Die Dreyfus-Affäre und die "Dreyfusards". Öffentliche Meinungsbildung in der Dritten Französischen Republik


Hausarbeit, 2019

36 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2. Frankreich zu Beginn der Dritten Republik

3. Die Presse in Frankreich zur Zeit der Affäre
3.1 Die konservative antisemitische Presse
3.2 Die liberale Presse
3.3 Internationale Pressereaktionen

4.Les Dreyfusards
4.1 Begriffsbestimmung
4.2 Die ersten Dreyfusards – humanitäre Motivationen
4.2.1 Lucie Dreyfus ( 1869 – 1946 )
4.2.2 Mathieu Dreyfus (1857 – 1930)
4.2.3 Ferdinand Forzinetti ( 1839 – 1909
4.2.4 Bernard Lazarre ( 1865 -1903)
4.3 Die einflussreichsten Dreyfusards
4.3.1 Georges Picquart ( 1854-1914)
4.3.2 Auguste Scheurer-Kestner ( 1833 – 1899)
4.3.3 Émile Zola ( 1840 – 1902 )
4.3.4 Georges Clemenceau (1841 – 1924)
4.3.5 Victor Basch ( 1863 – 1944 )
4.4 Alfred Dreyfus (1859 – 1934) – ein Dreyfusard ?
4.5 Fazit539017

Literaturverzeichnis

Anhang
Übersicht über die wichtigsten Zeitschriften
Chronologie der Ereignisse

1.Einleitung

Eine Untersuchung, die als Schwerpunkt die Position der Dreyfusards und ihr öffentliches Wirken im Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit hat, muss einerseits die historische Situation der Dritten Französischen Republik berücksichtigen, zum anderen die Bedingungen beleuchten, unter denen sich öffentliche Meinungsbildungsprozesse vollzogen haben und schließlich das Wirken der wichtigsten Akteure zum Gegenstand haben.

Der Kampf der Dreyfusards ist eine Kampf um Gerechtigkeit für ein Individuum – den inhaftierten Alfred Dreyfus , um gesellschaftliche Werte wie Wahrheit und Gerechtigkeit gegenüber einem Glauben an Staatsraison, aber zugleich auch das Ringen um eine Staatsform: die demokratische Republik. Vor diesem Hintergrund muss diese Untersuchung gesehen werden, die somit im engen Zusammenhang mit dem Thema des Kurses zur parlamentarischen Demokratisierung steht.

Die Affäre Dreyfus bietet als ein vielschichtiges Forschungsfeld unzählige Denkansätze und Fragestellungen und ist damit in ihrer Komplexität auch mehr als 100 Jahre nach dem eigentlichen Geschehen immer noch in einigen Aspekten ungeklärt, wie etwa in den eigentlichen Motivationen der Urheber der Affäre. Jede Arbeit, die die Affäre zum Thema hat, steht also immer vor der Schwierigkeit der Schwerpunktsetzung, muss sich aber auch dem Vorwurf aussetzen, nicht ausgewogen in Bezug auf die jeweilige andere Seite des Argumentationsfeldes zu sein. Dies gilt auch für diese Arbeit, die das Wirken der Dreyfusards in den Fokus nimmt und dabei die Argumentationen der Anti-dreyfusards nur am Rande berücksichtigt. Würde der Schwerpunkt der Arbeit auf einer Darstellung der Polarisierung eines ganzen Landes liegen, würden Argumentationen der Antidreyfusards einen breiteren Raum einnehmen.

Es wäre auch eine andere Untersuchung, die Vielfalt der auch schon im ausgehenden 19. Jahrhundert bestehenden Möglichkeiten, Propaganda durch visuelle Impulse – besonders Karikaturen – zu steuern, und so individuelle Meinungsbildungsprozesse wirkungsvoll zu gestalten. Ebenso lohnend wäre es, der Wirkung der Affäre in der Literatur oder der Bildenden Kunst nachzugehen.

Die vorliegende Arbeit will also den Versuch unternehmen, die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen die Akteure lebten und ihr Handeln in Abhängigkeit zu diesen Bedingungen aufzeigen.

Die verwendeten Quellen umfassen Zeitungsartikel, Briefe von Alfred und Lucie Dreyfus und Prozessdokumentationen. Die verwendete Forschungsliteratur basiert zum überwiegenden Teil auf Veröffentlichungen aus Frankreich.

2. Frankreich zu Beginn der Dritten Republik

Zu der Zeit, als die Affäre Dreyfus mit der Inhaftierung vom Alfred Dreyfus am 15.Oktober 1894 begann, befand sich die Dritte Französische Republik noch am Anfang ihrer 70jährigen Geschichte. Ganz allgemein wird der größte Verdienst der Dritten Republik in der Bekehrung der Franzosen zur republikanischen Gesinnung gesehen1, und vor diesem Hintergrund ist auch der Ausgang der Affäre Dreyfus zu betrachten. Nach ihrer Gründung erlebte die Republik zwei Krisen: die Boulanger-Krise und die Affäre Dreyfus, die sie beide aber erfolgreich meisterte, so dass diese Zeit trotz aller Regierungswechsel als eine Zeit politischer Stabilität angesehen werden kann.

In diese Zeit gehört auch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die ganz wesentlich zur Alphabetisierung und damit zur Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus der Massen beitrug. Die weltliche Schulgesetzgebung der achtziger Jahre des 19.Jahrhunderts führte zu einem allgemeinen Unterricht, der auf den Grundlagen der Aufklärung und den Prinzipien der Revolution von 1789 basierte und so republikanisches Denken initiierte und die Macht der katholischen Kirche in diesem Bereich weiter zurückdrängte.

Weniger erfolgreich war die demographische Entwicklung. Bei einer Gesamtbevölkerung von weniger als 40 Millionen lebten etwa zwei Drittel aller Franzosen auf dem Lande und nur ca. 11,5 Millionen in den Städten. Trotz beträchtlicher Erfolge bei der Industrialisierung zur Zeit Napoleons III. verlief der Fortschritt ab den sechziger Jahren insgesamt weniger rasant als in England, den USA, Deutschland und Japan. Ereignisse, wie die Pariser Weltausstellung von 1900, waren daher für die wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs von besonderer Wichtigkeit. Von dieser wirtschaftlichen Entwicklung profitierte ausschließlich das Bürgertum, während die Lage der Industriearbeiter - wie überall in Europa - in den Städten prekär war. Erste Streiks führten in den sechziger Jahren zu einem eingeschränkten Koalitionsrecht und legten den Grundstein für eine spätere große sozialistische Bewegung.2 Soziale Fragen spielten im politischen Diskurs dieser Zeit so gut wie keine Rolle.

Für die Entwicklung der Affäre Dreyfus war auch die politische Struktur des Staates bedeutsam. In der Verfassung von 1870 ist der Souverän das Parlament – gewählt von allen Männern über 21 Jahren –, das über alle großen politischen Fragen entscheidet. Die Regierung ist ihm allein gegenüber verantwortlich. Die verschiedenen Verfassungen seit 1791 hatten dieses Prinzip der Volkssouveränität nach Rousseau und Montesquieus Idee der Gewaltenteilung nur unzureichend umgesetzt. Rousseaus Ideen von der „ volonté générale“ als Etablierung von Regierungsgewalt durch die „ opinion publique“ existierte in Frankreich seit der Revolution. So war Frankreichs Parlamentarismus gegenüber anderen europäischen Ländern weit entwickelt, obwohl es zu dieser Zeit noch keine Parteien im eigentlichen Sinne gab, wohl aber verschiedene politische Gruppierungen, die ihre Ideologie von einer der vorangegangenen Herrschaftsformen ableiteten.3

Fünf Gruppen hatten sich herausgebildet, wobei die Monarchisten - Legitimisten und Orleanisten - die politische Rechte bildeten, die Bonapartisten, die zwischen beiden Lagern standen, die Linke von den Republikanern, Gemäßigten und Radikalen gebildet wurde. Der Bonapartismus wies plebiszitäre, antiparlamentarische und republikanisch-nationalistische Züge auf, meist in Gefolgschaft einer populären Persönlichkeit4, und wird von vielen Historikern als konstanter Faktor französischer Politik gesehen.

Alle diese Gruppierungen sind zur Zeit der Affäre in unterschiedlichen Gruppen organisiert und dort als Gestalter von Meinungsbildungsprozessen aktiv: La Ligue de la patrie française, La Ligue des patriotes, La Ligue antisémitique, La Ligue des droits de l’homme .

3. Die Presse in Frankreich zur Zeit der Affäre

Seit dem 29. Juli 1881 gab es in Frankreich ein Pressegesetz, das die Pressefreiheit garantierte, gleichzeitig aber auch festlegte, dass sie nicht die Sicherheit des Staates und die Prinzipien, auf denen er basierte, gefährden durfte. Eine Einschränkung erfuhr diese fast völlige Pressefreiheit 1893 und 1894 durch die „Lois scélérates“, die als Reaktion auf die vielen anarchistischen Attentate, denen auch der Staatspräsident Sadi-Carnot zum Opfer fiel, erlassen wurden und die jegliche anarchistische und antimilitaristische Propaganda verboten5.

Wichtig für die Entwicklung der Presse waren auch die verbesserten technischen Möglichkeiten, die durch die Mechanisierung der Produktion hohe Auflagen möglich machten. Während im übrigen Europa Tagesszeitungen mit einer Auflagenhöhe von bis zu 100.000 Exemplaren die Regel waren, erreichten sie in Frankreich bis zu 1.000.000 Leser.

Anders als in anderen europäischen Ländern, wo die Verlagshäuser ihr Einkommen durch Werbeeinnahmen rekrutierten, wurde in Frankreich die Werbung in der Presse durch die Nachrichtenagentur HAVAS kontrolliert. Dies machte die Presse abhängig von Spenden, was ihr den Vorwurf der Bestechlichkeit einbrachte6. Ein Beispiel dafür ist der Panama Skandal: Als es 1888-89 um die Genehmigung einer Lotterie zur Verbesserung der Finanzlage der den Bau finanzierenden Gesellschaft ging, wurden Le Figaro und Le Temps vorgeworfen, eine bereits bankrotte Gesellschaft in positivem Licht dargestellt zu haben. Während der Affäre Dreyfus wurde dieser Vorwurf der Bestechlichkeit auch gegen alle Zeitungen der Dreyfusards erhoben.

In der Tat befand sich die Presse im Besitz der „puissances d’argent“7, für die auch immer hohe Spenden nötig waren, um renommierten Schriftstellern auch hohe Honorare zahlen zu können und um sich so gegenüber der Konkurrenz eine konstante Leserschaft zu sichern.

Seit 1870 war die Leserschaft durch die fortschreitende Alphabetisierung enorm gestiegen. Insbesondere die Arbeiterschaft, die nach einem langen anstrengenden Arbeitstag sich gern über die Tagesereignisse informieren ließ. Auch die untere Mittelschicht mit zahllosen kleinen Angestellten gehörte dazu.

Die Presse war das wichtigste Medium der Informationsverbreitung und der Formung der öffentlichen Meinung und damit der Politisierung aller Schichten der Bevölkerung, insbesondere aber der unteren Schichten. Für die Affäre Dreyfus, wo ständig neue Ungereimtheiten ans Licht der Öffentlichkeit gezogen wurden, war sie von entscheidender Bedeutung. Und so gilt : „ Si l’affaire dut beaucoup à la presse, la presse dut beaucoup à l’affaire“8

Die Affäre war in vieler Hinsicht für die Presse eine ideale Geschichte, und sie geschah zu einer Zeit, in der der Einfluss des Journalismus am größten war „For a romantic age, the affair presented an ideal almost story-like model. It had an innocent victim of injustice oppressed by identifiable villains, a faithful wife waiting pateintly at home, and finally it had the knights of Truth, the leadindg Dreyfusards,fighting the evil dragaon of injustice. It was an ideal human-interest-story with distinct political and national implications.“9

Das Publikum war also gut vorbereitet, diese Geschichte zu rezipieren und dies auch deshalb, weil es dazu einen Vorläufer gab: einen Zeitungsroman mit der Affäre gleichenden Ereignissen von Louis Létang. Er erschien mit seiner letzten Fortsetzung in Le Petit Journal am 20. Juli 1894. Als dann der Fall Dreyfus ab 1.November 1894 publik wurde, erinnerten sich sicher viele Leser an diese Geschichte. Es ist dokumentiert, dass Ministerpräsident Dupuy diese beunruhigende Parallele mit Joseph Reinach 1894 und Raymond Poincaré 1897 erörtert hatte und sich fragte, ob nicht alle Opfer einer ungeheuerlichen Mystifikation geworden seien.10

Die Affäre war also von Anfang bis Ende ein Pressefall, der die Leserschaft polarisierte, und die beiden Presselager von konservativer und liberaler Presse rangen um die Vorherrschaft bei den Lesern.

Frankreich befand sich nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 in einem Zustand des frustrierten Nationalismus, das sich auf keinen Fall die Schwäche der eigenen Armee als Grund für die Niederlage eingestehen konnte. Die katholische Kirche war frustriert wegen der Schwäche des Papsttums durch die Eroberung Roms durch Vittorio Emanuele im Jahre 1870. Insgesamt war eine fortschreitende Erosion moralischer Werte beobachtbar. Vor diesem Hintergrund begann eine Suche nach Sündenböcken: Freimaurer, Protestanten, Engländer und Juden gerieten ins Visier einer antisemitisch ausgerichteten Presse. Und wie Brennan feststellt :“ It was in this setting that the turmoil of conflicting ideologies of liberalism against the old conservatism unfolded.“11

3.1 Die konservative antisemitische Presse

Insbesondere das zweibändige Werk „ La France juive“ von Edouard Drumont,12 des späteren Gründers der rechten Tagesszeitung La Libre Parole , thematisierte die Kontrolle des französischen Finanzsystems und der Politik durch Juden, die ja seit der französischen Revolution anders als in anderen europäischen Ländern seit 1790 als gleichberechtige Bürger leben konnten. Drumont benutzte seit 1892 La Libre Parole zur Verbreitung seiner Ideen. Aufgedeckt hatte er dort den Panama-Skandal. Er zeigte die Bestechung vieler Politiker durch Teilhaber der Baugesellschaft auf, was dazu führte, dass Baron Reinach, einer der Teilhaber, um der Strafverfolgung zu entgehen, Selbstmord beging. Da Drumont Katholik war, erfuhr man wenig über die Verstrickung konservativer Katholiken in diesen Skandal. Er selbst hatte durch die Lektüre jesuitischer Schriften seine antisemitische Haltung entwickelt.

Als die Affäre Dreyfus begann, war eine antisemitische Presse im öffentlichen Bewusstsein Frankreichs bereits etabliert.

Aber auch eine sozialistische Presse mit dem L’Intransigeant von Marquis de Rochefort verbreitete antisemitische Inhalte. Sein Antisemitismus wurzelte in seiner antikapitalistischen Überzeugung, die auch in seiner Beteiligung am Aufstand der Pariser Kommune 1871 zum Ausdruck kam. Mit seinen scharfen antisemitischen Attacken versuchte er seinen Konkurrenten Drumont auszustechen, um so noch mehr Leser für sein Blatt zu bekommen.

Die katholische antisemitische Presse der Assumptionisten hatte ihr Sprachrohr in La Croix, das erfolgreich als Massenblatt von Pater Vincent de Paul Bailly geleitet wurde und mit primitiven, volkstümlichen Argumentationen seine Leserschaft an sich band.

Le Petit Journal wurde von Ernest Judet, einem Juden geleitet, der als strenger Nationalist gegen eine Wiederaufnahme des Verfahrens von Dreyfus war, aber keine antisemitischen Positionen vertrat.

Weitere Journalisten, die die konservative antisemitische Presse unterstützten, waren: Lucien Millevoye , ein Hassprediger, den eine enge Freundschaft mit Katkov, dem führenden russischen Anti-Semiten verband; Jules Guérin, Leiter der Zeitung L’Antijuif; Max Régis, Bürgermeister von Algier und Paul Déroulède, ein bekannter nationalistischer Dichter.

3.2 Die liberale Presse

Das Lager der Dreyfusards, 13 denen es vor allem bis 1898 um eine Revision des Prozesses von 1894 ging, konnte namhafte Politiker und zahlreiche Intellektuelle zu ihren Unterstützern zählen. Sie mobilisierten bekannte Wissenschaftler, wie z.B. Émile Duclaux, den Leiter des Institut Pasteur, Philosophen, Linguisten, Anthropologen, Mathematiker, Physiker – kein bedeutender Wissenschaftler dieser Zeit bekannte sich zur Gegenseite. Es entstand ein Netzwerk von Intellektuellen, das in zahlreichen Protestlisten der Position der Dreyfusards Gewicht verlieh.14

Georges Clemenceau, auf den noch genauer eingegangen wird, gehörte zur extremen Linken und wurde 1897 der wichtigste Redakteur von L’Aurore in der Zeit, als die Affäre ihren publizistischen Höhepunkt erreichte.

Yves Guyot (1843-1928) war Ökonom und Politiker. Als Liberaler verabscheute er den Sozialismus wie auch die konservative Rechte. Es ging ihm immer um darum, eine Verbindung von Liberalismus mit Menschenrechten herzustellen.15 Seit 1892 war er Herausgeber von Le Siècle und engagierte sich von Beginn der Affäre an für Gerechtigkeit für Dreyfus.

Jean Jaurès (1859 -1914) gehörte wegen seiner brillanten Reden zu den wirkungsvollsten Verteidigern der Unschuld von Dreyfus. Durch seine Studien als Historiker entwickelte er sich zum Sozialisten. Er war bis 1898 sozialistischer Abgeordneter. Nach Verlust seines Mandats begann er für die sozialistische Tageszeitung La Petite République zu schreiben. Er machte diese zu einem der wichtigsten Medien der Dreyfusards. Als moderater Sozialist hatte er Schwierigkeiten mit den Radikalen in seiner Partei, die die Affäre allein als ein Problem innerhalb der Bourgeoisie ansahen. Dennoch wird er auch heute noch von Kommunisten und Sozialisten als ihr geistiger Vater angesehen.

Der Herausgeber von La Petite République, Gerault-Richard (1860-1911), war wie Jaurès Sozialist und gehörte ebenfalls zu bedeutenden Dreyfusards.

Nicht nur linke Journalisten sondern auch Le Figaro, der eher für eine monarchstisch konservative Ausrichtung stand, ergriff Partei für die Dreyfusards, insbesondere in der Frage der Revision des Prozesses von 1894. Fernand de Rodays ( 1845-1925) war schon ab 1895 von der Unschuld von Dreyfus überzeugt.

Sein Redakteur Jean-Joseph Cornély (1845-1907) engagierte sich besonders in der letzten Phase gegen die Anti-Dreyfusards. Er ist ein Beispiel dafür, dass die Affäre die politische Ausrichtung von Menschen beeinflusste. So vertrat er zunächst bei Gaulois monarchistische Postionen, wechselte dann zu Le Figaro , wo er mit liberalen Republikanern zusammenarbeitete.

Le Temps als große renommierte Tageszeitung mit internationalem Ruf versuchte eine neutrale Position zu bewahren, um die Spaltung des Landes nicht noch weiter zu befeuern oder auch möglicherweise um nicht ihre Abonnenten zu verlieren. Adrien Hébard (1833-1914), sein Bruder Jacques Hébard (1841-1917) als Herausgeber und Francis Pressencé (1853-1914) als ehemaliger Diplomat, der Journalist wurde, standen für diese Haltung, obwohl die Urheberschaft von politischen Artikeln in diesem Blatt nicht öffentlich gemacht wurde.

Im französischsprachigen Ausland vertraten besonders zwei Zeitungen die Position der Dreyfusards : L’Indépendence Belge in Brüssel mit einem Büro in Paris und das Journal de Genève, dessen Veröffentlichungen häufig zur Zielscheibe der rechten Presse wurde.

Unterstützer hatten die Dreyfusards auch bei den republikanischen Politkern: Arthur Ranc (1831-1908) war als republikanischer Politiker ein wichtiger Mitbegründer der Dritten Republik. Die Affäre war für ihn vor allem ein juristisches Problem.

Ludovic Trarieux (1840-1904) war ebenfalls Jurist und Justizminister während der Affäre. Ihm kam eine wichtige Hintergrundrolle zu, weil er immer wieder im Kreise der Dreyfusards auf Ungereimtheiten aufmerksam machte.

Nur zwei bedeutende Publizisten der jüdischen Gemeinde bekannten sich öffentlich als Dreyfusards: Bernard Lazarre (1865-1903), auf den noch weiter unten eingegangen wird, und Joseph Reinach (1856-1921). Die jüdische Gemeinde insgesamt vermied öffentlich den Kontakt zur Affäre aus Angst vor Repressalien.

Joseph Reinach war der Neffe von Baron Reinach, der in den Panama-Skandal verwickelt war. Öffentlich nahm er deshalb während der Affäre meist eine eher zurückhaltende Rolle ein. Er spielte als Abgeordneter (1889-1889, 1904-1914) eine wichtige Rolle in der Dritten Republik. Als Historiker gewann er Bedeutung mit seiner sechsbändigen Geschichte „ Histioire de l’affaire Dreyfus“ (1901). Dort beschreibt er die Affäre aus der Sicht der Dreyfusards.16

So war nach 1897, als die Affäre in ihre entscheidende Phase kam, Frankreich ein gespaltenes Land, und viele der Akteure von beiden Seiten blieben bis zu ihrem Tod der jeweiligen Seite verpflichtet.

3.3 Internationale Pressereaktionen

Es war besonders die führende Rolle Frankreichs in der zivilisierten Welt, die die Affäre von vornherein nicht nur als eine interne Angelegenheit dieses Landes werden ließ. Besonders in ihrer letzten Phase erweckte sie ein großes Interesse bei der internationalen Presse, was der rechten nationalistischen Presse nicht gefiel. Frankreich stand immer noch für progressive Ideen, die französische Sprache war immer noch die erste, die gelernt wurde, und in der Bildenden Kunst hatte Frankreich zu dieser Zeit die kreativsten Maler. Die Weltausstellung von 1900 wurde vorbereitet.

Ab 1894 wurde die Affäre im Ausland zunächst als innerfranzösische Angelegenheit angesehen, aber ab 1898 waren es europäische Diplomaten, die den wachsenden Glauben an die Unschuld von Dreyfus kommunizierten. Das Bild in der ausländischen Presse war nicht einheitlich Insbesondere nach dem Prozess gegen Zola, auf den weiter unten noch eingegangen wird, verstärkten sich antifranzösische Ressentiments, aber auch Reaktionen der Antidreyfusards.

Nach dem Urteil von Rennes schätzte Le Temps die Wirkung des Urteils auf Frankreich richtig ein: „ La France a une mauvaise presse….[Les] don Quichotte du porc salé se proposent de ne pas venir à l’Expostion.“17

Während nach dem Urteil von Rennes über die Möglichkeiten der Begnadigung in der Regierung Waldeck-Rousseau nachgedacht wurde, kam es weltweit zu Demonstrationen für Dreyfus. Französische Auslandsvertretungen wurden unter Polizeischutz gestellt. Der Ruf nach Begnadigung wurde weltweit artikuliert. Und Michel Burns beschreibt die Lage so: „ if Dreyfus remained in prison, the international community would refuse participation in the Universal Exhibition due to open in Paris in the following spring. The threats came from private citizens, and ad hoc organisations, not from individual governments, but private exhibitors and visitors were the life-blood of the grand World Fairs . And French officials knew it well.“18

Für Frankreich stand sein Ruf als Land revolutionärer Ideen mit der Gleichheit aller vor dem Gesetz und der jüdischen Emanzipation auf dem Spiel. Und wie Hannah Arendt feststellte: „ ..the wrong done to a single Jewish officer in France was able to draw from the rest of the world a more vehement and united reaction than ail the persecutions of German Jews a generation later.“19

Dieser Einschätzung von Hannah Arendt kann unbedingt vor dem Hintergrund der Tatsache zugestimmt werden, dass die Presse weltweit im ausgehenden 19. Jahrhundert eine ungeheure Macht aufgebaut hatte, die sie später so nie wieder haben würde.

Sicher muss auch der Ausgang der Affäre mit der Begnadigung von Dreyfus und der Amnestie für alle Straftaten durch das Gesetz vom 27. Dezember 1899 im Zusammenhang mit internationalen Pressereaktionen gesehen werden, die Druck auf die französische Regierung ausübten.

4.Les Dreyfusards

Die Darstellung der einzelnen Dreyfusards beschreibt ihre Motivationen für ihr Engagement. Für die Auswahl dieser Persönlichkeiten hat eine Rolle gespielt, in wieweit sie durch ihr Wirken zur Lösung der Affäre beigetragen haben und auf welche Weise sie den öffentlichen Meinungsbildungsprozess beeinflusst haben. Dabei wird sowohl eine Rolle spielen, von welchen Personen des eigenen Umfelds und öffentlichen Lebens sie Unterstützung erfahren haben als auch welche Medien sie eingesetzt haben, um so die Unschuld von Alfred Dreyfus nachzuweisen.

4.1 Begriffsbestimmung

Der Begriff erscheint im Petit Robert20 als‚ Dreyfusrad, arde‘ adj. (1899, -1903; dreyfusiste,1903; de Dreyfus) Partisan de Dreyfus, subst.

Vincent Duclert differenziert den Begriff noch weiter21. Er unterscheidet

„Les dreyfusards rassemblent le groupe des défenseurs de Dreyfus qui s’est attaché, entre 1896 et 1899, à reconstituer publiquement les circonstances du procès de 1894 pour en prouver la forfaiture et démontrer l’innocence de Dreyfus.“ Dabei erscheint bei dieser Definition schon ab 1896 das öffentliche Engagement als Merkmal und damit auch das Nachdenken über den Sinn dieses Engagements.

„ Être dreyfusiste consiste à prendre l’affaire Dreyfus comme un fait explicateur de la société, comme un évènement de référence pour construire une autre politique, comme un principe de formation de la cité rêvée; à l’image de la ‚ligne dreyfusarde‘, elle recrute indépendamment des origines sociales ou politiques et se donne une unité puissante.“ Duclert betont hier, dass das Engagement der Dreyfusards nicht getrennt von ihren sozialen und politischen Visionen gesehen werden kann.

Schließlich kennt er noch die „ Dreyfusiens“, die nach 1898 auftauchten und die Auseinandersetzungen zwischen Dreyfusards und Anti-Dreyfusards, Dreyfusisten und Nationalisten beenden wollten, da sie darin eine Gefährdung des Staates sahen : „ Ils ne cherchent, dans la défense de Dreyfus, que l’occasion de liquider l’Affaire pour revenir à la normalité.“

Eine weitere Gruppe waren noch die Revisionisten, die allein auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens hinarbeiteten.

In der anschließenden Darstellung wird der Begriff „Dreyfusards“ dennoch als Oberbegriff verwendet werden, der all die genannten Varianten umfasst, denn auch in der verwendeten Literatur gilt dieser Sprachgebrauch.

4.2 Die ersten Dreyfusards – humanitäre Motivationen

4.2.1 Lucie Dreyfus ( 1869 – 1946 )

Als Alfred Dreyfus inhaftiert wurde, war Lucie gerade 25 Jahre alt. Von diesem Moment an fiel ihr eine dreifache Rolle zu:

- die der liebenden Ehefrau und Mutter: Ihr wurden nur wenige und zudem überwachte Besuche während der Inhaftierung im Militärgefängnis Cherche-Midi und auf der Île de Ré gestattet. Durch ihre vielen Briefe, die der Zensur unterworfen waren, gelang ihr dennoch, ihren Mann durch emotionale Unterstützung so gut es eben ging in der Zeit seiner Deportation am Leben zu erhalten. Ihre Korrespondenz bezeugt dies.22 Darüber hinaus motivierte sie Joseph Reinach, die Briefe, die sie von ihrem Mann aus der Gefangenschaft erhalten hatte, zu veröffentlichen. Er publizierte für sie 1898 zunächst in Le Siècle und anschließend als Gesamtausgabe im Verlagshaus Stock die „Lettres d’un innocent“.
- Als Amtsvormund ihres Mannes war sie sein gesetzlicher Vertreter. An seinem Prozess durfte sie nicht teilnehmen; auch noch beim Prozess von Emile Zola 1898 erhielt sie kein Rederecht23. Aber bereits 1896, als durch die Veröffentlichung eines im Prozess von 1894 ohne Wissen der Verteidigung verwendeten Geheimdokuments – „ .. ce canaille D. “- ..die Unrechtsmäßigkeit dieses Verfahrens öffentlich wurde, war es Lucie Dreyfus, die am 16. September 1896 ein Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens bei der Abgeordnetenkammer einreichte. Das Gesuch wurde abgelehnt. In dieser Zeit richtete sie auch ein Bittgesuch an den Papst. Darüber hinaus wurde sie immer wieder mit dem vermeintlichen Schuldeingeständnis ihres Mannes bei seiner Degradierung konfrontiert. Öffentlich widersprach sie dieser Darstellung in einer Depesche an die nationale Nachrichtenagentur. Als Kriegsminister Cavaignac im Januar 1898 sich in einer Rede vor der Abgeordnetenkammer wiederum auf diese Legende bezog, widersprach sie ihm öffentlich in zwei Briefen. Am 5. Juli 1898 schließlich unterschrieb sie das Gesuch um Annullierung des Urteils, das sie an den Justizminister richtete. Sie erhielt keine Antwort und deshalb wiederholte sie das Gesuch nach dem Tod Henrys24. Das eigentliche Verfassen des Textes ging auf eine Gruppe um Joseph Reinach zurück, was dieser auch dokumentierte, aber Lucie allein konnte das Verfahren durch ihre Unterschrift in Gang setzen.25
- Als Auslöser militanter feministischer Solidarität wurde sie zu einem bedeutenden Faktor der Mobilisierung der Frauen. Während der Zeit der Deportation kämpfte sie um ein Besuchsrecht auf der Île du Diable, was ihr trotz vieler Briefe und einem Treffen mit Kolonialminister Charles Guiyesse verweigert wurde. Diese gerechtfertigte Forderung von Lucie löste in der feministischen Presse eine Welle der Unterstützung für sie aus. Die feministische Tagesszeitung La Fronde, die seit ihrer ersten Ausgabe die Position der der Dreyfusards vertrat, veröffentlichte einen Appel aux femmes ( 25.-28. März 1898), der Lucie in ihrem Kampf um ein Besuchsrecht unterstützte. In dieselbe Richtung ging der „Appel aux femmes de France“ von Jean Psichari, der zuerst in Le Siécle und dann in L’Hommage des lettres francaises à Émile Zola veröffentlicht wurde.

Ihre Rolle in der gesamten Zeit der Affäre ist insgesamt schwer einzuschätzen, weil ihr Wirken nur wenige Spuren hinterlassen hat. Sie ist vielmehr diejenige, die unablässig durch permanente Kontakte das Netzwerk der Dreyfusards mit aufgebaut und gepflegt hat. Dafür ist sie von allen verehrt worden.

[...]


1 Bloch, Charles, „ Die Dritte Französische Republik – Entwicklung und Kampf einer Parlamentarischen Demokratie“, Stuttgart, 1972, S. 6- 7

2 Ibid. S.16

3 Ibid. S.18

4 Ibid. S.22

5 Bloch, Charles, „Die Dritte Französische Republik“ Stuttgart, 1972, S. 101-102 Von den Sozialisten wurden die Gesetze als „verbrecherisch“ eingestuft, weil sie darin eine unzumutbare Einschränkung der Pressefreiheit sahen.

6 Brennan, James F. „The Reflection of the Dreyfus Affair in the European Press“, New York, 1998, S. 19 -20

7 L’Affaire Dreyfus / Dictionnaire sous la direction de Michel Drouin, Paris, 1994, 2ième édition 2006, S.633. So wurde dem Schriftsteller Mirabeau für einen Artikel 300 Francs gezahlt, was € 1067,00 entspricht.

8 Ibid., S. 633

9 Brennan, James F. „The reflection of the Dreyfus Affair in the European Press“, New York, 1998, S.481

10 Cass I „ La révision du procès Dreyfus, enquête de la Cour de Cassation.I.294 [46-48] in: Die Affäre Dreyfus, Hrsg.Siegfried Thalheimer, München, 1963, S. 27-28 Dupuy sprach diesen Verdacht bei seiner Vernehmung im Revisionsprozess aus.

11 Brennan, James F. „The reflection of the Dreyfus Affair in the European Press“, New York, 1998, S.482

12 Ibid. S. 20 - 21

13 Ibid. S. 21-24

14 Duclert, Vincent, „ Les savants“ in: L’Affaire Dreyfus / Dictionnaire sous la direction de Michel Drouin, Paris, 1994, 2ième édition 2006, S. 490 – 494. Er weist darauf hin, dass der Begriff „Intellektueller“ erst im Zusammenhang mit ihrer Positionierung in der Affäre entstanden ist.

15 Rémi Fabre et Emmanuel Naquet, „ Yves Guyot, ou la fusion du libéralisme et des droits del’Homme“ in :Être dreyfusard hier et aujourd’hui / Sous la direction de Gilles Manceron et Emmanuel Naquet, Presses Universitaires de Rennes, 2009, S. 117-119

16 Thomas, Marcel, „ Historiographie sommaire de l’Affaire“ in: L’Affaire Dreyfus / Dictionnaire sous la direction de Michel Drouin, Paris, 1994, 2ième édition 2006, S. 586-587

17 Le Temps, 14.September 1899 zitiert nach: Burns, Michael, „ The Policy of Pardoning: Dreyfus and the World‘s Fair in 1900“ in: L’affaire Dreyfus et l’opinion publique : en france et à l’étranger“ , Presses universitaires de Rennes, 1995. S.30

18 Auf diese Tatsache weist auch Martyn Cornick hin. Cornick, Martyn, „ La réception de l’affaire en Grande-Bretagne in:: L’Affaire Dreyfus / Dictionnaire sous la direction de Michel Drouin, Paris, 1994, 2ième édition 2006, S. 579

19 Arendt, Hannah, „ Origins of Totalitarianism“ New York, 1973, S. 91 in: Burns, Michael, „ The Policy of Pardoning: Dreyfus and the World‘s Fair in 1900“ in: L’affaire Dreyfus et l’opinion publique : en france et à l’étranger“ , Presses universitaires de Rennes, 1995, S.35

20 Petit Robert 1, Paris,1977 S. 579

21 Duclert,Vincent, „L’Affaire Dreyfus, Paris, La Découverte, „Repères“,1994 (réed. 2006) zitiert in : Être dreyfusard hier et aujourd’hui / Sous la direction de Gilles Manceron et Emmanuel Naquet, Presses Universitaires de Rennes, 2009, S. 195

22 Alfred et Lucie Dreyfus, „ Écris-moi souvent, écris-moi longuement..“: correspondance de l’île du Diable, édition par Vincent Duclerc, avant-propos de Michelle Perot, Paris, Mille et une nuits, 2005

23 Harris, Ruth, „ The Man on Devil’s Island“, Penguin, London, 2010, S. 122

24 Zur Rolle von Major Henry sei auf die Chronologie der Ereignisse im Anhang verwiesen.

25 Blum, Francoise, „ Lucie Dreyfus, de l’épouse à l’héroine“ in:Être dreyfusars, hier et aujourd’hui, Presses universitaires de Rennes, Réseau des universités de l’Ouest-Atlantique, 2009, S.80-81

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Details

Titel
Die Dreyfus-Affäre und die "Dreyfusards". Öffentliche Meinungsbildung in der Dritten Französischen Republik
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Historisches Institut)
Note
2,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
36
Katalognummer
V539017
ISBN (eBook)
9783346153050
ISBN (Buch)
9783346153067
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dreyfus-Affaire/ Frankreich/Antisemitismus
Arbeit zitieren
Helga Nieschalk (Autor:in), 2019, Die Dreyfus-Affäre und die "Dreyfusards". Öffentliche Meinungsbildung in der Dritten Französischen Republik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539017

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