Die Erziehung in Patchwork-Familien. Drei erziehungstheoretische Positionen


Hausarbeit, 2019

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

1. Familie
1.1 Begriff: Familie
1.2 Familienformen
1.3 Die Patchwork-Familie
1.4 Melanie-Mühl über Patchwork-Familie

2. Drei Positionen zu Erziehung
2.1 Jesper Juul: Beziehung statt Erziehung
2.2 David Eberhard: Kinder brauchen Erziehung
2.3 Ruth Abraham: Wie funktioniert „Unerzogen“?

3. Auswertung
3.1 Mühl und Juul
3.2 Mühl und Eberhard
3.3 Mühl und Abraham

Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Grafik: Eheschließung und – scheidung in Deutschland

Einleitung

In Märchen wie z. B. Rapunzel, Aschenputtel oder Schneewittchen wird die Stiefmutter stets als das Böse verkörpert und bekam somit auch gesellschaftlich eine negative Konnotation zugeschrieben – auch „Stiefmuttermotiv“ genannt. Seit den 1980er hat sich dieser Gedanke jedoch kontinuierlich verändert. Stieffamilien bzw. Patchwork-Familien gelten nicht mehr als verpönt, sondern im Gegenteil: als modern. Sie verkörpern, dass der zunehmende Individualismus und Pluralismus auch mit der Familiengemeinschaft kompatibel seien. Angesichts der neukonnotierten Entwicklung ist es lohnend in dieser Arbeit, das nicht stark beforschte Gebiet der Patchwork-Familie zu untersuchen. Dabei soll die Erziehung in der Familie genauer herangezogen werden. Von einer Patchwork-Familie ist dann die Rede, wenn eine Familie rekonstruiert wird, also wenn ein Paar mit mind. einem Kind sich trennt und eines der Elternteile eine neue Beziehung eingeht, wodurch das Kind – wie Juul sagt – einen Bonuselternteil erhält. Das würde für das Kind im übertragenden Sinne bedeuten, neben den biologischen Elternteil einen neuen Vater oder eine neue Mutter zu haben. Als Basisposition dieser Arbeit dient Melanie Mühls Streitschrift: „Die große Patchwork-Lüge“, die sich kritisch bzw. konservativ zu dieser Familienform äußert. Im Bereich der Erziehung liegen drei normative erziehungstheoretische Positionen von Jesper Juul, David Eberhard und Ruth Abraham vor, die im Seminar erarbeitetet wurden und in dieser Arbeit auf Mühl zu beziehen sind. Daraus resultiert folgende Forschungsfrage:

Inwiefern ist Melanie Mühls Position zum Thema Erziehung in Patchwork-Familien mit den drei erziehungstheoretischen Positionen von Jesper Juul, Ruth Abraham und David Eberhard vergleichbar, bzw. mittels der drei erziehungstheoretischen Positionen untersuchbar?

Diese Arbeit ist theoretisch veranlagt, verfügt jedoch über einen kleinen empirischen Anteil. Im ersten Kapitel wird der Begriff „Familie“ kritisch reflektiert, worunter die Patchwork-Familie genauer porträtiert wird – auch Melanie Mühls Positionierung. Im zweiten Kapitel werden die im Seminar erarbeiteten normativen Positionen deskriptiv wiedergegeben. Im dritten Kapitel – das Auswertungskapitel – sollen alle Position ausführlich aufeinander bezogen werden. Zum Schluss erfolgt eine Reflexion über die Arbeit und das in der Hausarbeit erarbeitete Thema.

1. Familie

Das Wort Familie stammt aus dem Lateinischen Familia, was „Gesamtheit der Dienerschaft“ bedeutet. Dass es nicht mehr die Familie gibt, wird spätestens dann sichtbar, wenn Boulevard-Zeitungen über Angelina Jolies1 sogenannten Familienurlaub mit den vielen adoptierten Kindern enthusiastisch berichten, obwohl es nicht dem klassischen Bild der Mutter-Vater-Kind-Beziehung entspricht (Desired 2019). In Bezug darauf wäre der Begriff „Familien“, der jetzt im Plural steht, adäquater. Dieses Kapitel soll zunächst einen Überblick über den Begriff „Familie“ geben. Anschließend sollen die für die Arbeit signifikantesten pluralistischen Familienformen nacheinander porträtiert werden. In Kontext dieser Hausarbeit ist ebenso sinnvoll, sich den Begriff „Patchwork-Familie“ anzunähern.

1.1 Begriff: Familie

Laut dem Theologen Wolfgang Huber sei „Familie […] ein biologisches Phänomen, mit dem jede Person gesegnet ist und dem niemand entrinnt“ (Schulze 2007: S.16). Dieser Definition zufolge wäre die Bezeichnung „Familie“ für Jolie unzutreffend, da die Kinder nicht ihre biologischen Kinder sind, denn sie sind adoptiert. Des Weiteren drückt dieses Zitat aus, dass keiner in der Lage sei, sich von seiner Familie zu trennen, da die Mitglieder biologisch verbunden seien. Die Jusos2 in Oberbayern halten den Begriff hingegen offener und empfinden Familie als einen Ort, „[…] wo Personen zusammenleben und gemeinsam den Alltag gestalten“ (Schulze 2007: S.15). Demnach kann Jolies Gemeinschaft als Familie gezählt werden, da Jolie und ihre Kinder zusammenleben und eine kontinuierliche Beziehung pflegen. Darüber hinaus muss Familie nicht im engen Kontext gedeutet werden, sondern ebenso eine Schulklasse könnte nach dieser Begriffsumschreibung als Familie beschrieben werden. Eine für die Pädagogik wohl passende Umschreibung ist die aus der Internetseite www.regenbogeneltern.de: „Eine Familie ist eine Familie“ (Schulze 2007: S.17). Diese Umschreibung erscheint auf den ersten Blick nach einer simplen Tautologie, aber sie drückt im Wesentlichen aus, dass der Begriff Familie nicht eingrenzbar ist, bzw. nicht nach objektiven sowie gesetzmäßigen Parametern definiert werden kann. Dennoch ist auch der Begriff der Familie für die Pädagogik und Erziehungswissenschaften wichtig, denn sie ist wesentlicher Bestandteil der primären Sozialisationsinstanz, in der Werte und Normen vermittelt werden. Des Weiteren sehen Matthias Grundmann und Dieter Hoffmeister Familie als ein soziales Interaktionssystem, denn die soziale Rolle werde durch einen Elternteil/Erzieher an Heranwachsende vermittelt (Grundmann/Hoffmeister 2007: S.195). Die Familienforschung wurde in der Erziehungswissenschaft im Hinblick auf die Historie zunächst vernachlässigt, denn der erste, der sich klar zu dem positionierte, war der konservative Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl zur Zeit der Industrialisierung. Dieser war der Meinung, die Familie bestehe aus „[…] drei Elemente[n]: Vater, Mutter und Kinder […]“ (Fuhs 2007: S.18-.19). Diese Sichtweise hat die heutige Gesellschaft lediglich überwunden, wodurch die Definition des Begriffs schwieriger zu fassen ist. Die Familie wird nicht länger – wie Riehl sie als dreieinheitlich ausdrückt – als homogene Institution gesehen, sondern als diverse heterogene Institutionen, in denen „Erziehung und Bildung […]“ stattfinden (Grundmann/Hoffmeister 2007: S.194). Diese Bedeutungsverschiebung spielt mit dem sozialen Wandel einher, wie z. B. das neue kulturelle Verständnis der Frau oder die zunehmende Akzeptanz von Homosexualität (Fuhs 2007: S.24-27). Das folgende Kapitel stellt wichtige und neue Familienformen dar.

1.2 Familienformen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

entnommen aus: https://www.weisses-kreuz.de/liebe-wartet/zum-thema-liebe-wartet/gesellschaftliche-situation

Laut Statistisches Bundesamt fiel die Zahl der Eheschließung von ca. 750.000 im Jahr 1950 auf etwa 369.000 im Jahr 2013. Ferner ist zu beobachten, dass sich Ehescheidungen seit 1950 fast verdoppelt haben, welche kausale Auswirkungen auf die Familienformen haben. Der Pluralismus der Familienformen hängt vor allem mit der Individualisierung der Gesellschaft zusammen, woraus ein Wertepluralismus resultiert. Ein Ergebnis des obigen Diagramms ist, dass seit 1950 mehr sogenannte Ein-Eltern-Familien (auch Alleinerziehende) entstanden sind. Unter dieser Form wird verstanden, dass ein Elternteil, das ohne einen Lebenspartner lebt, mit einem mind. Kind in einem Haushalt lebt (Peukert 2007: S.40). Konträr zu sogenannten Normalfamilien sind Ein-Eltern-Familien durch ihre sozioökonomische deprivierte soziale Lage stigmatisiert (Scheuß 2007: vgl. S.109-114). Daneben gibt es, wie vorher induziert, die Normalfamilien, die durch Elternteile – Mutter und Vater – charakterisiert werden, die zusätzlich eigene (biologische) Kinder haben, jedoch sollte hier kritisch hinterfragt werden, was eine normale Familie sei und ob Scheuß kein Ideal mit der Bezeichnung darstellt. Eine weitere und zusätzlich kontroversere Familienform ist die gleichgeschlechtliche, die in der Öffentlichkeit auch salopp „Homo-Ehe“ genannt wird (Peukert 2007: S.43). Wenn es dazu kommt, dass ein Paar sich entscheidet zu heiraten, aber lediglich keine Kinder zu bekommen, dann spricht man von Kinderlose Ehen, die ebenso nicht mehr dem klassischen Familienbild folgen (Peukert 2007: S.41). Die im Kapitel 1.1 erwähnte Jolie würde der Adoptivfamilie zuordnet werden, die durch Adoption die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes annehmen (Peukert 2007: S.45). Eine andere wichtige Familienform – die Patchworkfamilie, die in dieser Arbeit im Vordergrund steht, soll in einem gesonderten Teilkapitel porträtiert werden.

1.3 Die Patchwork-Familie

Da Ehescheidungen seit 1950 insgesamt betrachtet zunehmen, entscheiden sich Elternteile nicht selten, eine neue Beziehung einzugehen (vgl. Kapitel 1.2). Oftmals werden Stieffamilie und Patchwork-Familie gleichgesetzt. In der sogenannten Patchwork-Familie wird mindestens ein Kind in die neue Beziehung eines Partners gebracht, die jetzt sich einen gemeinsamen Haushalt teilen, wohingegen in Stieffamilien, Kinder sich mit ihren neuen sogenannten Stiefeltern einen Haushalt teilen müssen. Die Patchwork-Familie ist also eine Unterkategorie bzw. eine Erscheinungsform der Stieffamilie. Dabei können beide Partner Kinder mit in die Beziehung bringen. Insgesamt sind 10% der Familien in Deutschland Patchwork-Familien (vgl. Kreyenfeld/Heintz-Martin 2012). Die allgemeine Familienforschung befasste sich häufig mit den Konfliktpotenzialen in Patchwork-Familien (Peukert 2007: S.44). Oftmals ist der grundlegende Konfliktursache, dass die rekonstituierten Familien keine gemeinsame Geschichte hätten, sodass ambige Anforderungen seitens der Partner als Eltern an die Kinder unterschiedlich deutlich werden. Zudem verfügen ebenso die Kinder in einer Patchwork-Familie über unterschiedliche Erwartungshaltungen gegenüber den „neuen“ Vaters bzw. Mutters. Für viele Kinder bedeute dies ferner einen Verlust bzw. einen befürchteten Verlust einer engen Eltern-Kind-Beziehung, weshalb Kinder anfangs die Beziehung zum neuen Elternteil ablehnen, um Loyalitätskonflikte mit dem Elternteil zu verhindern, der außerhalb des neuen Haushalts lebt (Peukert 2007: S.44-45). Wenn Kinder bis zum dritten Lebensjahr in eine Patchwork-Familie integriert werden, haben sie die obengenannten Probleme nicht, da die Bindung zu den Eltern nicht so stark sei (Steinbach 2015: S.596). Die Patchwork-Familie ist nicht nur durch Konfliktpotenziale stigmatisiert, sondern bekommt eine zunehmende eine positive Konnotation zugeschrieben. Grundsätzlich können Stiefeltern das Verhalten des Kindes objektiver beurteilen als die sogenannten leiblichen. Des Weiteren trainiere man die Teamfähigkeit und das Sozialverhalten, da man in der neuen komplexen Konstellation mit zunächst Fremden zurechtkommen müsse. Für jedes Patchwork-Familienmitglied heißt es zudem, dass mehr Bezugspersonen entstehen können und dies sowohl seitens der neuen Familie als auch der des Mitglieds außerhalb der neuen Patchwork-Familie.

1.4 Melanie-Mühl über Patchwork-Familie

Melanie Mühl stellt in ihrer Streitschrift das Konzept der Patchwork-Familie kritisch dar. In ihrer Streitschrift stellt sie hauptsächlich dar, welche Folgen Trennungen und neue Partnerschaften auf Kinder haben können, dabei nutzt sie empirisches Material, um ihre Position zu akzentuieren. Die Eltern-Kind-Beziehung sei die wichtigste Beziehung und dürfe deshalb nicht aufs Spiel gesetzt werden. Zum einen kritisiert Mühl anfangs die verzerrte Darstellung der Medien zum Thema Patchwork-Familie und somit der Familienform eine gewisse Legitimität verleiht. Vor allem wird die Idealisierung dieser Familienform in den Medien kritisiert, die auf viele Rezipienten suggestiv wirkt. Dass in einer Patchwork-Familie alle Gewinner seien und dass es keine Verlierer gebe, revidiert Väter- und Scheidungsforschung. Das Kind eines geschiedenen Paares betrachte nicht primär die Tatsache, dass es einen neuen Elternteil habe, sondern den Verlust des Elternteils, wodurch sich in einem ständigen Loyalitätskonflikt stünden. Des Weiteren argumentiert Mühl mit einer Statistik über Alkoholkonsum. Jedes vierte vierzehnjähriges Kind eines geschiedenen Paares konsumiere Alkohol. Die allgemeine Prozentzahl sei hingegen 9%. Auch die Selbstmordrate sei bei sogenannten Scheidungskindern höher. Sie hätten ein dreifach so hohes Risiko. Auch die schulischen Leistungen würden sich zu 100% verschlechtern. Gleichzeitig sei ebenso ein Selbstwertgefühlsverlust sichtbar.

Über die Erziehung sagt Mühl, sie brauche Regeln und klare Anweisungen. Wenn man einem Kind allein die Erziehung überlasse, würde man es überfordern. Diese Form von Erziehung sei in Patchwork-Familien deshalb schwierig, weil Kinder zum „neuen“ Elternteil nicht eine allzu starke Beziehung hätten, bei dem ein Kind dem gehorcht. Der Elternteil bekomme Antworten zu spüren, wie z. B., dass er/sie nicht ihre/seine Mutter/Vater sei. Die Erziehung seitens des biologischen Vaters ist ebenso schwierig, weil sie sich keinen gemeinsamen Haushalt teilen – vor allem wenn geografische Hürden überwunden werden müssen.

Im Ganzen appelliert Mühl an die Eltern und möchte ihnen vor Augen führen, welche Konsequenzen nicht nur Scheidungen haben können, sondern inwieweit eine neue Beziehung dem Kind schaden kann und somit ihre Entscheidungen zu überdenken (Mühl 2011).

2. Drei Positionen zu Erziehung

Das vorliegende Kapitel stellt die die grundlegenden Positionen da, die im darauffolgenden Kapitel mit der Position von Melanie Mühl verglichen werden. Die Textauswahl basiert auf die im Seminar erarbeiten Texte. Alle Texte äußern sich zum Thema Erziehung.

2.1 Jesper Juul: Beziehung statt Erziehung

In einem Interview – geführt von Victoria Schneider – stellt Jesper Juul die These „Beziehung statt Erziehung“ auf, womit sie versucht, den neuen Erziehungsstil zu beschreiben. Es gebe pluralistische Familienformen, wobei viele Eltern ihren Kindern zu viele Freiheiten bieten würden. Viele Eltern würden sich nicht trauen, ihre Kinder zu bestrafen – aus Angst vor Autorität und somit dem Kind wehzutun. Die Familie habe nun den Anspruch, demokratisch zu sein, sodass Kinder bei jeglichen Sachen befragt werden müssten, womit die Eltern ein Stück weit ihre Verantwortung abgeben, sodass das Kind nicht mehr nach dem Konzept „Gehorsamkeit“ erzogen wird, sondern das Kind durch die vielen Entscheidungen kontinuierlich unter Druck gesetzt wird. Kinder würden es begrüßen, wenn man ihnen ab und an jegliche Verantwortung abnehme. Deshalb fordert Juul, nicht nur in der Polarität zwischen autoritär und „Laissez-faire“ zu denken, sondern Alternativen zu finden. Ihr Argument ist, wenn sich die Familie historisch verändert hat, muss sich die Erziehung ebenso verändern.

Es mangele an Kommunikation innerhalb der Familien, da Eltern nur Fragen stellen und nicht in einen Dialog mit dem Kind treten, weshalb Juul die These der „Beziehung statt Erziehung“ vertritt, was bedeutet, dass es durch bspw. Ausflüge die Eltern-Kind-Beziehung regelmäßig gepflegt werden müsste. Bei getrennten Familien sei ein symmetrischer Beziehungsaufbau zum Teil schwierig, weil sie nicht gemeinsam leben. Es gebe zwar die Möglichkeit, ein Elternteil kontinuierlich jedes Wochenende zu sehen, nur wenn es ebenso geografisch funktioniert. Oft stehen sich Eltern in geschiedenen Familien selbst im Weg, indem sie eine Art Schieflage beim Kind evozieren bzw. sich gegenseitig denunzieren.

Juul hat beobachtet, dass Männer in geschiedenen öfters die „Polizist-Rolle“ spielen, sodass bei ihnen zwar eine Erziehungsfähigkeit vorhanden sei, aber sie es noch nie gemacht hätten, weshalb eine Beziehung zum Kind schwierig sei. Zum Schluss plädiert Juul für einen Paradigmenwechsel (Jesper Juul 20123 ).

2.2 David Eberhard: Kinder brauchen Erziehung

Eberhard beginnt seinen Aufsatz, indem er kritisiert, dass Eltern Angst haben, Fehler zu machen in jeglichen Bereichen, was – wie auch Juul die Meinung vertritt – dazu führt, dass Eltern Angst haben mal, autoritär zu sein bzw. die Richtung anzugeben. Es bestehe den Drang, in allen Dimensionen das Kind zu einem perfekten Wesen zu erziehen.

Sie sollen ein gutes Selbstwertgefühl haben, einfühlsam und gleichzeitig ein bisschen cool und sowie rhetorisch fit sein, Dinge hinterfragen und selbstständig handeln. Sie sollen in ihrem Denken kritisch sein. Wir wollen sie lenken und steuern und glückliche und erfolgreiche Individuen erschaffen (Eberhard 2013: S.92).

Eberhard stellt jedoch fest, dass die Kinder nie zu dem werden, wie die Eltern sich es vorstellen. Viele Eltern würden sich an sogenannten Experten-Meinungen orientieren, die versuchen, die Erziehung zu objektivieren. Der Fehler darin bestehe nur, dass Erziehung moralisch und ideologisch sei und nicht objektiviert werden könne. Die Orientierung an Experten-Meinungen evoziere bei Eltern ein überempfindliches Sicherheitsdenken. Es gebe „[…] unzählige Moralapostel, die sich als Beschützer der Kinder generieren“, die sich der Sorge der Eltern zunutze machen in Form von z. B. Familientherapeuten (Eberhard 2013: S.92ff.). Um seine zentrale These „Kinder brauchen Erziehung“ zu bestärken, nutzt er zum einen ein literarisches Beispiel aus dem Roman „Herr der Fliegen“ von William Golding, indem bei einem Flugabsturz zu beobachten ist, dass die Kinder, die anfangs alle befreundet waren, Gruppen bilden und sich letztendlich umbringen, da keine Autorität eingeschritten ist und ein psychologisches Beispiel, in dem moderate und in jeglichen Merkmalen ähnliche Jungs in einem Camp in zwei unterschiedliche Lager gespaltet wurden und daraufhin in einem Wettbewerb versuchten, das jeweilige andere Lager zu zerstören. Eberhardts Synthese ist also, Erziehung müsse von einer Älteren gelenkt werden (Eberhardt 2013: S.92-93).

2.3 Ruth Abraham: Wie funktioniert „Unerzogen“?

Für die Soziologin Ruth Abraham ist Erziehung eine Prävention der Selbstentfaltung jenes Kindes. Man versuche, das Kind zu verändern und gar zu manipulieren, weshalb Erziehung ihrer Auffassung nach schädlich sei. Abraham ordnet sich selbst der Antipädagogik zu, in der festgestellt wurde, dass Kinder ebenso Rechte haben und nicht durch Gewalt zu formen sind. Die Erziehung führe dazu, dass Kinder objektiviert werden würden und man sie nicht als Subjekt betrachte, denn es ginge darum, eifrig ein Ziel zu verfolgen, ohne sich die Gefühle der Kinder anzuschauen. Gewalt bedeutet nicht nur, das Kind zu schlagen, sondern auch Erwartungshaltungen seitens der Eltern gegenüber den Kindern, wie bspw. höflich sein und es zu bestrafen, wenn sie nicht dem nachgehen. In diesem Fall sollte die Integrität des Kindes im Vordergrund stehen. Es ginge nicht darum, dem Kind beizubringen, dass es keine Regeln gebe, sondern es eine freie Umgebung zu bieten, in dem man nicht jedes Mal „Nein!“ oder „Lass das!“ sagt. Beim Thema Medien und Süßigkeiten müsse es aber Grenzen geben, allerdings nicht vor dem Hintergrund der Doppelmoral, d. h. Eltern dürfen selbst nicht viele Süßigkeiten verzehren, bzw. den gesamten Tag vor dem Fernseher sitzen. Wenn das Kind sich mal nicht kooperativ zeigen sollte, ist es angemessen, es gelegentlich zu lassen. Wenn dazu kommt, dass der Partner nicht von diesem Konzept überzeugt ist, müsse man sich für eine Methode einigen, zur Not auch für die Erziehung (Abraham 2014).

3. Auswertung

Dieser Teil ist das Auswertungskapitel, das die vorher porträtieren Positionen mit Mühls Erziehungsvorstellung/-beschreibung in Beziehung gebracht werden soll. Anbetracht des Aspekts, dass die Erziehung in Patchwork-Familien nicht direkt in den drei Positionen klar ist, besteht in diesem Kapitel die Transferleistung und somit die Eigenarbeit.

3.1 Mühl und Juul

In der These, dass Erziehung Leitung und Richtung brauche, sind sich beide Autorinnen einig. Juul kritisiert: „Die meisten jungen Eltern wollen demokratisch sein, doch dann liegt plötzlich die ganze Führung in den Händen des Kindes.“ (Juul 2012). Mühl interpretiert diese Form von Erziehung kritisch als Beziehung auf Augenhöhe mit den Eltern, weshalb ihrer Meinung nach Erziehung „[…] Hierarchien und Regeln“ brauche (Mühl 2011: S.91).

Schon als Kind, viel Verantwortung zu übernehmen, sieht Juul grundsätzlich nicht als falsch, aber das Kind dürfe ebenso nicht zu viel Verantwortung übernehmen und totale Freiheit, denn „Das ist der Stressfaktor Nummer Eins, […] wir sind nicht dazu erzogen.“ (Juul 2012). Mühl ist ähnlich der Meinung, wer dem Kind zu viel Verantwortung zuschreibe, der dränge das Kind in die Partnerrolle, denn es handele sich demnach um eine symbiotische Beziehung und um keine asymmetrische mehr, wie dafür plädiert. Demzufolge überfordern Eltern ihre Kinder, da sie „[…] die Vernunft eines Erwachsenen“ erwarteten (Mühl 2011: S.91-92).

Angesichts des Aspekts, dass Kinder, deren Eltern sich geschieden haben und nun einen Stiefelternteil haben, stehen sehen sie im Loyalitätskonflikt (Vgl. Kapitel 1.3). Einerseits wolle man als Kind den Stiefelternteil akzeptieren, aber andererseits wolle man den biologischen Elternteil nicht „hintergehen“ (Mühl 2011: S.124-125). Der Loyalitätskonflikt steht vor allem Juuls zentralen These „Beziehung statt Erziehung“ im Weg. Mühl argumentiert: „[…] nichtverwandte Kinder spüren, dass sie gegen diesen biologischen Mechanismus absolut chancenlos sind […]“ (Mühl 2011: S.124). Zudem bringen Kinder oft nicht viel Verständnis für die neue Lebenssituation mit, da sie damit überfordert seien. Der Satz: „Du hast mir nichts zu sagen, du bist nicht mein Vater“4 empfindet Mühl als zutreffend, da das Kind nie einschätzen könne, wie lange der Stiefelternteil bleibe (Mühl 2011: S.136). Das sind nach Mühl Hürden, weshalb die „Beziehung statt Erziehung“ beeinträchtigt werden könnte, bzw. Nachteile gegenüber sogenannten Kernfamilien und somit nicht dem Erziehungsideal Juuls entspricht.

Juul ist die einzige Autorin der drei Positionen, die das Thema Scheidung thematisiert. Sie vertritt die Meinung, dass ein Beziehungsaufbau mit dem biologischen Elternteil im Falle einer Scheidung komplizierter sei. Zum einen könne es geografische Hürden geben, in der die Kinder gezwungen sind, für eine Zeit beim biologischen Elternteil zu bleiben (Juul 2012). Wenn sich Elternteil und Kind sich nach einem Treffen trennen, ist: „Die Beziehung, die man eben noch eben so für einige Tage aufgewärmt war, [abkühlt]“ (Mühl 2011: S.125). Mühl bringt hier ebenso – wie Juul – zum Ausdruck, dass der Beziehungsaufbau schwierig ist.

3.2 Mühl und Eberhard

Auch die beiden Positionen ähnlich sich. Beide Autor*innen beklagen die Unsicherheit der Eltern, die sich zusätzlich an Ratgebern wenden, damit aber die Eltern nur verwirren. So schreibt Mühl beschreibt: „Mittlerweile suchen viele Eltern schon bei den kleinsten Problemen in Büchern nach Hilfe“, vor allem im Kontext der Patchwork-Familie (Mühl 2011: S.91). Eberhard sieht hierin ebenso ein Problem und appelliert an Eltern, alles zu ignorieren „[…] wenn diverse ,Experten‘ mit dem Zeigefinger drohen und vorgeben zu wissen, wie man sich zu verhalten hat“ (Eberhard 2013: S.92).

Erwähnenswert sind die Analogien, mit den beide Autor*innen ihre Argumentation bekräftigen. Zum einen nutzt Eberhard eine literarische Analogie – die des Romans „Herr der Fliegen“, indem bei einem Flugabsturz von ausschließlich Kindern zu beobachten ist, dass die Kinder Gruppen bilden und sich letztendlich umbringen (vgl. Kapitel 2.2). Aus der Analogie resultiert, „[…] dass es nicht ratsam ist, Kindern ihre Erziehung selbst zu überlassen“ (Eberhardt 2013: S.92). Ähnlich verwendet Mühl eine Analogie:

Ein Partner ist ein Mensch auf Augenhöhe. Mit einem Partner setzt man sich auseinander, findet gemeinsam Lösungen und lehnt sich an dessen Schulter, wenn über einem alles zusammenstürzt. Die Schultern von Kindern sind zu schmal, als dass sich Eltern daran anlehnen könnten (Mühl 2011: S.91)

Mühl meint hiermit, dass wenn man Kindern ihre Erziehung überlasse, sie überfordert seien. Beide Autor*innen sind der Meinung, dass Kinder von außen Erziehung brauchen, bei Mühl am besten durch biologische Elternteile. Diese These wird bei beiden nicht nur durch Analogien zum Ausdruck gebracht, sondern bei Eberhard ebenso durch den Titel „Kinder brauchen Erziehung“. Wie ebenso im vorherigen Teilkapitel induziert, plädiert Mühl auf eine Erziehung mit „[…] Hierarchien und Regeln“ (Mühl 2011: S.92). Das Handhaben in Scheidungsfamilien ist hier nicht präzisiert. Angesichts der zentralen Thesen, dass Kinder Erziehung bräuchten, lässt sich dieser Gedanke ebenso in Patchwork-Familien realisieren, da beide Eltern in der Lage sein sollten, Regeln zu bestimmen. Eine Hürde könnte beim Stiefelternteil entstehen, wenn sich das Kind darauf einlässt, wie schon im vorherigen Teilkapitel beschrieben. Wenn keine Beziehung entsteht, ist dieser Prozess schwierig.

3.3 Mühl und Abraham

Schon bei Abraham ist eine Kritik gegenüber konservativen Formen der Erziehung zu sichtbar, die offensichtlich bei Mühl auftritt. Ganz grundlegend unterscheiden sich beide darin, dass Mühl klare Forderungen/Regeln an die Erziehung stellt (Mühl 2011: S.93). Abrahms zentrale These hingegen ist die, dass Kinder keine Erziehung bräuchten (Abrahm 2004).

Beide Autorinnen jedoch sind der Meinung, die Integrität der Kinder im Vordergrund stehen solle, wobei sie dies unterschiedlich formulieren. Abraham bringt zum Ausdruck, Kinder bräuchten keine Erziehung und Mühl argumentiert hingegen, dass Patchwork-Familien auf unterschiedlichen Dimensionen schaden.

Obwohl sich beide Autorinnen grundsätzlich auf dem ersten Blick unterschiedliche Positionen vertreten, verbinden sie doch einige Aspekte. Abraham geht es darum, das Kind bei Entscheidungen mit einzubeziehen (Abraham 2013). Allerdings kritisiert Mühl simultan gerade den Punkt, denn keiner stelle die Frage „[…] ob man seine [Stief-]Mutter und Vater sympathisch findet […]“ (Mühl 2011: S.124). Dadurch fühle sich das Kind in der neuen Familie automatisch abgelehnt (ebd.). Ferner appelliert Abraham am Ende des Interviews darauf, nicht unterschiedliche Erziehungsstile zu verwenden, die im Falle einer Patchwork-Familie kollidieren (Abrahm 2013). Mühl sieht die „Unterschiedliche[n] Erziehungsstile“ ebenso als ein Problem für die Kinder (Mühl 2011: S.124).

Fazit

Ziel dieser Arbeit ist es gewesen, den Erziehungsstil in Patchwork-Familien nach der Beschreibung Melanie Mühls zu analysieren und die Positionen sowie Argumentation miteinander zu vergleichen – auch die Argumentationen. Dazu wurden die Positionen dargestellt und in einem gesonderten Kapitel aufeinander bezogen. Insgesamt lag der Fokus in Melanie Mühls Streitschrift nicht unbedingt auf die Erziehung in Patchwork-Familien, die aber angesprochen wird. Daraus resultiert, dass Melanie Mühls Vorstellung über Erziehung am stärksten die Position des Autors Eberhardt zuzuordnen ist. Beide sind der grundlegenden Auffassung, Kinder bräuchten Erziehung. Allerdings spricht Eberhardt ebenso über das Fehlermachen, das bei Mühl nicht auftritt. Interessant sind die kleinen Parallelen zwischen Abraham und Melanie Mühl, obwohl es scheint, als wenn sie beide konträre Positionen vertreten, wie z. B. dass die Integrität des Kindes im Vordergrund stellen sollte und dazu eine Befragung nach ihren Bedürfnissen ginge. Diese Arbeit wird nicht die Frage beantworten, welche Erziehungsmethode am sinnvollsten ist, bzw. ob sich Erziehung sich überhaupt lohnt. Dazu gibt es offensichtlich unterschiedliche Positionen zu, die alle Stärken und Schwächen erweisen. Angesichts der Tatsache, dass das Gebiet der Patchwork-Familien nicht stark beforscht ist, trägt diese Hausarbeit zum Diskurs der Erziehung in Patchwork-Familien bei, welcher noch weniger beforscht ist und lässt gleichzeitig nicht ausschließen, dass diese Familienform, die eigentlich nicht neu ist, sondern nur mehr Zuspruch gewinnt, stärker von unterschiedlichen Forschungen herangezogen wird. Da in dieser Hausarbeit auf theoretischer Ebene gearbeitet wurde, ist es sinnvoll, eine empirische Arbeit über Patchwork-Familien zu schreiben, die quantitativ veranlagt ist, wie erfolgreich diese Familienform ist im Hinblick auf Parametern wie z. B Bildungserfolg, Scheidung und Berufserfolg.

Literaturverzeichnis

Angelina Jolie: Urlaub mit zwölf Kindermädchen | desired.de (2019). Desired. Online verfügbar unter https://www.desired.de/stars/hollywood/angelina-jolie-urlaub-mit-zwoelf-kindermaedchen/, zuletzt geprüft am 03.09.2019.

Eberhard, David (2015): Kinder an der Macht. Die monströsen Auswüchse liberaler Erziehung. 2. Auflage. München: Kösel.

Ecarius, Jutta (Hg.) (2007): Handbuch Familie. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.

Fuhs, Burkhard (2007): Zur Geschichte der Familie. In: Jutta Ecarius (Hg.): Handbuch Familie. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, S. 17–35.4

Grundmann, Matthias; Hoffmeister, Dieter (2009): Familie als Interaktions- und Beziehungsgeflecht. Zum Wandel der Familie als Erziehungsinstanz. In: HILDEGARDWITZKE MONIKALADENTHIN VOLKERMED MACHA (Hg.): HANDBUCH DER ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTBAND III. Familie-kindheit-jugend-gender /umwelten. [S.l.]: VERLAG FERDINAND SCHONING.

Hill, Paul B.; Kopp, Johannes (Hg.) (2015): Handbuch Familiensoziologie. Wiesbaden: Springer VS (Handbuch).

Jesper Juul (2012): Jesper Juul: „Beziehung statt Erziehung“. Online verfügbar unter https://www.ksta.de/jesper-juul--beziehung-statt-erziehung--10111414, zuletzt geprüft am 23.09.2019.

Mühl, Melanie (2011): Die Patchwork-Lüge. Eine Streitschrift. München: Hanser.

Niejahr, Elisabeth; Thiede, Rocco (2012): Alles auf Anfang. Die Wahrheit über Patchwork. 1. Aufl. Berlin: Aufbau-Verl.

Peuckert, Rüdiger (2007): Zur aktuellen Lage der Familie. In: Jutta Ecarius (Hg.): Handbuch Familie, Bd. 16. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, S. 36–56.

Ruth Abraham: Wie funktioniert «Unerzogen»? Online verfügbar unter https://www.wireltern.ch/artikel/unerzogen-ruth-abraham-interview-0319, zuletzt geprüft am 23.09.2019.

Schulze, Micha; Do, Dat tat (Hg.) (2007): Alles, was Familie ist. Die neue Vielfalt: Patchwork-, Wahl- und Regenbogenfamilien. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf.

Steinbach, Anja (2015): Stieffamilien. In: Paul B. Hill und Johannes Kopp (Hg.): Handbuch Familiensoziologie. Wiesbaden: Springer VS (Handbuch), S. 563–610.

[...]


1 Eine US-amerikanische Schauspielerin

2 Jusos: Jungsozialisten; Jugendorganisation der SPD

3 Interview „Beziehung statt Erziehung“ geführt von Vanessa Schneider aus Kölner Stadt-Anzeiger

4 Ebenso auf Stiefmütter anwendbar

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Erziehung in Patchwork-Familien. Drei erziehungstheoretische Positionen
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
18
Katalognummer
V536514
ISBN (eBook)
9783346127693
ISBN (Buch)
9783346127709
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erziehung, patchwork-familien, drei, positionen
Arbeit zitieren
Sidney Oliveira (Autor:in), 2019, Die Erziehung in Patchwork-Familien. Drei erziehungstheoretische Positionen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/536514

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