Die qualitative Masterarbeit beschäftigt sich mit der Tätigkeit von freiberuflichen Hebammen und untersucht, welche Ansprüche diese an ihre Arbeit richten und wie sie möglichen Ambivalenzen zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen Ökonomisierungsdruck in der Selbstständigkeit begegnen.
Zu diesem Zweck wurden narrationsorientierte Leitfaden-Interviews mit vier freiberuflich tätigen Hebammen durchgeführt und unter Rückbezug auf Marx' Theorie zum Doppelcharakter der Arbeit, dem Konzept zu arbeitsinhaltlichen Ansprüchen von Sarah Nies sowie verschiedenen theoretischen Ansätzen zur Ökonomisierung ausgewertet.
Es konnte herausgearbeitet werden, dass abhängig davon, auf welcher Ebene die befragten Hebammen die Ökonomisierung ihrer Arbeit zulassen oder ablehnen, sich die Ambivalenzbeziehung zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen an den Sinn und Nutzen der Arbeit und den Verwertungsansprüchen unterschiedlich gestaltet.
Freiberufliche Hebammen, welche die Ökonomisierung im konkreten Arbeitshandeln ablehnen und sich bewusst für die Priorisierung ihrer arbeitsinhaltlichen Ansprüche entscheiden, bewältigen in gewisser Weise den Zielkonflikt, finden sich aber eher in selbstausbeuterischen Arbeitsstrukturen wieder.
Freiberufliche Hebammen, die eher erwerbsorientierte Denk- und Handlungslogiken aufweisen, integrieren dagegen Verwertungsinteressen in die arbeitsinhaltlichen Ansprüche und damit in ihre Vorstellungen an den Arbeitssinn. Diese bewusst adressierte Verwertungsperspektive und das gestärkte Unternehmerinnen-Bewusstsein sind Abgrenzungsstrategie sowie Schutz vor Belastungen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ansprüche an die Erwerbsarbeit zwischen Gebrauchswert und Tauschwert
2.1 Der Nutzen von Arbeit? – zur Theorie der arbeitsinhaltlichen Ansprüche
2.2 Der Doppelcharakter der Arbeit nach Marx – eine konflikthafte Beziehung
3. Arbeiten unter Ökonomisierungsdruck: Ambivalenzen zwischen Verwertungsansprüchen und arbeitsinhaltlichen Ansprüchen
3.1 Ökonomisierung als zeitdiagnostische Vorannahme
3.2 Zwischen zwei Stühlen: Beschäftigte im Spannungsfeld zwischen unternehmerischen Verwertungsinteressen und arbeitsinhaltlichen Orientierungen
3.3 Ökonomisierung des Gesundheitssektors – widersprüchliche Logiken
3.4 Ökonomisierung medizinischer und pflegerischer Arbeit – Konflikte, Bewältigungs-strategien und Widerständigkeiten auf Subjektebene
3.5 Fokus Solo-Selbstständigkeit: andere Konfliktlinien zu erwarten?
4. Aktuelle Arbeitssituation freiberuflicher Hebammen
4.1 Gesundheitspolitischer und gesetzlicher Rahmen für freiberufliche Hebammenarbeit
4.2 Leistungs- und Vergütungssituation der freiberuflichen Hebammenarbeit
5. Methodisches Vorgehen
6. Kontextauswertung – „Alles. Das ganze große Thema“
7. Arbeitsinhaltliche Ansprüche von freiberuflichen Hebammen – zwischen Zielvorstellungen, Frauenorientierung und Nützlichkeit
7.1. „Am Ende wird alles gut“: Der arbeitsinhaltliche Anspruch der Ergebnisorientierung
7.2. „Kein Programm abspulen“: Der arbeitsinhaltliche Anspruch des Patientinnenwohls
7.3. „Sie brauchen mich“: Der arbeitsinhaltliche Anspruch der Gebrauchswertorientierung
8. Hebammen unter Ökonomisierungsdruck – zum Verhältnis von arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und Verwertungsansprüchen
8.1. „Die Hebamme mit Herz“ – zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und Selbstausbeutung
8.2. „Die Hebamme als Unternehmerin“ – Integration der Verwertungsansprüche in die arbeitsinhaltlichen Ansprüche
8.3. Wege aus der Krise: Lösungsvorschläge
9. Fazit
9.1. Zusammenfassung der Ergebnisse
9.2. Ausblick auf die Zukunft der freiberuflichen Hebammenarbeit
9.3. Forschungsbedarf
10. Literaturverzeichnis
Anhang
A. Interview-Leitfaden
B. Informationsblatt
C. Transkriptionsregeln
Zusammenfassung
Die vorliegende qualitative Arbeit beschäftigt sich mit der Tätigkeit von freiberuflichen Hebammen und untersucht, welche Ansprüche diese an ihre Arbeit richten und wie sie möglichen Ambivalenzen zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen Ökonomisierungsdruck in der Selbstständigkeit begegnen. Zu diesem Zweck wurden narrationsorientierte Leitfaden-Interviews mit vier freiberuflich tätigen Hebammen durchgeführt und unter Rückbezug auf Marx’ Theorie zum Doppelcharakter der Arbeit, dem Konzept zu arbeitsinhaltlichen Ansprüchen von Sarah Nies sowie verschiedenen theoretischen Ansätzen zur Ökonomisierung ausgewertet. Es konnte herausgearbeitet werden, dass abhängig davon, auf welcher Ebene die befragten Hebammen die Ökonomisierung ihrer Arbeit zulassen oder ablehnen, sich die Ambivalenzbeziehung zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen an den Sinn und Nutzen der Arbeit und den Verwertungsansprüchen unterschiedlich gestaltet. Freiberufliche Hebammen, welche die Ökonomisierung im konkreten Arbeitshandeln ablehnen und sich bewusst für die Priorisierung ihrer arbeitsinhaltlichen Ansprüche entscheiden, bewältigen in gewisser Weise den Zielkonflikt, finden sich aber eher in selbstausbeuterischen Arbeitsstrukturen wieder. Freiberufliche Hebammen, die eher erwerbsorientierte Denk- und Handlungslogiken aufweisen, integrieren dagegen Verwertungsinteressen in die arbeitsinhaltlichen Ansprüche und damit in ihre Vorstellungen an den Arbeitssinn. Diese bewusst adressierte Verwertungs-perspektive und das gestärkte Unternehmerinnen-Bewusstsein sind Abgrenzungsstrategie sowie Schutz vor Belastungen.
Zum Sprachgebrauch
Da der Hebammenberuf ein klassischer Frauenberuf ist und keine Daten dazu vorliegen, wie viele männliche Hebammen, sogenannte Geburtshelfer, in Deutschland tätig sind, sich die Zahl aber im einstelligen Bereich bewegen mag (vgl. Albrecht et al. 2012), wird in dieser Arbeit ausschließlich von weiblichen Hebammen ausgegangen und in diesem Zusammenhang auch die weibliche Sprachform „die Hebamme“ verwendet. Wenn Begriffe verwendet werden wie „Frauen“, „Mütter“ oder „Familien“, die durch die Hebammen betreutet werden, werden mit diesen Begriffen aber auch andere dazugehörende Personen (PartnerInnen und Kinder, o.Ä.) einbezogen und alternative Familienmodelle nicht ausgeschlossen. Grundsätzlich wurde angestrebt, eine möglichst genderneutrale Sprache zu verwenden.
1. Einleitung
Nützliche oder sinnvolle Arbeit zu leisten, ist ein Anspruch vieler erwerbstätiger Menschen. Die Nützlichkeit der eigenen Arbeitsleistung geht dabei über instrumentelle Interessen auf persönlicher Ebene hinaus. Es geht um mehr als nur um den reinen Gelderwerb, den Wunsch nach schonendem Umgang mit der eigenen Arbeitskraft, profanen „Spaß“ an der Arbeit oder Selbstverwirklichungsinteressen (vgl. Nies 2015: 67). Vielmehr soll das Ergebnis oder das Produkt der eigenen Arbeit für andere Menschen einen Nutzen haben, also einen gesellschaftlich relevanten Gebrauchswert entfalten (vgl. Voswinkel 2015; Hürtgen 2017). Diese arbeitsbezogenen Ansprüche von Beschäftigten, die sich direkt auf das Arbeitsergebnis und die subjektiven Vorstellungen an die Wirkung der Arbeitsleistung beziehen, werden „arbeitsinhaltliche Ansprüche“ genannt (Nies 2015: 67).
Während allgemein im Zuge der fortschreitenden Arbeitsteilung der gesellschaftliche Gebrauchswert einer Arbeitstätigkeit oft nicht mehr nachvollziehbar erscheint, liegt der Sinn und Zweck der Tätigkeit im Gesundheitsbereich oder bei (bezahlter) Care-Arbeit auf der Hand (vgl. Voswinkel 2015: 35): Menschen werden geheilt, kuriert, gepflegt. Die Nützlichkeit dieser Arbeit leitet sich vom Wohlbefinden und der Gesundheit des Anderen als Arbeitsergebnis ab. Damit ist aus der Sicht der Beschäftigten der Nutzen unmittelbar erfahrbar und die „Sinnhaftigkeit greifbar“ (Voswinkel 2015: 35). Beschäftigte machen das menschliche Gegenüber zum Hauptbezugspunkt ihrer arbeitsinhaltlichen Ansprüche.
Doch derartige Vorstellungen an die Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit der Arbeitsinhalte geraten aktuell in der Realität in vielen Gesundheitsbereichen in Bedrängnis (vgl. Slotala 2011). Beschäftigte müssen einen Konflikt austragen, „einerseits gute und sinnvolle Arbeit verrichten zu wollen, andererseits im wachsenden Druck auf die Arbeit letztlich darin massiv behindert zu werden“ (Hürtgen 2017: 211). Diesen Druck, die Arbeitsverrichtung nicht allein nach den eigenen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen auszurichten, lässt sich vor allem auf die Ökonomisierung des Sektors zurückführen, was Problematiken und Paradoxien in der Verwertbarkeit dieser Arbeit offenbart. Denn grundsätzlich erscheint Care-Arbeit zwar als sinnvoll, aber wegen der interpersonellen Arbeitslogiken als wenig marktförmig.
Der Begriff Ökonomisierung im Gesundheits- bzw. Care-Bereich beschreibt „einen Prozess der zunehmenden Überlagerung medizinischer und pflegerischer Werte, Handlungsmaximen und Entscheidungs-kriterien mit betriebswirtschaftlichen Argumenten“ (Manzei et al. 2014: 14). Damit findet in diesem Bereich eine Wertverschiebung statt, die sich von der Logik der Medizin entfernt und sich der Logik der Ökonomie annähert. Für die Beschäftigten heißt das, dass ihre arbeitsinhaltlichen Ansprüche an den Sinn und Zweck ihres Arbeitsergebnisses in ein konflikthaftes Spannungsfeld geraten mit ökonomischen Verwertungsinteressen von unterneh-merischer Seite. Mögliche Ambivalenzen im Zuge der Ökonomisierung könnten dabei zwischen Versorgungsansprüchen und zur Verfügung stehenden Ressourcen, zwischen Ertragszielen und Arbeitsaufwand, sowie zwischen der inhaltlichen Arbeitsausrichtung in Bezug auf konkret-nützliche Arbeitsergebnisse und den abstrakten Verwertungszielen dieser auftreten (vgl. Nies 2015: 15f). Welche Folgen hat dieser doppelte Anspruch auf die Beschäftigten? Integrieren sie die Logik der Ökonomie und die unternehmerische Verwertungsperspektive in ihre Denk- und Handlungslogiken (vgl. Hardering 2018: 7)? Kann der Verwertungsanspruch auch zum arbeitsinhaltlichen Anspruch werden (vgl. Nies 2015)?
In der Regel sind Ökonomisierungsanforderungen und Verwertungsperspektiven extern bestimmt durch einen Arbeitgeber oder andere Rahmenbedingungen – es handelt sich also um die Strukturebene. Die arbeitsinhaltlichen Ansprüche beziehen sich dagegen meist auf die Subjektebene. Wie sind diese Unterschiedlichkeiten von „Interesse der Kapitaleigner“ und Interesse „der Arbeitskräfte“ (Moldaschl/Sauer 2000: 214) miteinander zu vereinbaren? „Im einfachsten Fall natürlich in Personalunion der beiden, die dann den Widerspruch in sich selbst auszuhalten und auszutragen hat. Diese Sozialfigur gibt es ja tatsächlich und schon lange: den kleinen Selbstständigen, den Ein-Mann- oder den Familienbetrieb“ (ebd.: 214). Warum denken die Autoren, dass das Austragen von „eigenen“ und „fremden“ Widersprüchen gebündelt in einer Person einfacher ist als das Projizieren konflikthafter Ambivalenzen auf das Unternehmen bzw. den Arbeitgeber? Ist es nicht viel zermürbender als Selbstständige/r alle divergierenden arbeitsinhaltlichen Ansprüche und Verwertungsinteressen jeder Zeit miteinander zu vereinbaren, auszuhandeln und auszutragen?
Der Vergleich von selbstständig arbeitenden Menschen und angestellt arbeitenden Menschen kann in dieser Arbeit nicht geleistet werden, dennoch ist eine These der Arbeit, dass das Vereinbaren von Verwertungsansprüchen und arbeitsinhaltlichen Ansprüchen in der Personalunion des Selbstständigen nicht unbedingt der „einfachste Fall“ ist, wie Moldaschl und Sauer es beschreiben, sondern sich sehr komplex gestaltet.
Während für abhängig Beschäftigte das facettenreiche Spannungsfeld zwischen ökonomischen Verwertungsinteressen und dem Anspruch nach „guter“ Arbeitsleistung schon viel thematisiert wurde (s. Kapitel 3.2. und 3.4.), ergibt sich insbesondere für die heterogene Gruppe der Solo-Selbstständigen eine Lücke im wissenschaftlichen Forschungsfeld – viel ist über ihre Arbeitsorientierungen nicht bekannt (vgl. Hanemann 2016: 21ff). Vor diesem Hintergrund soll die vorliegende empirische Untersuchung Solo-Selbstständige im Care-Bereich in den Blick nehmen in Bezug auf die Frage, wie diese in ihrer Arbeitspraxis Ambivalenzen zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und Verwertungsansprüchen begegnen.
Konkret sollen für diese Studie freiberuflich tätige Hebammen als Untersuchungsgegenstand dienen. Hebammen stellen eine oftmals übersehene Berufsgruppe innerhalb der Gesundheitsberufe und der Care-Arbeitsdebatte dar. Die wenigen AutorInnen, die die Gruppe der Hebammen in ihre Forschung miteinbeziehen, attestieren Forschungslücken zum Thema Hebammenarbeit (vgl. Albrecht et al. 2012; Jung 2017; Käuper 2012). Dennoch scheint der Blick auf diese Berufsgruppe wegen spezifischer Herausforderungen von Hebammenmangel über hohe Haftpflichtversicherungen bis zur Akademisierungsfrage aktuell sehr relevant.
Hebammen arbeiten nicht nur in Krankenhäusern auf den Entbindungsstationen, was meist in Angestellten-Verhältnissen geschieht, sondern oftmals auch freiberuflich. In der Selbstständigkeit bieten sie insbesondere die vorgeburtliche Schwangerenvorsorge sowie in den ersten Wochen nach der Geburt die sogenannte Wochenbett-Betreuung an. Über dieses Angebot hinaus können freiberufliche Hebammen auch viele weitere Leistungen wie zum Beispiel Sprechstunden-Beratungen oder spezielle Kurse anbieten. Die Freiberuflichkeit ist von viel Selbstbestimmung geprägt, aber auch von Selbstverantwortlichkeit: Mit dem kleinen Ein-Frau-Unternehmen ist die Hebamme selbst unmittelbar verantwortlich für ihr Erwerbseinkommen und trägt wegen fehlender Auffangnetze das unternehmerische Risiko.
Empirische Studien belegen, dass Hebammen vor allem in die Selbstständigkeit wechseln, um ihren arbeitsinhaltlichen Ansprüchen besser gerecht werden zu können (vgl. Albrecht et al. 2012; Schirmer/Steppat 2016). Gleichzeitig ist der Ökonomisierungsdruck in der Freiberuflichkeit besonders hoch, denn das Entgelt für freiberufliche Leistungen richtet sich nach festgesetzten Pauschalen und fällt gering aus. Ausschließlich freiberuflich tätige Hebammen erzielen durchschnittlich nur knapp über 20000 Euro im Jahr als Gewinn nach Betriebsausgaben und Steuern (vgl. Albrecht et al. 2012: 144f) – die finanzielle Existenzsicherung wird mit so einem Entgelt zur Herausforderung. Im Vergleich zu anderen freiberuflichen medizinischen Berufsgruppen (z.B. Ärzte, Physiotherapeuten) erscheint vor diesem Hintergrund das Einkommen, das Maß der Anerkennung und der berufliche Status für die freiberuflichen Hebammen eher gering, der Ökonomisierungsdruck aber gleichsam höher.
Um dieses Spannungsfeld zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und Verwertungsansprüchen soll sich die vorliegende Untersuchung drehen. Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf die Besonderheiten der freiberuflichen Arbeitsform gelegt werden.
Konkret habe ich mich bei der Untersuchung an folgenden Fragestellungen orientiert:
1. Worauf beziehen sich Vorstellungen guter Arbeitsleistung bei freiberuflichen Hebammen und auf welche arbeitsinhaltlichen Ansprüche verweisen sie?
2. In welchem Verhältnis stehen arbeitsinhaltliche Ansprüche von freiberuflichen Hebammen zu eigenen unternehmerischen Verwertungsansprüchen im Kontext der Selbstständigkeit?
3. Wie empfinden und bewältigen freiberufliche Hebammen Ambivalenzen infolge des Ökonomisierungsdrucks in der Selbstständigkeit?
Diese drei Fragen legen jeweils einen anderen Fokus, greifen dennoch alle ineinander und bilden Schnittmengen, die mitzudenken sind. Die erste Frage orientiert sich eng an dem Konzept der arbeitsinhaltlichen Ansprüche nach Sarah Nies (2015). Die zweite Frage untersucht das Verhältnis der verschiedenen Ansprüche zueinander, ohne im Vorfeld eine konflikthafte Beziehung vorauszusetzen. Verschiedene theoretische Ansätze zum Doppelcharakter der Arbeit und zur Ökonomisierung des Gesundheitssektors werden dabei miteinbezogen. Die dritte Frage nimmt subjektive Umgangs- und Bewältigungsstrategien in den Fokus, die auf den Ökonomisierungsdruck und seine Widersprüchlichkeiten in der Care-Arbeit zurückzuführen sind. Dieser Themenkomplex wird gerahmt von arbeitssoziologischen Konzepten der Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit. Dabei ist eine wichtige Frage, die alle drei Forschungsfragen tangiert, ob die Verwertungsansprüche selbst zu arbeitsinhaltlichen Ansprüchen infolge des Ökonomisierungsdrucks werden können.
Da das Erkenntnisinteresse auf subjektive Sinnvorstellungen abzielt, habe ich mich für qualitative Forschungsmethoden entschieden und narrationsorientierte Leitfaden-Interviews mit vier freiberuflich arbeitenden Hebammen durchgeführt und diese in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse ausgewertet. Dennoch soll in der vorliegenden Arbeit „Sinn“ nicht nur subjektiv oder gar individuell rekonstruiert werden, sondern ebenso seine gesellschaftliche Institutionalisierung mitgedacht werden (vgl. Voswinkel 2015: 33). In diesem Sinne soll die Arbeit der Hebamme nicht „verbesondert“ und der Forschungsgegenstand „exotisiert“ werden, sondern das Ziel verfolgt werden, die Erkenntnisse über die Arbeitssituation von Hebammen auch auf andere Berufsgruppen mit ähnlichen Herausforderungen übertragen zu können und damit zum Forschungsdiskurs zur Care-Arbeit anschlussfähig zu sein.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich wie folgt. Im Anschluss an die Einleitung sollen die Arbeitsorientierungen von Beschäftigten zwischen Gebrauchswert und Tauschwert theoretisch skizziert werden (Kapitel 2). Dabei ergründet Kapitel 2.1. das Konzept der arbeitsinhaltlichen Ansprüche als maßgeblichen theoretischen Bezugspunkt dieser Studie und Kapitel 2.2. den Marxschen Doppelcharakter der Arbeit als Ausgangspunkt für den Doppelanspruch an Arbeit. Daran schließt sich das 3. Kapitel zum Thema Ökonomisierung an, das den zeitdiagnostischen Kontext des Ökonomisierungsprozesses abbildet und erste theoretisch begründete Spannungsfelder zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und Verwertungsansprüchen darlegt (Kapitel 3.1.). Zwei empirische Beschäftigten-Studien (Nies 2015; Vester et al. 2007) werden exemplarisch rausgegriffen in Kapitel 3.2., um daran Erkenntnisse zu diesem Spannungsfeld anzureichern. Danach verengt sich der Blick auf die Ökonomisierung im Gesundheitssektor und die für diesen Bereich spezifischen Herausforderungen der Dominanz der ökonomischen Logik (Kapitel 3.3.). Auch für dieses Thema werden in Kapitel 3.4. empirische Studien herangezogen, die dahingehend mögliche Konflikte für Beschäftigte im Gesundheitsbereich beleuchten. Als letztes Kapitel dieses Blocks thematisiert Kapitel 3.5. die spezifischen Herausforderungen für Solo-Selbstständige und geht der Frage nach, inwieweit für diese Beschäftigten Unterschiede im Spannungsfeld zwischen Verwertungsinteressen und arbeitsinhaltlichen Ansprüchen zu erwarten sind.
Im Anschluss daran werden empirische Erkenntnisse zu der aktuellen Arbeitssituation von freiberuflichen Hebammen aufgegriffen. Einerseits geht es um die gesetzlichen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen für die freiberufliche Hebammenarbeit (Kapitel 4.1.) und andererseits um die konkreten Arbeitstätigkeiten, das Arbeitsvolumen und Einkommenssituation von freiberuflichen Hebammen (Kapitel 4.2.). Im Anschluss folgt das Kapitel 5, in dem die methodischen Grundsätze und das methodische Vorgehen in der Erhebung und Auswertung erläutert werden. Außerdem wird das Sample skizziert und die befragten Hebammen vorgestellt.
In den Kapiteln 6, 7 und 8 werden die Ergebnisse der Untersuchung präsentiert. Zuerst werden allgemeine Dimensionen als „Rahmen“ für das darauffolgende Kapitel ausgewertet (Kapitel 6), die ein Kontextverständnis für die Arbeitssituation der befragten Hebammen ermöglichen sollen. Im Anschluss daran werden in Kapitel 7 die drei maßgeblichen arbeitsinhaltlichen Ansprüche von freiberuflichen Hebammen beschrieben. In Kapitel 8 wird das Verhältnis von arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und Verwertungsansprüchen auf verschiedenen Ebenen thematisiert. In Abschnitt 8.1. wird in diesem Zusammenhang der Typus der „Hebamme mit Herz“ herausgearbeitet und in Abschnitt 8.2. der Typus der „Hebamme als Unternehmerin“. Auf Basis der Interviews soll auch dargestellt werden, welche Ideen die befragten Hebammen formulieren, wie sich das Spannungsverhältnis in Zukunft entschärfen lässt (Kapitel 8.3.). Kapitel 9 resümiert und diskutiert die Ergebnisse. Außerdem wird im Fazit auf den weiteren Forschungsbedarf verwiesen und ein Ausblick auf die Zukunft der Hebammenarbeit geboten.
2. Ansprüche an die Erwerbsarbeit zwischen Gebrauchswert und Tauschwert
Warum arbeiten Menschen?1 Zum einen liegt auf der Hand, dass Menschen einer Erwerbsarbeit nachgehen, da diese einen Lohn verspricht, welcher die eigene Existenz absichert. Doch darüber hinaus gibt viele weitere Motivationen zu Arbeiten und Ansprüche an die Arbeit. Das verweist darauf, dass die Erwerbsarbeit grundsätzlich „ein widersprüchliches Verhältnis von Sinn und Zweck“ widerspiegelt (Krempl 2011: 11). Wie Max Weber es ausdrückt, ist die Arbeit für den Arbeitenden sowohl subjektiver Sinnbezug – „das Erwerben als Zweck seines Lebens“ – als auch „Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse“ (Weber 1969: 164). Vor diesem Hintergrund der verschiedenen Funktionen von Arbeit, hat sich die Arbeitssoziologie schon lange damit beschäftigt, welche Einstellungen arbeitende Menschen zu ihrer Tätigkeit einnehmen.
2.1 Der Nutzen von Arbeit? – zur Theorie der arbeitsinhaltlichen Ansprüche
In den frühen sogenannten Bewusstseinsstudien der 1970er Jahren war die These sehr verbreitet, dass Beschäftigte vor allem eine instrumentelle Haltung zur Erwerbsarbeit einnehmen (vgl. Nies 2015: 74). Der Begriff Instrumentalismus beschreibt demnach ein emotional indifferentes, gar gleichgültiges Verhältnis der Beschäftigten zur Arbeit (vgl. Knapp 1981). Für die Arbeitenden steht der Lohn im Mittelpunkt ihrer Arbeitseinstellung, welcher außerhalb des Arbeitszusammenhangs ein angenehmes Leben ermöglichen soll (vgl. Krempl 2011: 13). In ihrer Klassifikation der Erwerbsorientierungen nennen die Autoren Pongratz und Voß dies die tauschwert-orientierte Einstellung (vgl. Pongratz/Voß 2003: 42). Weitere Aspekte einer instrumentellen bzw. tauschwertorientierten Arbeitseinstellung können Ansprüche der Arbeitsplatzsicherheit, des schonenden Umgangs mit der eigenen Arbeitskraft oder genereller Arbeitsbedingungen sein.
Das Instrumentalismustheorem wurde vielfach kritisiert insbesondere wegen der „schiere(n) Unmöglichkeit, eine rein instrumentelle Arbeitshaltung einzunehmen“ (Nies 2015: 80), sowie wegen der fehlenden Bezugspunkte zu den eigentlichen Arbeitsinhalten. Außerdem vernachlässigt die Theorie gänzlich subjektive Arbeitsorientierungen (vgl. Knapp 1981: 149).
Die daran anschließenden Bewusstseinsstudien folgten demnach dem „doppelten Bezug auf Arbeit“ (für einen Überblick s. Nies 2015: 75ff). Arbeit sei für die Beschäftigten immer noch vor allem Mittel zum Zweck des Gelderwerbs – die Instrumentalismusthese bleibt bestehen, aber auch subjektive Erwerbsorientierungen werden in den Untersuchungen mitgedacht und bekommen einen neuen Stellenwert. Dabei betrachtete man nicht unbedingt Orientierungen zur konkreten Arbeit, sondern vielmehr Orientierungen zur Erwerbsarbeit allgemein wie beispielsweise die politischen Einstellungen der Beschäftigten, Gewerkschaftsbindung und Vorstellungen über den gesellschaftlichen Status von ArbeiterInnen (vgl. Nies 2015: 74). Damit verband sich die Idee, „dass sich im Bewusstsein der Beschäftigten ihre soziale Lage in Form der betrieblichen und gesellschaftlichen Bedingungen industrie-kapitalistischer Lohnarbeit widerspiegelt“ (Pongratz/Voß 2003: 39). Dennoch wurden diese beiden Orientierungen zwischen Instrumentalismus und Arbeiterbewusstsein immer noch als zwei Alternativen interpretiert – ein Zusammenfügen dieser wurde nicht angestrebt.
Spätestens seit den 1990er-Jahren gewann das Konzept der Subjektivierung für Beschäftigtenstudien an Relevanz und die Instrumentalismusthese verlor an Dominanz. Mit differenzierteren Betrachtungen der Subjektperspektive wurden beispielsweise Aspekte wie berufliche Identifikation, Arbeitszufriedenheit, Selbstbestimmung, Berufsethos, Anerkennung, Entfaltung oder Professionalität untersucht.
Dennoch blieben abseits dieser normativ fundierten Einstellungen und abstrakter Berufsidentitäten Ansprüche von Beschäftigten zum Nutzen ihrer konkreten Arbeitsleistung und subjektive Sinnbezüge zum Arbeitsergebnis seltsamerweise außen vor (vgl. Nies 2015: 83). Arbeitsprozesse werden betrachtet, aber worauf die Arbeitsprozesse ausgerichtet sind, bleibt unklar: Es fehlt die „systematische Bezugnahme auf Arbeitsinhalte, die den Bezugspunkt der Sinnansprüche an Arbeit bieten“ (ebd.: 14, 105). Die Gefahr dabei ist, dass „die Identifikation mit dem Beruf als die einzige Sinnquelle an Arbeit“ konstruiert wird (ebd.: 111).
Mit einem kritischen Blick darauf, dass das Arbeitsziel arbeitssoziologisch so wenig Beachtung findet, stößt Nies in diese Forschungslücke vor (vgl. ebd.: 117). Sie geht der Frage nach, welche Ansprüche Beschäftigte an die Inhalte, Ergebnisse und Wirkung ihrer Arbeit haben und in welchem Verhältnis diese zu unternehmerischen Anforderungen stehen (vgl. ebd.: 15).
Arbeitsinhaltliche Ansprüche definiert sie folglich als „arbeitsbezogene Ansprüche von Beschäftigten, die sich auf die Wirkung ihrer Arbeit beziehen und auf ihren Vorstellungen darüber beruhen, was Sinn und Zweck ihrer Arbeitstätigkeit ist bzw. sein sollte. Kurz: Es geht um inhaltliche Ansprüche an das Arbeitsergebnis.“ (ebd.: 15).
Das Konzept soll empirisch offen sein (vgl. ebd.: 118). Arbeitsinhaltliche Ansprüche von Beschäftigten können im Arbeitsprozess zutage treten – insbesondere bei interaktiver Arbeit. Aber über abstrakt-prozessbezogenen Analysen hinaus lassen sie sich vor allem nah an den konkreten Arbeitsinhalten und Arbeitsprodukten untersuchen.
Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die arbeitsinhaltlichen Ansprüche mit dem Fokus auf dem konkreten Nutzen des Arbeitsergebnisses für Andere sich nah am Marxschen Gebrauchswert von Arbeitsprodukten bewegen (vgl. ebd.: 118). „Der Gebrauchswertorientierung unter den arbeitsinhaltlichen Ansprüchen [kommt] ein besonderer Stellenwert zu“ (ebd.: 118). In der Kategorisierung der Erwerbsorientierungen nach Pongratz und Voß (2003) entspricht dies der gebrauchswert-orientierten Dimension. Dieser Aspekt der Funktion von Arbeit umfasst auf Seiten der Beschäftigten „das Verständnis nützlicher Arbeit, das Interesse an fach- und sachgerechter Verausgabung von Arbeitskraft sowie Strategien zur Sicherung maßgeblicher Sinnbezüge im Arbeitsgeschehen“ (Pongratz/Voß 2003: 42).
Mit diesem Blick auf die Anderen, die NutzerInnen der Arbeitsergebnisse, eröffnet sich gleichzeitig ein gesellschaftlicher Bezugspunkt der arbeitsinhaltlichen Ansprüche (vgl. Nies 2015: 72). Denn Sinn und Nutzen von Arbeit sind keine individuellen Kategorien, sondern werden gesellschaftlich bestimmt und verweisen auf gesellschaftliche Vorstellungen über den Wert einer Ware (vgl. Voswinkel 2015: 34; Hürtgen 2017: 216). Vor diesem Hintergrund untersucht Nies auch den strukturellen Rahmen gesellschaftlicher und betrieblicher Arbeitsorganisation. Denn im Bezug der arbeitsinhaltlichen Ansprüche auf die Strukturebene können Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen aufgedeckt werden (vgl. Nies 2015: 16).
Anders als Nies (vgl. 2015: 118) sieht Hürtgen arbeitsinhaltliche Ansprüche daher auch nicht als normativ neutrales Konzept. „Basis von Anspruchshaltungen sind normative Vorstellungen davon, was allgemein und insofern auch für einen selbst gerecht ist oder sein soll.“ (Hürtgen 2017: 213). Ansprüche zu stellen bedeutet, Teil der normativ vorgestellten Allgemeinheit zu sein, auf die man sich aktiv handelnd bezieht.“ (ebd.: 214). Damit haben Ansprüche eine Legitimationsfunktion und sind aus Sicht der Akteure gerechtfertigt. Hürtgen begreift „Ansprüche“ als Gegensatz von „Wünschen“, denn Wünsche sind nicht mehr als individuelles und partikulares „Wollen“ (ebd.: 213f).
Instrumentelle Interessen in Bezug auf die Sicherung des Lebensunterhalts sind für Nies kein Gegensatz zu arbeitsinhaltlichen Ansprüchen (vgl. ebd. 2015: 120). Der Blick sollte aber auf die abstrakte Verwertbarkeit der Arbeitsergebnisse gelegt werden und auf deren Beziehung zum Arbeitsnutzen (vgl. ebd.: 81). Damit soll auch die Dichotomisierung von instrumentellen Ansprüchen auf der einen Seite und subjektiven Ansprüchen auf der anderen Seite überwunden werden (vgl. ebd.: 80). Denn Arbeit ist immer beides: Gelderwerb und Sinnstifter, Tauschwert und Gebrauchswert.
Mit diesem Konzept der arbeitsinhaltlichen Ansprüche schließt Sarah Nies die Lücke um die arbeitsbezogenen Sinn-, Zweck- und Zielansprüchen der Beschäftigten und sie bietet damit Anschluss an die Forschung zu Erwerbs- und Arbeitsorientierungen, die inhaltlich über abstrakt-subjektive oder materiell-instrumentelle Interessen von Beschäftigten hinausgehen (vgl. ebd.: 67, 119). Relevant erscheint dieses Konzept, da aktuelle Ökonomisierungsprozesse arbeitsinhaltliche Ansprüche „systematisch in Frage stellen“ und Spannungsfelder auch innerhalb arbeitsinhaltlicher Orientierungen von Beschäftigten hervortreten (vgl. ebd.: 121).
2.2 Der Doppelcharakter der Arbeit nach Marx – eine konflikthafte Beziehung
Wie im vorangegangenen Kapitel bereits angeklungen ist, sind Erwerbsorientierungen sowohl auf den Gebrauchswert als auch auf den Tauschwert der Arbeit in Form des Lohns zurückzuführen. Um diesen Doppelcharakter der Arbeit theoretisch darzustellen, muss auf Marx‘ Warenlehre zurückgegriffen werden.
Waren wohnt ein Doppelcharakter inne (vgl. MEW 23: 62). Nach der Definition von Karl Marx haben sie sowohl einen Gebrauchswert – Marx nennt es die „Nützlichkeit eines Dings“ (vgl. MEW 23: 49), der auf den konkreten Nutzen einer Ware verweist und sich in konkreten sozialen Handlungs- und Gebrauchspraxen realisiert; als auch einen Tauschwert, der das quantitative Austauschverhältnis zwischen „Gebrauchswerten einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art“ beschreibt (MEW 23: 50). Dabei müssen die Waren etwas „gemeinsames“ haben, um sie austauschen zu können – für Marx ist das die in den Waren verronnene menschliche Arbeitszeit (vgl. MEW 23: 54). Nur auf Basis dieses abstrakten, gemeinsamen Nenners, der Arbeitszeit, wird der Wert einer Ware erkennbar, die Waren können als Werte gleichgesetzt und auf diese Weise getauscht werden.
Dieser Doppelcharakter der Waren ist also auch ein Doppelcharakter der Arbeit: Arbeit erschafft Gebrauchswerte, wird daher auch konkret-nützliche Arbeit genannt, und Arbeit erschafft Tauschwerte, ist also wertbildend und wird als abstrakte Arbeit bezeichnet (vgl. MEW 23: 55ff). Verschiedenartige konkret-nützliche Arbeiten können auf der Abstraktionsebene in Tauschwerte, zum Beispiel den Lohn, ausgetauscht und damit vergleichbar gemacht werden. Der Wert einer Ware kann also während der Produktion nur gedacht werden – real wird er im Tauschprozess (vgl. Nies 2015: 70). Der Tauschwert hat damit auch eine soziale Eigenschaft: Der Wert wird gesellschaftlich bestimmt (vgl. Mohan 2019: 52).
Die Schaffung von Gebrauchswerten und die Schaffung von Tauschwerten im Sinne einer Gewinnmaximierung gehen aber nicht Hand in Hand – Marx erkennt diesen Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert (vgl. Mohan 2019: 51). Die konkret-nützliche Arbeit und die abstrakt-verwertbare Arbeit sind zwar unmittelbar miteinander verbunden, dennoch ohne Kausalzusammenhang (vgl. Nies 2015: 124). Der Hauptwiderspruch in dieser Werttheorie ist, dass der Tauschwert die Arbeit abstraktifiziert, gleichzeitig aber ist die unmittelbare Grundlage für diese Abstraktion, dass konkrete Gebrauchswerte produziert werden (vgl. ebd.: 69).
Im kapitalistischen Produktionsprozess steht aus Sicht der Unternehmen vor allem die Verwertung der Arbeit, also die Mehrwertbildung im Mittelpunkt. Bei Marx bezeichnet der Begriff Verwertungsprozess „die spezifische kapitalistische Form des Produktionsprozesses, dessen Zweck die Produktion von Mehrwert und nicht die Befriedigung von Bedürfnissen durch Gebrauchswerte ist“ (Mohan 2019: 48f). Gebrauchswerte spielen nur insofern eine Rolle, als dass sie Quelle und stofflicher Träger der Tauschwerte sind. Auch für die Arbeitenden ist die Produktion von Gebrauchswerten erstmal nur Mittel zum Zweck, als dass sie Schlüssel zu ihrem Lohn sind. Wie im Kapitel zuvor jedoch beschrieben, haben sie aber auch Gebrauchswertorientierungen und Ansprüche an die Nützlichkeit ihrer Arbeit integriert.
Marx Warenlehre haftet die starke Dichotomisierung von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen an. Die Verwertungsperspektive, Tauschwertorientierung und Mehrwertproduktion wird eher mit den ArbeitgeberInnen assoziiert. Ist diese Gegenüberstellung noch aktuell? Vor allem mit Blick auf die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Solo-Selbstständigen verschwimmen Marx‘ Grenzen zwischen ArbeitnehmerInnen- und ArbeitgeberInnenperspektive. In der Solo-Selbständigkeit sind der Tauschwert und der Gebrauchswert der Arbeit direkt erfahrbar. Verwertungszwänge wirken direkter und gleichzeitig erscheint auch die Nützlichkeit der Arbeit durch die Nähe bzw. Involviertheit im Arbeitsprozess greifbarer.
Dieser Blick auf den Doppelcharakter der Arbeit und die durch diese inneren Widersprüche geprägten Arbeitsorientierungen, die verschieden sind, aber trotzdem eng miteinander zusammenhängen, macht das Spannungsfeld zwischen Gebrauchswertorientierungen und Tauschwertorientierungen so interessant. Paradoxien und Konflikte im Produktionsprozess sind Folge dieser „widersprüchlichen Einheit“ von Gebrauchswert und Tauschwert (Nies 2015: 124). In der Realität deutet dieser theoretische Konflikt auf das Spannungsfeld zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und unternehmerischen Verwertungsinteressen hin.
Können diese verschiedenen Ansprüche an die Arbeit auf der Subjektebene eine Synthese bilden? Welche konkreten Gebrauchswertvorstellungen sind bei den Beschäftigten zu finden und welche Stellung nehmen diese gegenüber anderen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen ein (vgl. Nies 2015: 72f)? Inwieweit sind diese mit Verwertungsinteressen verstrickt? Und wie verhält es sich speziell bei Solo-Selbstständigen? Diese Fragen soll die vorliegende Arbeit untersuchen.
3. Arbeiten unter Ökonomisierungsdruck: Ambivalenzen zwischen Verwertungsansprüchen und arbeitsinhaltlichen Ansprüchen
Im Folgenden geht es zunächst theoretisch um den Prozess der Ökonomisierung (Kapitel 3.1.), der – so eine These dieser Arbeit – den Konflikt zwischen Gebrauchswert und Tauschwert der Arbeit verschärft. Darauf folgt ein Kapitel, das empirische Studien zu Ambivalenzen auf der Subjektebene von Beschäftigten aufgreift (Kapitel 3.2.). Daraufhin verengt sich der Fokus auf das Thema Ökonomisierung im Gesundheitsbereich – in der theoretischen Auseinandersetzung (Kapitel 3.3.) sowie bei empirischen Beschäftigtenstudien (Kapitel 3.4.). Zuletzt geht es in diesem Abschnitt um das Thema der Solo-Selbstständigkeit und inwieweit die Thematik und die beschriebenen Ambivalenzen auf Solo-Selbstständige zu übertragen sind (Kapitel 3.5.).
3.1 Ökonomisierung als zeitdiagnostische Vorannahme
Während der Doppelcharakter der Arbeit vielleicht seit je her die Arbeitsorientierung von Menschen in mehr oder weniger spannungsreicher Weise prägt, führt eine neuere Entwicklung dazu, dass dieser Konflikt verschärft wird. Seit den 1990er Jahren ist ein Strukturwandel zu beobachten, der sich in einer Verschiebung der Grenzen zwischen Marktlogiken und betrieblichen Organisationslogiken sowie einer neuen Dominanz bzw. Herrschaft einer marktorientierten Perspektive äußert (vgl. Nies 2015: 123, Hardering 2011: 38, Nowak et al. 2012: 34). Das Konzept der Ökonomisierung wird zur Zeitdiagnose (vgl. Mohan 2019: 14).
Obwohl die empirische Existenz dieses Phänomens der Ökonomisierung auch in der Soziologie unstrittig ist2, mangelt es an theoretischer Einordnung, Konzepten und begrifflicher Schärfe (vgl. Mohan 2019: 11). In der Arbeitssoziologie gibt es verschiedene Begriffe und Akzentsetzungen zum Beschreiben der gegenwärtigen Entwicklung, die teilweise auch synonym verwendet werden. Ob es nun Kommerzialisierung, Kommodifizierung, Kapitalverwertung, ökonomischer Imperialismus oder Vermarktlichung genannt wird (vgl. ebd.: 11), haben diese Begriffe und dahinterstehenden Konzepte aus verschiedenen soziologischen Traditionslinien viele gemeinsame Schnittmengen.
Ohne an dieser Stelle eine tiefergehende Begriffsdiskussion aufgreifen zu können, soll festgehalten werden, dass ich im Folgenden den Begriff Ökonomisierung verwenden werde. Mohan attestiert zwar, dass dieser Begriff in der Vergangenheit eher als politischer Kampfbegriff „denn als präzises soziologisches Diagnoseinstrument“ zu verstehen war, dennoch offenbart dieser Begriff einige Vorteile. Erstens ist es der allgemeinste Begriff, der verschiedene Prozesse der Vermartklichung, Privatisierung oder Kommodifizierung integriert (vgl. ebd. 2019: 12). Zweitens bezieht sich der Begriff Ökonomisierung stärker als andere Begrifflichkeiten auf eine Veränderung der (subjektiven) Denk- und Handlungslogiken (vgl. ebd.: 12), die ich in dieser Studie untersuchen möchte. Der Begriff Vermarktlichung im Sinne der Definition von Sauer (vgl. 2010) dagegen, dessen Konzept häufig Verwendung findet in der Arbeitssoziologie (u.a. Nies 2015, Nowak et al. 2012), setzt vielmehr eine Akzentuierung auf die strukturelle Ebene, die Akteure und Institutionen. Und drittens wird in den Studien, die sich thematisch im Gesundheits- oder Care-Sektor ansiedeln und auf die ich mich beziehe (u.a. Slotala 2011, Hielscher et al. 2013, Jung 2017, Hardering 2018) der Begriff Ökonomisierung vermehrt gebraucht.
Robin Mohan hat vor diesem Hintergrund eine begriffliche und theoretische Schärfung erarbeitet und in Anlehnung an Karl Marx‘ Warenlehre folgende allgemeine Definition vorgelegt:
„Ökonomisierung ist damit als (je feldspezifische) Bewegungsform des Widerspruchs von Gebrauchswert und Tauschwert zu verstehen, in der tauschwert-ökonomische Orientierungen in sozialen Feldern in den Vordergrund treten, in denen ‚Gebrauchswertorientierungen‘ als Eigenwerte institutionalisiert sind; in der sich also Tauschwertorientierungen gegenüber Gebrauchswertorientierungen verselbständigen.“ (ebd. 2019: 77).
In Anlehnung an Max Weber unterscheidet er Felder der Bedarfswirtschaft (z.B. Bildung und Gesundheit), welche sich zwar entsprechend des „wirtschaftlichen Haushaltens“ an Prinzipien der Rationalität orientieren, aber dennoch die sozialen Versorgungsziele fokussieren; und zwischen Feldern der Erwerbswirtschaft, wo die Tauschwertperspektive und damit das Gewinnstreben unabhängig von Gebrauchswerten und Bedarfsorientierung im Mittelpunkt stehen (vgl. Mohan 2019: 40). Die Ökonomisierung ist demnach eine Veränderung der Wirtschaftsart und beschreibt einen Prozess, durch welchen eine erwerbswirtschaftliche, tauschwertorientierte Logik in bedarfswirtschaftlich, gebrauchswertorientiert geprägte Felder vordringt (vgl. ebd.: 41). Dieser Prozess bezeichnet damit eine Grenzüberschreitung und hat eine Umkehr der Mittel-Zweck-Beziehung zur Folge. Eine solche Folge der Ökonomisierung wird zum Zielkonflikt, wenn sich Tauschwertorientierungen gegenüber Gebrauchswert-orientierungen verselbständigen (vgl. ebd.: 78).
Dennoch gibt es zwei Trugschlüsse, die der Begriff der Ökonomisierung nahelegt. Zum einen erscheint Ökonomisierung oft als nicht steuerbares, machtvolles „Durchgreifen der Ökono-mie“ in vormals bedarfsorientierte gesellschaftliche Teilbereiche – obwohl derartige Prozesse in aller Regel staatlich moderiert und politisch initiiert waren (vgl. ebd.: 23). Zum anderen suggeriert der Begriff, dass dieser Wandel erst seit Kurzem stattfindet und nicht-ökonomische Teilbereiche zuvor frei gewesen seien von ökonomischen Zwängen (vgl. ebd.: 23).
Nichtsdestotrotz erscheint der Prozess der Ökonomisierung erst einmal als Druck bzw. diffuser Zwang von außen, auf den Unternehmen, Organisationen und Institutionen reagieren müssen. Durch neue marktorientierte Steuerungsformen der Arbeit wird der Ökonomisierungsdruck über verschiedene Ebenen weitergegeben und für die Beschäftigten direkt erfahrbar: Beschäftigte sind unmittelbar mit Verwertungsanforderungen der Unternehmen konfrontiert (vgl. Nies 2015: 123). Der Ökonomisierungsdruck auf unternehmerischer Ebene ruft somit vielerlei Auswirkungen auf den konkreten Arbeitsalltag der Beschäftigten hervor. Einerseits lassen sich in der Folge verschiedene Formen von Leistungs- oder Zeitdruck, Leistungsverdichtung, Stress und psychischen Belastungserscheinungen empirisch belegen. Andererseits spielt auch die Konflikthaftigkeit auf der Subjektebene eine Rolle. Dadurch, dass die Beschäftigten in ihrer Arbeitspraxis unmittelbar mit der unternehmerischen Verwertungs-perspektive konfrontiert sind, schlägt der „Konflikt zwischen Gebrauchswertlogik und Verwertungsperspektive sich somit, so ist anzunehmen, auch in den Köpfen der Beschäftigten nieder“ (ebd.: 123). Erfahrungen von Dissonanzen, Verlust der Sinnbezüge zur Arbeit und Entfremdung sind die Folge dieser ambivalenten Beziehung zwischen ökonomischer Verwertungsperspektive und dem eigentlichen Nutzen der Tätigkeit (vgl. Hardering 2018: 4f).
Vor diesem Hintergrund ist eine These der vorliegenden Arbeit, dass der Prozess der Ökonomisierung den Konflikt um den Doppelanspruch zwischen der Verwirklichung von arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und unternehmerischen Verwertungsanforderungen verschärft. So schreiben auch Nowak et al., dass durch diesen Prozess „der Widerspruch zwischen Interessenperspektive der Beschäftigten und der unternehmerischen Rentabilitätsperspektive eine neue Zuspitzung“ erfährt (ebd. 2012: 25), weil er auf die Subjektebene übergreift. Dadurch, dass die Ökonomisierung einen Druck ausübt, Rahmenbedingungen, Unternehmensorganisationen, Steuerungsinstrumente einem Wandel unterzogen sind, wirkt sich der Druck auf die Beschäftigten unmittelbarer aus, da sie den Ökonomisierungsdruck direkt erfahren. „Ökonomisierungsprozesse werden von den Beschäftigten selbst ausgeführt und der unternehmerische Wille vollzieht sich über den Willen der Beschäftigten (Glißmann 2000, zit. in Nowak et al. 2012: 26). Der Konflikt wird individualisiert, die Beschäftigten müssen „ihn in sich selbst austragen“ (Nowak et al. 2012: 25).
Gerahmt wird das Thema der vorliegenden Untersuchung auch von zwei in der neueren Arbeits- und Industriesoziologie populären Konzepten. Das eine ist die Subjektivierung und das andere die Entgrenzung von Arbeit. Diese zwei Konzepte tangieren die Themen der vorliegenden Studie, bieten theoretische Ansetzungspunkte, werden mitgedacht, sollen aber nicht im Vordergrund stehen. Nicht zuletzt aus dem Grund, dass weiblich konnotierte Sorgearbeit „grundsätzlich eine andere subjektive Involviertheit (…) sowie andere Arbeitszeiten“ voraussetzt (Nowak et al. 2012: 28).
Entgrenzung definierte Voß 1998 als einen „sozialen Prozess, in dem unter bestimmten historischen Bedingungen entstandene soziale Strukturen der regulierenden Begrenzung von sozialen Vorgängen ganz oder partiell erodieren bzw. aufgelöst werden“ (Voß 1998: 474). Es geht vor allem darum, dass die Grenzen zwischen Arbeit- und Freizeitkontexten verschwimmen, es zu einer Flexibilisierung und Entstrukturierung dieser Beziehung kommt (vgl. Voß 2007: 101; Sauer 2005: 125).
Eng mit dem Konzept der Entgrenzung ist auch das der Subjektivierung verknüpft. Der Schwerpunkt der Subjektivierungsdebatte beschreibt, „dass subjektive Potenziale und Ressourcen in erweiterter Weise vom Betrieb gefordert und vereinnahmt werden“ (Sauer 2005: 15). Es geht darum, dass Unternehmen zunehmend einen ganzheitlichen Zugriff auf die Subjektivität ihrer Beschäftigten als neue ökonomische Ressource anstreben (vgl. Hardering 2011: 41). Beschäftigte werden zu einer „zunehmend individuellere[n] und flexiblere[n] Selbstorganisation von Arbeit“ (Hielscher et al. 2013: 16) gebracht und müssen erforderliche Bedingungen zum erfolgreichen Ausführen ihrer Tätigkeit selbst entwickeln (vgl. Voß 2007: 102f). Die Eigenverantwortlichkeit für berufliche Inhalte, Leistungen, Tätigkeiten wird aktiviert und eine in der Folge „selbstgemanagte“ Intensivierung der Arbeit durch die Beschäftigten als Unternehmensstrategie verfolgt (Nowak et al. 2012: 25). Konflikte zwischen verschiedenen Anspruchsperspektiven werden ausgesourct und müssen auf individueller Ebene begegnet werden (vgl. ebd.: 25f)
Langfristig stünde am Gipfel dieses Wandels von Ökonomisierung, Subjektivierung und Entgrenzung des ökonomisierten Subjekts, wie verschiedene theoretische Ansätze es beschreiben. Für Friedericke Hardering heißt es „Ökonomisierung der Lebensführung“ (2011), Ulrich Bröckling nennt es „unternehmerisches Selbst“ (2007) – eine Ich-AG der Selbstoptimierung, und bei dem Klassiker von Voß und Pongratz heißt es „Arbeitskraftunternehmer“ (1998). Der Arbeitskraftunternehmer (vgl. Voß/Pongratz 1998) integriert unternehmerische Verwertungsinteressen in seine Arbeitsorientierung, ökonomisiert sich selbst nach Marktanforderungen, und der Warencharakter der Arbeitskraft wird wieder sichtbar (vgl. Pongratz/Voß 2000: 235). Die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit, Berufs- und Privatleben verschwimmen und der Ökonomisierungsdruck erfasst alle Bereiche des Alltags (vgl. Bröckling 2007: 48). Die drei Merkmale dieses theoretischen Idealtypus, der sich empirisch nur teilweise überprüfen lässt (vgl. Voß 2007: 99), sind Selbstkontrolle im Arbeitshandeln, Selbst-Ökonomisierung im Sinne der Vermarktung der eigenen Arbeitskraft sowie Selbstrationalisierung in Bezug auf die allgemeine Lebensführung (vgl. ebd.: 99).
Gemeinsam haben diese drei Konzepte, dass sie nicht nur Folgen für die Arbeitswelt, sondern auch für die Lebensrealität der Menschen betrachten. Unternehmerische Denk- und Handlungsfiguren vereinnahmen demnach immer weiter die Alltagswelt und der unternehmerische „spirit“ (Bröckling 2007: 223) dringt in mehr und mehr Bereiche vor. Ebenfalls beschreiben diese theoretischen Ansätze, wie eine solche Verinnerlichung der ökonomischen Verwertungsinteressen auf Subjektebene, eine vermeintliche Lösung der inhärenten Konflikte zwischen nützlicher und verwertbarer Arbeit versprechen, indem auf die freiwillige, selbstgewählte Selbstausbeutung der Beschäftigten ausgewichen wird statt ihnen mit kritischer Reflexion zu begegnen (vgl. Hardering 2011: 44, Pongratz/Voß 2003: 26f).
Insofern bieten derartige Ansätze auch interessante Perspektiven für die vorliegende Arbeit, in der es um berufliche Selbstständigkeit geht. Obwohl sich diese theoretischen Konzepte auf angestellt Beschäftigte beziehen, zeigt es doch, dass der Strukturwandel der Arbeit mehr und mehr zu selbstständigen Arbeitsweisen führt.
3.2 Zwischen zwei Stühlen: Beschäftigte im Spannungsfeld zwischen unternehmerischen Verwertungsinteressen und arbeitsinhaltlichen Orientierungen
Auch die subjektiven arbeitsinhaltlichen Orientierungen von Beschäftigten werden durch unternehmerische Verwertungsinteressen geprägt. Innerbetriebliche Steuerungsmechanismen und Leistungsüberwachung, Arbeitsverdichtung und Leistungsdruck, Effizienz- und Rationalisierungsstrategien mit dem Ziel der Gewinnmaximierung werden für Beschäftigte in ihrem Arbeitsalltag unmittelbar erfahrbar. Im Folgenden sollen zwei empirische Studien dargestellt werden, die untersuchen, wie diese unternehmerischen Verwertungsanforderungen geprägt durch die Ökonomisierung auf die Arbeitsorientierungen der Beschäftigten wirken.
Vester et al. beschreiben in ihrer Studie, für die sie hochqualifizierte Beschäftigte der Automobilindustrie interviewt haben, einen „neuen industriellen Konflikt“ (ebd. 2007: 21). Diesen Konflikt sehen sie zwischen Kapitalverwertungsinteressen auf Seiten der Unternehmen und dem qualitätsorientierten Berufsethos der Beschäftigten. Konkret stellen die Autoren dar, wie der Berufsethos der hochqualifizierten Beschäftigte sich wandelt, da ihrer Arbeit nicht mehr der ehemalige Charakter einer fachlich hochwertig, anspruchsvollen und hoch zu bezahlenden Arbeit zugesprochen wird, was zum Verlust von ehemaligen Privilegien, Status, Anerkennung und Autorität führt (vgl. ebd.: 26). Diesen beruflichen Wandel und die damit einhergehende Entwertung der Expertenarbeit führen sie auf die „neoliberale Managementstrategien“ zurück. Folgen dieses Wandels sind „Eigensinnigkeiten“ der Beschäftigten und eine neue interessenpolitische Mobilisierung.
Die Studie scheint aber wegen des Bezugs auf stärker abstrakte Aspekte wie Berufsethos und Identität sowie dem mangelnden Bezug auf konkrete Arbeitsprozesse eher wenige Anknüpfungspunkte für die vorliegende Untersuchung zu bieten. Dennoch zeigt sie, indem die Bedrohung von Sinnbezügen und unternehmerische Nutzungsstrategien subjektiver Arbeitskraft als „gemeinsame Entwicklungstrends“ analysiert werden (vgl. Nies 2015: 115), interessante Ambivalenzen und Konfliktlinien auf.
Nies (2015) fokussiert sich in ihrer Studie auf ihr Konzept der arbeitsinhaltlichen Ansprüche und untersucht in zwei Fallstudien, in welchem Verhältnis diese arbeitsinhaltlichen Ansprüche zu unternehmerischen Verwertungsanforderungen stehen und wie sich der systemische Widerspruch in dieser Beziehung manifestiert (vgl. ebd.: 16). Sie grenzt sich damit von den gängigen Perspektiven auf subjektive Arbeitsansprüche ab und untersucht konkret die arbeitsbezogenen Ansprüche auf die Wirkung und den Zweck der Arbeit (vgl. ebd.: 331).
Für die Berufsgruppe der IT-EntwicklerInnen und Bank-KundenberaterInnen konnte sie unterschiedliche Spannungsfelder skizzieren. Während für die IT-EntwicklerInnen der Konflikt zwischen dem arbeitsinhaltlichen Anspruch der technischen Qualität und dem Erfüllen der Unternehmensansprüche eher schwach ausgeprägt ist und eher auf einen Ressourcenkonflikt verweist, zeigt sich doch, dass das Spannungsfeld auf individueller Ebene ausgetragen und folglich entweder widerständige „Eigensinnigkeiten“ hervorruft oder durch „freiwillige“, selbstgewählte Mehrarbeit mit selbstausbeuterischen Zügen kompensiert wird (vgl. ebd.: 347ff). Bei den KundenberaterInnen von Banken erweist sich das Spannungsfeld als konfliktreicher. Die Beschäftigten gehen eher kritisch mit dem Vertriebsdruck und seiner Legitimität um. Wenn gleich sie sich auch nicht völlig davon distanzieren, können sie die Verwertungsinteressen nicht bruchlos in ihre arbeitsinhaltlichen Ansprüche integrieren (vgl. ebd.: 217). Sie tragen ebenfalls den Konflikt auf individueller Ebene aus. Da sie aber wenig Handlungsspielraum haben, den Konflikt zwischen bedarfsorientierter, fairer Kundenberatung als arbeitsinhaltlichen Anspruch und dem Erfüllen von unternehmerischen Verkaufszahlen durch Eigensinnigkeiten zu lösen, leiden sie unter Belastungen. Das Gefühl des „permanenten Ungenügens“ und dem Hin- und Her-Gerissen Seins zwischen dem Doppelanspruch prägt den Konflikt (vgl. ebd.: 236).
3.3 Ökonomisierung des Gesundheitssektors – widersprüchliche Logiken
Wie verschiedene empirische Studien zeigen konnten, hat die fortschreitende Ökonomisierung auch den Gesundheitssektor erfasst (vgl. Manzei et al. 2014: 14; Slotala 2011, Mohan 2019). Obwohl ökonomische Gesichtspunkte auch schon in der Vergangenheit im Gesundheitssektor zu finden waren und nicht ausschließlich „neu“ sind, ist eine deutliche Beschleunigung dieser Entwicklung insbesondere durch die Abkehr vom retroperspektiven Kostenerstattungsprinzip und der Einführung des DRG-Systems 2003, welches Fallpauschalen für nahezu alle medizinischen Leistungen im Vorhinein festlegt (vgl. Maio 2014: 16f), eingetreten – das Finanzierungsprinzip der Bedarfsdeckung wurde durch das erwerbswirtschaftliche Finanzierungsprinzip abgelöst (vgl. Mohan 2019: 14f).
Die Besonderheit dabei ist, dass Gesundheits- bzw. Care-Tätigkeiten im Vergleich zu anderen Arbeitsfeldern in anderer Weise von der Ökonomisierung betroffen sind – aus zweierlei Gründen. Erstens erscheint der Gesundheitsbereich als klassisches bedarfsorientiertes, nicht-ökonomisches Arbeitsfeld. Pflegerische oder medizinische Arbeit ist wegen seiner „Unbestimmbarkeiten und Unwägbarkeiten“ und der nicht in Wert zu setzenden zwischenmenschlichen Komponente nur sehr bedingt ökonomisierbar (vgl. Nowak et al. 2012: 37). Daher treten für diesen Bereich Konflikte zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und Verwertungsanforderungen besonders deutlich hervor, weil sich die Logik der Ökonomie grundsätzlich von einer Care- bzw. Medizin-Logik unterscheidet (vgl. Hardering 2018: 7). „Gerade am Krankenbett erweist sich die Logik der Ökonomie als eine der Medizin fremde Logik, weil die Medizin eben keine Dienstleistung ist, sondern eine soziale Praxis“ (Maio 2014: 20). Zweitens gehören Prozesse der Subjektivierung, Flexibilisierung und Entgrenzung – die manche als Folge einer Ökonomisierung erachten (vgl. Hardering 2011: 16) – bei der Care-Arbeit seit je her dazu. Dadurch, dass in der pflegerischen oder medizinischen Arbeit immer schon die Einbringung von Gefühlen und Empathie, also „subjektivierendes Arbeitshandeln“, durch die Beschäftigten erforderlich war, dadurch dass traditionell die pflegerische Arbeit nicht unbedingt in Form von Lohnarbeit und „begrenzter“ Arbeit erfolgte, und dadurch dass Versorgungsbedarf nicht planbar ist und immer schon Flexibilität erforderte, sind diese Entwicklungen für den Gesundheitssektor keine neuen Phänomene – wenn gleich diese auch durch die Ökonomisierung unter Druck geraten (vgl. Nowak et al. 2012: 7, 37ff).
Zur Konkretisierung der Ökonomisierungs-Definition von Mohan für dieses Arbeitsfeld, begreife ich entsprechend der Definition von Manzei et al. Ökonomisierung im Gesundheitsbereich als einen „Prozess der zunehmenden Überlagerung medizinischer und pflegerische Werte, Handlungsmaximen und Entscheidungskriterien mit betriebswirtschaftlichen Argumenten“ (ebd. 2014: 14). Genauso wie Mohan ist Ökonomisierung auch in dieser Definition mehr als reine Sparsamkeit oder „Haushalten“ mit begrenzten finanziellen, stofflichen oder zeitlichen Mitteln (vgl. Mohan 2019: 23).
Wenn man diesen Wandel des Gesundheitswesens lediglich als „marktwirtschaftliche Rationalisierungsmaßnahme“ begreift, lässt sich argumentieren, dass betriebswirtschaftliche Steuerungsinstrumente das Gesundheitssystem vor Ressourcenverschwendung und Unwirtschaftlichkeit bewahren (vgl. Slotala 2011: 61). Da Ressourcen für die gesundheitliche Versorgung endlich sind, soll deren Einsatz möglichst nutzenmaximierend in Sinne einer utilitaristischen Logik erfolgen (vgl. ebd.: 61). Um das zu erreichen und die Gesamtkosten des Gesundheitssystems zu reduzieren, kommt es zu einer ökonomisch-rationalen Umstrukturierung des Gesundheitssektors nach Effizienzgesichtspunkten und einer Intensivierung von Marktlogiken (vgl. ebd.: 59). Das verweist aber noch nicht auf einen Zielkonflikt, denn bestimmte Ziele sollen rational schlicht besser erreicht werden als zuvor (vgl. Mohan 2019:76).
Diese Theorie der ökonomischen Rationalität innerhalb der Public-Health-Forschung wird stark problematisiert. Angesichts von Ressourcenverknappung und Spardiktaten kann eine qualitativ hochwertige, sozial gerechte und bedarfsorientierte Versorgung nicht gewährleistet werden (vgl. Slotala 2011: 57ff, Manzei et al. 2014). Daher ist der Begriff der ökonomischen Rationalität für diesen Wandel des Gesundheitswesens zu schwach. Vielmehr beschreibt der Begriff der Ökonomisierung jenen Zielkonflikt, bei dem Tauschwertorientierungen Gebrauchswertorientierungen beim medizinischen und pflegerischen Handeln überlagern. Im Zielkonflikt überlagern die ökonomischen Organisationsziele den eigentlichen Nutzen der Tätigkeit und das Verhältnis von Mittel und Zweck wird auf den Kopf gestellt (vgl. Hardering 2018: 4; Mohan 2019: 24).
Diese Überlagerung durch ökonomische Logiken lässt sich nicht nur auf strukturell-organisationaler Ebene beobachten, sondern auch im konkreten Arbeitshandeln der Beschäftigten im Gesundheitssektor (vgl. Slotala 2011: 65). Während zu Beginn des Ökonomisierungsprozesses, Beschäftigte im Gesundheitsbereich ökonomische Organisations-logiken noch als „fremde Rationalität“ verstanden, ist zu beobachten, wie im Laufe des Wandels auch die eigene Identität und das konkrete Arbeitshandeln der Beschäftigten betroffen sind (vgl. Hardering 2018: 4; Maio 2014). Der Medizinethiker Maio spricht dabei von „Umprogrammierung“ der Beschäftigten (vgl. 2014: 47). Als „ökonomisiertes Handeln“ bei Beschäftigten im Gesundheitsbereich versteht Slotala im diesem Sinne den „Umstand, dass das empirische Handlungsmotiv im Sinne der ‚formalen Rationalität’ (Max Weber) alleine auf quantitative Geldwerte reduziert ist und die Handlungsoptionen primär darauf hin durchkalkuliert werden, den größten ökonomischen Nutzen zu erzielen.“ (Slotala 2011: 65). Dementgegen stehen die „qualitativen Handlungsmotive“, die sich an der Gesundheit der PatientInnen und der Nützlichkeit der Tätigkeit orientieren (vgl. ebd.: 65). Um diesen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen trotzdem noch gerecht werden zu können, kommt es zu einer quantitativen Ausweitung und Intensivierung der Arbeitsleistung (Nowak et al. 2012: 41ff). Die „freiwillige“ Mehrarbeit ist aber nichts anderes als Entgrenzung – psychische Belastungen sind die Folge (vgl. ebd.: 42).
Diese zwei Handlungsmotive, die der Autor Slotala mit Blick auf die ambulante Pflege beschreibt, stehen als „Zielkonflikt“ zwischen zwei „Grundlogiken und Werteprinzipien“, wobei mehr und mehr die ökonomisierte Handlungslogik zu dominieren droht (vgl. Slotala 2011: 47; 203). Auch Hardering beschreibt diesen Prozess der Verinnerlichung ökonomischer Logiken als alternativlos angesichts des strukturellen Drucks (vgl. Hardering 2018: 7).
Der Ökonomisierungsprozess, „als Naturgewalt und Sachgesetzlichkeit kommuniziert“ erscheint dabei als unwiderruflich und seine Macht legitimiert alle problematischen Folgen mit dem „Verweis auf Pragmatismus“ (Nies 2015: 144). Des Weiteren wurde in der Vergangenheit dieser Wandel nicht nur als unausweichlich, sondern auch als „richtig“ verstanden (vgl. Mohan 2019: 13). Dabei erscheint diese neue Herrschaft durch den Markt wenig greifbar: „Die Omnipräsenz der Marktlogik fördert die Diffusion von Verantwortlichkeit, die Versachlichung von Zwängen und die Anonymisierung von Herrschaft“ (Nies 2015: 143).
Dennoch verläuft dieser Wandel der Ökonomisierung nicht reibungslos, sondern ruft Widerstand und Protest hervor (vgl. Mohan 2019: 15, Slotala 2011: 176). Beschäftigte entwickeln verschiedene Strategien, ihre Handlungsautonomie wiederzuerlangen, sich Rationalisierungsbestrebungen entgegenzusetzen und ihren moralischen Handlungsmaßstäben zu folgen. Wie die subjektive Arbeitsorientierung und Handlungspraxis durch den erlebten Ökonomisierungsdruck beeinflusst werden, inwiefern Beschäftigte im Gesundheitsbereich ökonomischen Handlungskriterien folgen und aktiv in die Ökonomisierung ihrer Arbeit verstrickt sind, haben verschiedene qualitative Studien versucht zu ergründen (s. Kapitel 3.4.). Es geht dabei nicht um die Ökonomisierungsfolgen, sondern um Praktiken, wie Beschäftigte diesem Wandel begegnen und welche Rolle sie darin einnehmen (vgl. Mohan 2019: 16).
3.4 Ökonomisierung medizinischer und pflegerischer Arbeit – Konflikte, Bewältigungs-strategien und Widerständigkeiten auf Subjektebene
Wie genau dieser Zielkonflikt der Ökonomisierung als Verselbstständigung der Tauschwert- gegenüber der Gebrauchswertdimension auf subjektiver Handlungsebene empfunden und ausgetragen wird, konnten verschiedene qualitative Studien zeigen. Diese verwenden teilweise unterschiedliche Begriffe, Konzepte oder Theorien, dennoch scheinen die Erkenntnisse insofern vergleichbar und miteinander in Beziehung zu setzen, als dass sie die verschiedenen Facetten des Spannungsfelds beschreiben. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass erwerbswirtschaftliche und bedarfswirtschaftliche Logiken auf der Handlungsebene der Akteure keine Alternativen sind, sondern sie vielmehr ineinandergreifen und ihre Grenzen in der Praxis verschwimmen (Mohan 2019: 68). Außerdem ist davon auszugehen, dass offen gelebte Tauschwertorientierungen keine Legitimität erfahren, weshalb insbesondere „infor-melle Initiativen und Praktiken“ untersucht werden müssen (vgl. ebd.: 124). Im Folgenden sollen einige dieser Studien für verschiedene Gesundheitsberufe kurz dargestellt werden.
So untersucht Friedericke Hardering (2018) mittels erwerbsbiografischer Interviews mit ÄrztInnen in Führungspositionen, wie sich der Wandel zu ökonomischen Organisationslogiken des Krankenhausmanagements auf ihre subjektiven Entfremdungserfahrungen und Sinnerleben und damit die Handlungsautonomie auswirkt. Sie arbeitet drei kognitiv-emotionale Praktiken der Identitätsarbeit bei ÄrztInnen heraus, die dazu dienen, die eigene Handlungsfähigkeit (wieder) zu erlangen und sich ökonomischen Rationalitäten zu entziehen, die empfundene Entfremdung abzufedern und Sinnzuschreibungen an die Arbeit zu stabilisieren (vgl. Hardering 2018). Die erste Praktik der Ressourcenorientierung beschreibt das Bewusstmachen dessen bzw. den Rückbezug darauf, was im Arbeitsalltag gut läuft und was als sinnvoll gedeutet werden kann. Zweitens werden mit der Praktik der Neubewertung belastende Situationen umgedeutet und subjektiv angeeignet, indem beispielsweise Mehrarbeit als freiwillig und bewusst herbeigeführt interpretiert wird entsprechend des eigenen Selbstbilds. Die dritte Praxis beschreibt den Fokus von ÄrztInnen auf potenzielle Handlungsspielräume in der Zukunft als Anker der Sinnzuschreibung (vgl. ebd.: 14ff).
Hielscher et al. (2013) untersuchen in einer großangelegten mixed-methods Studie, wie Ökonomisierung in der stationären und ambulanten Pflege sowie bei allgemeinen sozialen Dienstleistungen auf verschiedenen Ebenen3 wirkt. Auf Makro-Ebene untersuchen sie Ökono-misierungstendenzen mit Blick auf extern gesetzte Anforderungen und Rahmenbedingungen für die Pflegearbeit. Auf der zweiten Ebene werden Auswirkungen der Ökonomisierung auf betriebliche Strategien, Organisationsstrukturen und Prozesse betrachtet. Auf der Subjektebene interessiert die Autoren, wie sich Ökonomisierung im konkreten Arbeitshandeln der Beschäftigten und ihren Arbeitsorientierungen niederschlägt (vgl. Hielscher et al. 2013: 24). Bei der ambulanten Pflege beschreiben die Autoren für die Subjektebene, dass die Beschäftigten täglich zwei Ansprüche an die Arbeit austarieren müssen: fürsorglich zum Wohl der PatientInnen zu arbeiten und gleichzeitig kostensparend zu arbeiten. Dabei sind sie dem permanenten Zeitdruck in der Arbeitsverrichtung ausgesetzt, der weniger auf Kostenkalküle zurückzuführen ist, möglichst schnell und kostensparend zu arbeiten, sondern vielmehr auf die permanente Abwägung verweist, wie viel Zeit sie einzelnen PatientInnen widmen können und wie das gesamte Zeitkontingent auf alle zu betreuenden Pflegebedürftigen zu verteilen ist (vgl. ebd.: 127): „Eine zu lange Pflegezeit ist daher nicht in erster Linie als ökonomischer Verlust zu betrachten, sondern geht zu Lasten der nachfolgenden Patientinnen und Patienten.“ (ebd.: 127). Die Autoren stellen fest, dass die Pflegekräfte von privaten Anbietern dabei ökonomische Denklogiken bereits stärker inkorporiert haben als Beschäftigte von gemeinnützigen Diensten (vgl. ebd.: 127).
Auch die Autorinnen Nowak, Hausotter und Winker (2012) untersuchen die Subjektkonstruktionen von Beschäftigten in der stationären Altenpflege unter vermarktlichten Rahmenbedingungen und vergleichen diese mit denen von Beschäftigten aus Industrieunternehmen. In ihrer Studie, die das Verhältnis von Arbeit und Leben in der Synthese betrachtet, setzen sie am grundsätzlichen Widerspruch von „gutem Leben“ und kapitalistischer Verwertungslogik an (vgl. Nowak et al. 2012: 7). Sie arbeiten in ihrer Analyse vier Typen von Subjektkonstruktionen heraus und zeichnen verschiedene Konfliktlinien der entgrenzten Arbeits- und Lebensverhältnisse: Den Widerspruch zwischen Begeisterung für den Beruf und dem Leiden unter der tatsächlichen Arbeitsbelastung, den Konflikt zwischen Leistungsverdichtung und Arbeitsqualität, den Konflikt zwischen betrieblichem Leistungsdruck und einem Verlust an Lebensqualität und allgemeiner Zufriedenheit. Darüber hinaus attestieren sie, dass die traditionellen Arbeitsorientierungen dieser Beschäftigten in ihrer entgrenzten und subjektivistischen Charakteristik durch die Ökonomisierung der Gesundheit unter Druck geraten (vgl. ebd.: 37ff).
Robin Mohan (2019), der den Begriff der Ökonomisierung mit Bezug auf Marx, Weber und Bourdieu theoretisch einordnet, untersucht, unter welchen Bedingungen Tauschwertorientierungen für ambulante Pflegekräfte in Krankenhäusern relevant werden und wie die Beschäftigten sich zur Ökonomisierung des Krankenhauses positionieren (vgl. ebd.: 179). Seine Ergebnisse zeigen, dass tauschwertorientierte Verwertungsanforderungen für den Arbeitsalltag von Pflege-Beschäftigten relevant werden abhängig davon, ob die Pflegenden strukturell in Abrechnungsprozesse eingebunden sind; ob einflussreiche Akteure bzw. Vorgesetzte die ökonomische Orientierung vorleben, und ob sich die Pflegenden selbst zu dieser Arbeitsweise eher kritisch oder gleichgültig positionieren (vgl. ebd.: 265). Abschließend attestiert er, dass sich die „Ökonomisierung zu einem eigenständigen arbeitsinhaltlichen Ziel und Anspruch der Pflegekräfte transformiert [...] und sich gegenüber der Sachlogik der konkreten, einzelfallbezogenen PatientInnenversorgung verselbstständigt hat“ (ebd.: 301). Diese Studie bietet praktische Ansetzungspunkte auf der Seite der Tauchwertorientierungen bzw. Verwertungsinteressen.
Für Hebammen, freiberuflich oder angestellt, liegen zu diesem Themenbereich noch wenig aussagekräftige empirische Erkenntnisse vor. Es ist aber davon auszugehen, dass angestellte Hebammen im klinischen Setting bis zu einem gewissen Grad den Ökonomisierungsdruck im Arbeitsalltag ähnlich wie andere Beschäftigte in der stationären Pflege empfinden, wenn gleich auch der Professionalisierungsgrad höher ist. In der Freiberuflichkeit mögen sich Herrschaftsverhältnisse und Verwertungsinteressen differenzierter gestalten.
3.5 Fokus Solo-Selbstständigkeit: andere Konfliktlinien zu erwarten?
Wie schon in den bisher diskutierten empirischen Studien deutlich wird, ist hinsichtlich der Arbeitspraxen die Grenzziehung zwischen abhängig Beschäftigten und selbstständig arbeitenden Menschen nicht ganz deutlich. Im Zuge der Subjektivierung und Ökonomisierung weiten sich selbstständige Arbeitslogiken immer weiter auch auf angestellt Beschäftigte aus. „Durch Prozesse der Vermarktlichung (…) werden die Beschäftigten in ihrer Rolle als abhängig Beschäftigte in eine Lage versetzt, in der sie tendenziell wie selbstständige Unternehmer agieren müssen, ohne dass sie allerdings über entsprechende Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten verfügen.“ (Nies 2015: 141). Unternehmen greifen auf subjektive Ressourcen und Potenziale ihrer Beschäftigten zurück, lassen diese weitestgehend autonom und selbstverantwortlich arbeiten, und können damit Gewinne maximieren. Dadurch, dass die Herrschaft des Marktes verschleiert auftritt, kommt es unter dem Deckmantel der Autonomie und der Selbstbestimmung zu einer neuen scheinbar selbstbestimmten Unterwerfung unter fremdbestimmte ökonomische Zwänge und zur freiwilligen, entgrenzten Selbstausbeutung bei den Beschäftigten (vgl. Moldaschl/Sauer 2000: 219ff). Das Konzept des Arbeitskraftunternehmers (Pongratz/Voß) bekommt in der Diskussion um die „Neue Selbstständigkeit“ neue Relevanz – ist nicht der Selbstständige selbst der Inbegriff des unternehmerischen Verwerters der eigenen Arbeitskraft (vgl. Bögenhold/Fachinger 2010: 64).
Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob das Spannungsfeld des Doppelanspruchs auf die Gruppe der Selbstständigen übertragbar ist oder wie es sich unterscheidet. Bislang drehte sich die Diskussion um abhängig Beschäftigte, bei denen das Verhältnis zwischen subjektiven arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und strukturellen, unternehmerischen Verwertungs-anforderungen ein konflikthaftes sein kann. Dagegen erscheinen bei Selbstständigen Verwertungsinteressen, nicht als autoritäre bzw. fremdgesetzte Anforderungen, sondern gehören zur Arbeitsorientierung dazu und sind daher als Ansprüche zu verstehen. Daher wird im Folgenden auch der Begriff Verwertungsansprüche bei Solo-Selbstständigen verwendet. Es ist zu vermuten, dass bei Selbstständigen, die beide Rollen und Anspruchshaltungen verkörpern, dieses Spannungsfeld anders aussehen kann, da sie es nicht auf abstrakte Strukturen projizieren, sondern es mit sich ausmachen müssen. Gelingt es Selbstständigen arbeitsinhaltliche Ansprüche und Verwertungsansprüche zu vereinbaren? Was verändert sich, wenn Verwertungsinteressen direkt das eigene Einkommen betreffen? Inwieweit werden Verwertungsinteressen selbst zu arbeitsinhaltlichen Ansprüchen? Diese Fragen sollen im Laufe der Auswertung beantwortet werden. An dieser Stelle soll diskutiert werden, in wieweit sich Selbstständige von angestellt Beschäftigten unterscheiden, insbesondere mit Blick auf die Gruppe der Solo-Selbstständigen.
Berufliche Selbstständigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass eigenverantwortlich, selbstbestimmt und nicht weisungsgebunden gearbeitet wird (vgl. Hanemann 2016: 25). Gleichzeitig tragen Selbstständige aber auch die Verantwortung für den beruflichen Erfolg und das unternehmerische Risiko. „Im Selbstverständnis des Unternehmertums gilt dieses Marktrisiko als Legitimation für hohe Gewinne und deren uneingeschränkte Aneignung durch die Unternehmerschaft“ (Pongratz/Simon 2010: 27). Lange wurden Selbstständige als privilegierte Berufsgruppe mit hohem sozio-ökonomischen Status wahrgenommen (vgl. Bögenhold/Fachinger 2010: 63). Idealtypisch wird Unternehmertum als ein bürgerliches Konzept mit Männlichkeit, Solvenz, Verantwortungsbewusstsein und Selbstdisziplinierung assoziiert (vgl. Hanemann 2016: 25). Doch zwischenzeitlich wird deutlich, dass es bei den Selbstständigen nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer gibt und dass die Gruppe der Selbstständigen, was Arbeitssituation, Einkommen und Absicherung angeht, immer heterogener wird (vgl. Bögenhold/Fachinger 2010: 63).
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1 Im Folgenden wird mit dem Begriff „Arbeit“ Erwerbsarbeit gemeint, da sich der Inhalt der Untersuchung um die Erwerbsarbeit von Hebammen und nicht andere (unbezahlte) Arbeiten der Befragten allgemein dreht.
2 Auch wenn Ökonomisierungsprozesse an dieser Stelle nicht im Detail beschrieben werden können, stellt die Diagnose dieses Wandels eine wesentliche konzeptionelle Vorannahme und inhaltlichen Rahmen für die Untersuchung dar.
3 Diese drei Analyse-Ebenen werden auch in der vorliegenden Arbeit (s. Kapitel 8) verwendet.
- Arbeit zitieren
- Caroline Niebuhr (Autor:in), 2019, Die Arbeit von freiberuflichen Hebammen. Ambivalenzen zwischen arbeitsinhaltlichen Ansprüchen und Ökonomisierungsdruck, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/534999