Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Schopenhauers Mitleidsethik
2.1. Das Mitleid als Grundlage der Moral
2.2. Metaphysischer Erklärungsversuch der Ethik
3. Mitleid und Mitgefühl
3.1. Die Rolle des Gefühls bei Schopenhauer
3.2. Bewertung des Mitleids als moralisches Gefühl
4. Fazit
5. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Arthur Schopenhauer legt seine Ethik mit dem Begriff der Mitleidsethik in zwei Werken dar: Einerseits im vierten Buch der beiden Bände seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung; anderseits in zwei Preisschriften, nämlich in Über die Freiheit des menschlichen Willens und Über die Grundlage der Moral.
Am 30. Januar 1840 veröffentlichte Arthur Schopenhauer seine „Preisschrift zur Grundlage der Moral“ als Antwort auf die von der Königlichen Dänischen Sozietät der Wissenschaften zu Kopenhagen“, was die Quelle und Grundlage der Moral denn überhaupt sei. Die Antwort darauf war das Mitleid.
Schopenhauer hat in seiner Ethik nicht nur egoistische von moralisch wertvollen Handlungen abzugrenzen versucht, sondern gab ihr das Mitleid als Fundament, welches er auch noch metaphysisch begründete, um seine Ethik besonders standfest zu machen. Jedoch fand seine Preisschrift weder bei der Sozietät noch beim breiteren Publikum Zuspruch.
Kann die Ethik denn überhaupt auf einem Gefühl des Mitleids basieren, in ihm sogar begründet werden? Gefühle sind zwar ein wesentlicher Bestandteil des Lebens; ein Leben ohne Gefühle ist unmöglich. Doch ist die Tatsache, dass eine Handlung, die aus dem Gefühl des Mitleids geschieht, notwenig eine moralisch wertvolle ist?
Insofern wird sich darauf die leitende Frage dieser Seminararbeit beziehen. Die Arbeit wird dabei wie folgt aufgebaut sein: Zuerst wird die Darstellung Schopenhauers Mitleidsethik erfolgen. Im ersten Kapitel beschäftige ich mich mit dem Mitleid als Grundlage der Moral. Darauf aufbauend wird sich aus der Abgrenzung zu Kant die weitere Ausführung Schopenhauers Ethik darstellen lassen. Es folgen somit Erläuterungen zu den beiden antimoralischen Triebfedern, unter denen er schließlich die einzige moralische Triebfeder ausfindig machen will. Nach dem Beweis der echten moralischen Triebfeder, der Untersuchung der beiden Kardinaltugenden und dem metaphysischen Erklärungsversuch der Ethik widme ich mich im zweiten Kapitel der Rolle des Gefühls in Schopenhauers Ethik. Der erforderlichen Kürze wegen muss auf ein eigenes Kapitel zur Kritik Schopenhauers Ethik verzichtet werden.
2. Schopenhauers Mitleidsethik
2.1. Das Mitleid als Grundlage der Moral
2.1.1. Abgrenzung zu Immanuel Kant
Schopenhauer sah sich selbst keinesfalls als einen völligen Gegner Kants, vielmehr als dessen Schüler und Vollender. Die metaphysischen Schriften Kants bewunderte er, jedoch hatte Kant, seiner Meinung nach, in dem Versuch eine Ethik zu entwerfen versagt. Er unterstellte ihm einige entscheidende Fehler. Trotz der wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Philosophen, die in diesem Unterkapitel behandelt werden, darf dennoch eine wichtige Gemeinsamkeit nicht unerwähnt bleiben; ihre Ethiken haben die gleiche Struktur.1 Sie beide unterscheiden systematisch zwischen drei Fragen: die Frage nach der moralische Korrektheit einer Handlung, nach ihrem moralischen Wert und nach der Motivationsquelle; ihre Struktur ist die gleiche, der Inhalt dennoch verschieden.2
„Seit mehr als einem halben Jahrhundert liegt [die Ethik] auf dem bequemen Ruhepolster, welches Kant ihr untergebreitet hatte: dem kategorischen Imperativ der praktischen Vernunft.“3 Schopenhauer bezeichnet Kants Ethik als „legislatorisch“4 doch findet, dass diese Herangehensweise die falsche ist, um eine Ethik zu begründen. „[...] bis jener Beweis geführt worden, erkenne ich für die Begriffe Gesetz, Vorschrift, Soll in die Ethik keinen anderen Ursprung an als einen der Philosophie fremden.“5 Die Begriffe „Pflicht“ und „Gesetz“ bezeichnete er als „spekulativ“6 und waren für ihn somit nicht nachweisbar. Im Gegensatz zur Kantischen normativen Sollensethik zeichnet sich Schopenhauers Ethik vielmehr dadurch aus, dass sie rein deskriptiv beschreibend ist, und dabei keine Verhaltensmaxime entwirft, wie sich die Menschen zu verhalten haben.7
Für Schopenhauer kann es, anders als für Kant, kein selbständiges Sittengesetz geben; nur das Kausalgesetz ist anwendbar.8 Die Aufgabe der Moral kann nur in der Deskription der Motive liegen, „die dann als sittlich angesehen werden dürfen“9.
Schopenhauer ist daran gelegen seine Ethik zu erklären und nicht so wie Kant sie zu lehren. „Die moralische Triebfeder“, die den Menschen zu moralisch wertvollen Handlungen erst antreibt, „muß schlechterdings, wie jedes den Willen bewegende Motiv, eine [...] REALE seyn: und da für den Menschen nur das Empirische [...] Realität hat; so muß die moralische Triebfeder in der That eine EMPIRISCHE seyn [...].“10
Er führt die Handlungen des Menschen auf keine Vernunftsbegriffe zurück, sondern auf „erfahrbare Leibphänomene“11. Das Mitleid ist laut Schopenhauer niemals der Vernunft unterworfen.12 Es beruht somit nicht auf dem Verstand, sondern auf dem Gefühl und deshalb kann eine rein rationale Ethik nie zum Erfolg führen.
Um wieder auf die Anfangsbehauptung „Gemeinsame Struktur, verschiedener Inhalt“ zurückzugreifen, werden nun die Hauptunterschiede zusammengefasst13: Damit eine Handlung für Kant moralisch akzeptabel ist, muss sie dem kategorischen Imperativ unterworfen sein; Schopenhauer dagegen folgt dem Prinzip „verletze niemanden und helfe allen, soweit möglich“14. Den moralischen Wert misst Kant dadurch, wenn sich die Handlung an das Gesetz hält; Schopenhauers Moralprinzip zeichnet eine moralisch wertvolle Handlung dann aus, wenn sie rücksichtslos und hilfreich ist. Und die moralische Motivationsquelle liegt auf den zwei unterschiedlichen Gefühle: für Kant im Gefühl der Achtung, Für Schopenhauer im Mitleid.
2.1.2. Die beiden antimoralischen Triebfedern
Ein grundlegender Unterschied zwischen Kant und Schopenhauer war der, dass Kants Ethik durch ein kühl-rationales Pflichtdenken gekennzeichnet war, während sich Schopenhauers Moral durch „die ABSICHT ALLEIN über moralischen Werth oder Unwerth einer That“15 entschied. Um auf die Fragen zu antworten, ob es überhaupt Taten gibt, die allein auf Gerechtigkeit und Menschenliebe motiviert sind, muss Schopenhauer vorab erst erklären, was die Grundtriebfeder der Menschen und Tiere dieser Welt sei, die durch den Willen zum Leben bestimmt ist16: „Der EGOISMUS, d.h. der Drang zum Daseyn und Wohlseyn.“17 Der Egoismus richtet sich nach dem Wahlspruch: „Alles für mich und Nichts für die andern“18 und so steht nur das eigene Wohl im Vordergrund ohne, dass die Interessen anderer berücksichtigt werden. Der Mensch macht sich selbst zum Mittelpunkt der Welt und alles was sich seinem Egoismus entgegenstellt, erregt „Unwillen, Zorn, Hass“19.
Die zweite Grundtriebfeder der Menschen ist die Bosheit. „Die Maxime der Bosheit ist: Omnes, quantum potes, laede.“20 Im Unterschied zum Egoismus, hat die Bosheit zum Ziel allen Leid zuzufügen, derer sie habhaft werden kann. Ein Egoist erfreut sich nicht am Leid anderer um des Leidens willen, sondern sucht nach einer Möglichkeit, das eigene „Wohlseyn“ zu mehren; dass dabei auch ein Leid geschieht, ist eine Art zufälliger Nebenwirkung.
2.1.3. Handlungen von moralischem Wert
Bevor Schopenhauer zum Beweis einer moralischen Triebfeder gelangt, sucht er nach den notwendigen Kriterien einer solchen Handlung.
„Aber ich glaube, daß sehr Wenige seyn werden, die es bezweifeln [...] daß es Leute giebt, [...] die ihren Vortheil nicht unbedingt suchen, sondern [...] auch die Rechte Anderer berücksichtigen [...]. Dies sind DIE WAHRHAFT EHRLICHEN LEUTE, die wenigen Aequi [Gerechten] unter der Unzahl der Iniqui [Ungerechten]. Aber solche Leute giebt es.“21
Es gibt laut Schopenhauer also durchaus Handlungen, die durch den reinen Wunsch, einem anderen Gutes zu tun, verursacht werden. Handlungen, die kein langes Nachdenken erfordern wie bei Kant und sich dem Egoismus und der Bosheit entgegensetzen; Handlungen mit „Abwesenheit aller egoistischer Motivation“22. So schreibt Schopenhauer: „Wer [...] auf die Strenge der Definition hält, mag [...] Handlungen, [die] fremdes Leiden bezwecken, ausdrücklich ausscheiden.“23 Die Handlung ist auch nur dann nicht egoistisch, wenn die Belohnung der guten Tat einem „sekundär“24 erscheint, denn sie ist nicht der Grund für das moralische Handeln sondern nur eine Folge dessen.
[...]
1 Vgl. Köhl, Harald: Die Theorie des moralischen Gefühls bei Kant und Schopenhauers Ethik, in: Zur Philosophie der Gefühle, hrsg. v. Hinrich Fink-Eitel u. Georg Lohmann, Frankfurt a. M. 1993, S. 136-156, hier S. 139.
2 Ebd.
3 Schopenhauer, Athur: Über die Grundlage der Moral, hrsg. v. Welsen, Peter, Hamburg 2006, S. 13.
4 Ebd., S. 18.
5 Ebd., S. 19.
6 Ebd., S. 10.
7 Vgl. Beisel, Schopenhauer, S. 66.
8 Vgl. Rohls, Jan: Geschichte der Ethik, Tübingen 1999, S. 376.
9 Ebd.
10 Schopenhauer, Grundlage, S. 41.
11 Beisel, Schopenhauer, S. 66.
12 Vgl. Schopenhauer, Gründlage, S. 32.
13 Vgl. Köhl, Theorie, S. 139-140.
14 Schopenhauer, Grundlage, S. 35: „Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva.“
15 Schopenhauer, Grundlage, S. 33.
16 Vgl. Beisel, Schopenhauer, S. 68.
17 Schopenhauer, Grundlage, S. 94.
18 Ebd., S. 95.
19 Ebd., S. 95.
20 Ebd., S. 99.
21 Schopenhauer, Grundlage, S. 101-102.
22 Ebd., S. 102.
23 Ebd. S. 102.
24 Ebd., S. 109.