Beschreibung und Überprüfung der Wirksamkeit eines systematischen Lesetrainings auf Silbenbasis für leseschwache ZweitklässlerInnen


Masterarbeit, 2015

88 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhalt

Danksagung

Zusammenfassung

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Theorieteil
2.1 Leseerwerb und Leseprozesse
2.1.1 Prozessebenen des Lesens
2.1.2 Die visuelle Worterkennung
2.1.3 Stufenmodell zur Entwicklung der Worterkennung
2.1.4 Leseflüssigkeit
2.1.5 Schwierigkeiten im Aneignungsprozess der Worterkennung
2.2 Leseförderung der visuellen Worterkennung
2.2.1 Methodische Gestaltung einer Leseförderung
2.2.2 Verarbeitungseinheiten unterhalb der Wortebene
2.2.3 Silbenbasierte Programme zur Leseförderung auf der Wortebene
2.3 Forschungsfragen

3 Methodik
3.1 Beschreibung Lesetraining Lesen mit Willy Wortbär
3.2 Durchführung des Lesetrainings
3.3 Rekrutierung der Stichprobe und Versuchsplan
3.4 Beschreibung der eingesetzten Erhebungsinstrumente
3.4.1 ProDi-L-Subtest visuelle Worterkennung
3.4.2 ELFE 1 6 Subtest Textverständnis
3.4.3 Culture Fair Intelligenz Test 1 (CFT)
3.4.4 Züricher Lesetest II (ZLT II)
3.5 Statistische Verfahren

4 Ergebnisse
4.1 Deskriptive Statistiken und Korrelationsanalysen
4.2 Ergebnisse
4.2.1 Effekte Phonologische Rekodierung
4.2.2 Effekte Orthographischer Vergleich
4.2.3 Effekte Textverständnis
4.3 Weiterführende explorative Analysen
4.3.1 Effekte Zugriff auf die Wortbedeutung
4.3.2 Ergebnisse qualitative Analyse Experimentalgruppe Fulda

5 Diskussion
5.1 Phonologische Rekodierung
5.2 Orthographischer Vergleich
5.3 Zugriff auf die Wortbedeutung
5.4 Textverständnis
5.5 Reflexion und Implikation für Forschung und Praxis

6 Schlussbemerkung

7 Literaturverzeichnis

Anhang

Danksagung

- Mein besonderer Dank gilt Frau Dr. Bettina Müller, die mir ermöglicht hat, an der Universität Kassel, Institut für Allgemeine Psychologie, im Rahmen meines Forschungspraktikums an der Entwicklung des Lesetrainings Lesen mit Willy Wortbär und der vorliegenden Studie mitzuarbeiten. Dieses Praktikum mündete in dieser Masterarbeit. Ich bedanke mich für ihre Anregungen, ihre geduldigen und hilfreichen Gespräche, kritische Diskussionen und Unterstützung, die für diese empirische Arbeit erforderlich waren.
- Bei Frau Reuter-Liehr bedanke ich mich für die gute Ausbildung als LRS-Therapeutin und ihre anregenden und kritischen Gespräche im Zusammenhang mit der Masterarbeit. Nicht zuletzt verdanke ich ihr mein großes Interesse und die Freude an der Auseinandersetzung mit der Förderung lese-rechtschreibschwacher Kinder und Jugendlicher.
- Bedanken möchte ich mich auch bei dem Schulleiter, den Lehrerinnen, den Eltern und vor allem den Kindern der Marquardschule Fulda für die Bereitschaft zur Teilnahme an der Studie vor Ort.
- Ein besonderer Dank gilt meiner Familie während des Studiums und während meiner Masterarbeit. Ich bedanke mich bei meinem Mann Michael für die Freiräume, die er mir zeitlich ermöglichen konnte. Meinen Kindern Annika und Max für ihr Verständnis für meine Leidenschaft an der Leseforschung und insbesondere meiner jüngsten Tochter Mira, für die ich während dieser Zeit nicht immer so zur Verfügung stand, wie wir es uns gewünscht hätten.

Zusammenfassung

Das allgemeine Lesefähigkeitsniveau ist von der Effizienz der Prozesse auf der visuellen Wortebene abhängig. Je sicherer und schneller die visuelle Worterkennung von statten geht, desto mehr Ressourcen stehen für die hierarchiehöheren Ebenen zur Verfügung. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Entwicklung und Förderung der visuellen Worterkennung sowie der Überprüfung der Wirksamkeit eines systematischen Lesetrainings auf Silbenbasis für leseschwache Zweitklässler.

Von der Autorin wurde gemeinsam mit Bettina Müller von der Universität Kassel anhand der relevanten Aspekte der visuellen Wortleseprozesse und den Schwierigkeiten im Aneignungsprozess beim schwachen Leser ein silbenbasiertes Lesetraining für schwache Leser der zweiten Jahrgangsstufe konzipiert und in einem experimentellen Prä-Post-Design auf zwei Teilprozessen der Worterkennung und dem Textverständnis überprüft. Insgesamt 150 leseschwache Zweitklässler(innen) nahmen an der experimentellen Prä-Post-Test-Studie teil. Die Zuweisung erfolgte randomisiert auf Klassenebene in Trainingsoder Wartekontrollgruppe. Die Ergebnisse konnten zeigen, dass die Effizienz der überprüften Wortleseprozesse durch die Fördermaßnahme positiv beeinflusst werden konnten. Es konnte nachgewiesen werden, dass das Training die Effizienz des Teilprozesses Phonologische Rekodierung und Orthographischer Vergleich signifikant verbessern kann. Die inhaltlichen und methodischen Aspekte der Trainingsmaßnahme werden anschließend diskutiert.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Darstellung des Bewegungsablaufes für zwei Silbenschwünge, (Reuter-Liehr, 2008, p. 104)

Abbildung 2: Logo Willy Wortbär

Abbildung 3: Verlauf ProDi-L Phonologische Rekodierung von Vorzu Nachtest unterschieden nach beiden Gruppen

Abbildung 4: Häufigkeitsverteilung Vortest und Nachtest ProDi-L integrierter Wert Phonologische Rekodierung Vergleich Experimentalgruppe vs. Wartekontrollgruppe, Minimal/Maximal Rohwerte: min = 218.45, max = 494.99

Abbildung 5: Verlauf ProDi-L Orthographischer Vergleich vom Vorzum Nachtest unterschieden nach beiden Gruppen

Abbildung 6: Häufigkeitsverteilung Vortest und Nachtest ProDi-L integrierter Wert Orthographischer Vergleich Experimentalgruppe vs. Wartekontrollgruppe. Minimal/maximal Rohwerte: min = 281.97, max = 506.73

Abbildung 7: Verlauf ProDi-L gemittelter Prozentrang Subtest Visuelle Worterkennung unterschieden nach beiden Gruppen

Abbildung 8: Vergleich Häufigkeitsverteilung Vortest und Nachtest ProDi-L gemittelter Prozentrang integrierter Wert aller Subtests visuelle Worterkennung Vergleich Experimentalgruppe vs. Wartekontrollgruppe

Abbildung 9: Verlauf im ELFE Textverständnis von Vorzu Nachtest

Abbildung 10: Häufigkeitsverteilung Vortest und Nachtest Elfe 1-6 z-Wert Testverständnis im Vergleich Experimentalgruppe vs. Wartekontrollgruppe

Abbildung 11: Häufigkeitsverteilung Vortest und Nachtest ProDi-L integrierter Wert Zugriff auf Wortbedeutung Vergleich Experimentalgruppe vs. Wartekontrollgruppe, Minimal/ Maximal Rohwerte: min = 219.78, max= 508.01

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Phonemstufenaufbau der Lautgetreuen Lese-Rechtschreibförderung

zur Veranschaulichung des steigenden Schwierigkeitsgrad der Mitsprechwörter unterteilt in drei Lernabschnitte, entnommen aus (Reuter-Liehr, in Drucka)

Tabelle 2: Übersicht der eingesetzten Messverfahren zur Überprüfung der wissenschaftlichen Fragestellungen. Erfassung der Effizienz der Teilprozesse der visuellen Worterkennung, des Textverständnisses und des Begabungsprofils

Tabelle 3: Absolute Häufigkeit des Geschlechts in den beiden Stichproben

Tabelle 4: Übersicht deskriptive Statistik von Vor- und Nachtest der verwendeten Messverfahren mit Mittelwert und Standardabweichung in Prozenträngen der gesamten Stichprobe

Tabelle 5: Ergebnisse der Korrelationsmessungen der verwendeten Messverfahren zwischen den beiden Messzeitpunkten Vor- und Nachtest

Tabelle 6: Ergebnisse der Subtests in Rohwerten des ProDi-L und ELFE- Textverständnis und Analysen zu allen Messzeitpunkten unterschieden nach beiden Gruppen

Tabelle 7: Darstellung der Ergebnisse des Züricher Lesetest II in Rohwerten und Prozenträngen in Vor- und Nachtest der Kinder der Experimentalgruppe Fulda mit minimal und maximal erreichten Werten

1 Einleitung

Gute Lesefähigkeiten sind eine wesentliche Voraussetzung für die schulische, berufliche und persönliche Entwicklung. Sie bilden die Grundlage für die gesellschaftliche Teilhabe. Die Vermittlung und Förderung von Lesefertigkeiten ist eine der wichtigsten Aufgabe unseres Bildungssystems. Im Normalfall gelingt der Erwerb des Lesens in eindrucksvoller Weise reibungslos (Steinbrink & Lachmann, 2014). Einige wenige Kinder haben jedoch dauerhafte Probleme mit dem Erwerb dieser Fertigkeit und werden nie die Kompetenz erreichen, die der durchschnittliche Leser besitzt (Klicpera, Schabmann & Gasteiger-Klicpera, 2010). Etwa 4,6% aller Kinder sind von einer Leseschwäche, 3,8% von einer Lese-Rechtschreibschwäche betroffen (Fischbach et al., 2013). 65% der schwächsten Leser(innen) in der zweiten Grundschulklasse zählen auch in der achten Klassenstufe noch zu den schwachen Leser(innen) (Klicpera et al. 1993). Die Förderung dieser Kinder scheint daher im Grundschulalter von besonderer Bedeutung zu sein und bedarf weiterer wissenschaftlich evaluierter Förderkonzepte.

Lesen ist ein komplexer Prozess, der auf unterschiedlichen Ebenen die effiziente Bewältigung zahlreicher kognitiver Teilfertigkeiten erfordert, um den Inhalt eines Textes erfassen zu können. Diese Ebenen reichen von basalen Teilprozessen der Buchstaben und Worterkennung (hierarchieniedrige Leseprozesse) über die syntaktische und semantische Analyse von Sätzen bis zu den Prozessen zur Erstellung eines kohärenten Textverständnisses (hierarchiehöhere Leseprozesse). Die visuelle Worterkennung steht am Beginn der Entwicklung der Lesefähigkeiten und zählt zu den wichtigsten Meilensteinen in der Leseentwicklung. Dabei werden drei Prozesse der visuellen Worterkennung unterschieden: Der phonologische Rekodierungsprozess, der orthographische Vergleichsprozess und die Aktivierung der Wortbedeutung. Die Theorie der verbalen Effizienz von Perfetti (1985) nimmt an, dass das allgemeine Lesefähigkeitsniveau von der Effizienz der Prozesse auf der Ebene der Worterkennung abhängt. Je sicherer und schneller die visuelle Worterkennung von statten geht, desto mehr Ressourcen stehen für die hierarchiehöheren Ebenen zur Verfügung und desto besser ist die Lesefähigkeit

(Lenhard, 2013; Richter & Christmann, 2006). Die Förderung der visuellen Worterkennungsprozesse für die Lesefertigkeiten schwacher Leser/innen in frühen Grundschuljahren nimmt damit eine wesentliche Rolle im Förderprozess ein. In einer Metaanalyse deutschsprachiger Interventionsansätze konnte gezeigt werden, dass systematische Interventionsmaßnahmen, die Übungen zum Segmentieren einzelner Wörter in ihre Phoneme, Morpheme, Silben oder Onset enthalten, sich dabei als besonders effektiv erwiesen haben (Galuschka, Ise, Krick & SchulteKörne, 2014; Galuschka 2015). Der Gegenstand dieser Arbeit ist die Beschreibung und Überprüfung der Wirksamkeit eines eigens konzipierten systematischen Lesetrainings auf Silbenbasis für leseschwache Zweitklässler/innen und anschließender Diskussion in Hinblick auf inhaltliche und methodische Aspekte. Die Studie fand im Rahmen des Projektes Eri (Evidenzbasierte Leseförderung in der Grundschule) an der Universität Kassel, Lehrstuhl für Allge- meine Psychologie, als Teil des Forschungsprojektes des BMBFSchwerpunktprogramms Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (Projektleitung Prof. Dr. Tobias Richter) statt. Die Autorin zeichnet sich für die Entwicklung des Lesetrainings auf Silbenbasis gemeinsam mit Bettina Müller verantwortlich. Weiterhin führte sie die Untersuchung als auch die Trainingsmaßnahme in einer Schule an ihrem Heimatort durch.

Die Arbeit betrachtet im ersten Abschnitt des Theorieteils Modelle des Leseerwerbs und Leseprozess. Es werden in einem kurzen Überblick zunächst die unterschiedlichen Teilprozesse des Lesens aus kognitionspsychologischer Perspektive beschrieben, um anschließend die hierarchieniedrigen Prozesse der visuellen Worterkennung näher zu erörtern. Ergänzend wird das Stufenmodell zur Entwicklung der Worterkennung (Frith 1985) beschrieben. Da die Effizienz der visuellen Worterkennungsprozesse als Voraussetzung für die Leseflüssigkeit betrachtet wird, soll dieses theoretische Konstrukt ebenso erörtert werden. Anschließend werden die Schwierigkeiten, die im Aneignungsprozess der visuellen Worterkennung entstehen können diskutiert, um sich im zweiten Abschnitt des Theorieteils der Leseförderung auf der Ebene der visuellen Worterkennung zu widmen.

An erster Stelle sollen grundsätzliche Überlegungen zur methodischen Gestaltung von Leseförderprozessen in der Grundschule dargestellt werden. Verarbeitungseinheiten unterhalb der Wortebene werden erörtert, wobei insbesondere die Silbe, als Bestandteil des vorliegenden Lesetrainings, in Augenschein genommen wird.

Im weiteren Kapitel folgt die Darstellung zweier Förderkonzepten, die die Silbensegmentierung mit unterschiedlichen Methoden vermitteln. Dabei sollen insbesondere die Komponenten auf der Ebene der Worterkennung betrachtet werden. Die Darstellung des theoretischen Hintergrundes mündet in der Formulierung der Forschungsfragen auf die Überprüfung der Wirksamkeit des entwickelten Lesetrainings.

Der Methodenteil beschreibt zunächst detailliert das systematische Lesetraining Lesen mit Willy Wortbär. Das methodische Vorgehen mit Rekrutierung der Stichprobe, der Durchführung und der eingesetzten Erhebungsinstrumente wird anschließend erläutert. Im Anschluss erfolgt die Beschreibung der verwendeten statistischen Verfahren zur Überprüfung der Wirksamkeit

Im Ergebnisteil werden zunächst die deskriptiven Ergebnisse der Stichprobe und Korrelationsanalysen der Messverfahren zu den beiden Messzeitpunkten dargelegt. Anschließend werden die Ergebnisse der Kovarianzanalysen berichtet, um die Forschungsfragen beantworten zu können. Zusätzlich sollen an einer kleineren Stichprobe weiterführende Analysen explorativ beleuchtet werden.

Im Diskussionsteil werden die Ergebnisse auf Grundlage des vorliegenden theoretischen Hintergrundes diskutiert und beleuchtet. Implikationen für Praxis und Forschung sollen integriert abgeleitet werden. Weiterhin werden Einschränkungen der Studie betrachtet. Die abschließende Gesamtreflexion formuliert weitere Überlegungen für Folgeuntersuchung und Praxis.

2 Theorieteil

Zur Entwicklung einer Fördermaßnahme auf der Ebene der visuellen Worterkennung ist es erforderlich, sich mit den theoretischen Aspekten der zugrunde liegenden Leseprozesse und deren Förderung auseinander zu setzen. Die Entwicklung der visuellen Worterkennung aus kognitionspsychologischer Sicht und das Stufenmodell zur Worterkennung bilden den theoretischen Hintergrund für die Konzeption des hier vorliegenden systematischen Lesetrainings für leseschwache Zweitklässler. Die Notwendigkeit einer Förderung auf Wortebene für das Leseverständnis leitet sich von der Bedeutung der Leseflüssigkeit als Brücke zwischen Worterkennung und Leseverständnis ab. Die Schwierigkeiten im Aneignungsprozess der visuellen Worterkennung werden beschrieben, um auf dieser gesamten theoretischen Grundlage relevante Aspekte zur Leseförderung auf dieses Teilprozesses des Lesens ableiten zu können.

Zwei silbenbasierte Förderkonzepte werden vorgestellt und auf der Ebene der visuellen Worterkennung analysiert. Die Betrachtung des theoretischen Hintergrundes endet mit den Forschungsfragen.

2.1 Leseerwerb und Leseprozesse

„Beim Lesen eines Textes greifen zahlreiche Teilprozesse ineinander über, bis, ausgehend von der Wortoberfläche des Textes, ein geistiges Abbild des Inhaltes entstanden ist“ (Lenhard, 2013, S. 14). Um ein Trainingsprogramm zur Förderung der Worterkennung konzipieren zu können, ist es notwendig, einen Überblick über die bestehenden Modelle des Leseprozesses zu geben. Im nachfolgenden Kapitel werden zunächst die Prozessebenen des Lesens aus kognitionspsychologischer Perspektive beschrieben. Um ein Verständnis für den komplexen Prozess des Lesens bis hin zum Leseverständnis zu erlangen, werden zunächst alle Teilprozesse dargestellt, um anschließend den Teilprozess der visuellen Worterkennung ausführlich zu beschreiben. Weiterhin folgen die Darstellung des Phasenmodells zur Schriftsprache und des Modells zur Leseflüssigkeit. Im Hinblick auf Fördermaßnahmen wird anschließend analysiert, an welchen Stellen des Worterkennungsprozesses Schwierigkeiten auftreten können.

2.1.1 Prozessebenen des Lesens

Aus kognitionspsychologischer Perspektive wird Lesen als eine komplexe kognitive Aktivität betrachtet (Krizan, 2014; Richter & Christmann, 2006). Der Prozess des Lesens reicht von basalen analytischen Teilprozessen der Buchstaben- und Worterkennung (hierarchieniedrige Ebene) über die syntaktische und semantische Analyse von Wortfolgen und Sätzen bis zum Erfassen einer kohärenten Textstruktur (hierarchiehöhere Ebene). Die Lesefähigkeiten sind abhängig von der Bewältigung der einzelnen kognitiven Prozesse und können individuell auf Unterschiede in der Ausführung der Worterkennung und in den Integrationsprozessen auf der Satz- und Textebene zurückgeführt werden (Müller & Richter, 2014). Eine ausführliche Darstellung kognitionspsychologischer Theorien liefern Christmann und Richter (Richter & Christmann, 2006).

Auf hierarchieniedriger Ebene steht die visuelle Worterkennung am Beginn der Entwicklung der Lesefertigkeiten. Sind die Prozesse der visuellen Worterkennung nicht ausreichend routinisiert, muss ein höheres Ausmaß an kognitiven Ressourcen für das Identifizieren von Wörtern investiert werden, sodass für die Bewältigung von höheren Leseprozessen weniger Ressourcen zur Verfügung stehen. Leseverständnisprozesse beginnen auf der Satzebene. Hier müssen Wortfolgen zu einem kohärenten (zusammenhängenden) Satzsinn verbunden werden. Bei der lokalen Kohärenzbildung wird der semantische Zusammenhang zwischen den einzelnen nachfolgenden Sätzen gebildet; die Grundlage hierzu liefern die automatisierten Prozesse der Wort- und Satzerkennung (Schnotz & Dutke, 2004; Streblow, 2004). Dies geschieht durch syntaktische Analyse des Satzbaus und semantische Integration der Wortbedeutung (Müller & Richter, 2014). Je komplexer die syntaktischen und semantischen Sätze sind, umso aufwendiger ist der kognitive Verarbeitungsaufwand für diesen Prozess (Richter, Isberner, Naumann & Kutzner, 2012, S. 315). Bei schwachen Lesern steigt die Lesezeit für Sätze mit wachsender Komplexität an Semantik und Syntax an. Sie scheinen nicht nur über ineffiziente Integrationsprozesse zu verfügen, sondern können aufgrund ihrer nicht hinreichend routinierten Prozesse der visuellen Worterkennung ihr semantisches und syntaktisches Wissen auf der Satzebene nicht einsetzen. Ihr Arbeitsgedächtnis ist mit dem Prozess der Worterkennung bereits ausgelastet und es steht für höhere Leseprozesse keine kognitive Ressource mehr zur Verfügung (Mckweon, M. & Kucan, L., 2010; Perfetti, CA, Landi, N., & Oakhill; Snowling, MJ. & Hulme, C. [Eds.]). Es gibt Belege, dass der Satzkontext ebenfalls Einfluss auf die Worterkennung nimmt (Richter et al., 2012).

Auf hierarchiehöherer Prozessebene, der Textebene (Textverständnis), vollzieht sich das strategisch-zielbezogene Lesen (Richter & Christmann, 2006). Es muss ein kohärentes Verständnis des Textinhaltes erstellt werden. Die Zusammenhänge der Sätze müssen mental miteinander verknüpft und nachkonstruiert werden (van Dijk & Kintsch, 1983). Bei dieser globalen Kohärenzbildung werden die semantischen Zusammenhänge zwischen größeren Textabschnitten erfasst und der Leser gelangt zu einer Bedeutungskonstruktion des Textes. Es findet eine Loslösung vom Text statt, der Text wird auf seine wichtigen Inhalte reduziert und diese werden mit Vorwissen in Beziehung gesetzt. Übergeordnete Zusammenhänge werden ins Blickfeld genommen (Schnotz & Dutke, 2004). Dafür müssen neue Informationen auf bereits Gelesenes bezogen und in ein Situationsmodell (mentales Modell) der im Text beschriebenen Sachverhalte integriert werden (van Dijk & Kintsch, 1983; (Richter et al., 2012, S. 315). Auch Prozesse der kognitiven Lesestrategien, Vorwissen und metakognitive Strategien werden dafür eingesetzt (Müller & Richter, 2014; Streblow, 2004). Diese Prozesse stehen in Abhängigkeit zur visuellen Worterkennung.

2.1.2 Die visuelle Worterkennung

Es besteht weitgehende Einigkeit, dass die Prozesse der visuellen Worterkennung von besonderer Bedeutung für den Leseprozess sind (Müller & Richter, 2014). Auf dieser Ebene werden in der kognitionspsychologischen Perspektive drei Arten von Teilprozessen unterschieden, die auch mit dem Dual-Road-Cascade-Modell (Modell der Zugangswege der Worterkennung) von Coltheart verglichen werden können (Coltheart, Rastle, Perry, Langdon & Ziegler, 2001; Müller & Richter, 2014).

(1) Der Phonologische Rekodierungsprozess stellt für den Leseanfänger zunächst den einzigen Weg der Worterkennung dar: Auf Grundlage der erlernten Graphem-Phonem-Korrespondenz-Regeln werden Buchstaben oder Buchstabengruppen von Wörtern von links nach rechts buchstabenweise eingelesen, in die zugehörigen lautlichen Repräsentationen übersetzt und zu Wörtern synthetisiert (Coltheart et al., 2001; Mayer, op. 2013; Müller & Richter, 2014). Der Leseanfänger bildet auf Grundlage der Zuordnungsregel (z.B. <e>=[e:]) eine künstliche synthetisierte Aneinanderreihung von Lauten. In der deutschen Schriftsprache kommt diese Lautfolge der korrekten Aussprache häufig sehr nah, da die Graphem-Phonem-Korrespondenz regelmäßig ist. Teilweise muss die tatsächliche Aussprache mit Einträgen im mentalen Lexikon verglichen werden. Dieser Prozess spielt nicht nur im frühen Lesebeginn, sondern auch beim Lesen seltener Wörter und Pseudowörter eine Rolle (Steinbrink & Lachmann, 2014). Um die Aussprache in einem Wort zu generieren, ist es erforderlich, die in Laute umkodierten Buchstaben in der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses zwischenzuspeichern, während die anderen noch verarbeitet werden müssen. Diese Strategie bündelt ein hohes Maß an kognitiven Ressourcen, die für die Sinnentnahme nicht mehr zur Verfügung stehen (Hasselhorn & Gold, 2009). Letztlich ist diese Fertigkeit ein hochkomplexes Zusammenspiel phonologischer und visueller Teilprozesse, welches hohe Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis stellt (Kuhl, Euker & Ennemoser, 2015).

Nur durch häufiges Üben können im mentalen Gedächtnis orthographische Repräsentationen von Wörtern hinterlegt werden, sodass durch (2) orthographische Vergleichsprozesse die Worterkennung durch den direkten Vergleich mit orthographischen Repräsentationen unterstützt werden kann. Aktivieren die Buchstabencluster eine bereits gespeicherte abstrakte Wortrepräsentation, können diese abgerufen werden. Die Aussprache wird direkt generiert. Dieser Prozess spielt insbesondere bei häufig gelesenen Wörtern und bei Wörtern mit einer irregulären Schreibweise wie Lehnwörter (z.B. Regie), die anders ausgesprochen werden, als es die Graphem-Phonem-Korrespondenz ergeben würde, eine Rolle (Richter et al., 2012). Die Prozesse der ganzheitlichen Verarbeitung scheinen sich nicht nur auf Wörter, sondern auch auf größere Einheiten der Schriftsprache, wie häufige Graphemfolgen, Silben und Morpheme, zu beziehen. Im Langzeitgedächtnis werden Repräsentationen abgebildet, sodass nur noch einige Eigenschaften von Buchstabensequenzen ausreichend sind, um die Aussprache zu generieren (Mayer, op. 2013, 2013; Ritter, 2005; Ritter, 2011). Dabei wird auch der (3) Zugriff auf die Wortbedeutung im mentalen Gedächtnis aktiviert. Dieser Teilprozess wird mit der Entwicklung weiterer Lesefähigkeiten immer wichtiger. Hierbei werden über das mentale Lexikon des semantischen Gedächtnisses die Wortbedeutung beim Lesen generiert und parallel zu den anderen Teilprozessen der Worterkennung genutzt (Coltheart et al., 2001; Müller & Richter, 2014; Richter & Christmann, 2006).

2.1.3 Stufenmodell zur Entwicklung der Worterkennung

Ein weiteres Modell zur Entwicklung der Worterkennung ist das Stufenmodell von Frith (1985). Einige Förderprogramme und Modelle zur Schriftspracheentwicklung aus dem deutschen Sprachraum haben sich am Phasenmodell der Schriftsprache nach Frith (1985) orientiert (Reuter-Liehr, 2008; Ritter & Scheerer-Neumann, 2009).

Nach Frith (1985) entwickelt sich das Lesen in drei aufeinanderfolgenden Phasen, die in einer festgelegten Reihenfolge durchlaufen werden: Eine logographische, alphabetische und eine orthographische Phase (Frith, 1986). Die Phasen laufen nacheinander ab und bauen aufeinander auf, d.h. die erworbenen Strategien einer Phase gehen in die nächste Phase über, bleiben erhalten und werden neben den neu erworbenen Strategien weiter verwendet. Dabei schreitet die Entwicklung nicht nur stufenweise fort, d.h. das Kind wird allmählich immer besser im Lesen, sondern es vollzieht auch eine qualitative Veränderung.

In der (1) logographischen Phase, der sogenannten Vorstufe des Lesens, erkennen die Kinder Wörter an ihren hervorstechenden visuellen Merkmalen. Die Abfolge der weiteren Buchstaben ist für die Worterkennung irrelevant. Frith geht davon aus, dass häufige Wörter bereits sehr früh auf automatisiertem Weg verarbeitet werden können und unvertraute Wörter zeitgleich noch mittels der alphabetischen Phase gelesen werden. So ist es vorstellbar, dass das irreguläre Wort „school“ durch das Merkmal „oo“ direkt erkannt wird und nicht mehr alphabetisch rekodiert werden muss (Frith, 1986). Für den deutschen Sprachraum scheint dieses Stadium zu Beginn des Lesenlernens keine besondere Bedeutung zu haben. Lediglich Kinder, die in der Ganzwortmethode, d.h. dem ganzheitlichen Erkennen von Wörtern, unterrichtet werden, scheinen diese Phase zu nutzen (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995).

In der (2) alphabetischen Phase der Leseentwicklung orientiert sich das Kind an Buchstaben und deren Lauten. Es nutzt Graphem-Phonem-Korrespondenzen, um Wörter zu erlesen. Die einzelnen Buchstaben (Grapheme) werden Buchstabe für Buchstabe in Sprachlaute (Phoneme) umgewandelt und synthetisiert, um das Wort zu evozieren. In dieser Phase ist jeder Buchstabe von Bedeutung. Andere Merkmale wie das Wort als Ganzes oder der Satzkontext geraten in den Hintergrund (Frith, 1986). Insbesondere diese Phase spielt im deutschen Sprachraum im Erstunterricht eine wesentliche Rolle. So konnten Klicpera und GasteigerKlicpera nachweisen, das Erstklässler schon nach einem kurzen Leseunterricht bei ausreichenden Kenntnissen der Phonem-Graphem-Korrespondenz in der Lage waren, neue Wörter zu erlesen (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995; Wimmer, 1993). Es wird deutlich, dass diese Phase dem Prozess der Phonologischen Rekodierung entspricht.

Der Übergang in die (3) orthographische Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass es den Kindern zunehmend gelingt, orthographisches explizites Wissen oder bereits implizites Regelwissen anzuwenden, das über die Phonemebene hinausgeht. Nach Frith (1986) ist für diese Phase wesentlich, dass die Kinder die morphologische Struktur von Wörtern erkennen. Nach und nach werden vollständige innerliche Repräsentationen der Buchstabenfolgen aufgebaut und die Redundanz (Vorhandensein gleicher Buchstabenfolgen) der Schriftsprache genutzt. Es erfolgt eine Automatisierung des Leseprozesses, der einen effizienten Zugriff auf gespeicherte Informationen gewährleistet und keine Aufmerksamkeit mehr fordert (Costard, 2011; Frith, 1986; Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995). Der zentrale Lernschritt in dieser Stufe besteht darin, die assoziativ verknüpften Einheiten zu vergrößern. Im Laufe des Leseprozesses werden auf dieser Stufe Assoziationen u.a. zwischen häufigen Graphemfolgen, Silben, Morphemen und ganzen Wörtern ausgebildet. Insbesondere die Assoziationen zwischen sublexikalischen Einheiten und deren Lautbildung tragen zur Automatisierung des Leseprozesses bei (Mayer, op.2013). Die Wörter werden unmittelbar identifiziert und sind aus dem orthographischen Gedächtnis abrufbar. Klicpera et al. (2010) bezeichnen diese Phase auch als „partiell lexikalisches Lesen“ (Klicpera, Schabmann & Gasteiger-Klicpera, 2010). Diese Phase unterscheidet sich dadurch von der logographischen Phase, dass Wörter nun systematisch in orthographische Einheiten zerlegt und nicht anhand logographischer Merkmale erkannt werden (Steinbrink & Lachmann, 2014a).

2.1.4 Leseflüssigkeit

Die Fähigkeit zum flüssigen Lesen (fluency) als „bridge between decoding and comprehen- sion“ (Rosebrock & Nix, 2006, S. 92) ist die Brücke zwischen den hierarchieniedrigen Prozessen der Worterkennung und den hierarchiehöheren Prozessen des Leseverständnisses auf Satz- und Textebene. Untersuchungen bestätigen einen direkten Zusammenhang von Leseflüssigkeit und Textverstehen. Eine Verbesserung der Leseflüssigkeit erhöht bei schwachen Lesern häufig deren Leseverständnis, ohne dass hierarchiehöhere Textverstehensprozesse trainiert werden müssen. Es ist die Fähigkeit des genauen (accuracy), automatisierten und schnellen (automaticity) Lesens (Müller, Križan, Hecht, Richter & Ennemoser, 2013; Rosebrock & Nix, 2006).

Rosebrock und Nix (2006) definieren Lesegenauigkeit als die exakte Debzw. Rekodierung der Wörter. Je höher die Dekodierungsgenauigkeit ausgebildet ist, desto höher ist das Textverständnis insgesamt. Schwache Leser und Leseanfänger können vielfach akkurat rekodieren, sind dabei jedoch so verlangsamt, dass sie das Gelesene nicht erfassen können. Die Ursache liegt hier in der fehlenden Automatisierung der hierarchieniedrigen Dekodierungs- und Rekodierungsprozessen. Erst bei einem gelungenen Automatisierungsprozess stehen Ressourcen für höhere Verstehensprozesse frei (Müller & Richter, 2014; Rosebrock & Nix, 2006). Lesen als komplexer Prozess impliziert somit Dekodieren und Verstehen. Gute und schwache Leser unterscheiden sich in diesem Prozess. Der Leseanfänger und der schwache Leser muss seine Aufmerksamkeit so sehr dem Dekodieren widmen, sodass sie dem Verständnis nicht mehr zur Verfügung steht. Das Lesen wird mühevoll und langsam (Rosebrock & Nix, 2006). Nach Ehri (1995) und Scheerer-Neumann (1981) wird die Automatisierung umso umfangreicher, je größer die visuell erfasste Einheit wird, d.h. vom Erfassen einzelner Buchstaben, über Buchstabengruppen bis hin zu einem ausgeprägten "Sichtwortschatz" (Ehri, 1995; Rosebrock & Nix, 2006).

Die Lesegeschwindigkeit für Wörter wird nach Alters- und Klassenstufen differenziert. Der kausale Zusammenhang zwischen Lesegeschwindigkeit und Lesegenauigkeit ist noch nicht abschließend geklärt. In der Forschung besteht jedoch Konsens, dass zwischen Lesegeschwindigkeit und Leseverständnis ein reziproker Zusammenhang herrscht. Hier spielt die kognitive

Informationsverarbeitung vermutlich eine wesentliche Rolle. Das Leseverständnis des langsamen Lesers ist geringer, da aufgrund des langsamen Lesevorganges sein Arbeitsgedächtnis überlastet ist und er Informationen nur ungenügend darin halten kann (Rosebrock & Nix, 2006). Während des Lesens müssen die übersetzten Phoneme zu Wörtern zusammengesetzt und aktiv gehalten werden (Steinbrink & Lachmann, 2014). Dennoch sollte, trotz Erfordernis eines gewissen Maßes an Lesegeschwindigkeit für das Textverständnis, kein absolutes Lesetempo angestrebt, sondern eher eine grundlegende flexible Lesegeschwindigkeit angezielt werden (vgl. Holle, 2005 zitiert nach Rosebrock & Nix, 2006). Die Überbetonung der Lesegeschwindigkeit führt allein nicht zu einem ausgewogenen Lesen, sondern ist ein Teilaspekt des Lesens. Nach Reuter-Liehr (2008) ist auch ein langsamer „sorgfältiger“ - und damit genauer Leser in der Lage Textinformationen zu erfassen.

2.1.5 Schwierigkeiten im Aneignungsprozess der Worterkennung

Der beeinträchtigte Beginn des Leselernprozesses ist oft geprägt durch Schwierigkeiten bei der Phonemunterscheidung und beim Erlernen der Zuordnung und des Einprägens der GraphemPhonem-Beziehungen. Das Zusammenschleifen einzelner Laute zu Wörtern (Phonemsynthese) kann stark verlangsamt sein, was wiederum die Lesegeschwindigkeit und das Leseverständnis stark beeinträchtigt. Das automatisierte Lesen ist durch mangelnde Gedächtnisrepräsentationen und verzögertem Abruf von Wörtern und Wortteilen aus dem Gedächtnis häufig verlangsamt und fehlerhaft. Dies führt meist zu einem deutlich geringeren Leseverständnis (Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. [DGKJP], 2015, S. 18).

Leseschwache Kinder lassen sich im Schwerpunkt durch ihre beeinträchtigte Worterkennung charakterisieren (Mayer, op. 2013). Grundvoraussetzung für gute Lesefähigkeiten ist die visuelle Worterkennung, d.h. die Effizienz, mit der der junge Leser beim Lesen auf visuelle Wortrepräsentationen in seinem mentalen Lexikon zugreifen kann (Müller & Richter, 2014). Leseschwierigkeiten beruhen dabei auf ineffizienten Bewältigungsprozessen der unterschiedlichen kognitiven Teilprozesse auf der Wortebene (Müller, Richter, Križan, Hecht & Ennemoser, 2012). Die unterschiedlichen Lesefähigkeiten unterscheiden sich nach Perfetti und Hart (2002) dahingehend, wie effizient die einzelnen Teilprozesse des Lesens bewältigt werden.

(Müller & Richter, 2014, S. 8). Sie gehen in ihrer Hypothese der lexikalischen Qualität davon aus, dass die unterschiedlichen Repräsentationen eines Wortes (phonologische, orthographische, semantische und morphologische) zu Beginn des Lesenlernens und bei leseschwachen Kindern häufig nur sehr unvollständig, fehlerhaft und lose miteinander verknüpft sind. Bei guten und routinierten Lesern dagegen sind diese einzelnen Repräsentationen spezifisch und eng miteinander verknüpft. Insbesondere der phonologische Rekodierungsprozess und der orthographische Vergleichsprozess führen bei einer Störung zu erheblichen Leseproblemen (Müller & Richter, 2014, S. 10). Schwache Leser haben von Beginn des Leseerwerbs an Schwierigkeiten beim Erlernen der Graphem-Phonem-Zuordnung (Klicpera, C, GasteigerKlicpera & B., 2004; Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995; Mayer, op.2013). Dies führt zu einer unsicheren Graphem-Phonem-Zuordnung und damit zu einem gestörten Prozess auf der visuellen Wortebene der phonologischen Rekodierung (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995; Richter & Christmann, 2006). Das Erlesen unbekannter oder auch unregelmäßiger Wörter wird erschwert und führt im weiteren Leseprozess zu einem deutlichen Stagnieren, da aufgrund der fehlenden Automatisierung das mentale Lexikon nicht aufgebaut werden kann. Bei einer Störung der orthographischen Vergleichsprozesse dagegen, muss jedes Wort mühsam Graphem für Graphem rekodiert werden, was die Lesegeschwindigkeit deutlich erhöht und wiederum eine ausreichende Automatisierung verhindert (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995; Lenhard & Artelt, 2009; Perfetti, 1985; Richter & Christmann, 2006). Der verzögerte Abruf von Wörtern und Wortteilen erfolgt verlangsamt und führt zu einem deutlich geringeren Leseverständnis (DGKJP, 2015). In mehreren Längsschnittuntersuchungen konnten Klicpera et al. (2010) feststellen, dass schwache Schüler bereits drei Monate nach Lesebeginn einen deutlichen Rückstand aufwiesen. Sie konnten die bis dahin gelernten Buchstaben nicht alle richtig benennen und nur ein Drittel der vertrauten und im Unterricht geübten Wörter fehlerfrei lesen. Zum Ende der ersten Klasse hin beherrschen sie die grundlegenden Techniken des Lesens, sind dabei jedoch sehr langsam und fehleranfällig. Während gute Leser sicher, schnell und kontextunabhängigen auf die Wortbedeutung zugreifen (Richter & Christmann, 2006), versuchen weniger geübte Leser durch Nutzung des Satzkontextes ihre defizitäre visuelle Worterkennung partiell zu kompensieren (Müller & Richter, 2014). Sie scheitern an dieser Methode, wenn die Komplexität des Textes zunimmt. Als Beispiel einer kontextorientierten Strategie stellt sich mir in der Therapie ein zehnjähriges Mädchen dar, das versucht, Wörter über das Erkennen einzelner Graphem-Phonem-Korrespondenzen und der Ausnutzung des Kontextes zu lesen. Wörter werden von ihr meist nicht vollständig dekodiert, sondern anhand einzelner Buchstabenfolgen und durch Raten erkannt. Beim Lesetest konnte gezeigt werden, dass sie die Graphem-Phonem-Korrespondenz beherrschte. Mit Hilfe des Stufenmodells der Entwicklung des Schriftspracherwerbs von Frith kann diese Schwierigkeit eingeordnet werden: Das Mädchen verharrt in der alphabetischen Strategie und nutzt den Kontext, um das mühselige Erlesen der Graphemfolgen durch Ausnutzung des Satzkontextes zu vermeiden und so ihre Lesegeschwindigkeit zu steigern.

„The most straight-forward notion we can devise is that at each point where a new strategy has to be acquired and synthesized with the existing one, there is some special vulnerability. This is where there is discontinuity in development, and this is where we should find either breakthrough or breakdown. However, an earlier strategy, that has been mastered, is capable of further development, regardless of whether or not there is a breakthrough to the next phase". (Frith, 1986, S. 73)

Dem Mädchen ist es nicht gelungen, die nächste Entwicklungsstufe zu erreichen, was dazu führt, dass sie Strategien entwickelt, um ihre Misserfolge zu kompensieren. Die Folge ist, dass sie diese für die weitere Leseentwicklung hinderliche Strategie verfestigt und somit die Therapie der ursprünglichen Schwierigkeit erschwert. Im weiteren Verlauf stagniert sie in der Leseentwicklung, ist jedoch aufgrund der schulischen Anforderungen gezwungen, auf ihre Kompensationsstrategie weiterhin zurückzugreifen, was im weiteren Schulverlauf zu immer größeren Problemen führt.

In der Forschung wird einheitlich beschrieben, dass die Benennungsgeschwindigkeit in konsistenten Orthographien in engem Zusammenhang mit der Leseleistung steht. Sie ist die Fähigkeit, visuell präsentierte Formen möglichst schnell zu identifizieren und zu benennen (Moll & Landerl, 2011). Wie die Assoziationen zwischen Benennungsgeschwindigkeit und Lesegeschwindigkeit erklärt werden kann, wird kontrovers diskutiert. Es wird vermutet, dass Leseschwache selektive Schwierigkeiten mit der effizienten Durchführung des Lautierprozesses haben, was darauf zurückzuführen ist, dass sie anscheinend nicht auf orthographische Gedächtniseinträge zugreifen können (Moll & Landerl, 2011, 2013). Für die Förderung der Lesegeschwindigkeit scheint daher die Förderung des orthographischen Vergleichs von besonderer Bedeutung zu sein.

2.2 Leseförderung der visuellen Worterkennung

Im vorausgehenden Kapitel wurde herausgearbeitet, dass die allgemeinen Lesefähigkeiten von den effizienten Prozessen auf der Wortebene abhängen. Je leichter und effizienter die phonologische Dekodierung auf der Wortebene stattfindet, umso effektiver funktionieren übergeordnete Verarbeitungsstufen (Richter & Christmann, 2006). Leseschwierigkeiten beim jungen Leser beruhen dabei auf der ineffizienten Bewältigung von Teilprozessen auf der Wortebene (Müller et al., 2012). Eine wirksame Förderung der Leseleistung muss daher an den Leseprozessen direkt ansetzen (Galuschka, 2015b). In der Übersichtsarbeit von Galuschka haben sich jene Förderprogramme am wirksamsten erwiesen, die Methoden zur Sicherung der Graphem-Phonem-Zuordnung, zur Untergliederung von Wörtern in kleinere Einheiten und das wiederholte Lesen von Wortteilen trainieren (Galuschka, 2015b). Dieses Kapitel erörtert die relevanten Aspekte einer Förderung der Worterkennungsprozesse in der Grundschule. Es werden zunächst Hinweise zur Gestaltung von Lesetrainings gegeben, um im Anschluss die Verarbeitungseinheiten unterhalb der Wortgrenze zu betrachten. Abschließend werden zwei Förderprogramme vorgestellt, die anhand der vorangehenden Ausführungen zur Förderung der visuellen Worterkennung analysiert werden.

2.2.1 Methodische Gestaltung einer Leseförderung

Ise fasst in einem Überblick zur Wirksamkeit von LRS-Förderprogrammen zusammen, dass nur jene erfolgreich sind, die unmittelbar am Lesen und Schreiben ansetzen (Ise, Engel & Schulte-Körne, 2012, S. 122). Der Erwerb grundlegender Rekodierfertigkeit wird in der Literatur auch als „cutting edge of reading development“ bezeichnet und bildet die Grundlage für eine sukzessive Automatisierung der Wortlesefähigkeit (Klicpera, Schabmann & Gasteiger Klicpera, 2003). Aus dem vorherigen Kapitel kann geschlossen werden, dass die Leseförderung der Worterkennung an unterschiedlichen Bereichen des Leseprozesses anknüpfen kann. Klicpera et al. (2010) untergliedern Interventionen zur Förderung der Worterkennung in Programme zum Erlernen der Graphem-Phonem-Korrespondenzen und Programme zur Förderung des Sichtwortschatzes und der Lesegeschwindigkeiten. Sie sind dennoch der Ansicht, dass sich die Fähigkeit zum lexikalischen Abruf von Wörtern zeitgleich mit der phonologischen Rekodierung entwickelt. So könnten zeitgleich Maßnahmen zum Aufbau eines Sichtwortschatzes zur Erhöhung der Lesegeschwindigkeit sowie Maßnahmen zur Sicherung der Graphem-Phonem-Korrespondenzen zur Förderung der Lesegenauigkeit in einem Förderprozess eingesetzt werden (Klicpera et al., 2010, S. 33). Das in der vorliegenden Arbeit entwickelte Förderprogramm Lesen mit Willy Wortbär bezieht beide Schwerpunkte in die Förderung mit ein.

Setting und Förderdauer: Die Gruppengröße in der Leseförderung sollte möglichst klein gehalten werden, was jedoch häufig an den organisatorischen Voraussetzungen und Förderressourcen an den Schulen scheitert. Untersuchungen zeigen, dass eine intensive Förderung mit einer Gruppengröße von mehr als drei Kindern sich in der Förderung des Einzelnen als schwierig gestaltet (Vaughn et al., 2003 zitiert nach Krizan, 2014;). In zwei Studien von Probst (2009) zur Förderung lese-rechtschreibschwacher Kinder der ersten bis vierten Klassenstufe konnte gezeigt werden, dass bei einer zusätzlichen Förderung zum Regelunterricht von zwei Stunden pro Woche mit einem evaluierten Trainingsprogramm und in einer Kleingruppe von vier bis sechs Kindern signifikante Zuwächse in der Schreibkompetenz erreicht werden konnten (Breitenbach, 2012; Probst, 2009). Die effektivsten Fördermaßnahmen sind von mindestens 20 Wochen Dauer (Ise et al., 2012).

Unmittelbare Instruktionen: Die Praxis der Lesedidaktik teilt sich in Deutschland in zwei Lager: einerseits die skills-drills, bei der gezielt bestimmte Teilfertigkeiten des Lesens aufgebaut werden und auf der anderen Seite die ganzheitlichen Verfahren whole language, die die Steuerung und Optimierung des Leseprozesses auf Ziele hin (Leseverständnis) dem Individuum selbst überlassen. Für die deutsche Lesedidaktik spielten die skill-drills lange eine untergeordnete Rolle. Die hierarchieniedrige Lesekompetenzförderung stand nie im Zentrum des fachdidaktischen Interesses (Rosebrock & Nix, 2006, S. 90-91). Die Diskussionen der Lesekompetenzförderung, die durch die erste PISA-Studie angestoßen wurden, existieren in den USA schon gut 30 Jahre länger. Im nordamerikanischen Raum wurden in einer Metastudie zur Lesedidaktik fünf Dimensionen effektiver Verfahren der Lesekompetenzförderung subsumiert: Phonologische Bewusstheit, Wortschatz, Leseflüssigkeit, Textverständnis und Strategiewissen. Die Ergebnisse führten zu kontroversen Diskussionen, denn offene Förderansätze, wie freie Lesestunden, wurden als weitgehend unwirksam eingeschätzt. Trainings isolierter Teilprozesse mit unmittelbarer Instruktion und konkretem Handeln im Unterricht wurden als maßgeblich für die Förderung herausgearbeitet (Rosebrock & Nix, 2006; Torgesen et al., 1999). Leseinstruktionen sind somit von zentraler Bedeutung in der Grundschule (Richter et al., 2012, S. 313). Im Englischen dauert der Prozess der Automatisierung aufgrund der intransparenten Sprache viel länger, was die Erfordernis einer unmittelbaren Instruktion verständlich macht. Im Deutschen erfolgt das Erlernen des Lesens leichter, dennoch kann man die Erfahrungen aus Amerika für Leser mit Schwierigkeiten im Erwerb nutzen (Rosebrock & Nix, 2006). Auch aus der erziehungswissenschaftlichen Forschungen ist bekannt, dass Kinder mit schlechten Lernvoraussetzungen klar strukturierte und kleinschrittige Fördersettings benötigen (Rosebrock & Nix, 2006, S. 91). Ein standardisiertes Vorgehen unter Nutzung evidenzbasierter Konzepte ist einem herkömmlichen Unterricht ohne spezifischer Förderung stark überlegen (Breitenbach, 2012; Hartmann, 2004).

Systematischer Aufbau mit spezifischen Wortmaterial: Um die Entwicklung des Leseprozesses ohne Stolpersteine zu unterstützen, ist es hilfreich, Wortmaterial auszuwählen, das sich nach den Entwicklungsstufen des Schriftspracherwerbs orientiert (Suchodoletz, 2007). Reuter-Liehr nutzt in ihrem Konzept der Lautgetreuen Lese-Rechtschreibförderung im Schwierigkeitsgrad steigendes Wortmaterial, was sich im Rahmen der Rechtschreibförderung als sehr effektiv erwiesen hat (Ise et al., 2012; Reuter-Liehr, 2008; Unterberg, 2005). Auch der Kieler Leseaufbau nutzt eine ausgewählte Wortsystematik (Dummer-Smoch & Hackethal, 2002).

Um einen Transfer über die Fördersituation und die gelungene Repräsentationen häufig vorkommender Wörter zu gewährleisten, ist es sinnvoll, beim Zusammenstellen des Wortmaterials eine lexikalische Datenbank zu nutzen. Hierzu eignet sich das nach wissenschaftlichen Kriterien, nach Häufigkeit und Altersstruktur zusammengestellte childlex (Schroeder, Würzner, Heister, Geyken & Kliegl, 2014).

Verhaltenstherapeutische Verstärkung: In der Leseförderung muss berücksichtigt werden, dass bisherige Misserfolgserlebnisse im Lesen die Lernmotivation bereits belastet hat (ReuterLiehr, 2008; Suchodoletz, 2010). Daher sollten verhaltenstherapeutische Verstärker zur Belohnung durchgehaltener Lernanstrengung eingesetzt werden, um einen wirksamen Anreiz für angemessenes Lernverhalten zu haben (Gerrig & Zimbardo, 2008). Ise et al. (2012) empfiehlt zur Förderung der Motivation den Einsatz von Token. Um einen hinreichenden Effekt zu erreichen, ist ein gezielter, systematischer, unmittelbarer und eindeutiger Einsatz erforderlich (Lauth, Grünke & Brunstein, 2014; Linderkamp, 2004).

2.2.2 Verarbeitungseinheiten unterhalb der Wortebene

Verarbeitungseinheiten unterhalb der Wortgrenze spielen bei der Leseförderung eine wesentliche Rolle (Rosebrock & Nix, 2006). So zeigen aktuelle Trainingsstudien, dass eine Verbesserung der Lesegeschwindigkeit auf Wortebene am ehesten durch ein Training von sublexikalischen Einheiten zu erreichen ist (Moll & Landerl, 2011). Dieses Kapitel stellt die für die Leseförderung notwendigen relevanten Aspekte dieser Verarbeitungseinheiten dar. Insbesondere die Silbe wird dabei ausführlich betrachtet werden.

Zu Beginn des Leseerwerbs fokussiert sich der Leser zunächst auf die kleinste Verarbeitungseinheit, das Graphem. Mit zunehmender Übung gelingt es den Kindern idealerweise, Wörter nicht nur linear in Graphemketten zu erlesen, sondern es gelingt ihnen zusehends, beim Lesen die Wörter in sinnvolle Einheiten zu unterteilen und diese ganzheitlich zu erfassen (Manis, 1985; Ritter, 2005). Aus der Struktur der deutschen Sprache ergeben sich die Einheiten Silben, Morpheme, Onset-Rime wobei der Silbe als wesentliche Spracheinheit eine besondere Bedeutung zukommt (Krizan, 2014,; Ritter, 2011). Mit Hilfe dieser sublexikalischen Einheiten gelingt es dem Leser, die Intrawortredundanz1 unseres Schriftsystem zu nutzen (Ritter, 2005). Die Einheiten dienen als "Superzeichen", die im Vergleich zu kleineren Einheiten für die Informationsspeicherung weniger Speicherkapazität benötigen (Ritter, 2005). Es findet ein partiell lexikalisches Lesen statt. Ein Morphem ist die kleinste bedeutungstragende Einheit der Sprache (Kunkel-Razum, 2009). Während ein muttersprachlicher Sprecher Wörter mündlich in Silben gliedern kann, ist die Gliederung in Morpheme deutlich schwieriger. Bei einer Gliederung des Wortes nach Morphemen wird der normale Sprechfluss behindert (Beispiel: Tages-kar-te, Tag-es-kart-e) (Findeisen, Melenk & Schillo, 2007). Insbesondere beim Lesen spielen Präfixe (ver-, be-) und Suffixe (-heit, -ung) eine wichtige Rolle (Ritter, 2005), da diese dem Silbenrhythmus entsprechen. Ein Onset bzw. Konsonantencluster ist eine Abfolge unterschiedlicher Konsonanten vor einem Vokal (Schn-ecke). Zum spontanen Erfassung als Spracheinheit hat es sich bewährt, diese beim Lesen vorübergehend hervorzuheben (ReuterLiehr, in Drucka; Reuter-Liehr, 2008).

Die Silbe wird linguistisch als die kleinste phonologische Einheit definiert (Glück, 1993; Ritter, 2005). Sie hat als Sprech- und Schreibsilbe eine Doppelrolle. Die Sprechsilbe ist die Einheit der gesprochenen Sprache, die Schreibsilbe die Einheit der geschriebenen Sprache (Ritter, 2011). Sprechsilben lassen sich in einem Zug aussprechen und bilden so eine Sprecheinheit, unabhängig von ihrer Bedeutung. Die Schreibsilbe ist eine Struktureinheit, die dem Umfang der Sprechsilbe ähnlich ist (Ritter, 2005). Die Sprechsilbe ist den meisten Kindern aus dem mündlichen Spracherwerb bekannt. Im Leseerwerb können die Kinder auf diese mündliche Segmentierungsfähigkeit aufbauen. Kindern mit Leseproblemen steht diese Fähigkeit, Silben in der gesprochenen Sprache zu erkennen, nicht automatisch zur Verfügung, was sich in den Schwierigkeiten der phonologischen Bewusstheit schon abzeichnet (Reuter-Liehr, 2008; Ziegler, J. & Goswami, U., 2005). Eine Vielzahl von Studien bestätigt, dass die phonologische Bewusstheit im Kindergarten- und Schuleintrittsalter als Prädiktor für spätere Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten eine Rolle spielt (Steinbrink & Lachmann, 2014). Davon lässt sich ableiten, dass in einem Leseförderprogramm methodische Instrumente erforderlich sind, die dieses Defizit der Sprachwahrnehmung kompensieren können. Scheerer-Neumann (1981) und Ritter (2005) gehen theoriegeleitet von einer visuellen Übertragungsleistung der Kinder in der Silbensegmentierung aus und nutzen Silbenregeln zur visuellen Segmentierung. ReuterLiehr (2008) dagegen führt dies u.a. auf ein mangelndes intuitives Sprachbewusstsein zurück und nutzt, neben anderen Methoden, die Körpermotorik der Kinder, damit diese den Sprachrhythmus der Silbengliederung erfassen können (Reuter-Liehr, 2008). Beide nutzen das Silbenbogenlesens, wobei Reuter-Liehr dieses auch zur Strukturierung des Lesevorgangs verwendet, um die Lesegenauigkeit zu erhöhen.

2.2.3 Silbenbasierte Programme zur Leseförderung auf der Wortebene

Das folgende Kapitel stellt die wesentlichen Grundzüge der Förderkonzepte PotsBlitz Das Potsdamer Lesetraining von Christiane Ritter (Ritter, 2005) und Lautgetreue Lese-Rechtschreibförderung von Carola Reuter-Liehr (Reuter-Liehr, 2008) mit Fokus auf der visuellen Worterkennung dar. Beide Programme können den „skills-drills“ Verfahren zugeordnet werden, d.h. sie fördern mit „unmittelbaren Instruktionen“ isolierte Teilprozesse des Lesens. Während Ritter (2005) eine explizit kognitive Vermittlung von Regeln zur visuellen Segmentierung von Wörtern verwendet, nutzt Reuter-Liehr (2008, 2010) eine handlungsorientierte Vorgehensweise, um mit Hilfe senso-motorischer Methoden die Silbensegmentierung zu erfassen und Sprachwahrnehmungsdefizite auszugleichen. Aus beiden Konzepten wurden Bestandteile zur Entwicklung des systematischen Lesetrainings Lesen mit Willy Wortbär entnommen. Nachfolgend sollen diese in ihrem theoretischen Aufbau und Ablauf beschrieben und im Hinblick auf den Teilprozess der visuellen Worterkennung analysiert werden.

2.2.3.1 Das Potsdamer Lesetraining PotsBlitz

Das Potsdamer Lesetraining ist ein silbenbasiertes Lesetraining zur Förderung der Lesegenauigkeit und -geschwindigkeit von Grundschulkindern mit Leseschwierigkeiten. Das Trainingsprogramm basiert auf einer Trainingsstudie von Scheerer-Neumann (1981) und wurde im Rahmen einer Dissertation von Ritter (2006) weiterentwickelt. Zielgruppe des Trainings sind Kinder ab dem 3. Schuljahr, die die Graphem-Phonem-Zuordnung beherrschen, aber sehr langsam und / oder mit vielen Wortfehlern lesen. Ziel ist die Automatisierung des Lesens durch den Erwerb von Segmentierungsstrategien zum Erkennen größerer funktionaler Verarbeitungseinheiten (Ritter & Scheerer-Neumann, 2009). Es orientiert sich in der theoretischen Ausgangsbasis an den Entwicklungsmodellen des Lesens und versteht Leseschwierigkeiten von Kindern als verzögerte Entwicklung aufgrund mangelnder Voraussetzungen und unangemessener Anwendung von Lesestrategien. Den betroffenen Kindern ist der intuitive Weg versperrt, Wörter in größere Verarbeitungseinheiten zu gliedern. Durch eine "explizite Vermittlung von Regeln zur visuellen Segmentierung von Wörtern in kleinere Einheiten" sollen die Kinder lernen, "die Struktur von Wörtern effektiver zu nutzen und so besser lesen zu lernen." (Ritter, 2005, S. 116). Das Training besteht aus zwei Teilen mit insgesamt achtzehn Einheiten von jeweils 45 Minuten. Mit Hilfe eines Computers wird das Programm durch das Lesen von Blitzwörtern ergänzt. Der erste Teil mit zehn Trainingseinheiten dient der Vermittlung und Übung von Strategien, die es ermöglichen, Wörter visuell in Silben zu unterteilen und zu erlesen. (Ritter & Scheerer-Neumann, 2009). Hierzu werden vor allem wortunähnliche (z.B. Utaba) und wortähnliche Pseudowörter (z.B. Base) verwendet, um die Strukturierung der Silben zu üben. Diese Wörter haben den Vorteil, dass ohne Verwendung des Satzzusammenhangs oder mit Hilfe des lexikalischen Zugriffes die Wörter vollständig rekodiert werden müssen (Ritter, 2005; Scheerer-Neumann, 1994). „Auf diese Weise wird das phonologische Rekodieren am intensivsten geübt und es kann außerdem ausgeschlossen werden, dass Kinder ihre Schwierigkeiten durch andere Strategien, wie zum Beispiel eine Ratestrategie, kompensieren, ohne aufzufallen.“ (Ritter, 2005, S. 196). Im zweiten Teil des Trainings werden komplexere Wörter hinzugefügt. Hier wird vor allem mit sinnvollem Wortmaterial gearbeitet. Es werden kleinere Texte gelesen. Das Training verwendet hierbei die Methode des repeated reading, um das flüssige Lesen von Texten zu fördern (vgl. hierzu Rosebrock & Nix, 2006). Textabschnitte werden so lange wiederholt gelesen, bis ein „Speedkriterium“ erreicht worden ist. Nach Ansicht von Ritter hat dies den Vorteil, dass die Kinder sich nicht immer wieder neu durch Texte mühevoll durcharbeiten müssen und durch dieses wiederholte Lesen zu einem automatisierten und flüssigen Textlesen kommen (Ritter, 2005).

Elemente des Trainings: Zu Beginn werden die Grundbegriffe Buchstabenlaut und Buchstabennamen erklärt. Buchstabenlaute (t, h, sch) werden als "Geräusch" der Buchstaben definiert, Buchstabennamen (te, ha, esceha) werden zusätzlich durch einen Vokal hörbar. Weiterhin wird die Unterteilung der Phoneme Selbstlaut und Mitlaut trainiert. Im Anschluss üben die Kinder mündlich die Silbengliederung anhand vorgegebener Wörter und Bildkarten mit Klatschen, Klopfen und Hüpfen. Die Kinder lernen, dass die Silbenstruktur von Wörtern anhand von Silbenbögen repräsentiert werden kann. Sie gliedern die Vokale aus den Silben und erkennen, dass in jeder Silbe ein Vokal vorkommt. Die Diphthonge "au, ei, eu" sollen als "komplexe Vokale“ gefunden werden.

Das zentrale Element des Trainings beinhaltet die visuelle Wortgliederung durch die Silbenregel: "Stehen einer oder mehrere Mitlaute zwischen zwei Selbstlauten, gehört der letzte Mitlaut nach der Trennung zur jeweils folgenden Silbe" (Ritter & Scheerer-Neumann, 2009). Nach Ansicht der Autorin ist diese Regel von den Kindern einfach zu erlernen und kann auf die meisten Wörter angewendet werden. Beim Blitzwortlesen sollen die Kinder Wörter in größeren Einheiten erfassen und unbekannte Wörter mit Hilfe der Silbenregel erlesen. Die Wörter erscheinen nur kurz auf dem Bildschirm, um das lautweise Synthetisieren zu verhindern. Die Länge und Komplexität der Wörter steigt sukzessive im Verlauf der Trainingssitzungen. Im zweiten Teil wird das Training um morphologische Kenntnisse erweitert und die Strategie des Wortlesens auf das Lesen kurzer Texte übertragen. Die Textlänge steigt im Verlauf des Trainings von 60 auf 100 Wörter. Es handelt sich um kurze Sätze, mit vielen Wortwiederholungen, die in drei Abschnitte gegliedert sind, um sie individuell den Lesefähigkeiten der Kinder anzupassen. (Ritter, 2005, S. 21).

Die Überprüfung der Wirksamkeit erfolgte im Rahmen einer Studie mit einer Gruppe von N=9 leseschwachen Grundschulkindern der dritten und vierten Jahrgangsstufe. Es wurde eine Vergleichsgruppe von Kindern aus den gleichen Klassen herangezogen. Gegenüber der Vergleichsgruppe konnten die Trainingskinder ihre Lesefehler verringern (Ritter, 2005). Die Ergebnisse der Untersuchung verweisen darauf, dass eine bereichsspezifische Wirksamkeit vorliegen könnte. Aufgrund der Tatsache, dass keine Kontrollgruppe mit gleichen Leseleistungen wie die Kinder in der Experimentalgruppe herangezogen wurde erlaubt das Studiendesign nur eine eingeschränkte Interpretation.

Dennoch habe ich dieses Training ausgewählt, da es in seinem strukturierten und klar instruierten Vorgehen hilfreich für die Entwicklung des Lesetrainings der vorliegenden Arbeit war. PotsBlitz (Ritter, 2005) baut methodisch auf einer visuellen Silbensegmentierungsstrategie auf, um das Defizit der Kinder in der Sprachwahrnehmung zu kompensieren. Dies ist eine kognitive Herangehensweise zur Erfassung der Silbengliederung. Im Vergleich dazu nutzt das nachfolgende systematische Förderprogramm die „körpereigenen Steuerung“ des Kindes, um mit Hilfe einer sensomotorischen Herangehensweise den fehlenden Sprachrhythmus zu kompensieren.

2.2.3.2 Lautgetreue Lese-Rechtschreibförderung

Die Lautgetreue Lese-Rechtschreibförderung nach Reuter-Liehr ist der wichtigste Bestandteil eines umfassenden Behandlungssystems bei Kindern mit LeseRechtschreibstörungen (Reuter-Liehr, in Drucka). Das System ist entwicklungs-, schriftsprache- und strategieorientiert (vgl. hierzu auch Suchodoletz, 2007). Es ist 1992 erstmals erschienen, mehrfach von der Autorin überarbeitet und erweitert worden und liegt als umfangreiches Programm mit insgesamt 7 Bänden und einem Spiel vor. Im Rahmen dieser Arbeit wird nur der für das Lesetraining wesentliche Phonemstufenaufbau des Behandlungssystems beschrieben. Das Konzept findet als Fördersetting in Gruppen in Schulen und in der Einzeltherapie Verwendung. Aufgrund der Komplexität des individuell auf das Kind abgestimmten Förderkonzeptes in der Einzeltherapie wird der Qualifikation des Therapeuten eine wesentliche Rolle für den Erfolg beigemessen (Reuter-Liehr, 2008; Steinbrink & Lachmann, 2014b).

[...]


1 Intrawortredundanz sind Regelmäßigkeiten in Buchstabenfolgen, die vom Leser erkannt und zu größeren Einheiten zusammengefasst werden.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Beschreibung und Überprüfung der Wirksamkeit eines systematischen Lesetrainings auf Silbenbasis für leseschwache ZweitklässlerInnen
Hochschule
Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau  (Psychologie kindlicher Lern- und Entwicklungsauffälligkeiten)
Note
1,1
Autor
Jahr
2015
Seiten
88
Katalognummer
V537059
ISBN (eBook)
9783346146885
ISBN (Buch)
9783346146892
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lesetraining, Legasthenie, Leseförderung Grundschule Silbentraining, Worterkennung Willy Wortbär, systematisches Lesetraining, Phonologische Renovierung Orthographischer Vergleich
Arbeit zitieren
Gabriele Gutsche (Autor:in), 2015, Beschreibung und Überprüfung der Wirksamkeit eines systematischen Lesetrainings auf Silbenbasis für leseschwache ZweitklässlerInnen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/537059

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