Leseprobe
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Zur Entstehung des Briefs an den Vaters
2. Kindheit Franz Kafkas
2.1 (Väterliche) Erziehung
2.2 Die Pawlatsche – Sinnbild eine autoritären Erziehung
2.3 „Die Treiberin in der Jagd“: Zur Rolle der Mutter
3. Der Vater-Sohn-Konflikt
3.1 Die Entwicklung des Konflikts
3.2 Der persönliche Konflikt
3.3 Überindividuelle Bedeutung
3.4 Autorschaft als Vaterschaft
3.5 Ödipus-Komplex
4. Realität und literarische Fiktion
4.1 Der reale Hermann Kafka
4.2 Der reale Franz Kafka
5. Form und Sprache
5.1 Form
5.2 Sprache
5.2.1 Schuld
5.2.2 Angst
5.2.3 Macht
5.2.4 Sprachliche Machtspiele
6. Themen im Brief an den Vater
6.1 Judentum
6.2 Kommunikation und Schreiben
6.3 Berufswahl
6.4 „Zwang zur Bilanz“: Die Heiratsversuche und Ehehindernisse
7. Zum Wahrheitsgehalt des Briefes
7.1 Literarisierungstechniken und Konstruktionsprinzipien
7.1.1 Übertreibung
7.1.2 Gegenseitige Spiegelung und oppositionelle Begrifflichkeit
7.1.3 Perspektivenverzerrung
7.1.4 Die Gegenrede des Vaters
7.2 Subjektive Wahrheit
7.3 Autobiographisches Dokument oder literarische Fiktion?
8. Schlussbetrachtung: Kafkas Gesamtwerk – ein einziger Brief an den Vater ?
Literaturverzeichni
Vorwort
Die Wahl des Schriftstellers Franz Kafka brachte mir im Laufe der Abfassung dieser Magisterarbeit einige erstaunte Reaktionen meiner Mitmenschen ein. Zur Begründung möchte ich mich dem folgenden Zitat von Kafkas Entdecker, engem Freund und Förderer Max Brod anschließen:
„Ich habe es immer wieder erlebt, daß Verehrer Kafkas, die ihn nur aus seinen Büchern kennen, ein ganz falsches Bild von ihm haben. Sie glauben, er müsse auch im Umgang traurig, ja verzweifelt gewirkt haben. Das Gegenteil ist der Fall. Es wurde einem wohl in seiner Nähe.“ (ÜFK 42)
Verehrer Kafkas sind mir weniger begegnet als das Unverständnis bezüglich seiner Person und seinem Werk. Die Darstellung seines „traumhaften innern Lebens“ (T 420) war für den jungen Mann ein unberechenbarer Akt, der nur selten ganz gelang, häufig stockte und meistens sogar abgebrochen wurde. Dies führt meiner Meinung nach zu den bekannten Schwierigkeiten, die viele Menschen mit Franz Kafka und seinem Werk verbinden. Dabei haben sie ihn vielleicht nur noch nicht verstanden.
Mir dagegen ist es insofern „wohl in seiner Nähe“, als der Schriftsteller und Charakter Franz Kafka sowie dessen vielschichtiges Werk mich faszinierten, seitdem ich Interesse an Literatur entwickelte – gerade aus oben genanntem Grund.
Kafkas Gesamtwerk, insbesondere der Brief an den Vater bieten reichlich Anlass für psychoanalytische Deutungen. Diese Tatsache reizte mich aufgrund meiner Nebenfächer Psychologie und Soziologie um ein weiteres. Im Laufe meines Studiums war ich stets bemüht, meine Studienfächer thematisch zu kombinieren, wovon auch die vorliegende Arbeit hoffentlich profitieren durfte.
In den Monaten, die mir für diese Arbeit zur Verfügung standen, war es nicht immer leicht, aus der ins nahezu Unüberblickbare angewachsenen „Kafka-Literatur“ das für mich Nützliche herauszuziehen. Dennoch gewann ich mit der Zeit einen angemessenen Überblick, gerade da dieser Brief als solcher nicht allzu häufig explizit thematisiert ist.
Genauso schwierig war es ab und an, die Fülle an Gedankengängen auf den zur Verfügung stehenden Umfang zu reduzieren, was natürlich Teil der Aufgabenstellung einer solchen Arbeit ist.
Allen, die mir Verbesserungsvorschläge und Hinweise unterbreiteten, die die ständigen Korrekturen während der Abfassung übernahmen, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Besonderen Dank möchte ich weiterhin all jenen aussprechen, die mir auf so mancher Durststrecke Mut zusprachen, mich unterstützten sowie mir im Gespräch zu neuen Erkenntnissen verhalfen, die mir im Alleingang nicht bewusst geworden wären.
Mannheim, im August 2005
Catherine Kimmle
Einleitung
Die dreibändige Kafka-Biografie von Reiner Stach, von der zum heutigen Zeitpunkt erst der zweite Band Die Jahre der Entscheidungen vorliegt, beginnt mit den Worten:
„Das Leben des jüdischen Prager Versicherungsbeamten und Schriftstellers Dr. Franz Kafka dauerte 40 Jahre und 11 Monate. Davon entfielen auf die Schul- und Universitätsausbildung 16 Jahre und 6 ½ Monate, auf die berufliche Tätigkeit 14 Jahre und 8 ½ Monate. Im Alter von 39 Jahren wurde Franz Kafka pensioniert. Er starb an Kehlkopftuberkulose in einem Sanatorium in Wien. […] Franz Kafka blieb unverheiratet. Er war dreimal verlobt: zweimal mit der Berliner Angestellten Felice Bauer, einmal mit der Prager Sekretärin Julie Wohryzek. Mit vermutlich weiteren vier Frauen hatte er Liebesbeziehungen, außerdem sexuelle Kontakte zu Prostituierten. Knapp sechs Monate seines Lebens verbrachte er mit einer Frau in gemeinsamer Wohnung. Er hatte keine Nachkommen.“[1]
Mit diesen wenigen Worten lässt sich das Leben Franz Kafkas beschreiben und zusammenfassen. Als Schriftsteller hinterließ Franz Kafka etwa vierzig vollendete Prosatexte, von denen man bei einiger Großzügigkeit neun als Erzählungen bezeichnen kann. In der heute maßgeblichen Kritischen Ausgabe seiner Werke umfassen die von Kafka selbst als abgeschlossen betrachteten Texte etwa 350 Druckseiten.
Weiterhin hat er etwa 3400 Druckseiten an Tagebuchaufzeichnungen und literarischen Fragmenten hinterlassen, darunter drei unvollendete Romane. In seinem Testament verlangte er von seinem Freund Max Brod die Vernichtung all dieser Manuskripte. Eine große Anzahl derer zerstörte er selbst. Brod jedoch befolgte nicht seinen Wunsch, sondern veröffentlichte dessen Nachlass, soweit er ihm erreichbar war. Auch die etwa 1500 Briefe, die von Kafka erhalten blieben, wurden fast vollständig publiziert.[2]
Der im Original rund hundert Seiten umfassende Brief an den Vater, im Jahre 1919 verfasst, erreichte nie den Adressaten Hermann Kafka. Erstmals wurde er 1952 in der Neuen Rundschau veröffentlicht, dann ein Jahr später von Max Brod in dem Band Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß.[3]
Als er sich dazu entschloss, das Dokument als Ganzes im Rahmen der Gesammelten Werke Kafkas der Öffentlichkeit preiszugeben, hatte er zunächst keine klare Vorstellung, welcher Gattung er das Schriftstück zuteilen sollte. Schließlich entschloss er sich zur Einreihung in das literarische Œuvre des Schriftstellers, wenn er auch gleichzeitig unmissverständlich auf der ursprünglich intendierten Funktion eines Privatbriefes bestand.[4]
Wie man sieht, befand sich bereits Kafkas enger Freund in dem Zwiespalt, der auch als Grundmuster die Interpretationsversuche des Dokuments durchzieht und letztlich nie zufrieden stellend geklärt werden konnte: Ist der Brief an den Vater als tatsächliche Botschaft an den Vater Hermann Kafka zu verstehen, oder ist er nichts als Literatur und Fiktion?
Auffällig ist, gemessen an der Dichte der Arbeiten zu Kafkas literarischem Werk, der geringe Umfang an Untersuchungen, die sich dem Brief als solchem widmen. Der Grund hierfür scheint ein Gefühl des Unbehagens angesichts des Textes zu sein, das zu einer Abwehrhaltung führt, die sich entweder in Schweigen oder in einer wie immer gearteten Relativierung seiner Aussagen niederschlägt. Die einzelnen Interpretationsmodelle der verschiedenen Schulen der Kafka-Deutung, welche sich in „inselhafter Selbstgenügsamkeit“[5] üben, sind außerdem nicht das Ergebnis fortschreitender Diskussion und einem darauf aufbauenden gesicherten Forschungsstand, sodass Einseitigkeit und Subjektivität nicht selten die jeweilige Position bestimmen.[6]
Eine zufrieden stellende Klärung des Problems wäre selbstverständlich nur unter vollständiger Kenntnis des menschlichen Charakters und des Lebenslaufs Franz Kafkas möglich. Unnötig zu sagen, dass dies nicht hier nicht ganz gewährleistet werden kann. In der vorliegenden Arbeit habe ich es mir deshalb zur Aufgabe gemacht, basierend auf einer analytischen Auseinandersetzung mit dem Text, stets weitere Lebenszeugnisse, respektive Tagebücher, Biographien und Briefe heranzuziehen – eine für meine Herangehensweise sinnvolle Methode, um Klarheit darüber zu erlangen, ob Franz Kafkas Vater-Komplex, wie er ihn im Brief an den Vater beschreibt, sowie die darin dargestellten Tatsachen der Realität entsprechen oder nicht.
Textvorlage für diese Arbeit bildet die Reclam-Ausgabe des Briefs an den Vater (Reclam Universal-Bibliothek Nr. 9674), die auf dem Band Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß (1953) basiert. Diesbezügliche Zitatnachweise erfolgen mit Seitenangabe und -zahl stets direkt im Anschluss an das Zitierte.
1. Zur Entstehung des Briefs an den Vater
Der Brief an den Vater entstand im November 1919 in Schelesen, einem Dorf im Norden von Prag. Kafka hielt sich dort in einer Pension auf, die er bereits einige Monate zuvor zur Erholung von seiner Lungentuberkulose, welche im August 1917 ihren Ausbruch fand, aufgesucht hatte. Bei seinem ersten Besuch war unter den anderen Lungenkranken, die sich dort in der Pension Stüdl zur Erholung aufhielten eine etwa dreißigjährige Pragerin gewesen, die ihn auf ungewöhnliche Weise mächtig anzog. Mit diesem „Mädchen“, wie er sie in seinen Briefen zumeist nennt, das den Namen Julie Wohryzek trug, verlobte er sich im Sommer 1919. Die für Anfang November 1919 anberaumte Hochzeit kam jedoch nicht zustande, aus dem angeblichen Grund, keine Wohnung zu finden. Kafkas Gesundheitszustand verschlechterte sich weiter, sodass er sich kurze Zeit nach dem ursprünglich für die Heirat ins Auge gefassten Termin erneut krankschreiben ließ. Er entschloss sich abermals nach Schelesen zu reisen, wo er schließlich den Brief an den Vater verfasste.
Max Brod schreibt über die Entstehung des Dokuments in seiner Kafka-Biographie:
„Im November 1919, während er mit mir gemeinsam in Schelesen bei Liboch wohnte (ich kann daher die Stimmung jener Tage ziemlich deutlich rekonstruieren), schrieb er einen sehr ausführlichen ‚Brief an den Vater’ […] Trotz seines Umfangs von mehr als hundert Seiten war der Brief, wie ich aus den Briefen mit Franz bezeugen kann, dazu bestimmt, dem Vater wirklich übergeben zu werden (und zwar durch die Mutter), und Franz hatte eine Zeitlang die Meinung, durch diesen Brief eine Klärung der peinlich stockenden, schmerzhaft verharschten Beziehungen zum Vater herbeizuführen […] Die Mutter hat […] den Brief nicht weitergeleitet, sondern, wohl mit einigen begütigenden Worten, Franz zurückgestellt. In der Folgezeit wurde von uns über die ganze Angelegenheit nicht mehr gesprochen.“ (ÜFK 22f.)
Das Schreiben dieses im Original über hundert Seiten umfassenden Briefs muss wohl neben der physischen Kur für den Verfasser gleichermaßen eine psychische Kur dargestellt haben. Immerhin kam Kafka in einem verzweifelten Zustand nach Schelesen.
Zu den Auslösern, die die Abfassung des Briefes bewirkten, ist folgendes zu erklären: Sowohl Literatur, als auch Ehe, zwei seiner großen Lebensprojekte, schienen zu diesem Zeitpunkt endgültig gescheitert. So lag in dem Jahr vor der Entstehung des Briefs seine schriftstellerische Tätigkeit vollkommen brach, da sich Kafka in der Zeit nach seinem Krankheitsausbruch der Eindruck aufdrängte, als Schriftsteller völlig versagt zu haben. Sogar Briefe und Tagebucheintragungen verfasste er nicht mehr.[7]
1919, dem Jahr, in das Schriftstück verfasst wurde, war auch der Band Ein Landarzt erschienen. Das Buch widmete er seinem Vater, womit er die Bedeutung, die diese Publikation für ihn besaß, deutlich machen wollte.[8] Dennoch gab er sich keinerlei Illusion hin, dass der Vater diesen Akt als ebenso bedeutsam ansehen würde, wie er selbst. So spricht er im Brief von „Deiner für uns berühmt gewordenen Begrüßung meiner Bücher: ‚Legs auf den Nachttisch!’“ (41, 31f.). Dort blieb das Exemplar dann auch unaufgeschlagen liegen. Diese Reaktion schien Kafka jedoch vorausgesehen zu haben. Er wertete sie nämlich weder als Indifferenz noch als väterliche Grausamkeit. Hier wäre eine Mischung aus Hilflosigkeit, Resignation und kindlicher Zuneigung denkbar. Und gerade, obwohl er wahrscheinlich diese Wirkung vorausgesehen hatte und den Band dennoch dem Vater widmete, könnte man hinter dieser Geste auch eine Art Provokation vermuten.
Der weitere Grund für Kafkas Niedergeschlagenheit war die geplante und gescheiterte Hochzeit mit Julie Wohryzek. Das Paar fand keine Wohnung, was zum äußeren Anlass genommen wurde, die Hochzeit abzusagen. Der wahre Grund muss für Franz Kafka jedoch ein ganz anderer gewesen sein: die eben gescheiterte Ehe mit Julie ließ ihn nämlich „nach den Ursachen seiner Nichtbewährung in den menschlichen Gemeinschaftsverbindungen fragen“[9].
Kafkas Vater hatte für Julie, die aus der untersten sozialen Schicht des Prager Bürgertums, mithin aus der untersten Stufe in den Klassenvorstellungen der Bourgeoisie, stammte (ihr Vater war Schuster und Gemeindediener einer Synagoge), nur Verachtung übrig. Hinsichtlich der Schande einer für ihn nicht standesgemäßen Verbindung drohte er gar mit Auswanderung. Er unterstellte seinem Sohn in der Absicht jener Heirat niedrigste sexuelle Beweggründe.[10]
Gegen Ende des Briefes paraphrasiert Kafka die Reaktion seines Vaters auf den Heiratsplan:
„Sie hat wahrscheinlich irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen, wie das die Prager Jüdinnen verstehen, und daraufhin hast Du Dich natürlich entschlossen, sie zu heiraten. Und zwar möglichst rasch, in einer Woche, morgen, heute. Ich begreife Dich nicht, Du bist doch ein erwachsener Mensch, bist in der Stadt, und weißt Dir keinen anderen Rat, als gleich eine Beliebige zu heiraten.“ (50, 36 – 51, 4)
Damit traf der Vater, wie so oft, den wunden Punkt des Sohnes: Kafka, dessen Lebensmittelpunkt das Schreiben darstellte, stand den übrigen Angelegenheiten des Lebens tatsächlich mit einer gewissen Indifferenz gegenüber. Somit war auch die Bedeutung der Person der von ihm zur Ehe Erwählten eher gering, was er gestand, als er zugab, dass Julie Wohryzek zwar „außerordentlich gut“, dennoch aber „durch den Zufall“ gewählt gewesen sei (ÜFK 52, 18f.). Hiermit meinte er jedoch nur die Oberfläche seiner Hochzeitspläne, bedeutete ihm die Ehe als Idee nämlich sehr viel. Es war eine Idee, die für ihn zum Wunschtraum, gar zur Manie, ja zum Prüfstand seines gesamten Daseins wurde. (Näheres zum Thema „Ehehindernisse“ siehe auch Kapitel 6.4)
Und so kam die für Anfang November 1919 vorgesehene Hochzeit nicht zustande. Der mittlerweile dritte Versuch, eine Ehe einzugehen, war gescheitert. In dieser niedergeschlagenen Stimmung nun fuhr Kafka mit seinem Freund Max Brod nach Schelesen und verfasste dort den Brief an den Vater. Letzterer berichtet, wie sehr dieses Scheitern den Freund erschüttert hatte. Er erinnert sich an Kafkas Worte bei einem Halt des Zuges: „Daß es so viele Stationen gibt auf der Fahrt zum Tode, daß es gar so langsam geht.“[11] Aus anderen Briefen dieser Zeit lässt sich schließen, dass er sich schon vor Antritt der Reise mit dem Gedanken befasst haben musste, einen solchen Brief zu schreiben. Jedoch sollte dieser den Adressaten wahrlich erreichen. Die beiden folgenden Briefeinträge sprechen für die Absicht Kafkas, den Brief dem Vater zukommen zu lassen: So schrieb dieser in den ersten Novembertagen des Jahres 1919 an seine Schwester Ottla nach Prag, er habe Angst, dass er durch einen geplanten Besuch des blinden Freundes Oskar Baum „den noch kaum angefangenen Brief an den Vater nicht fertig bringen“ (O 74) könne. In dem darauf folgenden, etwa auf den 10. dieses Monats zu datierenden Schreiben: „Liebe Ottla, vor lauter Bedenken wegen Oskars Reise habe ich das allerdings selbstverständliche vergessen, daß Du, abgesehen davon, wie Du Dich wegen Oskar entscheidest, wenn Du Lust hast jedenfalls vorbeikommen sollst, schon um den (vorläufig fast nur in meinem Kopf lebenden) Brief zu beurteilen. Allerdings wird es dazu schon zu spät sein, wenn Du […] erst Samstag kommst; nun ich könnte ja den Brief erst Montag abschicken lassen, es wird nicht viel schaden, wenn er ankommt und ich schon in Prag bin.“ (O 75) Hinzu kommt das autoritative Zeugnis Max Brods: „Trotz seines Umfangs von mehr als hundert Seiten war der Brief, wie ich aus den Gesprächen mit Franz bezeugen kann, dazu bestimmt, dem Vater wirklich übergeben zu werden.“ (ÜFK 22)
Wohl am 21. Juni 1920 schrieb Kafka einen Brief an Milena, der die folgende Passage enthält: „Wenn Du einmal wissen willst, wie es früher mit mir war, schicke ich Dir von Prag den Riesenbrief, den ich vor etwa einem halben Jahr meinem Vater geschrieben, aber noch nicht gegeben habe.“ (M 66)
Dann, am 4. Juli 1920 schrieb er ihr: „Morgen schicke ich Dir den Vater-Brief in die Wohnung, heb ihn bitte gut auf, ich könnte ihn vielleicht doch einmal dem Vater geben wollen. Laß ihn womöglich niemand lesen.“ (M 100).
Aus den Formulierungen beider Briefe kann man heraushören, dass Kafka bis zu diesem Zeitpunkt den Brief noch nicht an seinen Vater übergeben oder wenigstens einen Übergabeversuch gestartet hätte. Womöglich hatte er Bedenken und Skrupel bekommen, was eine innere Zerrissenheit des Schriftstellers vermuten lässt. Hatte der Brief etwa bereits im Vorgang des Schreibens selbst seinen Zweck erfüllt, gemäß einer Art Selbsttherapie und musste deshalb nicht zugestellt werden? Schreiben, um der Katharsis willen - hierfür spricht auch der folgende Tagebucheintrag aus dem Jahre 1921, dessen Ton eher resigniert denn von Hass erfüllt, klingt: „Die Formen des Niedergangs sind unausdenkbar. – Letzthin die Vorstellung, daß ich als kleines Kind vom V[ater] besiegt worden bin und nun aus Ehrgeiz den Kampfplatz nicht verlassen kann alle die Jahre hindurch, trotzdem ich immer wieder besiegt werde.“ (T 550) Oder fehlte Franz Kafka etwa doch einfach der Mut und die Kraft, sich auf die Auseinandersetzungen einzulassen, die wahrscheinlich folgen würden? Mehrere Gründe dürften dazu beigetragen haben, dass der Brief im Besitz des Schriftstellers blieb.
2. Kindheit Franz Kafkas
Franz wuchs unter der Obhut der Köchin und der Tschechin Marie Werner auf. Erstere war streng, letztere freundlich, aber furchtsam gegenüber dem Vater. Ihm pflegte sie bei Auseinandersetzungen stets zu erwidern: „Ich sage ja nichts, ich denke nur.“[12] In den ersten Jahren kam noch ein Kindermädchen und später eine französische Gouvernante hinzu.
Der spätere Schriftsteller war das älteste Kind der Familie Kafka. Dass dies eine schwierige Ausgangssituation für das Kind bedeutete, dürfte nicht verwundern: Auf den Ältesten drückt stets die Last der Erwartungen, die man ihm frühzeitig auferlegt - auf einen Jungen noch einmal anders als auf ein Mädchen. So ist er nicht nur Stammhalter, sondern auch der zukünftige Fortsetzer von Namen und Geschäft. Auch Kafkas Entwicklung kreiste stets um das Ziel, zum Ebenbild des Vaters zu werden:
„Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich, besonders da meine Brüder klein starben, die Schwestern erst lange nachher kamen, ich also den ersten Stoß ganz allein aushalten mußte, dazu war ich viel zu schwach.“ (9, 10-14)
Die letzten Worte dieses Zitates bergen einen ganz wichtigen Punkt für das Verständnis des Schriftstellers, das Fehlen des Rückgrats, das auch, ja gerade nicht durch den Vater gestärkt werden konnte. Zeitlebens musste Franz Kafka hinter den Forderungen des Vaters zurückbleiben, konnte ihnen nicht genügen. Er musste sich schuldig und als Versager fühlen. Sein Leben verkümmerte unter dem Schatten der Missbilligung, sodass er schließlich unter diesem „Stoß“ zusammengebrochen ist. Seine Geschwister hingegen, denen andere Erwartungen entgegengebracht wurden, sind allesamt lebenstüchtige Menschen geworden.[13]
In einem Brief an Milena spricht Kafka von „Ängstlichkeit und totenaugenhafter Ernsthaftigkeit“ (M 64f.), die ihn in seiner Kindheit stets begleiteten, wie auch die früheren Fotos zeigen. Die Gründe für diese Charakteristika lagen in der elterlichen Erziehung, soweit diese als solche bezeichnet werden kann. Erziehungsskrupel hegte man damals im Allgemeinen nicht, in Kafkas Elternhaus schon gar nicht.
2.1 (Väterliche) Erziehung
„Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat.“ (T 14) Dieser Tagebucheintrag wird fortgesetzt, indem Kafka diejenigen Menschen anführt, die für seine Erziehung im weitesten Sinne verantwortlich waren, in vorderster Reihe seine Eltern und hier sein Vater, den Kafka fast ausschließlich nur bei Tisch zu Gesicht bekam. Im Brief an den Vater beschreibt er diesen tiefen Eindruck wie folgt:
„Da ich als Kind hauptsächlich beim Essen mit Dir beisammen war, war Dein Unterricht zum großen Teil Unterricht im richtigen Benehmen bei Tisch. Was auf den Tisch kam, mußte aufgegessen, über die Güte des Essens durfte nicht gesprochen werden – Du aber fandest das Essen oft ungenießbar; nanntest es „das Fressen“; das „Vieh“ (die Köchin) hatte es verdorben. Weil Du entsprechend Deinem kräftigen Hunger und Deiner besonderen Vorliebe alles schnell, heiß und in großen Bissen gegessen hast, mußte sich das Kind beeilen, düstere Stille war bei Tisch, unterbrochen von Ermahnungen: „zuerst iß, dann sprich“ oder „schneller, schneller, schneller“ oder „siehst Du, ich habe schon längst aufgegessen“. Knochen durfte man nicht zerbeißen, Du ja. Essig durfte man nicht schlürfen, Du ja. Die Hauptsache war, daß man das Brot gerade schnitt; daß Du das aber mit einem von Sauce triefenden Messer tatest, war gleichgültig. Man mußte Acht geben, daß keine Speisereste auf den Boden fielen, unter Dir lag schließlich am meisten. Bei Tisch durfte man sich nur mit Essen beschäftigen, Du aber putztest und schnittest Dir die Nägel, spitzest Bleistifte, reinigtest mit dem Zahnstocher die Ohren.“ (15, 34 - 16, 18)
Hier entsteht eine gewisse Fragwürdigkeit in Bezug auf die Authentizität des Vaters. Die Ge- und Verbote, die er anderen auflegte, galten nicht für ihn. Die Folge war, dass der Sohn kein Vertrauen in dessen Autorität und Person aufbauen konnte, was letztendlich in einer Beziehungslosigkeit zwischen Vater und Sohn endete. Der Vater handelte scheinbar willkürlich, legte an andere Menschen die höchsten Maßstäbe an, die für ihn wiederum nicht galten.
Interessant an diesem Briefauszug ist die Tatsache, dass der bedrückte Franz Kafka in seiner misslichen Lage offenbar eine hervorragende Beobachtungsgabe entwickelt hatte, mit der er seinen Vater äußerst scharf ins Visier nahm. Es dürfte eine Art Genugtuung für den Jungen gewesen sein, die Mängel des starken Vaters zu sehen. Im Beobachten muss auch er endlich eine gewisse Macht gefühlt haben, die vielleicht letztmögliche Macht in seiner Ohnmacht. (Näheres zum Begriff „Macht“, siehe Kapitel 5.3.3) Auch „Spaß“ (23, 30) schien er dabei empfunden zu haben, was den Vater maßlos ärgerte. Letztendlich war es für den Sohn jedoch nur ein „untaugliches Mittel zur Selbsterhaltung“ (23, 33). In seiner Beziehungslosigkeit gegenüber anderen Menschen blieb Kafka auch im weiteren Lebensverlauf als Grundhaltung ihnen gegenüber nur diejenige des passiven, unbeteiligten Beobachters: „Die für mich passendste Situation: Einem Gespräch zweier Leute zuhören, die eine Angelegenheit besprechen, die sie nahe angeht, während ich an ihr nur einen ganz fernen Anteil habe, der überdies vollständig selbstlos ist.“ (T 325)
Doch nun zurück zu den Kindheitseindrücken: Der Vater sorgte für ein „System doppelter Maßstäbe“[14]: Er, in seinen Eigenschaften und Interessen eher ein durchschnittlicher Vater, kümmerte sich nicht gerade um Pädagogik, sondern erzog nach eigenem Ermessen und Vorstellungen, indem für ihn andere Gesetze galten als beispielsweise für den Sohn. Dies ist ein ganz zentraler Punkt, denn die bereits angedeutete Doppelmoral und Willkür des Vaters ermöglichte es Kafka nicht, ein stabiles und verlässliches Vertrauen in seine Umwelt aufzubauen. Er wurde des Lebens unsicher, misstrauisch sich selbst und anderen gegenüber und endete in einer umfassenden Beziehungslosigkeit. So kommt auch das Thema „Misstrauen“ im Brief immer wieder zur Sprache.
„Bitte, Vater, verstehe mich recht, das wären an sich vollständig unbedeutende Einzelheiten gewesen, niederdrückend wurden sie für mich erst dadurch, daß Du, der für mich so ungeheuer maßgebende Mensch, Dich selbst an die Gebote nicht hieltest, die Du mir auferlegtest.“ (16,18-23)
Hier stellt sich die Frage, warum der Vater für ihn so sehr maßgebend war, und dies auch noch im späteren Leben, obwohl dieser ein solch verletzendes Verhalten an den Tag legte. Max Brod stellt sich in seiner Biographie eine ähnliche Frage: „Was konnte Kafka an der Zustimmung des Vaters liegen?“ (ÜFK 28, auch im Folgenden) Die einzige, auch ihn nicht befriedigende Antwort, die er darauf geben kann, ist die, dass Franz seinen Vater verstehen und in „gerechtester Weise, ja darüber hinaus in liebender Bewunderung würdigen“ konnte. Kafkas Argumente für diese Zuneigung seien dabei dermaßen unwiderlegbar gewesen, dass man es einfach hätte hinnehmen müssen. Sein Freund schlussfolgert daraus, dass damit die oben gestellte Frage nicht im Sinne Kafkas, sondern von außen gestellt ist, d.h. sie impliziere schon das Unverständnis eines Außenstehenden, dem das Fühlen, Denken und Handeln eines Franz Kafka nicht zugängig ist. An dieser Stelle, wie auch noch des Öfteren in dieser Arbeit, wird eine Diskrepanz zwischen Kafkas Wahrnehmung und der der Außenwelt konstatiert, was wiederum heißt, dass Kafkas Empfinden, sowie seine Betrachtungsweise anderen Gesetzen unterlag als der Unbeteiligte sie kennt. So stellt Brod schließlich fast mit einer Art Resignation fest: „Die Tatsache dieser Bedürftigkeit bestand nun eben einmal als unwiderlegbar gegebenes Gefühl […]“.
Trotz dieser Tatsache war sein Eindruck vom Vater als willkürlichem „Oberbefehlshaber“, der „sich kaum je zur Gewöhnung verflachte“ (11, 9f.), sehr tief. Dessen knappe Anweisungen blieben ihm unbegreiflich und rätselhaft und er wurde schließlich so „unsicher aller Dinge, daß ich tatsächlich nur das besaß, was ich schon in den Händen oder im Mund hielt oder was wenigstens auf dem Weg dorthin war“ (31, 26ff.). An diese tyrannische Selbstüberzeugtheit des Vaters fügten sich weitere einschüchternde Erinnerungen an, sowie ein Gefühl stets mangelnder Sensibilität, was das Kind und den Jungen verletzten könnte: die grobe Lust des Vaters, dem Kinde Enttäuschungen zu bereiten, vor allem in dem, was ihm wichtig war, was es liebte. Später setzte er dem Heranwachsenden gar willkürlich die Freunde herab unter Bildern von Ungeziefer, Floh und Hund (vgl. 14, 33 – 15, 11).[15]
Im Brief an den Vater bezeichnet Kafka die Richtung der väterlichen Erziehung wie folgt: „Du kannst ein Kind nur so behandeln, wie Du eben selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm und Jähzorn, und in diesem Falle schien Dir das auch noch überdies deshalb sehr gut geeignet, weil Du einen kräftigen Jungen in mir aufziehen wolltest.“(10, 31-35)
Wie Kafka gerne in seiner Kindheit behandelt worden wäre, zeigt eine Episode aus seinen letzten Lebensjahren: Kafka saß mit Dora Diamant, seiner letzten Lebensgefährtin sowie mit anderen Personen am Abend zusammen. Ein kleiner Junge stand auf und wurde dabei so verlegen, dass er hinfiel. Kafka sagte zu ihm mit vor Bewunderung leuchtenden Augen: „Wie geschickt bist du gefallen und wie geschickt wieder aufgestanden!“ Dabei glänzten die Augen des Mannes aus Schmerz, Erkenntnis und Empörung über all das, was an ihm versäumt worden war.[16]
Kafka selbst wollte jedoch nicht versäumen zu verhindern, dass das, was ihm angetan wurde, auch anderen Kindern zustößt. Gegenstand seiner Besorgnis war da allen voran sein Neffe Felix, der auch im Brief Erwähnung findet: „Auch ihn behandelst Du ja ähnlich, ja wendest sogar ein besonders fürchterliches Erziehungsmittel gegen ihn an […]“ (17, 7 ff.). So sind auch Briefe an seine Schwester Elli Hermann nicht eigentlich mit Ratschlägen, wie man es in der Erziehung machen sollte, sondern mit Warnungen versehen, wie man sich nicht verhalten dürfe. Die Identifikation mit dem Jungen liegt auf der Hand. Sie führte schließlich zum Rat der Absonderung von den Eltern. In der Hoffnung, das Übel somit zu verhindern, schwang wohl die Verbitterung mit, selbst bis an das Lebensende an diese Familie gebunden zu sein.[17]
2.2 Die Pawlatsche – Sinnbild einer autoritären Erziehung
Das wohl einschneidendste frühe Kindheitserlebnis, an das sich Kafka noch im Erwachsenenalter „direkt“ (11, 11) erinnern kann, und das beispielhaft für die Behandlung steht, die er seinem Eindruck nach von seinem Vater erfahren hatte, beschreibt er im Brief an den Vater wie folgt:
„Direkt erinnere ich mich nur an einen Vorfall aus den ersten Jahren. Du erinnerst Dich vielleicht auch daran. Ich winselte einmal in der Nacht immerfort um Wasser, gewiß nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um zu ärgern, teils um mich unterhalten. Nachdem einige starke Drohungen nicht geholfen hatten, nahmst Du mich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlatsche und ließest mich dort allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehn.“ (11, 11-19)
Auch was dieser Vorfall bei ihm bewirkt hatte und wie er die Erziehungsmittel des Vaters beurteilt, teilt der Dichter mit:
„Ich will nicht sagen, daß das unrichtig war, vielleicht war damals die Nachtruhe auf andere Weise wirklich nicht zu verschaffen, ich will aber damit Deine Erziehungsmittel und ihre Wirkung auf mich charakterisieren. Ich war damals nachher wohl schon folgsam, aber ich hatte einen inneren Schaden davon. Das für mich Selbstverständliche des sinnlosen Um-Wasser-Bittens und das außerordentlich Schreckliche des Herausgetragenwerdens konnte ich meiner Natur nach niemals in die richtige Verbindung bringen. Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein Nichts für ihn war.“ (11, 19-32)
Der Schweizer Psychoanalytiker Josef Rattner sieht in eben dieser Ursituation nicht nur den Angelpunkt des Briefes, sondern gar „das Integral des Seelenlebens Franz Kafkas“[18]. Er erklärt das ganze Leben Kafkas und sein Werk als ewige Wiederholung des Pawlatsche-Erlebnisses mit den Komponenten der Ohnmacht, des Preisgegebenseins, der Schutzlosigkeit und der Heimatlosigkeit in der Welt.[19] Auch Arthur Henkel sieht in eben diesem Kindheitserlebnis den Grund für ein Urbild der „traumhaften innern Welt“ (T 420) Kafkas: Das Geländer der Pawlatsche, eine Fensterbank, ein Brückengeländer – alles Grenzen, die, wenn man sie überspringt, mit der Freiheit des Selbstmordes, den Sprung ins rettende Nichts verheißen. Auch im Tagebuch finden sich immer wieder Visionen vom Sprung aus dem Fenster oder über Balkongeländer. Konkret formuliert finden sie sich im Schlussbild der Erzählung Das Urteil.[20]
Damit steht fest, dass derartige Erlebnisse, Sinnbild des ganzen Verlaufes einer Kindheit, im Bewusstsein des Erwachsenen lebendig bleiben. Auch wenn sie vergessen werden, bleiben sie (unbewusst) in der Lebenseinstellung des Betroffenen aufbewahrt und bestimmen fortan dessen Charakter und Schicksal. In seiner tiefenpsychologischen Monographie über den Brief an den Vater beschreibt Rattner die Folge einer solchen Ursituation als Seinsverlust, einhergehend mit der Weckung von Zweifel an der Existenz schlechthin. Durch die Angst vor der Figur des autoritären Erziehers, der übermächtig und erdrückend auf das Kind wirkt, wird ihm zufolge dessen Persönlichkeit nach und nach vom Leben abgelöst und entfremdet; schließlich ist der Vater innerhalb der Familie Repräsentant der sozialen Welt, der Welt der Arbeit, der Ordnungen und Verbote.[21] Der Vater manifestierte sich zu Beginn der Sozialisation seines Sohnes in dessen Empfinden als „letzte Instanz“ in dem Moment, wo er die Bitte des winselnden Kindes verweigerte. Franz deutete dessen Reaktion als logisch nicht nachvollziehbar. Für ihn war sie doch „fast ohne Grund“. Es existierte keinerlei Legitimation für den väterlichen Verweis, weshalb sich für das Kind die väterlichen Gesetze und damit die väterliche Instanz als logisch uneinsehbar manifestierte.[22] Der Vater bekam folglich für Franz „das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf ihrem Denken begründet ist“ (13, 28ff.). Die Beziehung zum Vater war gescheitert. Rattner zufolge blieb die Angst bestehen, die zur Grundstimmung in Kafkas Leben wurde, alles beherrschte und jedes Erleben negativ erscheinen ließ. Insofern dürfen wir das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht gegenüber dem Leben, das Kafka auf der Pawlatsche empfunden hat, als Schlüssel zu seiner Heimatlosigkeit in der ihn umgebenden Welt verstehen.[23] Sein weiteres Leben stellt Kafka selbst dann im Brief als eine Reihe von Versuchen, aus der Sphäre des Vaters auszubrechen und in Regionen zu gelangen, die nicht im Einflussradius des Vaters liegen. (Zu Kafkas „Rettungsversuchen“ siehe Kapitel 6)
[...]
[1] Reiner Stach, Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt/M. 2002, S. X
[2] Ebd., vgl. S. X
[3] Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, NewYork/Frankfurt/M. 1953 (Gesammelte Werke, hg. v. Max Brod)
[4] Vgl. Hartmut Binder (Hrsg.), Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Band 2: Das Werk und seine Wirkung, Stuttgart 1979, S. 519
[5] Ebd., S. 520
[6] Ebd., vgl., S. 520
[7] Vgl. Joachim Pfeiffer, Franz Kafka. Die Verwandlung/Brief an den Vater (Oldenbourg
Interpretationen), München 1998, S. 90
[8] Vgl. auch im Folgenden, Heinz Politzer, Franz Kafka, der Künstler, Gütersloh, 1965, S. 411ff.
[9] Hartmut Binder, Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. München 1976, S. 424
[10] Vgl. Arno A. Gassmann, Lieber Vater, lieber Gott? Der Vater-Sohn-Konflikt bei den Autoren des engeren Prager Kreises. Oldenburg 2002, S. 22
[11] Zitiert nach Detlev Arens, Franz Kafka, München 2001, S. 14
[12] Klaus Wagenbach, Franz Kafka. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1964, S. 20
[13] Vgl. Josef Rattner, Kafka und das Vater-Problem. Ein Beitrag zum tiefenpsychologischen Problem der Kindererziehung, München/Basel, 1964, S. 17
[14] Politzer, Künstler, S. 406, vgl. auch im folgenden
[15] Vgl. Arthur Henkel, Kafka und die Vaterwelt, in: Hubertus Tellenbach (Hrsg.), Das Vaterbild im Abendland II. Literatur und Dichtung Europas. Stuttgart (u.a.) 1978, S. 178
[16] Vgl. Heinz Politzer (Hrsg.), Das Kafka-Buch. Eine innere Biographie in Selbstzeugnissen. Frankfurt am Main 1980, S. 167
[17] Vgl. Binder, Kafka-Handbuch 2, S. 167
[18] Vgl. Binder, Kafka-Handbuch 2, S. 523
[19] Ebd., vgl. S. 523
[20] Vgl. Henkel, S. 178
[21] Vgl. Binder, Kafka-Handbuch 2, S. 523
[22] Vgl. Carlo Brune, „Ein enterbter Sohn“. Studie zu Franz Kafkas „Brief an den Vater“. Essen 2000,
S. 105
[23] Vgl. Binder, Kafka-Handbuch 2, S. 523