Leseprobe
Analyse des Kriegsgeschehens in der Demokratischen Republik Kongo
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Das zweitgrößte Land Afrikas, im Herzen des Kontinents, schmückt sich mit dem Namen République Démocratique du Congo. Doch von einer demokratischen Republik kann keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: Einen funktionierenden Staat, geschweige denn Vertrauen in staatliche Institutionen wie Polizei, Militär, Justiz oder Parteien hat es im Kongo nie gegeben. Seit über einem Jahrhundert wird das Land von politischen Eliten geplündert und ausgebeutet – mit drastischen Folgen: Ein unübersichtlicher Bürgerkrieg in den östlichen Provinzen, bei dem unzählige Rebellengruppen und Milizen um politischen Einfluss und kostbare Bodenschätze kämpfen, flammt bis heute immer wieder auf.
Der Konflikt im Ostkongo ist das historische Erbe von fast einem Jahrhundert kolonialer Ausbeutung, der korrupten Diktatur Mobutu Sese Sekos und des Genozids im Nachbarstaat Ruanda.
Der belgische König Leopold II. errichtete 1885 den „Kongo-Freistaat“ als seine persönliche Privatkolonie. Bis 1908 wurde das Land von ihm systematisch ausgeplündert. Um eine effizientere Beschaffung von natürlichen Ressourcen wie Kautschuk und Elfenbein zu gewährleisten, wurde die Bevölkerung versklavt und zur Zwangsarbeit genötigt. Zwischen acht und zehn Millionen Kongolesen verloren wegen der unmenschlichen Arbeitsbedingungen ihr Leben – mehr als die Hälfte der damaligen Bevölkerung. Nachdem die Menschenrechtsverletzungen im „Kongo-Freistaat“ in Europa und den USA an die Öffentlichkeit geraten waren und ein Echo der Empörung auslösten, war der König durch hohen politischen Druck dazu gezwungen, die Kolonie an den belgischen Staat zu übergeben. Aus dem „Kongo-Freistaat“ wurde „Belgisch-Kongo“ und für ein weiteres halbes Jahrhundert bereicherte sich Belgien an den natürlichen Ressourcen des Landes. Schließlich entließen die Belgier den Kongo 1960 – durch die lange Kolonialherrschaft völlig unvorbereitet – in die Unabhängigkeit.
Der damalige Oberst der kongolesischen Armee, Mobutu Sese Seko, nutzte das politische Chaos der Unabhängigkeit aus und beteiligte sich im September 1960 in exponierter Position an der Entmachtung Patrice Lumumbas, dem ersten frei gewählten Premierminister des Kongos. 1965 schaffte es Mobutu als Oberbefehlshaber der Armee schließlich mit einem weiteren Putsch an die Spitze des Staates und errichtete eine kleptokratische Diktatur. Er erfuhr dabei große politische und geheimdienstliche Unterstützung aus den USA – Mobutus antikommunistische Haltung und Linientreue mit den westlichen Mächten sicherte seine Herrschaft, wobei ihm die geopolitische Dynamik des kalten Krieges sehr in die Karten spielte. Mobutu bediente sich am kolonialen Vorbild der Belgier und bereicherte sich massiv an den natürlichen Bodenschätzen des Kongos, während er das staatliche System systematisch seinem Gewinnstreben unterordnete. Er schaffte einen regelrechten Kult um seine Person und gab dem Kongo 1971 im Zuge seiner Authenticité Politik einen neuen Namen: Zaire. Über 30 Jahre lang konnte er sich auf diese Weise an der Macht halten. Doch der verheerende Genozid im Nachbarstaat Ruanda löste 1994 eine Welle der Gewalt aus, welcher selbst Mobutus Regime nicht standhalten konnte.
Der ruandische Völkermord, bei dem innerhalb von nur 100 Tagen fast eine Millionen Tutsi von militanten Angehörigen der Hutu auf grausame Art und Weise ermordet wurden, hatte sehr zentrale Auswirkungen für die politische Zukunft des Kongos. Ein großer Teil der Génocidaires floh nach dem Sieg der „Ruandischen Patriotischen Front“ (RPF) unter Paul Kagame in die östlichen Provinzen Zaires. Der neuen Tutsi-Regierung in Kigali war dies ein Dorn im Auge – in Zaire waren die Hutu-Kämpfer vorerst sicher und konnten nicht für die grausamen Verbrechen bestraft werden, die sie in Ruanda begangen hatten. Außerdem äußerte sich hier eine sicherheitspolitische Gefahr für Ruanda, denn aus den ostkongolesischen Provinzen ließen sich relativ leicht Vergeltungsschläge gegen die siegreiche Tutsi-Minderheit in Ruanda durchführen. Im November 1996 kam es schließlich zur Eskalation – der Erste Kongokrieg brach aus.
Mit Unterstützung aus Kigali und Kampala bildete sich 1996 die Alliance des Forces Démocratiques pour la Libération du Congo (AFDL, Allianz Demokratischer Kräfte zur Befreiung Kongos) – eine Rebellenkoalition von verschiedenen politischen Gegnern Mobutus. Die ruandische Regierung hatte einen Weg gefunden, die oppositionellen Kräfte im Kongo zu bündeln und für ihre außenpolitischen Interessen zu instrumentalisieren. Die AFDL bildete nun die Speerspitze im Kampf gegen das Regime Mobutus. Mit dessen Flucht ins marokkanische Exil und der Eroberung Kinshasas durch die AFDL war der erste Kongokrieg im Mai 1997 entschieden. Laurent-Desiré Kabila, politischer Führer der AFDL ernannte sich per Dekret zum neuen Präsidenten. Aus Zaire wurde wieder die République Démocratique du Congo. Bis auf diese zukunftsträchtige Namensänderung schaffte es Kabila jedoch nicht einen Neuanfang in die Wege zu leiten und brachte schließlich auch seine ruandischen Verbündeten gegen sich auf. Besonders der Osten des Landes war von andauernder Gewalt rivalisierender Milizen geprägt, die von der Ausplünderung der Bodenschätze profitierten. Der Nährboden für einen weiteren Konflikt war bereits geschaffen: Im August 1998 eskalierte die angespannte Situation zwischen den Regierungen in Kinshasa und Kigali mit dem Ausbruch des Zweiten Kongokrieges. Innerhalb der kongolesischen Bevölkerung hatte sich vermehrt eine Stimmung gegen den ruandischen Einfluss im Osten des Landes breitgemacht. Kabila zwang daraufhin alle ausländischen Streitkräfte zum Abzug und verbannte ruandische Regierungsmitglieder aus seinem Kabinett. Auf diesen Affront reagierte die Allianz aus Ruanda, Uganda, Burundi und diversen Rebellengruppen mit einem Angriff auf die DR Kongo. Angola, Simbabwe, Namibia und der Sudan, gelockt durch aussichtsreiche Konzessionen, eilten Kabila zur Hilfe – der „Erste Afrikanische Weltkrieg“ hatte begonnen. Laurent-Desiré Kabila überlebte ihn nicht, am 16. Januar 2001 wurde er von einem seiner Leibwächter erschossen. Daraufhin übernahm sein Sohn Joseph Kabila das Amt des Staatspräsidenten und ermöglichte 2002 unter Schirmherrschaft von Südafrika das Friedensabkommen von Pretoria, welches den Zweiten Kongokrieg beendete. Es konnte jedoch nicht die östlichen Provinzen befrieden, da die dortigen Rebellengruppen nie an den Verhandlungen beteiligt wurden und sich bis heute einen blutigen Kampf um Territorien, politischen Einfluss und Ressourcen liefern – die beiden Bürgerkriege 1996-1997 und 1998-2003 haben tiefe Wunden hinterlassen, die bis heute nich verheilt sind.
Am 30. Dezember 2018 wurden in der DR Kongo, mit zweijähriger Verspätung, Präsidentschaftswahlen abgehalten. Da der seit 2001 amtierende Präsident Joseph Kabila laut der kongolesischen Verfassung keine dritte Amtszeit antreten darf, ist ein demokratischer Machtwechsel zum Greifen nahe – nach über fünf Jahrzehnten. Seit der Unabhängigkeit von Belgien im Jahr 1960 hatte es im Kongo keine friedliche Machtübergabe gegeben. Wird den 40 Millionen Wahlberechtigten nun endlich die Chance gegeben, sich in fairen und freien Wahlen für eine bessere Zukunft zu entscheiden? Ist diese Wahl das lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels? Eine Erfolgsgeschichte wäre bitter nötig, denn die aktuelle Situation im Ostkongo ist äußerst kritisch. Immer wieder flammen die Kämpfe auf, es herrscht das Recht des Stärkeren – von Gewaltmonopol, staatlichen Institutionen und einer funktionierenden Infrastruktur keine Spur. Besonders betroffen sind die Regionen Ituri, Kivu, Huri und Tanganyika, in denen folgende Rebellengruppen zu den aktivsten Kriegsteilnehmern gehören:
Die Allied Democratic Forces (ADF, Allianz demokratischer Kräfte) sind ein Zusammenschluss diverser ugandischer Milizen, die einst in den 1980er und 1990er Jahren im Widerstand gegen den ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni gegründet worden waren. Die ca. 400 Mann starke Rebellengruppe ist vor allem im nördlichen Teil der kongolesischen Provinz Nord-Kivu, nahe der ugandischen Grenze aktiv. Ihr werden grausame Massaker an der Zivilbevölkerung vorgeworfen. Die Forces Démocratiques de Libération du Rwanda (FDLR, Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) bestehen derzeit aus geschätzt rund 1000 Kämpfern – hauptsächlich ehemalige Genocidairés aus Ruanda. Sie beschützen immer noch rund 20.000 ruandische Hutu-Flüchtlinge, meist Frauen und Kinder der Kämpfer. Um diese Flüchtlinge zu ernähren, plündern die FDLR immer wieder Dörfer, beschlagnahmen die Ernten der Kongolesen oder vertreiben sie von ihrem Land. Die sogenannten Mai-Mai-Milizen sind ein Zusammenschluss diverser Selbstverteidigungs-gruppen, die in den vergangenen zwanzig Jahren auf verschiedenen Seiten des Konfliktes kämpften. Sie berufen sich hauptsächlich auf die Verteidigung ihrer ethnischen Volksgruppe. Der Name Mai-Mai bedeutet auf Kisuaheli „Wasser“ und geht auf eine alte ostafrikanische Kampftradition zurück: Mit heiligem Wasser sollen sich die Kämpfer angeblich unverwundbar fühlen.
Neben dem kongolesischen Militär kämpfen außerdem Blauhelm Soldaten der Mission de l'Organisation des Nations unies pour la stabilisation en République démocratique du Congo (MONUSCO, Mission der Vereinten Nationen für die Stabilisierung in der Demokratischen Republik Kongo) gegen die Rebellengruppen und Milizen im Ostkongo. Die Mission verfügt seit dem 30. März 2005 über ein „robustes Mandat“, das heißt sie ist dazu beauftragt, die Zivilbevölkerung mit allen notwendigen Mitteln militärischer Gewalt zu schützen. Außerdem existiert innerhalb der MONUSCO seit dem 28. März 2013 eine Einsatztruppe mit offensivem Mandat, die United Nations Force Intervention Brigade (FIB, Offensive Einsatzbrigade), die den Auftrag hat illegale bewaffnete Gruppen aktiv zu bekämpfen. Am 27. März 2018 verlängerte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Resolution 2409 die Stabilisierungsmission der MONUSCO bis zum 31. März 2019 – die mit Abstand größte und teuerste Blauhelm-Mission der Vereinten Nationen geht weiter.
Die Rebellengruppen und Milizen im Ostkongo führen einen chaotischen Kampf um subnationalen Einfluss und kostbare Ressourcen wie Gold, Silber, Cobalt, Kupfer und Diamanten, einen Kampf, der in erster Linie die Zivilbevölkerung ins Fadenkreuz nimmt: Sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen werden als Kriegsmittel zur Unterdrückung, Erpressung und Ausbeutung eingesetzt. Zudem greifen die Milizen im Ostkongo bei ihrer Kriegsführung vermehrt auf den Einsatz von Kindern und Jugendlichen zurück. Sie werden entweder entführt und zum Kampf gezwungen, oder mit Hilfe von finanziellen Mitteln in die Rebellengruppen gelockt. Die Aussicht auf eine sichere Versorgung und die hohe Arbeitslosigkeit in den Gebieten verstärken diese Dynamik ebenfalls. Aus der Perspektive der jungen Krieger wirkt der Kampf mit der Waffe vielversprechender und ertragreicher, als darauf zu warten, dass der korrupte Staat für eine bessere Zukunft sorgt. Im Ostkongo schafft der Krieg Arbeitsplätze, nicht der Staat. Der Krieg ist zum Geschäft geworden und diese Kriegsökonomie lässt den schwelenden Konflikt immer wieder aufflammen – mit katastrophalen Folgen: Nach Angaben der UN-Behörde OCHA waren in diesem Jahr im ganzen Land 7,5 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt, 9,9 Millionen Menschen hungern und rund 10 Prozent der Gesamtbevölkerung sind weiterhin auf internationale Hilfe angewiesen. Im Jahr 2018 hätten diese Maßnahmen 1,68 Milliarden US-Dollar in Anspruch genommen – ein Finanzierungsgesuch der UN, das leider nicht der Realität entspricht. Im vergangenen Jahr erreichten die Hilfsmaßnahmen lediglich ein Drittel der notbedürftigen Bevölkerung, da nur weniger als 400 Millionen US-Dollar. finanziert werden konnten. Obwohl die UN den Konflikt im Ostkongo mit der alarmierenden Höchststufe – dem Level 3 der Emergency Response – beurteilt hat, bleibt die Unterfinanzierung der Hilfsprojekte ein großes Problem. Der erneute Ausbruch des Ebolavirus im September 2018 trug zu einer weiteren Zuspitzung der humanitären Krise im Ostkongo bei.
Können die Wahlen am Ende des Jahres nun den lang ersehnten Richtungswechsel einläuten und zu einer Verbesserung der Situation beitragen? Diese Frage bleibt umstritten. Kabila hatte die Präsidentschaftswahlen, die ursprünglich für den 27. November 2016 angesetzt waren, mehrmals aufgeschoben und sich trotz starker Unruhen und Proteste an die Macht geklammert. Nach dieser gezielten Verschleppung fanden die Wahlen am 30. November tatsächlich statt. Kabila hatte den ehemaligen Innenminister Emmanuel Shadary zu seinem Wunschkandidaten erkoren. Kritiker befürchten nun, dass Kabila mit der Unterstützung Shadarys eine Marionette im Präsidentenamt installieren möchte, um im Hintergrund weiter an der Macht zu bleiben. Von den zwanzig weiteren Kandidaten liegen die beiden Oppositionspolitiker Felix Tishsekedi und Martin Fayulu nach ersten Hochrechnung zwar deutlich vorne, aber es wird befürchtet, dass die Wahl mit Hilfe von Manipulationen doch noch zu Gunsten von Kabilas Wunschkandidaten ausgehen könnte. Diese Sorge ist nicht unbegründet: Die Wahlen wurden in drei Regionen, bei denen es sich ausgerechnet um Hochburgen der Opposition handelt, auf März 2019 verschoben – der neue Präsident soll jedoch bereits im Januar vereidigt werden. So können über eine Millionen Wahlberechtigte keinen Gebrauch von ihrem Stimmrecht machen. Internationale Hilfe bei der logistischen Umsetzung und Überwachung der Wahlen wurde von Kabilas Regierung übrigens abgelehnt, der Kongo sei schließlich kein „Bittsteller-Land“.
Damit die République Démocratique du Congo endlich ihrem Namen gerecht werden und nachhaltiger Frieden einkehren kann, sind drei zentrale Maßnahmen essentiell: Faire demokratische Wahlen, militärischer und politischer Druck der UN und eine entschiedene Eindämmung der Kriegsökonomie. Eine Demokratie funktioniert nur, wenn nach einem Wahlsieg die Partizipation der politischen Opposition ermöglicht, Kompromisse geschlossen und für Versöhnung gesorgt wird. Dies ist in der kongolesischen Geschichte immer wieder versäumt worden. Der Einsatz einer politischen Marionette, deren Fäden weiterhin in Joseph Kabilas Händen liegen, würde der demokratischen Legitimität des Kongos sehr schaden und das vom Bürgerkrieg gebeutelte Land weiter destabilisieren. Die Kriegsparteien im Kongo müssen alle an Friedensverhandlungen beteiligt und zur Befolgung der Abkommen motiviert werden, nicht nur mit Hilfe von Sanktionen und militärischem Druck, sondern auch durch politische und finanzielle Anreize.
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