaltung dieser Beziehungen. Die Reduktion der notwendigen Arbeit entspricht der Entwicklung von Produktivkraft, ... von power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten, wie der Mittel des Genusses. Die Fähigkeit des Genusses ist Bedingung für denselben, also erstes Mittel desselben und diese Fähigkeit ist Entwicklung einer individuellen Anlage, Produktivkraft. Die Ersparung von Arbeitszeit gleich vermehren der freien Zeit, d. h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit“[58]. Die unter entfremdeten Bedingungen entstehenden gesellschaftlichen Produktivkräfte, deren Schaffung durch die gesellschaftlich entwickelten Bedürfnisse motiviert ist, erzeugt in der bürgerlichen Gesellschaft ein Potential, das zunächst einmal Zeit freisetzen könnte. Damit ist die Möglichkeit zur Entwicklung individueller Produktivkräfte gegeben. Diese gesellschaftlich geprägten individuellen Potentiale sind in ihrer Entstehung, Entwicklung und Vergegenständlichung nicht mehr nur Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen, sondern wesentlich selbst Bedürfnis und damit Genuß; und zwar sowohl als produktive wie auch als konsumtive Prozesse. Somit handelt es sich bei diesen mehr als nur potentiell genußvollen Aktivitäten um zweckmäßige Tätigkeiten, die ihrerseits zur Weiterentwicklung gesellschaftlicher Produktivkräfte führen können, indem Bedürfnisse und Genüsse (Sinne) differenziert werden.

Natur, Gesellschaft und Individuum müssen auf die eine oder andere Art vermittelt werden. Die Vermittlung verfügt über unterschiedliche Varianten und entwickelt sich von persönlichen (z. B. Sklaverei) zu sachlichen (z. B. Lohnarbeit) Abhängigkeitsverhältnissen[59]. Letztere sind als Produkt der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft Voraussetzung für die universelle Entwicklung gesellschaftlich geprägter Individuen natürlichen Ursprungs. Je weiter diese Vermittlung fortschreitet, desto mehr differenzieren sich Mensch und Natur. Natürliche Vielfalt wird in gesellschaftliche verwandelt, wobei Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse im allgemeinen zunehmend reichere Ausdrücke erhalten. Die sich ändernden Arbeitsweisen haben qualitative Bedeutung für das Verhältnis von Mensch und Natur, weil mit der Entwicklung physischer und intellektueller Fähigkeiten die Existenzbedingungen modifiziert werden. Mit der Differenzierung von Mensch und Natur wird also nicht nur die Existenz gesichert, sondern vielmehr auch verändert. Es entstehen in langwierigen historischen Prozessen objektive Bedingungen, die die Entwicklung reicher Subjekte ermöglichen können. „Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind“[60].

1.3. Nichtentfremdete Arbeit

Nichtentfremdete Arbeit bedingt die Umwandlung der Maschinerie in Gebrauchswerte für die Gesellschaft, weil damit die Möglichkeit besteht, jene Zeit freizusetzen, die der Entwicklung individueller Produktivkräfte dienen könnte. Dies impliziert die Abschaffung bürgerlicher Eigentumsverhältnisse.

Nichtentfremdete Arbeit fungiert dabei als zweckmäßige Tätigkeit für die Individuen. Zweckmäßige Tätgkeit beinhaltet sowohl Aneignung als auch Äußerung natürlicher und vor allem gesellschaftlich entwickelter Gegenständlichkeit. Dabei handelt es sich darum, daß bereits der produktive Prozeß als Zweck gesetzt wird. Denn nur so fallen Bedürfnis und Genuß zusammen; und können als solche auf die Individuen wirken. Sofern produktive Prozesse einen Zweck für die daran beteiligten Personen erfüllen, haben sie auch immer etwas mit Vergnügen und Lust zu tun. Sie sind dementsprechend sinnbildend[61]. Wichtig ist, daß diese Entwicklung individueller Produktivkräfte aus sozialen Prozessen resultiert, die frei von Zwang oder Behinderung sind, damit wiederum sozialer Reichtum, der sich in gesellschaftlich modifizierten Bedürfnissen manifestiert, gebildet werden kann. Je mehr diese Bedürfnisse „...als notwendig gesetzt sind, um so höher ist der wirkliche Reichtum entwickelt. Der Reichtum besteht stofflich betrachtet nur in der Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse“[62]. In dieser Vielfalt sind alle Bedürfnis und Genuß repräsentierenden Fähigkeiten und Tätigkeiten, die ihrerseits die Bedürftigkeit der Individuen offenbaren, impliziert. Dabei kann es sich um jede mögliche Form der Aneignung und Äußerung handeln[63].

Bedürftigkeit ist synonym mit dem Reichtum und der Armut individueller Fähigkeiten und Tätigkeiten. Reichtum und Armut spiegeln unterschiedliche Aspekte gesellschaftlicher Prozesse wider, die durch Aneignung und Äußerung verändert werden. Diese Prozesse, ihrem Charakter nach allseitig bzw. universell, umfassen dialektische Beziehungen von Gesellschaft und Individuum, die sich so gegenseitig produzieren. „Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, mußt du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluß auf andre Menschen ausüben willst, mußt du ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen - und zu der Natur - muß eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußrung deines wirklichen individuellen Lebens sein“[64]. Dabei setzt Aneignung Äußerung und Äußerung Aneignung voraus. Sie sind gleich wichtige Bestandteile der von den Individuen bestimmten gesellschaftlichen Prozesse. Verfügend über bestimmte, dem Menschen eigentümliche und veränderbare Fähigkeiten, sind Individuen in der Lage, sich gesellschaftliche Gegenständlichkeit anzueignen und wieder zu äußern. Sie können dies, ihrem Potential entsprechend, auf vielfältige Art tun. Vorausgesetzt ist dabei, daß die gesellschaftliche Gegenständlichkeit den Individuen zugänglich ist[65]. Zudem ist es erforderlich, daß diese Prozesse von den beteiligten Individuen so gestaltet werden können, daß die als Bedürfnis gesetzten Aneignungs- und Äußerungsformen Genuß bereiten. Je vielfältiger die Möglichkeiten, gesellschaftliche Gegenstände individuell zu subjektivieren und zu objektivieren, desto beziehungs- und eigenschaftsreicher wird das Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum[66], weil damit die „...Entwicklung von einem stets sich erweiternden und umfassenden System von Arbeitsarten, Produktionsarten, denen ein stets erweitertes und reichres System von Bedürfnissen entspricht“[67], verbunden ist. Die Bedürfnisse, die in diesen Gegenständen objektiviert werden, können vom Menschen für den Menschen geschaffene Gebrauchswerte sein[68], die auf die ihnen eigentümliche Art die Aneignung beeinflussen[69]. Folgt der Subjektivierung die Äußerung, kann es zu einer individuell veränderten gesellschaftlichen Gegenständlichkeit kommen.

Nichtentfremdete Arbeit, die dadurch charakterisiert wird, daß sie jede Form der Bedürfnis und Genuß repräsentierenden Aktivitäten enthält, schließt damit aus, daß Aneignungs- und Äußerungsprozesse reglementiert und die Individuen funktionalisiert werden. Denn nur so besteht die Möglichkeit vielfältiger Subjektivierung und Objektivierung. Deren Quantität ist gleichbedeutend mit der Qualität gesellschaftlicher und individueller Existenz. Nichtentfremdete Arbeit ist als zweckmäßige Tätgkeit sinnvolle und sinnbildende Aktivität. Denn „im Vergegenständlichungsprozeß des Menschen kommen die menschlichen Sinne zustande, und es ist das einmal bereits vorhandene vergegenständlicht-menschliche Verhältnis, das die menschlichen Bedürfnisse und Sinne, zumindest der Möglichkeit nach, in jedem Menschen entwickelt...“[70]. Äußerung (Reichtum) und Aneignung (Armut) sind als Bedürfnis und Genuß Mittler gesellschaftlicher wie individueller Veränderungen. Dadurch können die Strukturen von Bedürfnis und Genuß bzw. Aneignung und Äußerung immer komplexer, die Individuen zugleich reicher und ärmer werden, weil das gesellschaftliche Potential permanenten quantitativen und qualitativen Einflüssen der sozialen Individuen unterliegt.

1.4. Zur Einheit von Individuum, Gesellschaft und Natur

Mit der Möglichkeit, reiche Individualität zu entwickeln, eröffnet sich die Chance, dem Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Natur eine andere Qualität zu geben.

Eine nichtentfremdete Gesellschaft darf dabei nicht als Ideal, das sich aus perfekten Menschen zusammensetzt, mißverstanden werden. Denn gerade als abhängige Wesen sind Menschen aufeinander angewiesen. Aber wegen ihrer Gesellschaftlichkeit sind sie fähig, ihre Lage zu verändern, und „...sich auf eine höhere Daseinsstufe zu erheben...“[71]. Damit ist bei Marx aber keineswegs die illusorische Absicht verbunden, die gesellschaftliche Teilung der Arbeit aufzuheben[72]. Denn auf eben jener basiert der potentielle individuelle Reichtum an Fähigkeiten, Tätigkeiten, Bedürfnissen und Genüssen. Es geht vielmehr um die Erkenntnis, daß das den Menschen eigentümliche produktive Potenial darin besteht, sich vielfältige sozial entwickelte Fähigkeiten aneignen zu können und nicht auf eine bestimmte reduzierte Form der Arbeit von vornherein beschränkt zu sein. Die Verschiedenheit der Individuen produziert also den gesellschaftlichen Reichtum, während ihre Gleichheit diesen ebenso aufheben würde wie die individuelle Existenz, da die reiche Individualität gesellschaftliche Subjekte individueller Verschiedenheit voraussetzt[73]. In der noch sehr stark philosophisch beeinflußten Terminologie des Jahres 1844 schreibt Marx diesbezüglich: „Der Mensch - so sehr er daher ein besondres Individuum ist, und grade seine Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirklich individuellen Gemeinwesen - ebensosehr ist er die Totalität, die ideale Totalität, das subjektive Dasein der gedachten und empfundnen Gesellschaft für sich, wie er auch in der Wirklichkeit sowohl als Anschauung und wirklicher Genuß des gesellschaftlichen Daseins wie als eine Totalität menschlicher Lebensäußerung da ist“[74]. Weniger philosophisch ausgedrückt, heißt dies, daß Menschen aufgrund ihrer physischen und intellektuellen Möglichkeiten fähig sind, sich potentiell alles von Menschen Geschaffene anzueignen. Doch aufgrund der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit könnten sie unter nichtentfremdeten Bedingungen von besonderen Persönlichkeiten beeinflußt werden, die ihrerseits zu einer gesellschaftlich geprägten Individualität führen, die damit über besondere Fähigkeiten, Tätigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse verfügt.

Da sich auch eine nichtentfremdete Gesellschaft nicht vom Reich der Notwendigkeit emanzipieren kann, geht es darum, diesen Bereich „... mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen...“[75] zu gestalten. Darüber hinaus müssen es die objektiven Voraussetzungen aber gestatten, daß „...die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller ist“[76]. Dabei hängen die Bereiche von Freiheit und Notwendigkeit eng miteinander zusammen. Denn es besteht die Möglichkeit, notwendige Bedürfnisse (z. B. Sexualität, Nahrung, Wohnung) gesellschaftlich so zu gestalten, daß sie weit über die existentiell nötige Befriedigung hinausgehen, während Bedürfnisse, die scheinbar keine Erfordernis darstellen (etwa Musik oder Literatur), gesellschaftlich und individuell als notwendig gesetzt werden können. In jedem dieser Fälle können Bedürfnisse und Genüsse identisch sein. Sie setzen jedoch Produktionsweisen voraus, die einerseits unmittelbar individuellen und gesellschaftlichen Genuß bereiten, und andererseits zumindest mittelbar die Genußfähigkeit der Gesellschaft erhalten (z. B. durch Energieversorgung). Somit sind in einer nichtentfremdeten Gesellschaft Tätigkeiten existent, die sich folgendermaßen unterscheiden: Einerseits notwendige Prozesse, deren Produkt dazu dient, eine gewisse Lebensqualität zu erhalten. Der produktive Prozeß ist das Mittel, um über einen bestimmten Gebrauchswert verfügen zu können. Andererseits sind freie produktive Prozesse erforderlich, die als notwendig gesetzt werden können und ebenso wie ihr Produkt Zweck sind. Wichtig ist, daß die Tätigkeiten, die nur indirekt zum Genuß beitragen, möglichst rationell gestaltet werden, so daß für die Aktivitäten, die unmittelbar als Bedürfnis und Genuß gesetzt sind, das höchste Maß an Zeit verbleibt. Voraussetzung dessen ist die gesellschaftliche Entwicklung individueller Produktivkräfte, die ihrerseits auf die Gesellschaft zurückwirken, und so Veränderungen im Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, mittelbar und unmittelbar mit Genuß verbundenen Tätigkeiten verursachen können. Durch freie Aneignungs- und Äußerungsprozesse könnte eine gesellschaftliche Qualität erzeugt werden, in der durch die Entwicklung menschlicher Individualität wirklicher Reichtum geschaffen würde.[77]

Mit der Armut und Reichtum, Bedürfnis und Genuß enthaltenden gesellschaftlichen Gegenständlichkeit subjektiviert und objektiviert sich sozial gebildete Individualität. Diese Gegenständlichkeit demonstriert die gesellschaftlich produzierte individuelle Existenz. Aneignung und Äußerung können somit Betätigung und Bestätigung gesellschaftlicher Individualität und individueller Gesellschaftlichkeit sein[78].

Mit diesen, nur durch freie Entfaltung zu schaffenden Verhältnissen, ist es möglich, daß Individuen Beziehungen zu sich und damit auch zur Gesellschaft und zur Natur entwickeln, die der möglichen Vielfalt entsprechen, die diesem Verhältnis innewohnt. Sie erzeugen eine Wirklichkeit, die ihr eigenes Produkt ist; in der sie sich entfalten können und die sich mit ihnen entfaltet[79].

III. Entfremdung

1. Allgemeines

1.1. A llgemeines zur Entfremdung

Um Entfremdung adäquat beurteilen zu können, darf man sie nicht quantifizieren, sondern muß sie in ihrer Qualität, die quantitative Aspekte einschließt, analysieren.

Entfremdung ist kein plötzlich auftauchendes Problem, das mit der gesellschaftlichen Entwicklung wächst, sondern ein dem Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum innewohnendes Problem, daß sich in noch unzureichend entwickelten Produktivkräften, also Fähigkeiten, Tätigkeiten, Bedürfnissen und Genüssen, manifestiert[80].

Die konstitutiven Elemente der Entfremdungsstrukturen[81] sind die unterschiedlichen Formen der Arbeit, die einerseits die ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse produzieren, andererseits die Potentiale hervorbringen, die schließlich der Aufhebung der Entfremdung dienen können. „Den ökonomischen Prozeß als bestimmende Grundlage des Geschehens aufzufassen, heißt, alle übrigen Sphären des gesellschaftlichen Lebens in ihrem sich verändernden Zusammenhang mit ihm betrachten und ihn nicht in seiner isolierten mechanischen Form, sondern in Einheit mit den freilich durch ihn selbst entfalteten spezifischen Fähigkeiten und Dispositionen der Menschen begreifen“[82]. Diese Formen umfassen weit mehr als das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital[83].

Jede Tätigkeit, die auf Not, Zwang oder Zufall basiert, ist objektiv als entfremdete Arbeit aufzufassen, und im allgemeinen dadurch charakterisiert, daß es sich entweder um noch unentwickelte oder sozial beschränkte Arbeit handelt. Dies schließt die Auseinandersetzung sich entwickelnder Menschen mit der Natur, Lohn-, Fron- und Sklavenarbeit ebenso ein wie beispielsweise die Reduktion kleinbürgerlicher Frauen auf die Rolle der Hausfrau und Mutter[84]. Dabei bestimmt „die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird,...das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst herauswächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine spezifische politische Gestalt. Es ist jedesmal das unmitelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten,...worin wir das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses...finden. Dies hindert nicht, daß dieselbe ökonomische Basis...durch zahllose verschiedne empirische Umstände...unendliche Variationen...zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen sind“[85].

Entfremdung ist ein gesellschaftliches Produkt, das einen, dem Stand der jeweiligen Produktivkräfte[86] entsprechenden Ausdruck erhält, und im gesellschaftlichen Potential objektiviert wird. Dieses Potential repräsentiert die allgemeinen Fähigkeiten, Tätigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse einer Gesellschaftsformation. Auf Grundlage dessen entstehen individuelle Potentiale, die als subjektive Komponenten gesellschaftlicher Verhältnisse objektiven Bedingungen unterliegen, die ihrerseits wieder durch die Individuen verändert werden. Je entwickelter das gesellschaftliche Potential und je reduzierter die individuellen Tätigkeiten, desto größer ist die individuelle Entäußerung der allgemeinen Fähigkeiten[87]. Die Entäußerung ist dabei abhängig von der Art gesellschaftlicher, betrieblicher und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Dementsprechend eingeschränkt ist die individuelle Aneignung gesellschaftlicher Gegenständlichkeit. Die somit nur begrenzt mögliche Äußerung individueller Potentiale birgt die Gefahr in sich, bei fortschreitender Arbeitsteilung zu einer relativen Verarmung der Individuen zu führen, die sich der Möglichkeit nach in zunehmender Bedürfnislosigkeit offenbart. Absolut sind diese Tendenzen nicht. Denn die Entfremdung des Individuums von sich, der Gesellschaft und der Natur kann sich dabei auf unterschiedliche Weise manifestieren[88]. Dies impliziert auch gegenläufige gesellschaftliche Entwicklungen.

Entfremdete Arbeit hat in der Regel eine Mittelfunktion, die, indem sie der Existenzsicherung dient, gleichzeitig den sozialen Antagonismus, der sich in persönlichen oder sachlichen Abhängigkeitsverhältnissen darstellt, reproduziert. Individuelle Fähigkeiten sind im allgemeinen nur bedeutsam, insoweit sie ökonomische Qualität haben. Subjektiv können sich allerdings Differenzen ergeben. Es handelt sich dabei um die Frage der Wahrnehmung der individuellen Situation und der daraus resultierenden Reaktionen. Die individuellen Verhältnisse zur entfremdeten Arbeit können verschieden empfunden (Selbstentfremdung) und ausgedrückt werden (Entfremdung des Individuums von Gesellschaft und Natur), so daß die Trennung von gesellschaftlichem und individuellem Potential unter Umständen der Einheit des reduzierten Individuums mit der entfremdeten Existenz entspricht. Denn abhängig von der Entwicklung der Produktivkräfte und der jeweiligen Form der Arbeitsteilung, kann auch die Art der Selbstentfremdung variieren. „Jede Selbstentfremdung des Menschen von sich und der Natur erscheint in dem Verhältnis, welches er sich und der Natur zu andern, von ihm unterschiednen Menschen gibt“[89]. Die objektiv gegebene Trennung von gesellschaftlichem und individuellem Potential, der die Entfremdungsformen immanent sind, muß also nicht mit der subjektiven Wahrnehmung dieser Verhältnisse übereinstimmen. Entfremdete Gesellschaften erlauben eine subjektive Bejahung der reduzierten individuellen Existenz in begrenztem Rahmen. Die Mittelfunktion entfremdeter Arbeit kann somit individuell durch eine Zweckfunktion ergänzt werden, sofern dies die betreffende Form der Arbeitsteilung und der notwendige -aufwand zulassen. Aber die Zweckfunktion kann unter entfremdeten Bedingungen keine allgemeine gesellschaftliche Bedeutung erlangen, weil die entsprechenden Strukturen nichtentfremdete Formen der Tätigkeit auf unterschiedliche Weise unterbinden.

Schließlich muß noch die tendenziell bewußte Wahrnehmung der Trennung von gesellschaftlichem und individuellem Potential berücksichtigt werden. Sofern dieser Prozeß individuell vollzogen ist, sind wiederum verschiedene Reaktionen möglich. Die Wahrnehmung der Differenzen muß nicht zwangsläufig dazu führen, daß die Akzeptanz gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen sinkt[90]. Die Individuen können mit Anpassung reagieren, die Defizite ihrer Existenz mit jenseitigen Hoffnungen kompensieren und dergleichen mehr[91]. „Der Einzelne kann zufällig mit ihnen (den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen, A. B.) fertig werden; die Masse der von ihnen Beherrschten nicht, da ihr bloßes Bestehn die Unterordnung, und die notwendige Unterordnung unter sie, ausdrückt“[92]. D. h., die Bedingungen, die an die Existenz sozialer Antagonismen gebunden sind, können von der Klasse, zu deren Lasten sie ausfallen, nicht durch ein Arrangement mit den gesellschaftlichen Gegensätzen aufgehoben werden. Die Bedingungen selbst, die zur defizitären Existenz gehören, müssen von der Klasse abgeschafft werden, und sind damit notwendiger Bestandteil ihrer Emanzipation.

Aber auch die Infragestellung der sozialen Bedingungen entwickelter entfremdeter Gesellschaften muß nicht automatisch progressiven Charakter haben, sondern kann sich ebenso mit dem Ziel der allgemeinen Negation des gesellschaftlichen Potentials verbinden, indem sich der soziale Protest z. B. darauf beschränkt, die Gesellschaft als allgemeinen Kapitalisten zu begreifen, und die menschliche Existenz mit der Existenz von Lohnarbeitern gleichzusetzen. Um also nicht Gefahr zu laufen, die Gesellschaft zu nivellieren, indem die Entwicklung reicher Individualität durch die Beibehaltung bürgerlicher Strukturen verhindert wird, müssen bürgerliche Strukturen im allgemeinen und Lohnarbeit und Kapital im besonderen aufgehoben werden[93].

Die objektiv feststellbare Trennung von gesellschaftlichem und individuellem Potential ist subjektiv verschieden erfahrbar, so daß die Differenzen relativ sind; und zwar insofern sie die individuelle Entäußerung des gesellschaftlichen Potentials in der Qualität der Entfremdung der Individuen von der Gesellschaft in vielfältigen Ausdrücken und Reaktionen bewirken.

Aber erst wenn die individuelle Wahrnehmung sozialer Bedingungen gesellschaftlich relevant und nicht mehr mit den Mitteln der Entfremdung kompensiert, die Trennung der Potentiale also tatsächlich bewußt und somit vertieft wird[94], ist die Möglichkeit einer Aufhebung dieser Bedingungen realistisch; jedoch durch Subjekte, die eine Qualität der Entfremdung erleben, die gesellschaftliche Rückschritte nicht mehr als Alternative erscheinen läßt. D. h., daß die Individuen, die unter der quantitativ bedeutendsten Art der Entäußerung des gesellschaftlichen Potentials leiden, deswegen aber auch über das potentiell größte Fähigkeitsprofil und die reichste Bedürfnisstruktur verfügen könnten, sich dieses Potential mittels revolutionärer bzw. kommunistischer Aktionen erkämpfen müssen, um menschliche Lebensqualität zu entwickeln. Die bürgerliche Gesellschaft schafft die dazu notwendigen objektiven Voraussetzungen und das potentiell revolutionäre Subjekt.

1.2. Allgemeines zur entfremdeten Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft

Die bürgerliche Gesellschaft steht im Zentrum der Interessen Marx´, wobei das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital einen besonderen Schwerpunkt bildet, weil hier die produktiven Potentiale entstehen, die die Grundlage für eine mögliche Emanzipation von dieser Gesellschaftsformation darstellen. Die Untersuchung dieser Gesellschaftsformation und der sie charakterisierenden ökonomischen Beziehungen, hängt eng mit den politischen Zielen Marx´ zusammen.

Eines dieser Ziele läßt sich mit dem Natur und Gesellschaft implizierenden Begriff der „reichen Individualität“ umschreiben. Diese Kategorie ist aufgrund ihrer Komplexität besonders gut geeignet, die konkreten Veränderungen, die sie voraussetzt, zusammenzufassen.

Die bürgerliche Gesellschaft schafft die Grundlagen, die die Entwicklung reicher Individualität benötigt, indem sich Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse zunehmend differenzieren. Die bürgerliche Gesellschaft ist aber selbst nicht geeignet, reiche Individualität zu verwirklichen, weil sich diese Differenzierungen im Rahmen sachlicher Verhältnisse, die mit dem Verkauf von Arbeitskraft einhergehen, entwickeln und somit von individuellen Potentialen abstrahieren.

Um die Entwicklung reicher Individualität realisieren zu können, ist die Emanzipation von der bürgerlichen Gesellschaft erforderlich. Als Träger dieser emanzipatorischen Bestrebungen sieht Marx in erster Linie das Proletariat, das wegen seiner Arbeits- und Lebensbedingungen mit der abstraktesten Form der Individualität konfrontiert wird[95]. Denn „aus dem Verhältnis der entfremdeten Arbeit zum Privateigentum folgt ferner, daß die Emanzipation der Gesellschaft vom Privateigentum etc., von der Knechtschaft, in der politischen Form der Arbeiteremanzipation sich ausspricht,...weil in ihrer Emanzipation die allgemein menschliche enthalten ist, diese ist aber darin enthalten, weil die ganze menschliche Knechtschaft in dem Verhältnis des Arbeiters zur Produktion involviert ist und alle Knechtschaftsverhältnisse nur Modifikationen und Konsequenzen dieses Verhältnisses sind“[96]. Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft entwickeln sich Lohnarbeit und Kapital[97], die ihrerseits den Charakter der Gesellschaft beeinflussen, weil die sie kennzeichnenden sachlichen Bedingungen in modifizierter Form alle sozialen Verhältnisse betreffen[98].

Mit der fortschreitenden Auflösung persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse ist die Möglichkeit gegeben, diese mehr und mehr durch sachliche Beziehungen zu ersetzen. Diese sachlichen Beziehungen verwirklichen sich in der Regel mit dem Kauf und Verkauf von Arbeitskraft[99]. Damit wird Arbeitskraft zur Ware degradiert, aber auch von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen befreit. Von individuellen Komponenten der Produktivkraft wird weitgehend abstrahiert. Statt dessen ergibt sich der „...Zwang für das Individuum, daß sein unmittelbares Produkt kein Produkt für es ist, sondern ein solches erst wird im gesellschaftlichen Prozeß...; daß das Individuum nur noch als Tauschwert Produzierendes Existenz hat, also schon die ganze Negation seiner natürlichen Existenz eingeschlossen ist...“[100].

Mit dem Verkauf von Arbeitskraft wird die Entäußerung individueller Produktivkräfte zur herrschenden Form der Aneignung[101]. Die „individuellen“ Produktivkräfte werden zu spezialisierten Fähigkeiten. Ihr gesellschaftlicher Ausdruck, der sich im allgemeinen Potential offenbart, ist durchaus reich bzw. vielfältig[102]. Aber als individuelle Möglichkeiten, tätig zu sein, repräsentieren sie besondere, den reduzierten Arbeiten entsprechende Formen der Verarmung, weil sich die „Unterjochung der Individualität“[103] mit dem Verkauf der Arbeitskraft zwar nicht erst ergibt, aber verstärkt.

Durch die Konkurrenz, die mit diesen Prozessen verbunden ist, wird der Verkauf der Arbeitskraft zu etwas Zufälligem. Die bürgerliche Gesellschaft zeichnet sich also nicht nur dadurch aus, daß sie Individuum und individuelles Potential (gleichmacherisch) an der Entstehung behindert, sondern sie abstrahiert auch von natürlichen und gesellschaftlich entwickelten Bedürfnissen der Subjekte, weil es vom Verkauf der Arbeitskraft abhängt, ob diese in Form von Lohn, Gehalt etc. vermittelt und befriedigt werden können[104].

Im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital wird eine weitgehende Abstraktion von der Individualität sichtbar. Es ist aber kein exklusives Problem dieser Beziehung. Denn nicht nur die Herstellung von Tauschwerten, sondern auch die Produktion von Gebrauchswerten kann einen entfremdeten Charakter aufweisen[105]. Maßgeblich dafür ist das grundsätzlich variable subjektive Verhältnis zur jeweiligen Tätigkeit[106]. Insofern ist es von sekundärer Bedeutung, ob abhängig oder selbständig gearbeitet wird; ob es sich um die Produktion von Tausch- oder Gebrauchswerten handelt. Jede Arbeit, die von der Freiwilligkeit des Individuums absieht, kann als entfremdet empfunden werden, und als solche eine Abstraktion von der Individualität sein[107]. „Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird. Die äußerliche Arbeit, die Arbeit, in welcher sich der Mensch entäußert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung“[108]. Subjektiv kann jede Form der Arbeit als Opfer wahrgenommen werden. Der Unterschied liegt jedoch in den Resultaten produktiver Prozesse. Ist das Ergebnis Gebrauchswert, verfügt es noch über gewisse konsumtive Qualitäten[109] für das Individuum, während beim Tauschwert ausschließlich die Quantität zählt.

Beruhen nun die unterschiedlichen Tätigkeiten ohnehin weitgehend auf Zufall, sind sie ebenso zufällig gleichzeitig individuelles Bedürfnis. Um so wichtiger ist deshalb die (Gesamt-) Arbeitszeit, die der entfremdeten Arbeit gewidmet werden muß. Wenn sowohl die Produktion von Tausch- als auch von Gebrauchswerten für die Individuen qualitätslos sein kann, stellt sich die Frage, wieviel Zeit für diese Tätigkeiten aufgewendet werden muß.

Ist es gesellschaftlich, d. h. im Hinblick auf eine mögliche Emanzipation, von großer Bedeutung, in welchem Verhältnis notwendige und Mehrarbeit[110] zueinander stehen, geht es individuell in erster Linie um die Gesamtarbeitszeit. Für die mit Haushalt, Kindern und Lohnarbeit belastete Proletarierin ist die Zusammensetzung ihrer Arbeit zunächst ebenso gleichgültig wie für die Kleinbürgerin, die neben ihrer sonstigen Arbeit auch noch mit „schicklichen“ Tätigkeiten wie Stricken und Nähen sowohl Gebrauchs- als auch Tauschwerte produziert[111]. Wesentlich ist für beide die Gesamtarbeitszeit, deren Höhe entscheidend für die Möglichkeit ist, weniger qualitätlose Aktivitäten entfalten zu können. Je geringer die Gesamtarbeitszeit, desto größer ist die Chance, derartige Tätigkeiten hervorzubringen; d. h. der Arbeit selbst Gebrauchswert zu geben.

Diese Entwicklungen schaffen zwar noch nicht die reiche Individualität, aber sie stellen die Basis dar, die ihre Bildung voraussetzt. Wichtig ist jedoch erst einmal die Feststellung, daß solche Entwicklungen in der bürgerlichen Gesellschaft möglich sind.

Doch zunächst muß untersucht werden, welche sozialen und ökonomischen Faktoren maßgeblich sind, um von der Individualität abstrahieren zu können.

Die Abstraktion von der Individualität drückt sich in der bürgerlichen Gesellschaft in der Produktion von Tauschwerten aus. Dies setzt voraus, daß Arbeitskraft selbst über Tauschwert verfügt[112]. Es geht darum, bestimmte, zum Austausch geeignete Gebrauchswerte zu erzeugen, die für das produzierende Individuum aber gerade wegen ihrer Austauschbarkeit keine bzw. allenfalls zufällig Qualität haben. So ist im Tauschwert „...die Individualität der Arbeitenden ausgelöscht...“[113]. Dies betrifft das Produkt ebenso wie den produktiven Prozeß. Die Produktion ist nicht Zweck eines gesellschaftlich geprägten individuellen Lebens, sondern Mittel der individuellen Existenzsicherung[114]. Dabei geht Marx davon aus, „...daß die Ware als elementarische Grundform des Reichtums und die Entäußerung als die herrschende Form der Aneignung nur der bürgerlichen Produktionsperiode angehören, also der Charakter der Tauschwert setzenden Arbeit spezifisch bürgerlich ist“[115]. D. h., die Waren sind nicht nur Resultate eines Prozesses, der dazu dient, die Existenz zu erhalten. Vielmehr wird mit der Erzeugung von Tauschwerten Zeit okkupiert, die eigentlich genutzt werden könnte, um reiche Individualität zu entwickeln. Statt dessen entäußern sich die lohnabhängig Beschäftigten, indem sie ihrem „persönlichen“ Tauschwert, also Arbeitskraft, in Waren objektivieren. Deren Produktion erfordert jedoch Mehrarbeit, die vom Kapital angeeignet und verwertet wird.

Die Besonderheit dieses Verhältnisses, das Marx auch als „letzte Knechtsgestalt“[116] der Arbeit bezeichnet, besteht darin, „...daß diese ganze Entwicklung gegensätzlich vor sich geht und das Herausarbeiten der Produktivkräfte, des allgemeinen Reichtums etc., Wissens etc. so erscheint, daß das arbeitende Individuum selbst sich entäußert; zu den aus ihm herausgearbeiteten nicht als den Bedingungen seines eignen, sondern fremden Reichtums und seiner eignen Armut sich verhält. Diese gegensätzliche Form selbst aber ist verschwindend und produziert die realen Bedingungen ihrer eignen Aufhebung“[117].

Die Möglichkeit der Emanzipation ist ebenso spezifisch bürgerlich wie das sachliche Verhältnisse von Lohnarbeit und Kapital. Und der Begriff „Sachlichkeit“, der z. B. Kategorien wie Konkurrenz, Entäußerung und Arbeitskraft in ihrer bürgerlichen Form impliziert, bildet die Grundlage zur Untersuchung der gesamten bürgerlichen Gesellschaft, weil die in ihm enthaltenen Kategorien geeignet sind, alle sozialen Beziehungen mit den entsprechenden Modifikationen analysieren zu können.

2. Besonderes zur entfremdeten Arbeit

2.1. Lohnarbeit und Kapital

Wie bereits angedeutet, kommt es im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital zu einer weitgehenden Abstraktion von der Individualität. Maßgeblich dafür ist die - im Gegensatz etwa zu Leibeignen und Grundherrn - formal freie Beziehung beider, wodurch sich diese Abstraktion nicht auf einer persönlichen, sondern auf einer sachlichen Ebene vollzieht. Sie realisiert sich mit dem Kauf bzw. Verkauf von Arbeitskraft. Es entwickeln sich daraus spezifische Formen der Entäußerung bzw. der Abstraktion von der Individualität, die nur in der bürgerlichen Gesellschaft gegeben sind. „Die Bedingung ist, daß der Arbeiter erstens als freier Eigentümer über sein Arbeitsvermögen disponiert, sich zu ihm als Ware verhält; dazu muß er freier Eigentümer desselben sein. Zweitens aber, daß er seine Arbeit nicht mehr in der Form einer anderen Ware, vergegenständlichter Arbeit auszutauschen hat, sondern die einzige Ware, die er...zu verkaufen hat, eben sein lebendiges, in seiner Leiblichkeit vorhandenes Arbeitsvermögen ist, die Bedingung der Vergegenständlichung seiner Arbeit, die gegenständlichen Bedingungen seiner Arbeit also als fremdes Eigentum...jenseits seiner selbst befindlichen Waren existieren“[118].

Diesem Akt sind historische Prozesse vorausgesetzt, die zur Trennung von Produzent und Produktionsmitteln führen[119]. Mit dem Kauf bzw. Verkauf von Arbeitskraft wird diese Trennung der bürgerlichen Produktionsweise entsprechend aufgehoben. Als „Gebrauchswert für das Kapital ist die Arbeit bloßer Tauschwert für den Arbeiter...Als solcher wird sie gesetzt im Akt des Austausches mit dem Kapital, durch ihren Verkauf für Geld. Der Gebrauchswert einer Sache geht ihren Verkäufer als solchen nichts an, nur ihren Käufer“[120].

Der Zweck dieses Austausches besteht für die Verkäufer der Arbeitskraft darin, ihre Existenz zu sichern, während die Käufer daran interessiert sind, mit Hilfe fremder Arbeit Mehrwert zu erzeugen und Kapital zu akkumulieren[121]. Aus diesem Austausch ergibt sich die Reproduktion von Lohnarbeit und Kapital, denn „der kapitalistische Produktionsprozeß...reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der andren den Lohnarbeiter“[122].

Diese Form, in der sich das kapitalistische Produktionsverhältnis realisiert, ist mit unterschiedlichen, sich verändernden Inhalten und Konsequenzen verbunden. Zunächst steht hinter der formal freien Beziehung ökonomischer Zwang; und zwar für Lohnarbeit und Kapital. Dieser Zwang ist identisch mit dem Zweck des Kaufs und Verkaufs der Arbeitskraft, d. h. der Existenzsicherung von Lohnarbeit und Kapital. In diesem Verhältnis begegnen sich „...die von einem bestimmten Teil der Gesellschaft monopolisierten Produktionsmittel...“[123], also das konstante Kapital, und die eigentumslosen, Arbeitskraft verkaufenden Individuen, die das variable Kapital bilden. Die Zeit, in der diese beiden Elemente produzieren, besteht aus notwendiger und Mehrarbeit. Notwendige Arbeit ist der Bestandteil des Arbeitstages, der erforderlich ist, um den zur Reproduktion der Arbeitskraft nötigen Gegenwert zu erzeugen. Der für die notwendige Arbeit gezahlte Lohn dient der Erhaltung des variablen Kapitals. „Das Arbeitsvermögen hat sich nur angeeignet die subjektiven Bedingungen der notwendigen Arbeit - die Lebensmittel für das produzierende Arbeitsvermögen...und es hat diese Bedingungen selbst gesetzt als Sachen, Werte, die in fremder gebietender Personifikation ihm gegenübertreten“[124]. Mehrarbeit, aus der Mehrwert und Profit resultieren, ist maßgeblich für das Fortbestehen und die Akkumulation des Kapitals[125].

Da nur ein Teil des Arbeitstages bezahlt wird, ist „das Kapital...also nicht nur Kommando über Arbeit...Es ist wesentlich Kommando über unbezahlte Arbeit“[126] . Je größer der Anteil der Mehrarbeit an der Gesamtarbeitszeit, desto höher ist der Exploitationsgrad der Arbeitskräfte durch das Kapital[127]. Dieses „...vermindert die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maß als Bedingung - question de vie et de mort - für die notwendige“[128] Arbeit. Die Verringerung der notwendigen Arbeit bei unveränderter Gesamtarbeitszeit erfolgt durch die Entwicklung des konstanten Kapitals, das damit der Steigerung der Produktivität dient. „Das Kapital wendet die Maschine...an, soweit sie den Arbeiter befähigt einen größren Teil seiner Zeit für das Kapital zu arbeiten...Durch diesen Prozeß wird in der Tat das Quantum zur Produktion eines gewissen Gegenstandes nötige Arbeit auf ein Minimum reduziert, aber nur damit ein Maximum von Arbeit in dem Maximum solcher Gegenstände verwertet werde. Die erste Seite ist wichtig, weil das Kapital...die menschliche Arbeit auf ein Minimum reduziert, die Kraftausgabe. Dies wird der emanzipierten Arbeit zugute kommen und ist die Bedingung ihrer Emanzipation“[129].

Es handelt sich aber auch um ein Verhältnis, in welchem die Arbeitskraft zur Ware und die abhängig Beschäftigten zur Maschine degradiert werden[130]. Diesbezüglich spricht Marx 1844, also zu einem Zeitpunkt, wo er noch nicht explizit zwischen notwendiger und Mehrarbeit differenziert, von Lohnarbeit generell als Zwangsarbeit[131]. Das ändert sich in den folgenden Jahren durch die verstärkte Beschäftigung mit ökonomischen Themen, in deren Verlauf Marx den Zwang nur noch auf die zu leistende Mehrarbeit bezieht[132]. Man kann dies aber nicht als wohlwollendere Betrachtung des kapitalistischen Produktionsverhältnisses interpretieren, sondern muß einerseits berücksichtigen, daß notwendige Arbeit unabhängig von der Gesellschaftsformation zu leisten ist; und andererseits die Reduktion notwendiger Arbeit unter bürgerlichen Bedingungen einhergeht mit der Ausdehnung der Mehrarbeit. Somit variiert auch die Bedeutung des Zwangs; und zwar in quantitativer und in qualitativer Hinsicht, weil mit der für die Mehrarbeit verausgabten Zeit den betroffenen Individuen auch die Chance genommen wird, individuelle Potentiale zu entfalten, denn das Kapital „...usurpiert die Zeit für Wachstum, Entwicklung und gesunde Erhaltung des Körpers“[133]. Der Zwang beginnt dort, wo die notwendige Arbeit endet. Er ist identisch mit der ausgebeuteten Mehrarbeit. Seine Grenzen sind dehnbar.

Mit der Entstehung und Entwicklung von Lohnarbeit und Kapital kommt es zu Prozessen, die einen spezifisch bürgerlichen Charakter tragen. „Ihrer widersprechenden, gegensätzlichen Natur nach geht die kapitalistische Produktionsweise dazu fort, die Verschwendung am Leben und der Gesundheit des Arbeiters, die Herabdrückung seiner Existenzbedingungen selbst zur Ökonomie in der Anwendung des konstanten Kapitals zu zählen und damit zu Mitteln zur Erhöhung der Profitrate. Da der Arbeiter den größten Teil seines Lebens im Produktionsprozeß zubringt, so sind die Bedingungen des Produktionsprozesses zum großen Teil Bedingungen seines aktiven Lebensprozesses...“[134]. Das Ausmaß an Zeit, in dem Lohnarbeit leistende Individuen kapitalistischen Produktionsprozessen unterworfen sind, ist wesentlich für die Qualität ihrer Entäußerung[135]. Denn „ein Mensch, der nicht über freie Zeit verfügt, dessen ganze Lebenszeit...von seiner Arbeit für den Kapitalisten verschlungen wird, ist weniger als ein Lasttier. Er ist eine bloße Maschine zur Produktion von fremdem Reichtum, körperlich gebrochen und geistig verroht“[136]. Es geht beim Problem der Entäußerung aber nicht darum, daß diese „Verrohung“ möglichst elende Lebens- und Arbeitsbedingungen voraussetzt, zumal diese von den betroffenen Subjekten - etwa durch gewerkschaftliche Organisation - beeinflußt werden können, sondern um bestimmte Formen der Arbeitsteilung, die die individuelle Entäußerung gesellschaftlich entwickelter Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse begünstigen.

1844 konstatiert Marx, daß die gesellschaftliche[137] „...Teilung der Arbeit die produktive Kraft der Arbeit, den Reichtum und die Verfeinerung der Gesellschaft erhöht...“[138]. Diese Ansicht wird im „Kapital“ durch die Auffassung ergänzt, daß „eine gewisse geistige und körperliche Verkrüppelung...unzertrennlich selbst von der Teilung der Arbeit im ganzen und großen der Gesellschaft“[139] abhängig ist. Die scheinbar widersprüchlichen Meinungen Marx´ gehören zusammen und weisen auf die ambivalente Entwicklung gesellschaftlicher Arbeitsteilung hin. Diese Widersprüchlichkeit wird einerseits manifest im zunehmenden gesellschaftlichen Reichtum, andererseits in der damit einhergehenden individuellen Verarmung. Denn wegen der sich immer mehr differenzierenden Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse, wird eine individuelle Aneignung des gesellschaftlichen Potentials unter bürgerlichen Bedingungen schwieriger[140]. Der gesellschaftliche Reichtum bleibt für die Individuen zumindest tendenziell abstrakt. Aber diese Entwicklung bietet eben auch die Chance, unter anderen sozialen Verhältnissen reiche Individualität, die grundsätzlich Verschiedenheit, Bedürftigkeit, Reichtum und Armut, impliziert[141], zu bilden. Die Entstehung abstrakten Reichtums, der letztendlich seinen Ausdruck im Geld als allgemeinem Äquivalent der bürgerlichen Gesellschaft erhält, ist somit Bedingung für die Entwicklung reicher Individualität.

Anders verhält es sich mit der betrieblichen Teilung der Arbeit, die Marx durchgehend als Degradation des Individuums beurteilt. „Die Teilung der Arbeit vereinseitigt diese Arbeitskraft zum ganz partikularisierten Geschick, ein Teilwerkzeug zu führen. Sobald die Führung des Werkzeugs der Maschine anheimfällt, erlischt mit dem Gebrauchswert der Tauschwert der Arbeitskraft“[142]. Jedoch verfügt auch diese Entwicklung über ein potentiell revolutionäres Element, weil die Maschinerie, die menschliche Arbeit ersetzt, auch Zeit freisetzt. Aber „während die Maschinenarbeit das Nervensystem aufs äußerste angreift, unterdrückt sie das vielseitige Spiel der Muskeln und konfisziert alle freie körperliche und geistige Tätigkeit. Selbst die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt“[143].

Das Verhältnis von notwendiger und Mehrarbeit ist unter bürgerlichen Bedingungen widersprüchlich. Denn „es ist ebensosehr Tendenz des Kapitals menschliche Arbeit überflüssig zu machen (relativ), als menschliche Arbeit ins Maßlose zu treiben...Arbeit überhaupt ist und bleibt aber die Voraussetzung, und die Surplusarbeit existiert nur im Verhältnis zur notwendigen... [144] Arbeit. Das konstante Kapital wird nicht entwickelt, „...um fehlende Arbeitskraft zu ersetzen, sondern um massenhaft vorhandne auf ihr nötiges Maß zu reduzieren“[145]. Wenn dadurch der Tauschwert der Arbeitskraft sinkt, ihre Quantität also an Bedeutung verliert, heißt dies nicht automatisch, daß sie dadurch Gebrauchswert bzw. Qualität erhält. Denn zur Verwirklichung qualitativer Tätigkeiten gehören materielle Grundlagen, die zunächst erobert werden müssen; und damit revolutionäre Prozesse und Aktionen erfordern. Dies ist im Gegensatz zu vorangegangenen Perioden in der bürgerlichen Gesellschaft keine Utopie mehr, sondern könnte aufgrund der von Lohnarbeit und Kapital geschaffenen objektiven Bedingungen Realität werden, sofern gesellschaftlich die Möglichkeit gegeben ist, daß sich ein revolutionäres Subjekt konstituiert[146].

Da Mehrwert nur von der lebendigen Arbeit geschaffen werden kann[147], befindet sich das Kapital in der Situation, notwendige Arbeit reduzieren zu müssen, um die Mehrwertproduktion zu steigern. Es kann sich aber nicht von der ohnehin vorhandenen notwendigen Arbeit emanzipieren, eben weil es, um seine Existenz zu sichern, Mehrwert produzieren muß. „Im Fortschritt der Industrie hält daher die Nachfrage nach Arbeit nicht Schritt mit der Akkumulation des Kapitals. Sie wird zwar noch wachsen, aber in ständig abnehmender Proportion, verglichen mit der Vergrößerung des Kapitals“[148].

Aus dieser Widersprüchlichkeit heraus kommt es zu Entwicklungen, die einerseits über ein revolutionäres Element verfügen, und somit zu einer Emanzipation der Gesellschaft von Lohnarbeit und Kapital führen könnten; andererseits zu Tendenzen, die dieser Emanzipation entgegenwirken.

Die zunehmende Rationalisierung, die sich mit der Entwicklung von Lohnarbeit und Kapital ergibt, würde unter anderen sozialen Umständen Zeit freisetzen, die der Entfaltung reicher Individualität dienen, und ihrerseits auf notwendige Produktionsprozesse zurückwirken könnte. Doch unter bürgerlichen Bedingungen kann dieses Potential nicht ausgeschöpft werden, weil die zur Lohnarbeit degradierte notwendige Arbeit zugunsten des Kapitals funktionalisiert wird. Dabei ist es von sekundärer Bedeutung, wie sich die Lebensbedingungen des Proletariats gestalten, denn „die mehr oder minder günstigen Umstände, worin sich die Lohnarbeiter erhalten und vermehren, ändern jedoch nichts am Grundcharakter der kapitalistischen Produktion“[149], weil die Existenz des Proletariats an die Existenz des Kapitals gebunden ist. Und solange dieses Verhältnis nicht in Frage gestellt wird, wird es reproduziert. „Alle...Vermehrung der gesellschaftlichen Produktivkräfte...bereichert nicht den Arbeiter, sondern das Kapital; vergrößern also nur wieder die die Arbeit beherrschende Macht; vermehren nur die Produktivkraft des Kapitals“[150]. Denn „...alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen,...schleudern sein Weib und Kind unter das Juggernaut-Rad des Kapitals. Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation...Es folgt daher, daß im Maße, wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß“[151].

Die mit dem Kauf und Verkauf von Arbeitskraft einhergehende Reproduktion von Lohnarbeit und Kapital führt zu gesellschaftlichen Veränderungen, die einerseits ein emanzipatorisches Potential aufweisen, andererseits die Existenz von Lohnarbeit und Kapital festigen können.

Die Entwicklung von Lohnarbeit und Kapital verfügt mit der Reduktion notwendiger Arbeit an sich über ein emanzipatorisches Element, weil objektive Bedingungen geschaffen werden, die der Befreiung der Gesellschaft von Lohnarbeit und Kapital dienen könnten. Aber das dazu erforderliche revolutionäre Subjekt ist zunächst eben nur subjektives Potential einer objektiv möglichen Emanzipation. Und sofern die Existenz von Lohnarbeit und Kapital gesellschaftlich nicht in Frage gestellt wird, kommt es zu Prozessen, die einerseits dazu tendieren, die vorhandene notwendige Arbeit - und die unter bürgerlichen Bedingungen dazu gehörende spezifische Form der Mehrarbeit - auf immer weniger Lohnabhängige zu verteilen; andererseits zu parallelen Entwicklungen, die immer mehr Menschen von der Lohnarbeit „befreien“. Dabei sind die betroffenen Individuen, ob ihre Arbeitskraft nun über Tauschwert verfügt oder nicht, immer noch mit dem Problem der individuellen Entäußerung des gesellschaftlichen Potentials konfrontiert. Partiell mag dies für das Individuum lösbar sein. Jedoch fehlen die gesellschaftlichen Möglichkeiten, um der Arbeit generell Gebrauchswert zu geben, solange die materiellen Bedingungen bürgerlich strukturiert sind, weil die Trennung von Produzierenden, Produktionsmitteln und Produkt - und damit auch die gesellschaftliche Macht des Kapitals - bestehen bleibt. Es ist daher von sekundärer Bedeutung, wie gut oder schlecht die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Individuen sein mögen, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Denn selbst die besten Verhältnisse ändern nichts an der fortbestehenden Abstraktion von der reichen Individualität. Aber mit der Minimierung der notwendigen Arbeit besteht auch die Gefahr, die Position des Kapitals zu festigen. „Die kapitalistische Akkumulation produziert vielmehr, und zwar im Verhältnis zu ihrer Energie und ihrem Umfang, beständig eine relative, d. h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssige, daher überflüssige oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung“[152]. Diese steht in einem konkurrierenden Verhältnis zu dem in Gebrauch befindlichem variablen Kapital, das damit austauschbarer ist.

Die gesellschaftliche Akzeptanz bürgerlicher Strukturen vorausgesetzt, entwickelt sich das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital dahingehend, daß sich beide, wenn auch in unterschiedlichem Maß, reproduzieren, wobei die Macht des Kapitals wächst, gerade weil es von der Lohnarbeit unabhängiger wird.

2.2. Allgemeines zur Frauenarbeit in der bürgerlichen Gesellschaft

Um 1900 sind Frauen in allen ökonomischen Bereichen tätig. Sie leisten Haus- und Erziehungsarbeit, sind als Heimarbeiterinnen und Tagelöhnerinnen beschäftigt, arbeiten in der Landwirtschaft, Industrie und im Dienstleistungssektor.

In diesen Bereichen gibt es unterschiedliche Formen der Arbeitsteilung. Gemeinsam ist ihnen, obwohl sich die diesen Sektoren zugehörenden Arbeiten überschneiden können, die gesellschaftliche Reduktion individueller Tätigkeiten, die maßgeblich von den Frauen zur Verfügung stehenden Bildungsmöglichkeiten[153] beeinflußt werden. Je nach der besonderen Arbeit sind die Frauen zudem mit einer mehr oder weniger starken Form betrieblicher und/oder geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung konfrontiert. Die Vielzahl der Tätigkeiten geht also einher mit graduell unterschiedlichen Formen der Arbeitsteilung, wobei deren Charakter nicht gleichermaßen bürgerlich geprägt ist.

Ohne hier alle Arbeitsarten ausführlich untersuchen zu können, ist doch folgendes festzuhalten: Je geringer die Trennung von Wohn- und Arbeitsbereich, desto weniger ist die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bestimmendes existentielles Moment[154].

Darin zeigt sich nicht nur die Ungleichzeitigkeit sozialer Prozesse[155], sondern auch deren Widersprüchlichkeit, die dadurch zum Ausdruck kommt, daß sich vorbürgerliche Arbeitsarten neben bürgerlichen und bürgerlich reformierten erhalten. Es zeigt sich damit, daß etwas für die bürgerliche Gesellschaft so Wesentliches wie der „Geschlechtscharakter“, der maßgeblich für die dementsprechenden Formen der Reduktion von Frauen ist, auf unterschiedliche Weise wirkt.

Denn während diese u. a mit der Entwicklung des Geschlechtscharakters zusammenhängende Arbeitsteilung in einigen Arbeitsbereichen eine eher untergeordnete Rolle spielt oder nur teilweise realisiert wird, ist er in anderen voll entfaltet oder wird sogar bereits in Frage gestellt.

Analog zu den verschiedenen Formen der Arbeitsteilung können Reduktionen und Entäußerungen variieren. Um jedoch deren spezifisch bürgerliche Eigenart zu analysieren, ist es zunächst erforderlich, die Ideologie vom Geschlechtscharakter näher zu beleuchten, bevor schließlich die Tätigkeiten kleinbürgerlicher und proletarischer Frauen untersucht werden. Denn diese „weiblichen“ Arbeiten, die die gesellschaftliche Lage von Kleinbürgerinnen und Proletarierinnen wesentlich beeinflussen, sind nicht von der theoretischen Konstruktion geschlechtsspezifisch determinierter Tätigkeiten, die sich mit der bürgerlichen Gesellschaft entwickeln, zu trennen.

2.2.1. Exkurs: Die Entstehung des „Geschlechtscharakters“

Den Geschlechterverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft liegt eine ideologische Konstruktion[156] zugrunde, die ihren Ausdruck im Begriff des Geschlechtscharakters findet[157]. Der Terminus verweist bereits auf den wesentlichen Inhalt des weltanschaulichen Gebildes; nämlich die biologistische[158] Interpretation der Beziehungen von Frauen und Männern, die von jeweils unterschiedlichen „männlichen“ und „weiblichen“ Fähigkeiten und Tätigkeiten ausgeht[159]. Dabei bestimmt die Geschlechtscharakterideologie das von ihr propagierte Verhältnis als „natürliche“ Existenzweise von Männern und Frauen[160], ohne gesellschaftliche Hintergründe zu berücksichtigen. Dementsprechend verfügt die gesamte Konstruktion über ahistorische Komponenten. Horkheimer stellt dazu fest: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen...“[161] werden konnte. Horkheimer, der sich scheinbar auch einer biologistischen Terminologie bedient, macht hier auf die gesellschaftlichen Entwicklungen aufmerksam, die vonnöten sind, um etwas wie den „männlichen“, aber ebenso den dazugehörenden „weiblichen“ Charakter kreieren zu können. Tatsächlich ist die Konstruktion des Geschlechtscharakters nicht von den wirklichen sozialen Bedingungen zum Zeitpunkt seines Entstehens zu trennen. Um diese geht es im folgenden.

Der Geschlechtscharakter wird vom Kleinbürgertum für das Kleinbürgertum „produziert“. „Es sind nicht die ökonomischen und politischen Verhältnisse des Kapitalismus, die diesen Geschlechtscharakteren ursächlich zugrunde liegen. Es besteht kein direkter Zusammenhang zwischen diesen Verhältnissen und den Geschlechtscharakteren. Wie gezeigt, verdanken diese Frauen- und Männerbilder ihre Entstehung den praktischen Erfahrungen einer Schicht, die zwar als ‘bürgerlich’, aber nicht als...‘kapitalistisch’ bezeichnet werden kann“[162].

Der Geschlechtscharakter, der sich in den deutschen Staaten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konstituiert, kann aber nicht von der ökonomischen Situation des akademisch gebildeten Kleinbürgertums, das nicht fähig ist, Kapital zu akkumulieren, getrennt werden. „Diese Personen befinden sich in Lebensumständen, die zwar als beschränkt, aber auch als wohlhäbig gelten und die einem ‘sittlichen’ Betragen förderlich sind. Diese ‘Sittlichkeit’ besteht zuallererst in einem normativen Tugend- und Pflichtsystem“[163].

Die Entwicklung des Geschlechtscharakters hängt eng mit dem Verkauf der Arbeitskraft akademisch gebildeter Kleinbürger zusammen. Diese Minderheit innerhalb einer noch weitgehend ständisch strukturierten Gesellschaft befindet sich bereits in sachlichen Beziehungen, die mit anderen Anforderungen an die Individuen einhergehen, als dies in persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen der Fall ist. Hier ist nicht mehr die bäuerliche oder adelige Geburt entscheidend für die Gestaltung der künftigen Existenz, sondern die Schaffung individueller Leistungsfähigkeit, die es irgendwann zu verkaufen gilt. Es entwickelt sich ein Identifikationsmoment des Kleinbürgertums[164], das gleichzeitig der Distanzierung von den Ständen dient[165]. Dementsprechend kommt es mit der Entstehung eines akademisch gebildeten kleinbürgerlichen Milieus zu sozialen Tendenzen, die mit den Erfordernissen dieser Existenzweise korrelieren.

Das Kleinbürgertum selbst forciert einen Akademisierungsprozeß[166], der staatlicherseits Unterstützung findet, indem es um 1800 zu Reglementierungen von Ausbildungs-, Prüfungs- und Laufbahnvorschriften kommt[167]. „Im langfristigen Prozeß der Akademisierung verquicken sich, oft schwer gegeneinander aufrechenbar, die Ausstrahlung des Bürokratiemusters, die Verwissenschaftlichung von Praxisfeldern, die Spezialisierung von Forschung und Lehre sowie die Professionalisierungsbestrebungen der Akademikergruppen“[168].

Mit der Reglementierung des Bildungszugangs, der zu diesem Zeitpunkt bereits als „...ein kalkulierbarer Weg des sozialen Aufstiegs...“[169] gilt, grenzt sich das akademisch gebildete Kleinbürgertum nicht nur von möglicher Konkurrenz aus den Ständen ab[170], sondern verstärkt auch den durch die Professionalisierung verursachten Leistungsdruck innerhalb des eigenen Milieus. Daraus resultieren Disziplinierungseffekte für kleinbürgerliche Männer und Frauen, die mit weitreichenden gesellschaftlichen Konsequenzen verbunden sind. Individuelle Anpassung an sich neu entwickelnde soziale Gegebenheiten wird erforderlich[171].

Zunächst bedeutet „für den Beamtenhaushalt...diese Entfaltung des bürokratischen Systems u. a., daß im Unterschied zu bäuerlichen und gewerblichen Haushalten Konsum und Erwerb voneinander getrennt erscheinen und beim Gelderwerb das Zusammenwirken der Eheleute prinzipiell nicht mehr vorgesehen ist“[172]. Es entsteht die kleinbürgerliche Form geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Nun sind Formen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung nichts Neues. „Neu ist die Zuspitzung, die Polarisierung der Zuständigkeiten...“[173] .

Im akademisch gebildeten Kleinbürgertum entwickelt sich eine Form geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, die die völlige Trennung „männlicher“ und „weiblicher“ Tätigkeitsbereiche als natürliche Existenz postuliert. In diesem Rahmen entsteht die Kleinfamilie[174]. Denn indem die räumliche Einheit von Wohnung und Arbeit aufgehoben wird, erfahren die sich damit trennenden „männlichen“ und „weiblichen“ Tätigkeiten neue soziale Bewertungen, die ihrerseits auf jener Distanzierung beruhen. Kleinbürgerliche Frauen und Männer sind verantwortlich dafür, daß der familiale Status bewahrt wird. Allerdings gilt den Ideologen des Geschlechtscharakters die hier entstehende Form geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung nicht als Resultat gesellschaftlicher Prozesse[175]. Statt dessen scheint die Natur die soziale Existenz zu bestimmen. „Männliche“ Leistung manifestiert sich demnach im öffentlichen Raum des Arbeitskraftverkaufes, „weibliche“ Leistung in der privaten Sphäre der Wohnung[176]. Mit der vermeintlich naturgegebenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in ihrer kleinbürgerlichen Ausprägung entwickeln sich der Trennung von Arbeit und Wohnung entsprechende Kontraste (etwa Öffentlichkeit/Familie, bezahlte Erwerbs- und unbezahlte Hausarbeit), die mit bestimmten, scheinbar ebenfalls geschlechtsspezifischen Eigenschaften (z. B. Emotionalität/Rationalität) korrelieren[177].

Aber „unter dem Regulativ der Ergänzung wirkt die Entgegensetzung der Geschlechter nicht antagonistisch, sondern komplementär...So wird es mittels der an der ‘natürlichen’ Weltordnung abgelesenen Definition der ‘Geschlechtscharaktere’ möglich, die Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben als gleichsam natürlich zu deklarieren...“ [178] .

Die soziale Wirklichkeit führt tatsächlich dazu, daß sich Kleinbürgerinnen und Kleinbürger „ergänzen“. „Mit Phänomenen der gesellschaftlichen Realität korrespondierte die Polarisierung der Geschlechter zunächst ganz offensichtlich einzig und allein dort, wo sie um die Wende zum 19. Jahrhundert entwickelt (wird), nämlich im gebildeten Bürgertum“[179] . Denn die strikte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist für kleinbürgerliche Männer und Frauen ein in sich widersprüchliches Moment ihrer gesellschaftlichen Existenz, da die Tätigkeiten der jeweils anderen theoretisch und praktisch Abstraktionen sind. Das verursacht eine starke gegenseitige Abhängigkeit. Denn die biologistisch interpretierten Kompetenzen der Geschlechter sind mit sozialen Inkompetenzen verbunden, die durch den Zusammenschluß in Ehe und Kleinfamilie kompensiert werden sollen. Deren Erhalt ist einerseits ein zentrales Anliegen der Geschlechtscharakterideologie, für die Ehe und Familie zur „natürlichen“ Existenz gehören; andererseits eine gesellschaftliche Notwendigkeit für die aus dem betreffenden Milieu kommenden Personen.

Der Geschlechtscharakter unterstellt ausschließlich dem Mann, über die Eigenschaften zu verfügen, die erforderlich sind, um sich im „Kampf“ um den Arbeitskraftverkauf zu bewähren. De facto bedeutet dies, sich einem System aus formalisierten Leistungsanforderungen, Konkurrenzdruck und Hierarchien anzupassen. Das vermeintlich ideale Gegenstück, in dem diese Strukturen scheinbar fehlen, bildet die Wohnung mit der Frau als „Herrscherin“ dieser Idylle[180]. Deren sich durch die Entstehung der Kleinfamilie verändernden Tätigkeiten, erfahren durch die Geschlechtscharakterideologie eine neue Bewertung. „Charakteristisch ist, daß dieses ‘homemaking’ und all die anderen Pflichten der Hausarbeit, die emotionalen, konsumptiven und generativen Arbeiten nicht als Arbeit angesehen oder gar honoriert werden, sondern als normative Erwartung an die ‘natürlichen’ Geschlechtseigenschaften der Frau erscheinen“[181] . Im Gegensatz zu den sich über ihre Leistungen im Erwerbsleben definierenden Juristen, Medizinern etc. werden für deren Frauen die mit der Wohnung zusammenhängenden Arbeiten zum bestimmenden existentiellen Moment, wobei „die Ausgrenzung und Privatisierung von Familie und Haushalt...für die Frau eine ideologische und zunehmend wohl auch eine tatsächliche Ausgrenzung aus der Gesellschaft...“[182] darstellt. Sie werden über ihre Tätigkeiten charakterisiert; und diese „weiblichen“ Tätigkeiten stehen dabei in enger Verbindung mit der Gebärfähigkeit, d. h. der „Natur“ der Frauen[183]. „Liefert die biologische Fähigkeit, Leben zu gebären, die direkte Begründung für Lebenszweck und -sinn der Frau, so liegt es nahe, an diese ‘Naturbestimmung’ auch die besondere Befähigung von Frauen für andere ‘reproduktive’ Tätigkeiten zu ‘koppeln’. Wie selbstverständlich kann dann von ihrem...Bedürfnis nach Hege und Pflege des (Klein-) Kindes auf ihre Befähigung und Neigung auch zum Hegen und Pflegen des erwachsenen Mannes geschlossen werden“[184] .

[...]


[1] Meszaros, S. 16, 276; Schaff, S. 133-134

[2] Meszaros, S. 24-25; Schaff, S. 10, 133

[3] Beispielsweise ersetzen Begriffe wie „Arbeits“- oder „Produktivkraft“ die 1844 noch gebrauchte Kategorie „Wesenskraft“, mit der die menschlichen Fähigkeiten beschrieben werden. Ebensowenig benutzt Marx in den ökonomischen Arbeiten Termini wie „Gattungswesen“, „Gattungscharakter“ usw. Andererseits behält er Begriffe wie „Vergegenständlichung“ oder „Entäußerung“ bei. Vgl. MEW 40, S. 511-512, 514, 516; MEW 13, S. 44; MEW 25, S. 99. Daneben muß aber berücksichtigt werden, daß Entfremdung von Marx nicht immer als solche bezeichnet wird. Begriffe wie „abstrakte Arbeit“ oder „zweckmäßige Tätigkeit“ können ebenso auf die entsprechende Inhalte verweisen.

[4] Hierbei handelt es sich zumeist um Fragen, die sich aus dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ergeben. In Teil III der Arbeit wird dies noch behandelt.

[5] Auf das Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum wird später noch ausführlich eingegangen. Um diese Beziehung hier trotzdem etwas zu konkretisieren, soll vorerst folgendes genügen: 1844, MEW 40, S. 541-542, stellt Marx bezüglich dieses Verhältnisses fest, daß „die Bildung der 5 Sinne...eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte“ ist. Damit ist die Dialektik von Natur, Gesellschaft und Individuum erfaßt. Denn Fühlen, Sehen usw. gehören selbstverständlich zur natürlichen Ausstattung des Menschen. Sie sind darüber hinaus vor allem aber gesellschaftliches Produkt; und zwar nicht beliebig und für sämtliche Individuen gleich, sondern zeitlich, räumlich und sozial differenziert.

[6] Allein schon wegen dieser subjektiven Komponenten - mehr dazu im Verlauf der Arbeit - kann das Problem entfremdeter Arbeit nicht auf das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital begrenzt werden. Wenn z. B. Treptow, S. 7, meint, „Entfremdung ist also für Marx gleichbedeutend damit, daß die Arbeitsprodukte...Kapitalform annehmen...“, verkürzt er den Ansatz Marx´. Denn damit werden nicht nur alle außerhalb dessen liegenden Arbeitsformen idealisiert, sondern die unterschiedlichen Beziehungen der Individuen zu ihren konkreten Arbeiten, d. h. die subjektiven Komponenten, als nebensächlich abgetan. Vgl. die weitaus differenzierteren Positionen Marx´ in: MEW 23, S. 94; MEW 40, S. 518, 519 sowie den Abschnitt 1.1. des Kapitels II dieser Arbeit.

[7] Meszaros, S. 227-228, 230-231

[8] Dieser negative Begriff könnte positiv als kommunistische Gesellschaftsformation beschrieben werden, sofern es sich auf theoretischer Ebene um absehbare soziale Entwicklungen handelt. Jedoch erfordert eine allgemeine Kategorie wie Entfremdung, die auch nicht ausschließlich mit der bürgerlichen Gesellschaft gleichgesetzt werden kann, ein ebenso allgemeines begriffliches Gegenstück.

[9] Etwa die Natur als materielle Basis menschlichen Lebens und die den Menschen eigentümlichen Fähigkeiten, dieses Potential zu nutzen.

[10] MEW 4, S. 482

[11] Marx, Grundrisse, S. 25-26

[12] Der Begriff der Lohnarbeit ist nicht nur auf das Proletariat im engen Sinn des Wortes begrenzt, sondern kann alle Arbeitskraft verkaufenden Individuen einschließen.

[13] Grundrisse, S. 5-6; MEW 3, S. 6; Horkheimer, Autorität, S. 156

[14] Gegensätzlich Schaff, S. 80, der davon ausgeht, daß die „...Unterordnung des Individuums unter die autonomisierten Produkte immer absolut und unwiderrufbar...“ sei. Schaff konstatiert in diesem Zusammenhang eine historische Entwicklung und relativiert so seine Aussage. Gäbe es tatsächlich Absolutes und Unwiderrufbares in der Entfremdungsproblematik, dürfte kein Gedanke an Emanzipation verschwendet werden.

[15] Mit Hilfe der Entfremdungstheorie können selbstverständlich auch antike oder mittelalterliche Verhältnisse untersucht werden. Nichtentfremdung könnte aber nur als Maßstab für die noch unzureichende soziale Entwicklung der entsprechenden Gesellschaften dienen, nicht jedoch als revolutionäres Ziel, weil die dazu erforderlichen materiellen Bedingungen, die spezifisch bürgerlich sind, noch nicht existieren.

[16] So werden beispielsweise Fragen zur Zirkulation oder Akkumulation nur behandelt, sofern es unerläßlich ist.

[17] Damit unterscheiden sich Beamte beispielsweise von Handwerkern oder Kleinhändlern.

[18] Im Mittelpunkt des Interesses steht hier das einer regelmäßigen Fabrikarbeit nachgehende, städtische Proletariat, aber z. B. keine Landarbeit oder Tagelohn. Zum Begriff des Proletariats muß noch folgendes bemerkt werden: Er hat in dieser Arbeit eine doppelte Bedeutung. Einmal als allgemeiner Klassenbegriff, der die Teile der bürgerlichen Gesellschaft umfaßt, die gezwungen sind, mittels Verkauf von Arbeitskraft ihre Existenz zu sichern. Darin sind auch Berufsgruppen (z. B. Beamte, Angestellte) enthalten, die sich subjektiv nicht unbedingt zum Proletariat zählen. Ferner wird der Begriff des Proletariats im besonderen für das Milieu gebraucht, das unmittelbar in das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital involviert ist.

[19] Es handelt sich hier um ein sehr komplexes Problem, das unterschiedliche gesellschaftliche und individuelle Aspekte enthält. Im Verlauf der Arbeit ist ausführlich darauf einzugehen.

[20] Vgl. z. B. MEW 3, S. 32; MEW 4, S. 469, 478-479; MEW 40, S. 534

[21] So etwa, wenn Marx generell davon ausgeht, Lohnarbeiterinnen seien gegenüber dem Kapital fügsamer als Lohnarbeiter; vgl. MEW 23, S. 425

[22] MEW 32, S. 582-583

[23] Aufgrund der Vielfalt muß auch hier eine Auswahl stattfinden. Die um 1900 publizierten Schriften Clara Zetkins und Gertrud Bäumers stellen die Quellen dar, anhand derer die Analyse erfolgen soll. Damit wird zwar nicht das gesamte Spektrum der zeitgenössischen Frauenbewegung erfaßt. Da dies aber ohnehin nicht zu leisten ist, ist es sinnvoller, sich auf Repräsentantinnen unterschiedlicher Richtungen zu beschränken, die auch über einen gewissen Einfluß verfügen.

[24] Vgl. dazu Hermann Schuller, S., 217, 220, 223, der bei seinem offensichtlich zu ehrgeizigen Versuch, das Marxsche Konzept von den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ bis zum „Kapital“ auf etwa zwanzig Seiten darzustellen, gründlich scheitert. So unterstellt er, ebd., S. 214, Marx beispielsweise die illusorische Absicht, gesellschaftliche Arbeitsteilung aufheben zu wollen, und bemerkt diesbezüglich: „Die volle Verwirklichung dieser ‘Idee’ ist der Maßstab, an dem Marx seine gesellschaftliche Wirklichkeit mißt. Feuerbach (ist) aber in dieser Hinsicht bescheidener als Marx, weil er nicht den Anspruch (erhebt), daß das einzelne ‘Individuum’ als solches, sondern daß alle Menschen zusammen - also aufgrund der ‘Summierung der Teilverwirklichungen’ der einzelnen Individuen - dieses ‘Potential an Möglichkeiten’ ausschöpfen sollen.“ Tatsächlich bewertet Marx, MEW 40, S. 476, schon frühzeitig die gesellschaftliche Arbeitsteilung als „...produktive Kraft der Arbeit...“, die der durchaus wünschenswerten Differenzierung von Tätigkeiten, Fähigkeiten, Bedürfnissen und Genüssen dienen könnte. Vgl. dazu auch den im Gegensatz zu Schuller sehr lesenswerten Text von Seidel/Ulmann, a. a. O., bes. S. 77-83, 86, 102-105, in dem die Dialektik des Marxschen Konzepts voll erfaßt wird, sowie den Abschnitt 1.4. des folgenden und Abschnitt 2.1. des Kapitels über Entfremdung.

[25] Berücksichtigt werden die „Grundrisse“, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, „Lohn, Preis, Profit“ sowie „Das Kapital“, Bd. 1 und 3. „Das Kapital“ , Bd. 2, bleibt unbeachtet, weil dort nichts Neues zur Entfremdungstheorie zu finden ist. Von den „Grundrissen“ abgesehen, werden nur Ausgaben der Marx-Engels-Werke (MEW) benutzt, um den Zugang für die Lesenden durch die gängigste Edition zu vereinfachen bzw. die Kontrolle der zitierten Passagen nicht zu komplizieren. Die hier herangezogene Ausgabe des „Kapital“ ist identisch mit den Bänden 23 und 25 der Marx-Engels-Werke. Die Zitate aus den „Grundrissen“ sind in dem vom Marx-Engels-Lenin-Institut, Moskau, herausgegebenen Band von 1974 zu finden. Gelegentlich enthalten die Anmerkungen neben dem nachzuweisenden Zitat weitere Angaben. Es handelt sich dabei ausschließlich um Hinweise auf Arbeiten, in denen sich Marx zum betreffenden Problem ähnlich äußert. Auf Veränderungen oder Diskontinuitäten innerhalb der Marxschen Theorie wird dagegen näher eingegangen.

[26] Diese Arbeiten, etwa das „Kommunistische Manifest“ oder die „Deutsche Ideologie“, werden nicht in dem Ausmaß wie die unter der vorhergehenden Anmerkung genannten Schriften berücksichtigt.

[27] Zu den Kriterien, die für die Auswahl bestimmter Schriften Bäumers und Zetkins maßgeblich sind vgl. Kapitel IV, Abschnitt 1.2. Allgemeines zur Frauenbewegung.

[28] Zitatnachweise werden in den Anmerkungen immer an erster Stelle genannt.

[29] Marx geht von der Gesellschaft immer als Basis individuellen Lebens aus. Begriffe wie „Gesellschaft“ oder „Gesellschaftlichkeit“ enthalten dabei jede mögliche Form des Zusammenlebens. Nur im Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft können die im folgenden zu beschreibenden Prozesse stattfinden; vgl. MEW 40, S. 537-538, 545, 578, 579: Grundrisse, S. 312-313; Eschke, S. 52; Schaff, S. 8, 23

[30] Im Gegensatz zu den bürgerlichen Ideologen, auf die später noch einzugehen ist, setzt Marx nicht Frauen mit Natur und Männer mit Kultur gleich. Es gibt in der Entfremdungstheorie nichts dem „Geschlechtscharakter“ Entsprechendes. Vielmehr ist die Marxsche Betrachtungsweise des Menschen als eines natürlichen und gesellschaftlichen Wesens zunächst aus der Kritik der Religion entstanden (wobei Frauen und Männer nicht auf unterschiedliche Art natürlich sind). In diesem Zusammenhang betont Marx 1844, daß sich Menschen durch die Zeugung von Menschen subjektivieren, und sich dabei als natürliche und gesellschaftliche Wesen verhalten. Gleichzeitig negiert er mit dieser Feststellung die Abhängigkeit der menschlichen Existenz von einem „höheren Wesen“. Vgl. MEW 40, S. 545; Lefebvre, S. 95; Kusnezow, S. 52; Meszaros, S. 204

[31] Die Beispiele, die angeführt werden könnten, um die Entwicklung von natürlicher zu gesellschaftlicher Gegenständlichkeit zu veranschaulichen, sind ebenso vielfältig wie das Verhältnis von Natur, Gesellschaft und Individuum. Deshalb müssen die folgenden Beispiele vorerst genügen: 1) Mit der Entwicklung unterschiedlichster Produkte, entsteht die Möglichkeit, natürliche Bedürfnisse in gesellschaftlich modifizierter Form zu befriedigen; etwa indem die Befriedigung sexueller Triebe innerhalb gesellschaftlicher Gegenständlichkeit (z. B. Stoffe, Möbel, Schmuck, Bilder, Wein, Musik usw.) stattfindet, wodurch erotische Kultur geschaffen wird. (Daß die Verwirklichung dieser Möglichkeiten nur Teile der Gesellschaft betrifft - oder in bürgerlicher Zeit durch ein weitgehend ökonomisches Verhältnis zur Sexualität gekennzeichnet ist - verweist zunächst nur auf widersprüchliche Entwicklungen unter entfremdeten Bedingungen, wo gesellschaftliches Potential aus unterschiedlichen Gründen nicht angeeignet werden kann, und somit individuell entäußert ist; vgl. dazu Sieder, Ehe, S. 142) 2) Nimmt man das Textverarbeitungsprogramm, mit dem diese Arbeit geschrieben wird, so handelt es sich selbstverständlich nicht um ein Naturprodukt, sondern um ein Resultat gesellschaftlicher Entwicklungen, das allerdings über eine natürliche Basis verfügt, weil es Sprache voraussetzt, und somit an menschliches Potential gebunden ist. Darüber hinaus sind jedoch soziale Prozesse erforderlich - z. B. Entwicklung von Schrift, Alphabetisierung, technologische Standards etc. - die schließlich zur Software führen.

[32] MEW 23, S. 57 sowie ebd., S. 198; MEW 13, S. 23-24; vgl. dazu auch Tacha, S. 23, der diesbezüglich feststellt: „Karl Marx ist aber weniger für seine Aussagen über Arbeit als existentielle Bedingung des Menschen bekannt, mehr schon...für seine fundamentale Kritik an jenen Zuständen, die er als ‘entfremdete Arbeit’ bezeichnet.“ Tachas Behauptung verweist auf einen bemerkenswert nachlässigen Umgang mit den Arbeiten Marx´. Sie ist nicht haltbar.

[33] Stellt man sich beispielsweise etwas so Alltägliches wie ein mitteleuropäisches Frühstück - bestehend aus Dingen wie Kaffee, Tee, Zucker usw. - vor, so ist der Konsum dessen auch Ergebnis der Entdeckung und Eroberung anderer Kontinente.

[34] Die Entäußerungsproblematik wird in Teil III dieser Arbeit ausführlicher behandelt.

[35] Eine Konkretisierung dessen erfolgt noch.

[36] MEW 40 S. 518

[37] Grundrisse, S. 312

[38] Der Begriff „bewußt“ gehört in erster Linie zur Terminologie der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“, findet aber in späteren Arbeiten, wenn auch anders formuliert, Verwendung. Marx bezeichnet damit die Fähigkeit des Menschen, praktische und theoretische Gegenstände auf intellektueller Ebene zu bearbeiten bzw. Tätigkeiten zu antizipieren; vgl. MEW 40, S. 516; MEW 23, S. 193, 421-422, 445; Schaff, S. 86; Kusnezow, S. 44-45

[39] Dem hier beschriebenen positiven Gehalt einer nachrevolutionären Gesellschaftsformation fehlt bei Marx jede Darstellung einer konkreten Organisation. Dies macht die Zukunft nicht weniger abstrakt, ist aber in sich logisch, da die Gesellschaft immer gesellschaftliches Produkt ist, und eine detaillierte Ausarbeitung ihrer Strukturen durch das Individuum, in diesem Fall Karl Marx, absurd wäre.

[40] Grundrisse, S. 376, 388, 392; MEW 40, S. 516; Lefebvre, S. 92, 95; Eschke, S. 58; Schmidt, S. 78; Kusnezow, S. 44-46, 48-49

[41] MEW 40, S. 578; ebd. fügt Marx hinzu: Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen.“

[42] Vgl. MEW 23, S. 181, wo es heißt: Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verstehen wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert.“ Arbeits- bzw. Produktivkraft wird im Rahmen dieser Arbeit immer im Zusammenhang mit dem Subjekt gesehen, wobei es nicht um die Definition von produktiver oder unproduktiver Arbeit im bürgerlichen Sinn geht, sondern um die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung verschiedenster Tätigkeiten als Bedürfnis und Genuß. Zur „produktiven“ und „unproduktiven“ Arbeit vgl. auch Grundrisse, S. 184, wo Marx schreibt: Oder die modernen Ökonomen haben sich zu solchen Sykophanten des Bourgeois gemacht, daß sie demselben weißmachen wollen, es sei produktive Arbeit, wenn einer ihm die Läuse auf dem Kopf suche, oder ihm den Schwanz reibe, weil etwa die letztre Bewegung ihm den dicken Kopf - blockhead - den nächsten Tag aufgeräumter für das Comptoir machen werde. Es ist daher ganz richtig - zugleich aber auch charakteristisch -, daß den konsequenten Ökonomen die Arbeiter z. B. von Luxusshops produktive Arbeiter sind, obgleich die Kerls, die solche Gegenstände verzehren, ausdrücklich als unproduktive Verschwender kastigiert werden. Das fact ist, daß diese Arbeiter, indeed, produktiv sind, as far as they increase the capital of their master; unproductive as to the material result of their labour. Vgl. dazu auch MEW 23, S. 532, wo Marx den Begriff des produktiven Arbeiters als Ausdruck eines bestimmten gesellschaftlichen, d.h. bürgerlichen, Produktionsverhältnisses bezeichnet.

[43] Diese Bedürfnisse, z. B. Hunger oder Sexualität, sind zunächst als natürliche auch notwendige Bedürfnisse, deren Befriedigung gesellschaftlich modifiziert wird. Gleichzeitig entwickeln sich gesellschaftliche Bedürfnisse, etwa Musik, die zwar keine lebensnotwendige Bedeutung haben, jedoch gesellschaftlich als notwendig gesetzt werden können, und damit gesellschaftlichen wie individuellen Reichtum ausdrücken.

[44] Vgl. MEW 25, S. 394-395, wo Marx schreibt: Die Arbeitskraft bewährt ja auch nur ihre wertschaffende Kraft, wenn sie im Arbeitsprozeß betätigt und realisiert wird; aber dies schließt nicht aus, daß sie an sich, potentiell, als Vermögen, die wertschaffende Tätigkeit ist und als solche aus dem Prozeß nicht erst entsteht, sondern ihm vielmehr vorausgesetzt ist.“ Grundrisse, S. 13-14; Seidel/Ulmann, S. 77; Schaff, S. 35

[45] MEW 23, S. 192 sowie ebd., S. 85, 195; „die eigne Natur“ ist wiederum synonym mit dem freien und bewußten Wesen des Menschen; vgl. dazu auch MEW 40, S. 516-517; Grundrisse, S. 20, 394, 621; Kusnezow, S. 42, 43; Eschke, S. 55; Schmidt, S. 79

[46] Grundrisse, S. 388; Lefebvre, S. 92, 93

[47] MEW 23, S. 536-537; MEW 40, S. 541-542, 544

[48] Grundrisse, S. 9 sowie ebd., S. 5-6; MEW 25, S. 828; MEW 40, S. 515, 517; Eschke, S. 52

[49] MEW 23, S. 94; Grundrisse, S. 440; Kusnezow, S. 53; Seidel/Ulmann, S. 79

[50] MEW 25, S. 113-114; Lefebvre, S. 95; Seidel/Ulmann, S. 78

[51] Grundrisse, S. 79-80 sowie ebd., S. 440, 716; MEW 40, S. 542; MEW 25, S. 828, 866

[52] MEW 25, S. 827; Grundrisse, S. 244-245, 246

[53] Grundrisse, S. 231, 593

[54] MEW 16, S. 144

[55] MEW 25, S. 827, 828; Mehrarbeit ist im nichtentfremdeten Kontext u. U. synonym mit freien Aneignungs- und Äußerungsprozessen, sofern sie nämlich nicht notwendige Arbeit, sondern Bedürfnis als produktiver Prozeß ist.

[56] Grundrisse, S. 587; MEW 4, S. 476

[57] Welche gesellschaftlichen Kräfte als revolutionäre Subjekte auftreten können, wird im Verlauf der Arbeit konkretisiert.

[58] Grundrisse, S. 599 sowie ebd., S. 89, 596

[59] Grundrisse, S. 75

[60] MEW 23, S. 94

[61] Es ist beispielsweise ein bedeutender Unterschied, ob gekocht und gegessen wird, um die biologischen Funktionen des Körpers zu erhalten, oder um sich natürlich und gesellschaftlich entwickelte Gegenständlichkeit anzueignen. Läßt sich das eine weitghend auf die Nährwert reduzieren, setzt das andere Qualität, und damit die Aneignung vielfältiger Gegenständlichkeit - auch mit entsprechender Zeit für den Genuß - voraus. Ebenso verhält es sich im Bereich von Sexualität und Eros. Es besteht eine erhebliche Differenz, ob hier die biologische Funktion im Vordergrund steht, die jede Körperlichkeit diffamiert, wenn sie nicht der Zeugung dient, oder ob gerade diese Körperlichkeit zum Zweck des gesellschaftlichen Verhältnisses wird.

[62] Grundrisse, S. 426; MEW 13, S. 23; MEW 40, S. 544; MEW 23, S. 50; Meszaros, S. 234; Heller, S. 40; Kusnezow, S. 50

[63] Darin ist die notwendige Produktion ebenso eingeschlossen wie z. B. schreiben, lesen oder lieben usw.

[64] MEW 40, S. 567

[65] Seidel/Ulmann, S. 80, 81, 83-84, 102-105

[66] Grundrisse, S. 312; MEW 40, S. 540

[67] Grundrisse, S. 313; Heller, S. 57, 61; Meszaros, S. 207, 223-224

[68] MEW 13, S. 15; Grundrisse, S. 507, 754

[69] Grundrisse, S. 12-14; MEW 40, S. 539-540, 541

[70] Heller, S. 44; Schaff, S. 53

[71] Lefebvre, S. 107

[72] MEW 40, S. 476; gegensätzliche Auffassungen bei Schuller, S. 214; Schaff, S. 96

[73] Seidel/Ulmann, S. 86, 104

[74] MEW 40, S. 539

[75] MEW 25, S. 828; MEW 1, S. 370; Meszaros, S. 208

[76] MEW 4, S. 482

[77] Grundrisse, S. 596

[78] MEW 40, S. 537; Meszaros, S. 209

[79] MEW 40, S. 538, 540; Grundrisse, S. 358; Heller, S. 44; Eschke, S. 56; Schaff, S. 8, 23, 30, 53

[80] MEW 23, S. 93; MEW 40, S. 535; Grundrisse, S. 506 (Anmerkung)

[81] Gemeint sind damit entfremdete Arbeit, Selbstentfremdung und Entfremdung des Individuums von Gesellschaft und Natur; vgl. MEW 40, S. 514-519

[82] Horkheimer, Autorität, S. 130-131

[83] Gegensätzliche Meinung bei Treptow, S. 7

[84] Entfremdung kann sich aber auch in Bereichen wie Kunst, Wissenschaft oder Religion offenbaren; vgl. MEW 40, S. 537. Die Marxsche Entfremdungstheorie, die ihren Ursprung in der Kritik der Religion hat, kann allein deshalb nicht auf das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital reduziert werden; vgl., MEW 1, S. 379, 385; MEW 40, S. 512, 514, 518. Die so tätigen Individuen sind es eben auch nur in der Beschränkung, wobei die jeweiligen Arbeitsweisen bzw. Produktivkräfte über unterschiedliche Charaktere verfügen. Können z. B. Kunst und Wissenschaft Entfremdung sowohl im affirmativen als auch im negierenden Sinn thematisieren, ist Religion ausschließlich deren Produkte.

[85] MEW 25, S. 799-800

[86] Diese Produktivkräfte beinhalten nicht nur das die Gesellschaft dominierende Produktionsverhältnis, etwa Lohnarbeit und Kapital, sondern jede Form der Arbeit. D. h. im gesellschaftlichen Potential sind sozial entwickelte individuelle Fähigkeiten vergegenständlicht, die sich beispielsweise im medizinischen Wissen oder in der literarischen Produktion zeigen. Vgl. auch Horkheimer, Autorität, S. 171

[87] Diese gesellschaftlich bestimmten individuellen Reduktionen können auf unterschiedliche Weise erfolgen (z. B. mittels Schulgeld oder frühzeitige Gewöhnung an reduzierte Tätigkeiten durch Lohnarbeit von Kindern). Horkheimer, Dialektik, S. 58, 59

[88] So z. B. durch eine weitgehende Anpassung des Individuums an die Bedingungen des Arbeitsmarktes und ein affirmatives Verhältnis zur bürgerlichen Ökonomie (Trennung von Produkt und Produzierenden, Konkurrenz usw.). Andererseits offenbart auch entgegengesetztes Verhalten, nämlich die Flucht vor den realen Gegebenheiten der bürgerlichen Gesellschaft, ein formal nicht weniger entfremdetes Verhältnis zur Gesellschaft und zur Natur. Die Differenzen sind inhaltlicher Art und verweisen, sofern die individuelle Lebensperspektive im „Zurück zur Natur“ besteht, auf eine Idealisierung vergangener gesellschaftlicher Verhältnisse durch die einzelnen. D. h., weder eine ausschließlich affirmative noch eine ausschließlich negierende Position der Individuen zur bürgerlichen Gesellschaft trägt aktiv zur Veränderung sozialer Strukturen im Sinne der Entfremdungstheorie bei.

[89] MEW 40, S. 519

[90] Horkheimer, Autorität, S. 148 sowie ebd., S. 142, 144, 145

[91] Lüdtke, Alltagswirklichkeit, S. 340, verweist auf die Erinnerung an „bessere Zeiten“ als Infragestellung der Gegenwart durch Teile des Proletariats.

[92] Grundrisse, S. 81

[93] Vgl. dazu Marx´ Kritik an Proudhon, Weitling etc., MEW 40, S. 520-521, 534-536; Grundrisse, S. 54-55, 58, 216, 916; MEW 16, S. 131-132

[94] MEW 40, S. 553

[95] Man darf bei diesem Problem nicht vergessen, daß es sich hier um Potentiale handelt. Wenn das Proletariat bei Marx einerseits als revolutionäres Subjekt auftritt, sieht er andererseits durchaus die Gefahr der Gewöhnung an bestimmte Existenzbedingungen seitens der Lohnarbeiterschaft; vgl. MEW 23, S. 765; Grundrisse, S. 366. Ferner gilt es zu berücksichtigen, daß der Begriff des Proletariats nicht identisch ist mit dem Klischee verarmter, leidender und zum Objekt des Kapitals degradierter Fabrikarbeiter, sondern allgemein jene bezeichnen kann, die ihre Arbeitskraft zwecks Existenzsicherung verkaufen müssen. Dabei kann die subjektive Einschätzung bestimmter Milieus von der objektiven Klassenzugehörigkeit abweichen.

[96] MEW 40, S. 521

[97] MEW 40, S. 520

[98] Bei der Entstehung des bürgerlichen Frauenbildes ist dies noch nachzuweisen.

[99] Dabei kann es sich um einfache Arbeitskraft, juristisches Fachwissen und dergleichen mehr handeln; vgl. auch MEW 4, S. 465

[100] Grundrisse, S. 159; unter natürlicher Existenz ist hier die Möglichkeit der gesellschaftlich bestimmten Entwicklung reicher Individualität zu verstehen; Lüdtke, Alltagswirklichkeit, S. 319, bemerkt dazu: „Die Bestimmung über die Produkte wie die Verfügung über die eigene Arbeitskraft unterliegen den Zwängen von Märkten...Zumindest grundsätzlich haben die unmittelbaren Produzenten keine Chance für autonome Verfügung über sich selbst.“

[101] MEW 13, S. 44; Grundrisse, S. 763

[102] Grundrisse, S. 544

[103] Grundrisse, S. 545 sowie ebd., S. 387; diese Unterjochung der Individualität vollzieht sich selbstverständlich auch schon vor dem Verkauf der Arbeitskraft (z. B. in der Schule, durch Erziehung usw.)

[104] Grundrisse, S. 68

[105] Zum Tausch- und Gebrauchswert vgl. MEW 13, S. 15-17

[106] Ist z. B. eine Frau im deutschen Kaiserreich privilegiert genug, um sich mit Medizin beschäftigen zu können, hat dieses Interesse zunächst Gebrauchswert bzw. individuelle Qualität. Werden Frauen zum Medizinstudium zugelassen, entsteht für sie die Möglichkeit, daß medizinisches Wissen zum Tauschwert wird. Das muß die individuelle Qualität keineswegs mindern. Aber sobald bestimmte Fähigkeiten in einer Konkurrenzsituation zum Verkauf angeboten werden, um damit die Existenz zu sichern, ist die Gefahr gegeben, daß die Qualität der Tätigkeit sekundär wird.

[107] Vergleicht man beispielsweise unterschiedliche Arbeiten, etwa Lohn- und Hausarbeit, ist eine Tätigkeit nicht entfremdeter als die andere, denn die aus der Arbeit hervorgehenden Verhältnisse der Individuen zu Gesellschaft und Natur sind immer qualitativer Art. Lohnarbeit mag monotoner erscheinen als Hausarbeit. Das bedeutet aber nicht, lohnabhängig Beschäftigte könnten „entfremdeter“ reagieren als die auf Haushalt und Erziehung reduzierten Kleinbürgerinnen. Vielmehr können die aus dem Verhältnis zur Arbeit hervorgehenden Reaktionen ebenso vielfältig sein, wie die so tätigen Personen.

[108] MEW 40, S. 514

[109] Hierbei muß allerdings die Qualität der verfügbaren gesellschaftlichen und natürlichen Gegenständlichkeit berücksichtigt werden. Nimmt man beispielsweise den reproduktiven Bereich, etwa Ernährung, ist zu beachten, welche Vielfalt gegeben ist; d. h. , wie dieser Bereich von den Individuen gestaltet werden kann, wobei nicht vergessen werden darf, daß das allgemeine Äquivalent, auf das sie in Form von Lohn, Gehalt usw. zurückgreifen können, Einfluß auf Quantität und Qualität dessen hat. Vgl. auch, MEW 13, S. 624; MEW 40, S. 548

[110] Zur Mehrarbeit vgl. MEW 23, S. 534-535, wo Marx darauf hinweist, daß diese in den unterschiedlichsten Produktionsverhältnissen gegeben sein kann.

[111] Auf die Bedeutung dessen wird noch eingegangen.

[112] Hier kann es sich wiederum um unterschiedlichste Potentiale handeln; sei es theoretisches oder eher praxisbezogenes Fachwissen

[113] MEW 13, S. 17; Seidel/Ulmann, S. 97; Lefebvre, S. 130; Meszaros, S. 180

[114] Grundrisse, S. 111

[115] MEW 13, S. 44; Grundrisse, S. 763

[116] Grundrisse, S. 635 sowie ebd., S. 80; MEW 40, S. 538 (Anmerkung)

[117] Grundrisse, S. 440

[118] Grundrisse, S. 945 sowie ebd., S. 707; MEW 23, S. 183; MEW 16, S. 146, 147

[119] Eine detaillierte Berücksichtigung dieser historischen Entwicklungen ist hier nicht möglich.

[120] Grundrisse, S. 213 sowie ebd., S. 270, 944; MEW 23, S. 352; Schaff, S. 85

[121] Grundrisse, S. 368-369; MEW 16, S. 144; MEW 23, S. 609; in diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß Marx in den Grundrissen allen Ernstes vom Kapital als „Arbeitgeber“ spricht - vgl. ebd., S. 187, 199, 235 -, und somit das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital verkehrt, indem er die Verkäufer der Arbeitskraft nicht mehr als gebend und ihre Käufer nicht mehr als nehmend wahrnimmt. Allerdings korrigiert sich Marx, Grundrisse, S. 255 (Anmerkung), und schreibt später: Es ist au fond falsch zu sagen, daß die lebendige Arbeit das Kapital konsumiert, das Kapital (die vergegenständlichte Arbeit) konsumiert die lebendige im Produktionsprozeß. Vgl. weiter MEW 23, S. 34

[122] MEW 23, S. 604 sowie ebd., S. 596; MEW 16, S. 133-134; Grundrisse, S. 361-362, 365-366

[123] MEW 25, S. 823

[124] Grundrisse, S. 356

[125] Vgl. dazu auch MEW 16, S. 134, wo Marx darauf hinweist, daß der gesamte Arbeitstag als bezahlt erscheint.

[126] MEW 23, S. 556 sowie ebd., S. 395; Grundrisse, S. 357, 621

[127] In „Lohn, Preis, Profit“ schreibt Marx: Je erfolgreicher das Kapital in der Verlängerung des Arbeitstages ist, desto größer ist die Menge fremder Arbeit, die es sich aneignen wird. Vgl. MEW 16, S. 143. Dazu ist zu bemerken, daß diese Verlängerung einerseits durch eine Erhöhung der Gesamtarbeitszeit bewirkt werden kann (Produktion des absoluten Mehrwerts); andererseits durch Veränderungen im Verhältnis von notwendiger und Mehrarbeit zugunsten letztere bei gleichbleibender Gesamtarbeitszeit (Produktion des relativen Mehrwerts); vgl. MEW 23, S. 334, 532, 533 sowie MEW 40, S. 487, wo Marx noch die Auffassung vertritt: Je größer der menschliche Anteil an einer Ware, um so größer der Gewinn des toten Kapitals.

[128] Grundrisse, S. 593

[129] Grundrisse, S. 589

[130] MEW 4, S. 468-469; MEW 40, S. 474; im dritten Band des „Kapital“ bezeichnet Marx die Lohnarbeitenden auch als Arbeitsvieh und Lohnsklaven, vgl. MEW 25, S. 97, 609

[131] MEW 40, S. 514

[132] Grundrisse, S. 230, 374; MEW 23, S. 328, 538; MEW 25, S. 827

[133] MEW 23, S. 280

[134] MEW 25, S. 96 sowie ebd., S. 93, 97, 99; MEW 23, S. 281, 285, 449 und ebd., S. 287, wo Marx schreibt: Was heute, z. B. im Staate Massachusetts...als Staatsschranke der Arbeit von Kindern unter 12 Jahren proklamiert ist, war in England noch Mitte des 17. Jahrhunderts der normale Arbeitstag vollblütiger Handwerker, robuster Ackerknechte und riesenhafter Grobschmiede.“

[135] Der Zeitaufwand ist einer der wichtigsten Faktoren, der Lohnarbeit von anderen Formen entfremdeter Arbeit vergangener Perioden unterscheidet. So weist Ditt, S. 65, darauf hin, daß „... es im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu einer bislang ungekannten Ausdehnung des Arbeitsjahres kommt.

[136] MEW 16, S. 144

[137] Zu diesem Zeitpunkt unterscheidet Marx noch nicht explizit zwischen gesellschaftlicher und betrieblicher Arbeitsteilung.

[138] MEW 40, S. 476

[139] MEW 23, S. 384 sowie ebd., S. 536-537, wo Marx darauf hinweist, daß die gesellschaftliche Teilung der Arbeit eben auch dazu führt, daß Fähigkeiten, Bedürfnisse usw. vielfältiger, d. h. reicher werden. Meszaros, S. 181

[140] Ob dafür Zeit-, Geldmangel oder „Tugenden“ wie Fleiß und Sparsamkeit maßgeblich sind, ist zunächst von sekundärer Bedeutung. Eine ausführliche Behandlung dieses Problems erfolgt noch.

[141] Vgl. den Abschnitt 1.3. Nichtentfremdete Arbeit.

[142] MEW 23, S. 454; MEW 40, S. 476

[143] MEW 23, S. 445-446 sowie ebd., S. 381, 382, 383; MEW 16, S. 144; Grundrisse, S. 375

[144] Grundrisse, S. 303

[145] Grundrisse, S. 589

[146] Die Möglichkeiten der Emanzipation werden später eingehend untersucht.

[147] Vgl. MEW 13, S. 23, wo Marx bemerkt, wenn Brot „... fertig vom Himmel fiele, würde es kein Atom seines Gebrauchswerts verlieren.“ Es könnte aber nicht mehr Träger des Tauschwerts sein.

[148] MEW 16, S. 151

[149] MEW 23, S. 641

[150] Grundrisse, S. 215 sowie ebd., S. 214, 365, 366; MEW 40, S. 519; MEW 23, S. 619; MEW 25, S. 95-96, 274

[151] MEW 23, S. 674-675

[152] MEW 23, S. 658 sowie ebd. S. 512

[153] Diese Bildungsmöglichkeit sind selbstverständlich maßgeblich von der jeweiligen Klassenzugehörigkeit und dem sozialen Milieu abhängig. Später ist auf diesen Punkt zurückzukommen.

[154] Das trifft beispielsweise auf Teile der Landwirtschaft zu, wo die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung - abhängig von der Größe des Betriebs - , durchaus aufgehoben werden kann, wenn dies ökonomisch notwendig wird. Dabei muß allerdings hinzugefügt werden, daß diese Form der Arbeitsteilung bzw. die Grenzen „männlicher“ und „weiblicher“ Tätigkeiten von vornherein dehnbarer sind, als etwa im Kleinbürgertum; vgl. Schildt, S. 58, 61; ähnlich könnte es sich bei Heimarbeit leistenden Individuen verhalten; vgl. Schildt, S. 78; Zachmann, S. 75

[155] Vgl. Grundrisse, S. 25-26 bzw. S. 4-5 dieser Arbeit

[156] Um 1800 erscheinen z. B. medizinische und pädagogische Bücher, die kleinbürgerliche Männer- und Frauenbilder propagieren. Ferner gibt es Kalender, Wochenschriften usw., die der Popularisierung der Geschlechtscharakterideologie dienen. Vgl. dazu Rosenbaum, Formen, S. 259, die darauf hinweist, daß auch in den stark am englischen Vorbild orientierten Moralischen Wochenschriften...das höfisch-adelige Lebensideal, das schon auf Teile des Bürgertums abgefärbt (hat), explizit verworfen und ein neues, bürgerliches dagegen gesetzt wird, ebd., S. 261-262; Schlumbohm, S. 45; Ottmüller, Mutterpflichten, S. 98; vgl. ferner zur Kalenderliteratur die ausführlichen Arbeiten Döllings und Bartas a. a. O.; zur Bedeutung der klassischen Literatur in diesem Prozeß vgl. Duden, Eigentum, S. 137; weiter Hausen, Polarisierung, S. 367; Bock/Duden, Arbeit, S. 134; Frevert, Frauen-Geschichte, S. 18; Breiter, Ausbruch, S. 67; zur Entwicklung der Geschlechtscharakterideologie vgl. Bergmann, Empfängnis, S. 141, die feststellt: „Daß der ‘Geschlechtscharakter’ im wissenschaftlichen Begründungszusammenhang (Medizin, Anthropologie, Psychiatrie) eine biologistische Akzentuierung (erhält), ist ein wesentliches Merkmal dieser Konzeption: Unter den Vorzeichen von Wertneutralität und Objektivität...(werden) Frauen wegen ihrer Körperlichkeit per se als instinktbetonte, bewußtseinslose Wesen, die außerhalb von sozialer Bedingtheit stehen, mit Männern als sozial handelnden Subjekten kontrastiert.“

[157] Die im folgenden zu beschreibenden sozialen Prozesse sind derart komplex, daß sie im Rahmen eines Exkurses nicht immer gleichermaßen ausführlich berücksichtigt werden können. Bestimmte gesellschaftliche Erscheinungen, etwa die vielfältigen Mittel zur Popularisierung des Geschlechtscharakters oder die soziale Struktur der ständischen Gesellschaft, finden nur im unerläßlichen Maß Beachtung.

[158] Wenn das Adjektiv unangemessen erscheint, weil sich die Biologie zur betreffenden Zeit als Wissenschaft noch nicht ausgebildet hat, wird es hier dennoch verwendet, weil genau derartige „Argumentationen“ der Geschlechtscharakterideologie, und später Medizin und Biologie, immanent sind. Vgl. dazu auch das Kapitel über Emanzipation.

[159] Rosenbaum, Formen, S. 293; Schlumbohm, S. 18; Metzmacher, S. 14, 81, 82, 84; Gruber, Polytechnik, S. 261; Braun, Probleme, S. 12, 15; Dörr, S. 36; Ussel, S. 44

[160] Weber-Kellermann, Familie, S. 101, bemerkt dazu: Nach dem weltlichen Naturrecht (soll) der Mensch, und zwar Mann und Frau, nicht mehr entsprechend seinem Stand eingestuft werden, sondern ganz individuell als geschäfts- und vertragsfähige Einzelpersönlichkeit. (Unterstreichung von mir, A. B.) Das scheint eine egalitäre Auffassung des Geschlechterverhältnisses zu beinhalten, wird jedoch de facto dadurch relativiert, daß dieses Naturrecht die Möglichkeit eröffnet, gesellschaftliche Entwicklungen und Beziehungen dahingehend zu interpretieren, daß soziale Strukturen als natürliche Verhältnisse erscheinen können; Frevert, Frauen-Geschichte, S. 22

[161] Horkheimer, Dialektik, S. 56

[162] Dölling, S. 140 sowie ebd., S. 141; zum angeführten Zitat muß allerdings bemerkt werden, daß nicht nur der schwammige Begriff der „Schicht“, sondern auch die Kreation einer „kapitalistischen Schicht“ recht bedenklich ist. Bürgerlich meint immer ein Ensemble sozialer Prozesse, die mit ökonomischen Existenzweisen, ideologischen Haltungen, politischen Zielen usw. zu tun haben. Deshalb ist es m. E. unzulässig mit einer reduktionistischen Vokabel wie „kapitalistisch“ zu operieren, sofern es um die gesellschaftliche Existenz verschiedener Milieus geht.

[163] Duden, Eigentum, S. 132; es handelt sich hierbei um „Werte“ wie z. B. Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit.

[164] Rosenbaum, Formen, S. 256-257, im Gegensatz zu der in dieser Arbeit gebräuchlichen Definition von Kleinbürgertum, zählt Rosenbaum das Bildungsbürgertum nicht zum Kleinbürgertum, weil ökonomische Aspekte bei ihr in dieser Hinsicht keine Rolle spielen; zur Abgrenzung von den Ständen vgl. ebd., S. 258, 260; 283-284; Frevert, Frauen-Geschichte, S. 33

[165] Um 1800 ist das akademisch gebildete Kleinbürgertum eine gesellschaftliche Minderheit. Relative Wirkung erzielt es erst mit der vom akademisch gebildeten Kleinbürgertum zunächst für das eigene Milieu produzierten Philosophie, Medizin, Pädagogik usw.; Rosenbaum, Formen, S. 258

[166] Lundgreen, S. 79 sowie ebd., S. 80-81

[167] Hausen, Polarisierung, S. 384; Frevert, Frauen-Geschichte, S. 35, weist auf folgendes hin: Die Ausdehnung und Konsolidierung der absolutistischen Administration (hat) im Zuge des Staatsbildungsprozesses eine starke Nachfrage nach qualifizierten Beamten hervorgerufen, die nicht vom Adel befriedigt werden (kann).“ Vgl. auch Lundgreen, S. 81-82 sowie ebd., S. 87, wo bemerkt wird, daß der preußische Staat daran interessiert ist, potentielle Studenten aus dem Handwerker- und Bauernstand den Zugang zur Universität zu verwehren. Dörr, S. 34

[168] Lundgreen, S. 86-87

[169] Lundgreen, S. 88; Rosenbaum, Formen, S. 257, 272; Braun, Probleme, S. 16

[170] Lundgreen, S. 87

[171] Horkheimer, Autorität, S. 159-160, bemerkt dazu folgendes: Die möglichst vollständige Anpassung des Subjekts an die verdinglichte Autorität der Ökonomie ist zugleich die Gestalt der Vernunft in der bürgerlichen Wirklichkeit. Eine andere Meinung vertreten Honegger/Heintz, S. 28, die behaupten: „Indem die Frau in der Intimität des Familienkreises für eine soziale Zügelung ihrer Kinder und ihres Ehemannes (sorgt), (kommt) ihr eine zentrale gesellschaftliche Disziplinierungs- und Integrationsfunktion zu.“ (Unterstreichung von mir, A. B.) Zu dieser Auffassung muß angefügt werden, daß die Zügelung des Kleinbürgers durch die Ehefrau die Sozialisationsleistung seiner Mutter in Frage stellt.

[172] Hausen, Polarisierung, S. 384; Dölling, S. 110

[173] Dölling, S. 117; Schulze, Heim, S. 68

[174] Tatsächlich handelt es sich bei der Kleinfamilie um eine Institution, die autoritär strukturiert ist, und diese autoritären bzw. patriarchalischen Strukturen - zumindest im betreffenden Zeitraum - reproduziert. Ob es nun um die Anforderungen im Erwerbsleben oder um das Verhältnis von Frau und Mann oder Eltern und Kinder geht, es wird nicht mehr unmittelbar der Gehorsam, sondern im Gegenteil der Gebrauch der Vernunft gefordert. Wer nur nüchtern die Welt betrachtet, wird einsehen, daß der Einzelne sich fügen muß; vgl. Horkheimer, Autorität, S. 177 sowie ebd., S. 185-186; Frevert, Familie, S. 97; Schlumbohm, S. 307, bemerkt dazu folgendes: „Indem die Frau von der Erwerbsarbeit befreit (bzw. ausgeschlossen) (ist), (werden) die Kinder zu einem Hauptinhalt ihres Lebens...Dadurch und durch die Tatsache, daß auch sie der Autorität des Mannes (untersteht), (ist) sie den Kindern näher als der Vater...Freilich (lehrt) sie die Kinder gerade durch ihr Beispiel, sich der Autorität zu fügen.“

Um 1800 lebt eine gesellschaftliche Minderheit in kleinfamiliären Strukturen. Die Mehrheit, z. B. Bauern und Handwerker, existieren unter den Bedingungen der Ökonomie des „Ganzen Hauses“ bzw. der „Produktionsfamilie“. D. h., daß Wohnung und Arbeit eine Einheit bilden. Die Personen, die hier arbeiten und leben, sind nur zum Teil verwandtschaftlich verbunden. Besonders wichtig für die Betrachtung dieser Stände ist die Tatsache, daß aufgrund der räumlichen Einheit trotz geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung die jeweiligen Tätigkeiten nicht diesen Grad der Abstraktion erhalten können, wie dies im akademisch gebildeten Kleinbürgertum geschieht. Ferner verhindert die Integration in ständische Strukturen mangels sachlicher Abhängigkeiten innerhalb des „Ganzen Hauses“ eine besondere Bedeutung der Kinder, wodurch hier die Mutterrolle der Frauen nur eine unter anderen Funktionen bleibt. Vgl. dazu Dölling 126; der Begriff der Familie erhält seinen heutigen Sinn erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; Rosenbaum, Formen, S. 15, 19, 20, 30; 275; Zinn, Entstehung; S. 13,14, 15; Weber-Kellermann, Familie, S. 100; Meyer, Arbeit, S. 190; Duden, Eigentum, S. 130-131; Schulze, Heim, S. 63-64; Dörr, S. 21; Bennent, S. 20; Frevert, Frauen-Geschichte, S. 17, 25-28; Honegger/Heintz, S. 27; Metzmacher, S. 77; Schlumbohm, S. 17, 18; Pfister, S. 17, 35

[175] Duden, Eigentum, S. 133

[176] Hausen, Polarisierung, S. 374-375, bemerkt dazu: „Im Unterschied zu früher aber wird allein die Frau und nicht mehr der Mann durch die Familie definiert; und ebenfalls anders als früher stecken jetzt die Prinzipien bzw. Ergebnisse der Natur, Geschichte und Sittlichkeit zusammen den Rahmen ab, innerhalb dessen hohe Weiblichkeit sich auszubilden und bei Strafe der Unnatur den Übergang beider Charaktere ineinander zu vermeiden hat.“ Vgl. weiter Frevert, Frauen-Geschichte, S. 21 sowie ebd., S. 36, stellt dazu fest: All jene Kategorien, die das bürgerliche Selbst- und Sendungsbewußtsein (begründen), wie Bildung und individuelle Leistung, (gelten) für bürgerliche Frauen nicht. Dörr, S. 32

[177] Hausen, Polarisierung, S. 383-384; Dölling, S. 132; Sieder, Ehe, S. 154; Metzmacher, S. 82; Schütze, Mutterliebe, S. 119

[178] Hausen, Polarisierung, S. 378; Frevert, Frauen-Geschichte, S. 22; Dörr, S. 37; Honegger/Heintz, S. 30; Dölling, S. 121 sowie ebd., S. 129, wo hinzugefügt wird „Was eine ergänzende Funktion hat, ist durch das, was es ergänzt, bestimmt, es steht nicht für sich. Die Fähigkeit der Frau, einen Binnenraum zu schaffen, der einen Gegenpol zur Kälte der Geschäftswelt, zu den rationalen Anforderungen des Berufs darstellt, bekommt durch die vom Manne in der großen Welt geforderten Leistungen ihren Wert.“

[179] Hausen, Polarisierung, S. 383 sowie ebd., S. 373, wo hinzugefügt wird: Die in wenigen Jahren entworfene ‘polaristische Geschlechterphilosophie’ leistet schließlich die theoretische Fundierung durch die Aufspaltung und zugleich Harmonisierung der von der Aufklärung als Ideal entworfenen vernünftigen Persönlichkeit in die unterschiedlich qualifizierte männliche und weibliche Persönlichkeit.

[180] Duden, Eigentum, S. 133; Ussel, S. 89; Dölling, S. 112; Frevert, Frauen-Geschichte, S. 67; Rosenbaum, Formen, S. 260, 277, 289, 344, 345 sowie ebd., S. 278, wo festgestellt wird: „Erst jetzt, wo sie (die Kleinbürgerin, A. B.) von der Tätigkeit des Mannes gänzlich, sowohl räumlich als auch inhaltlich, abgeschnitten (ist), (kann) die Pflege des Haushalts, aber auch der Wohnung zu einem zentralen Wert werden.“ Vgl. auch Sieder, Ehe, S. 153-154; Bock/Duden, Arbeit, S. 124; Hausen, Ulme, S. 104; Schütze, Mutterliebe, S. 118

[181] Schulze, Heim, S. 68; Duden, Eigentum, S. 132, 135; Barta, S. 91

[182] Schulze, Heim, S. 63

[183] Dölling, S. 125; Bennent, S. 19, schreibt dazu: Eine neue Ideologie (verkündet), daß der weiblichen Natur ein Trieb zur Häuslichkeit und Mütterlichkeit immanent sei. Vgl. ferner Weber-Kellermann, Familie, S. 102; Bock/Duden, Arbeit, S. 121-122; Breiter, Ausbruch, S. 68; Honegger/Heintz, S. 32; Frevert, Frauen-Geschichte, S. 47

[184] Dölling, S. 127; Frevert, Familie, S. 93

Ende der Leseprobe aus 208 Seiten

Details

Titel
Der Entfremdungsbegriff in der Marxschen Theorie und sein Bezug auf kleinbürgerliche und proletarische Frauenbewegungen um 1900
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
208
Katalognummer
V53053
ISBN (eBook)
9783638486040
ISBN (Buch)
9783638751735
Dateigröße
1361 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entfremdungsbegriff, Marxschen, Theorie, Bezug, Frauenbewegungen
Arbeit zitieren
Dr. Antje Nicolaides (Autor:in), 2000, Der Entfremdungsbegriff in der Marxschen Theorie und sein Bezug auf kleinbürgerliche und proletarische Frauenbewegungen um 1900, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53053

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