Sexualerziehung bei Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung. Herausforderungen für Eltern und Lehrkräfte


Fachbuch, 2020

162 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

Theoretischer Teil

2 Was bedeutet Sexualität? - Eine Betrachtung aus drei verschiedenen Perspektiven
2.1 Die Biosexuelle Perspektive
2.2 Die Psychoanalytische Perspektive
2.3 Die Soziologische Perspektive

3 „Behinderte Sexualität“- Einflüsse auf die Sexualität von Menschen mit (Körper-) Behinderung
3.1 Die Entwicklung der Sexualität mit und ohne Behinderung
3.2 Einflüsse auf das Sexuelle Erleben bei Menschen mit Behinderung
3.3 Personale und Soziale Einflüsse auf die Sexualität von Menschen mit Behinderung

4 Sexualpädagogik ist nicht gleich Aufklärung
4.1 Definition: Sexualpädagogik in Abgrenzung zur Sexualerziehung und Aufklärung
4.2 Geschichtlicher Exkurs: Sexualpädagogik früher und heute
4.3 Sexualpädagogik und Schule

5 Sexualpädagogik in der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung - Forschungsergebnisse zur aktuellen Situation
5.1 Lehrer*innenbefragung zu aktuellen Problemlagen in der Sexualerziehung an der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung
5.2 Elterneinstellungen zu Sexualität bei Kindern und Jugendlichen mit körperlichen Behinderungen und die Erwartungen an die Sexualerziehung in der Schule
5.3 KiSS- Ein Konzept zur kompetenten, integrierenden Sexualpädagogik von Menschen mit körperlichen Schädigungen an Förderschulen

6 Zwischenfazit

Methodisches Vorgehen

7 Forschungsdesign

8 Forschungsmethodisches Vorgehen
8.1 Stichprobe
8.2 Erhebungsinstrumente
8.3 Durchführung
8.4 Vorgehensweise bei der Auswertung

Empirischer Teil

9 Vorstellung der empirischen Ergebnisse
9.1 Darstellung der Ergebnisse
9.2 Interpretation der Ergebnisse
9.3 Methodendiskussion

10 Diskussion der empirischen Ergebnisse vor dem Hintergrund des vorgestellten Forschungsstandes

11 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum:

Copyright © Social Plus 2020

Ein Imprint der GRIN Publishing GmbH, München

Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany

Covergestaltung: GRIN Publishing GmbH

Abkürzungsverzeichnis

AWO Arbeiterwohlfahrt

BFD Bundesfreiwilligendienst

CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands

FSJ Freiwilliges Soziales Jahr

GG Grundgesetz

ICIDH International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps

ICF International Classification of Functioning, Disability and Health

KiSS Kompetente, integrierende Sexualpädagogik für Menschen mit körperlicher Schädigung an der Förderschule

KmE Körperliche und motorische Entwicklung

KMK Kultusministerkonferenz

NRW Nordrhein-Westfalen

OK Oberkategorie

SchulG Schulgesetz

UK Unterkategorie

UN-BRK UN-Behindertenrechtskonvention, Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Genrealversammlung der Vereinten Nationen (UN)

WHO Weltgesundheitsorganisation

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte

Tabelle 2: Themenschwerpunkte

Tabelle 3: Elternarbeit

Tabelle 4: Herausforderungen

1 Einleitung

Die Sexualität gehört zur Gesamtpersönlichkeit eines jeden Menschen und jeder hat ein Recht darauf seine Sexualität frei auszuleben.

Eine solche Aussage würde vermutlich von vielen Personen spontan bejaht werden, doch ist dieses noch lange keine Selbstverständlichkeit. Das Thema Sexualität hat eine lange Entwicklungsgeschichte hinter sich. In der heutigen Gesellschaft ist durch die Inklusionsdebatte auch die Diskussion um die Vielfältigkeit der Sexualität vermehrt in den Vordergrund gerückt. Die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft, die jeden akzeptiert wie er ist und teilhaben lässt ohne Angst vor Diskriminierung und Benachteiligung ist ein großes Anliegen. Themen wie Trans-, Bi- oder Homosexualität gehören zum neuen sexuellen Diskurs der Vielfalt. Doch wie verhält es sich in diesem Zusammenhang mit Sexualität und Behinderung?

Die Inklusion von Menschen mit Behinderung stellt natürlich ein vordergründiges Anliegen der Inklusion dar, doch trifft diese Einstellung auch die Sexualität von Menschen mit Behinderung? Wie wird die Sexualität in diesem Kontext gesamtgesellschaftlich gesehen und welche Herausforderungen bringt Sexualität bei Menschen mit einer Körperbehinderung mit sich? Die folgenden Ausführungen sollen diese Fragen beantworten und darüber hinaus die Sexualerziehung als Grundlage für eine gelingende Sexualität näher ins Blickfeld nehmen. Hierbei sollen bestimmte Einflussfaktoren auf die Sexualität und Sexualerziehung bei Menschen mit körperlichen Behinderungen erläutert werden. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Rolle der Lehrer*innen und Eltern in der Sexualerziehung gelegt. Dabei ist von besonderem Erkenntnisinteresse, welche Einstellungen die sonderpädagogischen Lehrkräfte zur Sexualerziehung für Menschen mit Körperbehinderung haben und wie ihre Arbeitsweise in diesem Bereich aussieht. Auch die Kompetenz und Professionalität soll hier ein Thema sein, welches sich unter anderem auch in Zusammenhang mit der Elternarbeit gesehen werden muss.

Theoretischer Teil

2 Was bedeutet Sexualität? - Eine Betrachtung aus drei verschiedenen Perspektiven

Um sich dem spezifischen Bereich der Sexualität von Menschen mit körperlichen Behinderungen nähern zu können, muss zunächst der allgemeine Begriff der Sexualität und dessen Problematiken vorangestellt werden. Das Sexualitätskonzept gilt gleichermaßen für Menschen mit und ohne Behinderung.

Der Begriff „Sexualität“ lässt sich nur schwerlich auf eine einheitliche Definition reduzieren. Sexualität beinhaltet viele Dimensionen, umfasst Widersprüchliches und steht in enger Verbindung mit dem Irrationalen und Unbewussten (Sielert 2015, 36). Das Verständnis von Sexualität hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt, geht aber bis in die heutige Zeit noch mit Diskussionen über Diskriminierung und Tabuisierung einher. In Kombination mit einer Behinderung kann sich diese Problematik noch verstärken. Daher soll zunächst der Begriff der Sexualität geklärt und im Anschluss mit dem Thema Behinderung gemeinsam betrachtet werden.

Dem Begriff „Sexualität“ kann man sich aus verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen annähern. Annähern ist insofern eine passende Wortwahl, da Sexualität stets auch einen individuellen Faktor hat und es sich nur bedingt verallgemeinern lässt. Insbesondere die spezifischen Vorstellungen eines jeden sind verschieden und doch scheint es gewisse Übereinstimmungen zu geben. Beginnt man mit der Begriffsgeschichte muss Sexualität zunächst aus dem Blickwinkel der Biologie betrachtet werden. Im Jahr 1820 wurde der Begriff „Sexualität“ erstmals vom Botaniker August Henschel in seinem Buch „von der Sexualität der Pflanzen“ verwendet (Hierholzer 2014, 8). Hier liegt der Fokus auf der Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Pflanzen und wie diese beiden Geschlechter darauf ausgerichtet sind, sich miteinander fortzupflanzen (vgl. ebd.). Diese rein biologische Sichtweise hat sich jedoch weiterentwickelt. Unter anderem wurden psychoanalytische, soziologische, und pädagogische Aspekte ergänzt. Um eine Grundlage für die sexualpädagogischen Überlegungen dieser Arbeit zu schaffen ist es daher unerlässlich, den Begriff der Sexualität in seiner Vielschichtigkeit zu begreifen. Avodah Offit (1977) demonstriert die Vielseitigkeit des Begriffs wie folgt:

Sexualität ist, was wir daraus machen: eine teure oder billige Ware, Mittel der Fortpflanzung, Abwehr der Einsamkeit, eine Kommunikationsform, eine Waffe der Aggression (Herrschaft, Macht, Strafe, Unterwerfung), ein Sport, Liebe, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse, das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, ein Ausdruck der Zuneigung (mütterlicher, väterlicher, brüderlicher oder schlicht menschlicher Verbundenheit), eine Art der Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem All, mystische Ekstase, indirekter Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Art, menschliches Neuland zu erkunden, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Krankheit oder Gesundheit, oder einfach eine sinnliche Erfahrung. (16)

Anhand dieser Einordnung wird bereits deutlich, dass Sexualität nicht schlicht ein biologischer Fortpflanzungsakt ist, sondern viele Seiten des menschlichen Lebens beinhaltet und verschiedene Funktionen erfüllen kann. Eine umfassendere und allgemeingültigere Definition bietet allerdings Barbara Ortland (2008) an. Sie bezieht sich hierbei auf den Definitionsversuch von Sielert (2015), welcher Sexualität beschreibt als: […] allgemeine auf Lust bezogene Lebensenergie, die sich des Körpers bedient, aus vielfältigen Quellen gespeist wird, ganz unterschiedliche Ausdrucksformen kennt und in verschiedenster Hinsicht sinnvoll ist. (40)

Ortland verwendet ebenso wie Sielert den Begriff der „Lebensenergie“, die sowohl biogene als auch soziogene Faktoren beinhaltet (Ortland 2008, 17; Sielert 2015, 41). Kluge (2013) konkretisiert die Komplexität beider Faktoren in einem „Beziehungsgeflecht der sexuellen Grundbegriffe“ bestehend aus Sexualnormen (gesellschaftliche Vorschriften, Verhaltensmuster, Werte), Sexualverhalten (Selbstbefriedigung, Schmusen, Küssen, Petting, Geschlechtsverkehr, Deviationen, Perversionen u. a.), sexuelle Orientierung (hetero-, homo-, bisexuelles Verhalten) und sexueller Motivation (interne Stimulation: hormonell oder neuronal, und externe Stimulation) (72). Es ist nicht eindeutig feststellbar zu welchen Anteilen biogene und soziogene Faktoren bei der Entwicklung der Sexualität eine Rolle spielen, jedoch ist unstrittig, dass Sexualität über das rein Biologische hinausgeht und auch Normen und Werte der Gesellschaft das Verständnis von Sexualität beeinflussen und sich stetig verändern (vgl. Ortland 2008, 17).

Ortland hebt in ihrem Definitionsversuch hervor, dass die bereits genannte „Lebensenergie“ jedem Menschen inhärent und für ihn/sie unverzichtbar ist (vgl. ebd.). Dieses gilt natürlich auch für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, denen eben diese Lebensenergie nur aufgrund ihrer Einschränkungen nicht abgesprochen werden darf. (vgl. ebd.) Der Aspekt der Körperlichkeit spielt daher eine weitere zentrale Rolle in der Definition der Sexualität. „Im allgemeinen Sprachgebrauch meint Sexualität oder sexuelles Verhalten die Funktion von oder das Umgehen mit den Sexualorganen“ (Sielert 2015, 36). Somit steht zunächst einmal die Genitalität im Vordergrund. Dieses Verständnis von Sexualität ist jedoch überholt. Ortland verändert diesen Aspekt zu einem, den ganzen Menschen umfassendem Konstrukt (vgl. Ortland 2008, 18). Es spielen eben nicht nur der Körper, speziell die Genitalien, sondern auch Gefühle, Erleben und Intellekt eine Rolle in der Sexualität (vgl. ebd., 17). Jedoch ist dieses für die wissenschaftliche Betrachtung dieser Thematik sehr schwer fassbar, da Emotionen und Wahrnehmung im Vergleich zu körperlichen Erregungsindikatoren wie zum Beispiel Versteifung von Penis und Brustwarzen oder Muskelkontraktionen, nicht konkret messbar sind (vgl. Sielert 2015, 37). Würde jedoch nur die Genitalsexualität betrachtet werden, wären Personen ausgeschlossen, die aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen diese nicht ausleben können. (vgl. Ortland 2008, 17).

Des Weiteren ergänzt Ortland, dass Sexualität „die gesamte menschliche Biografie“ (ebd., 18) einschließt, da es sich um einen lebenslangen Entwicklungsaufgabe handelt, „in der er [der Mensch] in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Anforderungen und den eigenen Wünschen, die sich durch sexuelle Erfahrungen ausdifferenzieren, zu einer sexuellen Identität finden sollte.“ (ebd., 17). Daran anknüpfend ist hervorzuheben, dass Sexualität stets etwas Sinnvolles ist. Diese Sinnhaftigkeit findet sich daher in beiden Definitionen gesondert wieder, um deren Wichtigkeit herauszustellen. Sie beinhaltet vier zentrale Funktionen von Sexualität: den Fortpflanzungsaspekt, den Lustaspekt, den Beziehungsaspekt und den Identitätsaspekt (Sielert 2015, 47-49). Diese Aspekte sind gleichwertig zu betrachten, müssen allerdings nicht alle gleichermaßen verwirklicht sein um eine „vollwertige Sexualität“ zu erreichen (vgl. Ortland 2008,17).

In beiden Definitionen von Sexualität sind die verschiedenen Sinn- und Ausdrucksformen enthalten. Ortland fügt jedoch noch weitere Aspekte hinzu. So werden Geschlechtsspezifitäten und Ambivalenzen (bezogen auf Themen wie Gewalt und Aggression) der Sexualität berücksichtigt (vgl. Ortland 2008, 17). Da Ortland die Definition von Sielert um Aspekte ergänzt, die dazu beitragen, dass Sexualität noch differenzierter, auch im Hinblick auf Menschen mit körperlicher Behinderung, betrachtet werden kann, soll der Definitionsversuch nach Ortland (2008) Grundlage für diese Arbeit sein:

Sexualität kann begriffen werden als allgemeine, jeden Menschen und die gesamte menschliche Biografie einschließende Lebensenergie, die den gesamten Menschen umfasst und aus vielfältigen Quellen- soziogenen und biogenen Ursprungs- gespeist wird. Sie beinhaltet eine geschlechtsspezifische Ausprägung, kennt ganz unterschiedliche- positiv oder negativ erfahrbare- Ausdrucksformen und ist in verschiedenster Weise sinnvoll. (18)

Es lässt sich also festhalten, dass Sexualität für jeden Menschen von Bedeutung ist und sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt. Sexualität ist somit „ein wichtiger, wenn nicht entscheidender, Faktor für die Entwicklung des Menschen, für sein Verhalten, für die Strukturierung von Partnerschaften und nicht zuletzt der Sozietät des einzelnen“ (Wilhelm 1996, 23).

Aufbauend auf der Definition nach Ortland (2008) und den vier sinnstiftenden Aspekten Fortpflanzung, Lust, Beziehung und Identität nach Sielert (2015) soll im folgenden Kapitel der Begriff der Sexualität aus den verschiedenen Perspektiven der wissenschaftlichen Disziplinen Biologie, Psychoanalyse und Soziologie betrachtet werden, um in den nachfolgenden Kapiteln die Problematiken aufzudecken, die auf verschiedenen Ebenen der Sexualität stattfinden können.

2.1 Die Biosexuelle Perspektive

Sexualität kann als Grundvermögen des Menschen aufgefasst werden und entwickelt sich kontinuierlich im Entwicklungsverlauf weiter (vgl. Kluge 2013, 71). Wie zuvor erläutert, gibt es vier Aspekte der Sexualität (vgl. Sielert 2015, 47-49). Der Fortpflanzungsaspekt hat für die biosexuelle Sichtweise Priorität. Sexualität in der Biologie meint die Existenz von männlichen und weiblichen Lebewesen (vgl. ebd.). Sie beschäftigt sich daher mit den körperlichen Grundlagen der Sexualität und somit auch mit, an verschiedenen Punkten der Entwicklung möglichen, Funktionsstörungen. Bereits der Embryo besitzt ein Geschlecht und entwickelt sich somit auch geschlechtsspezifisch (vgl. Kluge 2013, 71). Die Stufen der Geschlechtsdifferenzierung werden Sexogenese genannt (vgl. ebd.). Allerdings soll hier nicht nur der Fokus rein auf der Fortpflanzung an sich liegen, sondern vielmehr die Verschmelzung und der Austausch von Genbeständen im Vordergrund stehen (vgl. Sielert 2015, 47).

Männliche und weibliche Lebewesen können zunächst einmal an den äußeren Geschlechtsmerkmalen unterschieden werden, jedoch manifestiert sich das Geschlecht auch noch auf weiteren Ebenen. Man unterscheidet bei der Sexogenese fünf Hauptstufen, wobei die ersten vier das körperliche Geschlecht repräsentieren. Hierbei handelt es sich um das genetische, gonodale, somatische und neuronale Geschlecht. Die fünfte Stufe beschreibt das psychologische Geschlecht und ist vorwiegend von äußeren Umwelteinflüssen abhängig (vgl. Kluge 2013, 74). Beginnend auf der genetischen Ebene gibt es beim Mann ein XY-Chromosomenpaar und bei der Frau ein XX-Chromosomenpaar (vgl. Ortland 2008, 19). Auf der Ebene der Keimdrüsen erfolgt etwa sechs Wochen nach der Befruchtung unter Einfluss des männlichen Hormons Androgen eine Geschlechtsdifferenzierung der Keimdrüsen (Gonaden), die im weiteren Verlauf für die Keimzellenproduktion und die geschlechtsspezifische Hormonproduktion verantwortlich sind (vgl. ebd.). Aus den Urgonaden des Basiskörpers entwickeln sich bei quantitativ unterschiedlicher Produktion von Sexualhormonen entweder Hoden oder die Eierstöcke und eine Vielzahl von Eizellen (vgl. Kluge 2013, 75). Ab der 8. Lebenswoche entwickeln sich die äußeren und inneren Geschlechtsorgane und somit das somatische Geschlecht. Beim weiblichen Geschlecht entstehen Eileiter, Gebärmutter, Scheide, Klitoris und Venuslippen während sich beim männlichen Geschlecht Samenleiter, Samenbläschen, Hoden, Nebenhoden, Prostata, Hodensack und Penis entwickeln (vgl. ebd.). Auch das zentrale Nervensystem weist Unterschiede in den Geschlechtern auf, welches sich bereits intrauterin entwickelt. Die geschlechtsspezifische Gehirnentwicklung setzt in der Fetalperiode ein (vgl. ebd., 76). Insbesondere die Hypophyse ist hier zu nennen, da dort die Geschlechtshormone produziert werden, die maßgeblich für die sexuelle Reifung sind (vgl. Ortland 2008, 20). Diese Hormone sind im Lebensverlauf nachhaltig für sexuelle Lust und Erregung mit verantwortlich (vgl. Hierholzer 2014,12).

Die biosexuelle Perspektive auf Sexualität bildet somit die Grundlage für die weiteren Auseinandersetzung insbesondere im Hinblick auf das psychologische Geschlecht. Dieses beinhaltet die Beeinflussung des Geschlechtsverständnisses durch die soziokulturelle Umgebung (vgl. Kluge 2013, 74). Da das psychologische Geschlecht sich ein Leben lang weiterentwickelt, ist hier deutlich, dass der Mensch zu jeder Zeit und in jedem Alter ein Sexualwesen ist (vgl. ebd. 77). In der psychosexuellen Entwicklung werden die Aspekte „Beziehung“ und „Identität“ sowie „Lustgewinn“ bedeutsam.

2.2 Die Psychoanalytische Perspektive

Die psychoanalytische Betrachtung des Sexuellen geht auf Sigmund Freud zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts seine Erkenntnisse zur infantilen Sexualität veröffentlichte. Freud geht davon aus, dass das Kind von Geburt an sexuelle Triebe und Betätigungen besitzt, aus welchen die Sexualität des Erwachsenen hervorgeht (vgl. Freud 1930, 45). Der Sexualtrieb des Kindes ist jedoch noch unabhängig von der Funktion der Genitalsexualität und der Fortpflanzung. Er dient zunächst nur der Lustgewinnung durch Erregung bestimmter Körperstellen (vgl. Freud 1930, 47). Es bedeutet somit in allgemeiner Weise, dass der Körper in Relation zu den Körpern anderer erregbar ist (vgl. Storck 2018, 27). Für die Sexualität im psychoanalytischen Sinn ist entscheidend, dass Erfahrungen wie Berührungen und die damit einhergehenden Gefühle eine Repräsentanz dessen bilden, was lustvoll und gewünscht ist (vgl. ebd., 28). Freuds Triebtheorie basiert also auf der Annahme, dass exogene und endogene Reize physiologische Erregungszustände hervorrufen, welche durch den Trieb eine psychische Bedeutung bekommen (vgl. ebd. 29). Freud geht davon aus, dass noch vor der Pubertät unter Einfluss der Erziehung diese Triebe verdrängt werden und sich Scham, Ekel und Moral herausbilden, welche diese „wie Wächter unterhalten“ (Freud 1930, 49). Auch hier können Störungen entstehen, die Freud mit der „Entwicklungshemmung der Sexualfunktion“ erklärt (ebd., 50). Freuds Triebtheorie wurde allerdings auch vielfach kritisiert. Während Freud noch davon ausging, dass alle menschlichen Handlungen durch Sexualität und Aggression bestimmt sind, hat sich diese Auffassung im Laufe des letzten Jahrhunderts verändert. Dass menschliches Handeln auch von unbewussten Absichten motiviert ist bleibt unstrittig, jedoch ist Freuds Auffassung konträr zum gegenwärtigen Selbstverständnis des Menschen als bewusst handelnde Person mit metakognitiven Fähigkeiten (vgl. Mertens 1997b, 76).

Die Psychoanalyse der letzten vierzig Jahre beschäftigte sich zunehmend mit dem Thema der Geschlechtsidentität. Aus der Perspektive der psychosexuellen Entwicklung des Menschen gibt es ähnlich wie in der Biologie ebenfalls bestimmte Komponenten, die ein Geschlecht ausmachen. Hierbei handelt es sich um die Komponenten der Geschlechtsidentität. Diese setzen sich aus der Kern-Geschlechtsidentität, der Geschlechtsrolle und der Geschlechtspartner-Orientierung zusammen. Die psychosexuellen Erfahrungen sind zwar nach wie vor wichtig, jedoch sind diese in einen größeren Persönlichkeits- und Sozialisationskontext einzubetten (vgl. Mertens 1997a, 23). Die Kern-Geschlechtsidentität entwickelt sich aufgrund des komplexen Zusammenwirkens von biologischen und psychischen Einflüssen und beschreibt das bewusste und unbewusste Erleben, einem bestimmten Geschlecht zugehörig zu sein (vgl. ebd., 24). Einen Einfluss auf dieses Erleben stellt die geschlechtsspezifische und stereotype Sozialisation vor allem durch die Eltern dar (vgl. ebd.). Die Geschlechtsrolle ist die Fortsetzung der Kern-Geschlechtsidentität und lässt sich als „das Insgesamt der Erwartungen an das eigene Verhalten wie auch an das Verhalten des Interaktionspartners bezüglich des jeweiligen Geschlechts auffassen“ (Mertens 1997a, 24). Im Verlauf der Entwicklung erlernt das Kind eine Reihe von Normen und kulturspezifischen Vorschriften, welche Anforderungen bezüglich des Verhaltens und der Persönlichkeitsmerkmale an das betreffende Geschlecht stellen (vgl. ebd., 25). Die Unterscheidung von Kern-Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle lässt sich auch als „sex“ und „gender“ benennen. Beides muss nicht übereinstimmen, beeinflusst sich aber gegenseitig. Es werden vermehrt gleichgeschlechtliche Rollenmodelle zur Identifikation genutzt, was das Rollenlernen weiter beeinflusst (vgl. ebd.). Die Geschlechtsidentität beinhaltet jedoch eine weitere Komponente: die Geschlechtspartner-Orientierung. Diese bezieht sich auf das bevorzugte Geschlecht des Geschlechts- oder Liebespartners (vgl. ebd., 26). Sie entwickelt sich bereits in der Kindheit, erhält jedoch ihre finale Ausprägung erst im Verlauf der Pubertät (vgl. ebd.).

Die diese drei Komponenten umfassende Geschlechtsidentität kann also allgemein als ein Erleben einer Zugehörigkeit zum weiblichen oder männlichen Geschlecht oder einer weiteren Kategorie charakterisiert werden (vgl. Mertens 1997a, 27). Dabei müssen verschiedene Rollenerwartungen der Gesellschaft sowie der Eltern austariert werden. Des Weiteren muss mit Ängsten in Bezug auf die eigene Geschlechtsidentität umgegangen werden (vgl. ebd.).

Um auf die vier Aspekte von Sexualität nach Sielert zurückzukommen, wird also deutlich, dass aufbauend auf dem biosexuellen Aspekt der Fortpflanzung aus Sicht der Psychoanalyse der Lustgewinn, aber vor allem auch der Identitätsaspekt sowie der Beziehungsaspekt wichtig sind. Menschliche Sexualität kann zwar auf Grund von körperlichen Schädigungen beeinträchtigt sein, jedoch gilt dies ebenso für Emotionen und Psyche (Wilhelm 1996, 24). Wenn einzelne Menschen oder Gruppen als Minderheiten diskriminiert werden, geschieht dies unter Missachtung ihrer Persönlichkeit und führt zu Beeinträchtigungen des Identitätsgefühls und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Es wird deutlich, dass die psychoanalytische Perspektive nicht ohne eine Betrachtung der soziologischen Perspektive auskommt.

2.3 Die Soziologische Perspektive

Sexualität aus soziologischer Sicht baut auf den Erkenntnissen der Biologie und Psychoanalyse auf. Jedoch wird hier der Begriff um einen kommunikativen Aspekt erweitert. Lautmann (2002) definiert Sexualität demnach als: eine kommunikative Beziehung, bei der Akteure Gefühle erleben, die eine genitale Lust zum Zentrum haben, ohne sich darauf zu beschränken. Für das sexuelle Erleben ist ein Orgasmus weder notwendige noch hinreichende Bedingung, und extragenital festgemachte Emotionen gehören dazu. (25)

Hier wird deutlich, dass Sexualität nicht ohne das Körperliche gedacht werden kann, jedoch nicht mit einem Orgasmus einhergehen muss. Sexualität kann man also als eine Einheit von Körper, Gefühl und Gedanken sehen (vgl. Lautmann 2002, 28). Daraus resultiert auch das Handeln des Menschen. Daher lässt sich die Sexualität nicht von anderen Bereichen der Person, noch von den gesellschaftlichen Bedingungen trennen (vgl. ebd., 29).

Im westlichen Kulturkreis bestimmte die Kirche viele Jahrhunderte die Sicht auf Sexualität (vgl. Schmidt, Sielert, Henningsen 2017, 34). Die christliche Sichtweise auf Sexualität war bis ins 20. Jahrhundert hinein sehr dominant. Sexualität galt als etwas Unreines und wurde tabuisiert. Da der Mensch als Ganzes von Gott geschaffen wurde, wurde ihm das animalisch Triebhafte abgesprochen, was dazu führte, dass Lust etwas Beunruhigendes und Schlechtes war (vgl. Lautmann 2002, 35). Seit dem Aufklärungsdiskurs des 18. Jahrhunderts bekam die Rationalität und der Verstand einen höheren Wert, wohingegen alles Emotionale abgewertet wurde. Somit galt es wiederum auch, die triebhafte Sexualität zu unterdrücken (vgl. Schmidt et al. 2017, 34f). Während sich in der offiziellen Politik und Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg vorwiegend am sexualpädagogischen Repressionsdiskurs orientiert wurde, begann durch die Markteinführung der Antibabypille im Jahr 1961 ein Kommerzialisierungsdiskurs (vgl. ebd., 35). Mit Freud wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts Erkenntnisse über die Sexualität von Kindern veröffentlicht und das die Verdrängung der sexuellen Gefühle zu Störungen führen können (Freud 1930, 50). Jedoch konnte der Befreiungsdiskurs sich erst Ende der 60er Jahre durchsetzen.

In den 50er und 60er Jahren war Sexualität noch ein Tabuthema. Über Sex wurde nicht gesprochen vor allem um die Kinder und Jugendlichen in ihrer Unschuld zu bewahren. Die Jungfräulichkeit der Mädchen war ein hohes Gut (vgl. Heider 2014, 17). Die Angst vor der Triebhaftigkeit dominierte den gesellschaftlichen Blick auf Sexualität (vgl. ebd.,8). Die „sexuelle Revolution“ begann schließlich in den 60er Jahren mit ersten Forderungen nach Aufklärung und Sexualunterricht in den Schulen (vgl. ebd.). Sie war somit auch Teil einer sozialen Revolution, die die Gesellschaft in vielen Bereichen verändern sollte (vgl. ebd., 9). Neben Sexualreformern und Sexualrevolutionären kamen noch die Medien hinzu, um die sexuelle Revolution voranzutreiben (vgl. ebd.). In der „68er-Bewegung“ konnte weittestgehend eine Enttabuisierung erreicht werden. In dieser Zeit galt Sexualität als etwas Positives, das Frieden, Harmonie, Gleichheit und Glück schaffen sollte (vgl. ebd., 9). Jedoch kann man hier nicht von einer Revolution im eigentlichen Sinne sprechen. Die Liberalisierungen geschahen eher in Folge eine Entwicklung schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. Lautmann 2002, 492). Die 68er-Bewegung hatte vor allem erreicht, dass die Familie nicht mehr das Kontrollzentrum der Sexualität darstellte. Doch sie war weder die erste, noch die letzte „Revolution“. Sexuelles wird immer für gesellschaftliche Beunruhigung sorgen und stets ein „Problemgenerator“ (Lautmann 2002, 494) sein.

Inzwischen hat sich die Gesellschaft mehr und mehr zur Vielfalt bekannt. Bisher nicht öffentliche Geschlechtsidentitäten, Lebens- und Liebesweisen wie Homo-, Bi- oder Asexualität werden sichtbar und Betroffene fordern ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ein (Sielert 2015, 69). Das Ausleben dieser Dispositionen ist für viele ein Grundbedürfnis um Lebenszufriedenheit erreichen zu können. Die Akzeptanz der Gesellschaft spielt hierbei eine entscheidende Rolle. „Es geht sexualpolitisch darum, Personen mit ungewöhnlicher körperlicher Konstitution oder eines von der Mehrheit abweichenden sexuellen Begehrens ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.“ (Sielert 2015,70). Die bisher vorherrschende Einteilung in Mann und Frau und die damit verbundene gesellschaftliche Norm der Heterosexualität wird neu überdacht und neue Orientierungen und Lebensweisen erfahren deutlich mehr Akzeptanz in der Gesellschaft. Dennoch ist es in der Praxis nach wie vor häufig der Fall, dass beispielsweise Jungen häufig noch Angst haben sich als homosexuell zu outen und zwängen sich in das gesellschaftlich normativ vorgegebene Bild eines heterosexuellen Mannes (vgl. Sielert 2015,70). Durch das vermehrte Ausleben der Sexualität auch als Selbstkonzept und soziale Rolle manifestiert sich der Wunsch nach einem ganzheitlichen Erleben von Sexualität (vgl. Sielert 2015, 70). Es zeigt sich also, dass der moderne Mensch seine sexuelle Erfüllung nicht mehr ausschließlich in der klassischen Institution Ehe finden muss, sondern es nun vielmehr auf den Menschen an sich, seine Verwirklichung seiner Wünsche und seines Selbst ankommt (vgl. Lautmann 2002, 15). Dies ist oftmals nicht so leicht, da eine starke Beeinflussung durch die mediale Umwelt ein gesellschaftliches Verständnis von Sexualität prägt, welches zu Konflikten führen kann. Durch die Medien wird ein Bild vermittelt, was „richtige“ und „gute“ Sexualität ausmacht (vgl. Ortland 2008, 23). Insbesondere das Ideal von einem sexuell attraktiven Körper macht vielen Jugendlichen zu schaffen (vgl. ebd.). Somit lässt sich zwar einerseits eine Befreiung und Enttabuisierung der Sexualität feststellen, aber gleichzeitig auch eine Vorstellung von Sexualität, die insbesondere Heranwachsende deutlich unter Druck setzt und Ideale formt, die aufgrund ihrer Nichterreichbarkeit zu psychischen Störungen führen können (vgl. ebd.). Dies gilt im besonderen Maße für Menschen mit Behinderungen. Nicht nur die Schwierigkeiten, einem propagierten Körperideal zu entsprechen, sondern auch, dass Sexualität und Behinderung nach wie vor ein noch nicht liberalisierter Tabubereich sind, zeigen gleich eine doppelte Problematik für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen (vgl. ebd.).

Im folgenden Kapitel soll daher „Sexualität und Behinderung“ gesondert betrachtet werden. Dafür werden überblicksartig mögliche Einflussfaktoren auf die Sexualität von Menschen mit Behinderung dargestellt.

3 „Behinderte Sexualität“- Einflüsse auf die Sexualität von Menschen mit (Körper-) Behinderung

Der Begriff der Behinderung beinhaltet verschiedene Ebenen. In der UN‑Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wird die Personengruppe der Menschen mit Behinderungen wie folgt definiert:

Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, 2018, 8)

Hier wird der gesellschaftliche Aspekt der Behinderung hervorgehoben. Das bedeutet unter anderem auch, dass ein Mensch nicht behindert geboren wird, sondern durch gesellschaftliche Umstände zum Behinderten gemacht wird (vgl. Hierholzer 2014, 30). Die defizitäre Sichtweise auf Menschen mit Behinderung soll so abgebaut werden, um einen Weg hin zur Inklusion als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu eröffnen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet in der ersten Fassung der „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps“ (ICIDH) zwischen „Schädigung“, „Leistungsminderung“ und „Behinderung“ (vgl. Bergeest, Boenisch, Daut 2015, 17). Um jedoch die defizitorientierte Begrifflichkeit durch ein positives, sozial aktives Konzept zu ersetzen, wurde 2001 die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) verabschiedet (vgl. ebd.). Hier werden die Bereiche Körperschädigung, Aktivität und Partizipation hervorgehoben (vgl. ebd.). Eine Körperschädigung betrifft dabei die organische Ebene, während es auf der Ebene der Aktivität um die „erschwerte Auseinandersetzung von Menschen mit körperlicher Behinderung mit den physikalischen, chemischen, biologischen und sozialen Parametern der Welt“ (vgl. Bergeest et al. 2015, 18) geht. Um eine Behinderung handelt es sich erst in der beeinträchtigten Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt und seinem Bemühen um Integration in das Umfeld (vgl. ebd.). Bleidick (1994) definiert Behinderung daher wie folgt:

Als behindert gelten Personen, die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, daß [sic!] ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert werden. Behinderung hat damit eine individuelle und eine soziale Seite. (Bleidick, 1994, 650).

Da die vorliegende Arbeit insbesondere den Aspekt der Körperbehinderung und deren Auswirkungen auf die Sexualität sowie deren Thematisierung im Unterricht an einer entsprechenden Förderschule behandelt, muss diese sehr komplexe und heterogene Personengruppe ebenfalls definiert werden. Leyendecker (2005) bietet hier eine Definition an, die als Grundlage für die folgenden Ausführungen dienen soll:

Als körperbehindert wird eine Person bezeichnet, die infolge einer Schädigung des Stütz- und Bewegungssystems, einer anderen organischen Schädigung oder einer chronischen Krankheit so in ihren Verhaltensmöglichkeiten beeinträchtigt ist, dass die Selbstverwirklichung in sozialer Interaktion erschwert ist. (21)

Zusammengefasst bedeutet dieses, dass es verschiedene Formen von körperlichen Schädigungen gibt. Sie können das Gehirn und das Rückenmark Muskulatur und Knochengerüst betreffen, oder entstehen durch chronische Krankheiten oder Fehlfunktionen von Organen (vgl. Leyendecker 2009). Durch die körperlichen Schädigungen können dann in der Folge Beeinträchtigungen und Herausforderungen entstehen, die die Motorik, Wahrnehmung, Kognition, Emotion und/ oder Kommunikation betreffen (vgl. ebd.). Die eigentliche Behinderung findet dann in der sozialen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben statt (vgl. ebd.). Daraus ergibt sich schließlich auch der pädagogische Förderbedarf auf den Ebenen der körperlichen Strukturen, Aktivitäten und Teilhabemöglichkeiten (vgl. Leyendecker 2009, 45). Die allgemeine Umschreibung des Personenkreises lautet „Menschen mit Körperbehinderung und chronischer Erkrankung“ (vgl. Bergeest et al. 2015, 16). Darin sind Menschen mit primären Sinnesschädigungen wie Blindheit und Gehörlosigkeit nicht inbegriffen (vgl. ebd., 16). Um zur Gruppe der Menschen mit körperlicher Behinderung zu gehören, muss per Expertenentscheidung eine wesentliche und dauerhafte Schädigung festgestellt sein, um eine Abgrenzung zu einer vorübergehenden Erkrankung zu erreichen (vgl. ebd.).

Menschen mit eingeschränkter Mobilität sind deutlich abhängiger von den Angeboten und Bedingungen der Lebensumfeldes als andere Menschen. Trotz aller Verbesserungen der letzten Jahrzehnte und der Inklusionsbemühungen ist die Lebenswelt vieler Menschen mit Behinderung noch strukturell behindernd (vgl. Specht 2013, 291). Gerade im Bereich der Sexualität kann man sehr zutreffend von einer „sekundären Behinderung“ (Specht 2013, 291) sprechen. So sind die Wohnbedingungen meist nur mit wenig Intimsphäre ausgestattet. Geld wird verwaltet und ist in der Regel nur sehr wenig vorhanden. Bevormundung durch andere und das Fehlen von Lern- und Erfahrungsräumen sind hier nur exemplarisch zu nennen (vgl. ebd., 292). „Sexualität als eigentlich intime und persönliche Angelegenheit wird dadurch öffentlich und delegiert. Häufig wird Sexualität in Institutionen und auch in Familien von Menschen mit Behinderung ausgeschlossen.“ (Specht 2013, 292).

Beide Themen, Sexualität sowie Behinderung, beinhalten ihre eigenen Problematiken, die sich in Kombination nicht nur addieren, sondern potenzieren (vgl. Weinwurm-Krause 1995, 3). Mögliche Beeinträchtigungen der Sexualität von Menschen mit Behinderung sollen nachfolgend dargestellt werden.

3.1 Die Entwicklung der Sexualität mit und ohne Behinderung

Wie eingangs beschrieben ist Sexualität eine lebenslange Entwicklungsaufgabe. Sie umfasst „die Reifung und Übung der Sexualfunktionen […] die Ausbildung der Geschlechtsidentität, die Integration sexueller Impulse und Einstellungen in die Gesamtpersönlichkeit, sowie die Entwicklung einer ganzheitlichen Beziehungsfähigkeit.“ (Kowoll 2007, 15).

Um auf Sigmund Freud zurückzukommen, entwickelt sich die Sexualität in zwei Phasen: dem Kindesalter und der Pubertät (vgl. Freud 1942, 100). Dazwischen liegt die Latenzzeit, in der der Sexualtrieb nur latent vorhanden ist (vgl. ebd.). Insbesondere das Jugendalter ist eine Zeit, in der die Sexualität ein Thema ist. Die Entwicklung im Jugendalter hängt eng mit den bis dahin gemachten Körpererfahrungen zusammen. Das Empfinden der eigenen Körperlichkeit beginnt bereits vom Säuglingsalter an und legt die Grundlage für ein Selbstkonzept der eignen Person. Das Selbstkonzept ist ein Konstrukt, das „die organisierte Menge von Vorstellungen, Merkmalen, Eigenschaften, Handlungsmöglichkeiten usw. umfasst, die wir unserer unverwechselbaren Person zuschreiben.“ (Leyendecker 2006, 14). Die frühen Körpererfahrungen sind somit von großer Bedeutung für die Entwicklung des Selbst (vgl. ebd., 15). Auf dem Weg zu einem „verantwortlichen Selbst“ treffen Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderung auf verschiedene Bedingungen, die insbesondere in der Pubertät eine Zuspitzung erfahren.

Die Sexualentwicklung im Kindes- und im Jugendalter sollen im Folgenden kurz umrissen werden, um dann Schlussfolgerungen für mögliche Schwierigkeiten während dieses Prozesses besonders im Hinblick auf Kinder und Jugendliche mit körperlichen Behinderungen zu ziehen.

3.1.1 Kindesalter

Allgemein werden drei Phasen der kindlichen Sexualentwicklung nach Freud unterschieden: die orale Phase (1. Lebensjahr), die anale Phase (2. bis 3. Lebensjahr) und die ödipale Phase (4. bis 5. Lebensjahr). Jede Phase stellt eine erogene Zone in den Vordergrund. In der oralen Phase ist es vor allem der Mund, aber auch Haut und die Sinnesorgane, mit deren Hilfe der Säugling erste Beziehungen zur sozialen Umwelt herstellt (vgl. Kowoll 2007, 16). In der analen Phase beginnt das Kind ein Ich zu entwickeln, welches sich durch die Durchsetzung des eigenen Willens manifestiert. Dies zeigt sich vor allem in dem eigenwilligen Umgang mit Ausscheidungsprodukten aber auch dem Ausscheidungsvorgang an sich. Das Kind lernt erstmalig, dass es selbst Einfluss darauf hat Ausscheidungen zurückzuhalten oder herzugeben (vgl. ebd.). Die ödipale Phase ist von der Erkundung des eigenen Körpers geprägt und die Bewusstwerdung der Geschlechtsunterschiede. Das Kind fühlt sich zunächst zum gegengeschlechtlichen Elternteil hingezogen und sieht den anderen Elternteil als Konkurrenten an. Allmählich jedoch identifiziert sich das Kind mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und erlernt somit seine Geschlechtsrolle. In dieser Phase sind vorwiegend die Geschlechtsteile die erogenen Zonen. Diese werden berührt, gezeigt und mit ihnen gespielt (vgl. Kowoll 2007, 16-17).

Es wird deutlich, dass einige dieser frühkindlichen Erfahrungen bei Kindern mit Körperbehinderung erschwert sind. Die Erfahrungsräume können durch eine Bewegungseinschränkung begrenzt sein und zu einer veränderten sensumotorischen Entwicklung führen (vgl. Leyendecker 2000, 31). „Sensumotorische Erfahrungen des eigenen Körpers bilden den Bezugspunkt jeglicher räumlichen Wahrnehmung und bilden auch eine wichtige Grundlage der Selbstentwicklung.“ (Leyendecker 2000, 31). Bei cerebralen Schädigungen können Wahrnehmungsstörungen allerdings auch auf die gestörte zentralnervöse Verarbeitung und Integration zurückgeführt werden (vgl. ebd.). Die explorative Entdeckung des eigenen Körpers und der Genitalien wird durch motorische Einschränkungen be- oder verhindert. Bei einer Querschnittlähmung kann zudem, abhängig von der Höhe der Läsion, der Genitalbereich uninteressant sein, das hier keinerlei lustvolle Gefühle erreicht werden können (vgl. Ortland 2008, 38).

Ortland (2005) fasst basierend auf den Ausführungen von Leyendecker (2005) die Besonderheiten der kindlichen Entwicklung mit einer Körperbehinderung treffend zusammen:

Insgesamt ist es Kindern mit einer Körperbehinderung erschwert, ein eigenes Körperbild in Bezug auf eigene Kräfte, Formen von Körperbeherrschung und Möglichkeiten von Bewegung und deren Variationen zu erleben und auszubilden. (45)

Zu diesen körperlich-motorischen Bedingungen kommen allerdings noch die Eltern als Faktor hinzu. Der Prozess der Verarbeitung der Eltern, welche beispielsweise von der Behinderung ihres Kindes überrascht werden können kann ebenfalls Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben (vgl. Kowoll 2007, 17). In manchen Fällen sind die Eltern nicht in der Lage adäquat auf die Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen, was sich auch auf die Sexualentwicklung des Kindes auswirken kann (vgl. ebd.). Krankenhausaufenthalte, besonders bei Frühgeborenen oder Kindern mit Spina bifida und die daraus resultierende räumliche Trennung von den Eltern, orofaziale Funktionsstörungen, welche das Saugen, Schlucken und Trinken stören. Darüber hinaus können kommunikative Einschränkungen die frühkindlichen Erfahrungen stören (vgl. Ortland 2008, 37). Misslingende Erfahrungen von Nähe und Geborgenheit können dadurch auch im weiteren Leben möglicherweise nicht genossen und Bedürfnisse geäußert werden (vgl. ebd.).

Durch mangelnde Mobilität ergeben sich für Kinder mit Behinderung weniger Möglichkeiten die Eltern beim Waschen oder Toilettengang zu beobachten, was eine Grundlage der Sauberkeitserziehung darstellt (vgl. Ortland 2008, 39). Die anale Phase ist womöglich zusätzlich durch Inkontinenz beeinträchtigt. Das Kind kann auf Grund seiner körperlichen Einschränkungen kaum ein Autonomieverständnis entwickeln und selbst über seine Ausscheidungen verfügen. Dadurch kann der Stolz, die Kontrollmöglichkeit und das spielerische Erleben von Festhalten und Loslassen nicht erfahren werden (vgl. ebd., 40). Ebenso ist anzunehmen, dass pflegerische Tätigkeiten im urogenitalen Bereich, Einflüsse auf die Entwicklung des Schamgefühls und somit auch auf die Sexualentwicklung haben (vgl. Ortland 2008, 42). Dieser Aspekt soll im Kapitel 3.3.5 näher betrachtet werden.

Außerdem gibt es ein stärkeres Abhängigkeitsverhältnis zwischen Eltern und Kind, welches in der Trotzphase die Abgrenzungsversuche des Kindes verhindert (vgl. Ortland 2005, 45). Durch eine körperliche Schädigung können zudem die verbalen und körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt sein, sodass trotziges und abgrenzendes Verhalten kaum möglich wird (vgl. Ortland 2008, 40). Des Weiteren schränken beeinträchtigte kommunikative Ausdrucksmöglichkeiten die Befriedigung der Wissbegierde ein (vgl. Ortland 2005, 45). Die Kontakte zu Gleichaltrigen und die damit einhergehenden Spiele, insbesondere Rollenspiele, sind zumeist sehr einseitig und weniger variabel. Somit ist es für Kinder mit Körper­behinderungen schwieriger rollenspezifisches Verhalten einzuüben und innige Freundschaften aufzubauen (vgl. ebd.). Während der Latenzzeit spielen Gleichaltrige eine besondere Rolle zur vertieften Identitätsfindung im eigenen Geschlecht (vgl. Ortland 2008, 46). Ein Aufbau von Freundschaften ist allerdings meist von den Fahrdiensten der Eltern abhängig, insbesondere wenn es sich um Schulfreundschaften handelt. Förderschulen haben meist ein großes Einzugsgebiet, wodurch in der Schule entstandene Freundschaften nicht zwingend nah beieinander wohnen (vgl. ebd.). Kognitive Einschränkungen können des Weiteren dazu führen, dass für sexuell explorativem Verhalten vorrangig jüngere Kinder ausgewählt werden, welche trotz Altersunterschied dieselben harmlosen Erkundungstendenzen haben. Jedoch wird dieses Verhalten von Erwachsenen meist als gefährlich bewertet (vgl. ebd.).

Die Entwicklungen des Kindesalters bilden die Grundlage für die Entwicklung im Jugendalter. Die Pubertät als spezielle und krisengeladene Zeit soll im folgenden Unterkapitel beleuchtet werden.

3.1.2 Jugendalter

Das Jugendalter beginnt etwa ab dem 14. Lebensjahr und dauert bis zum 18. Lebensjahr. Jedoch gelten junge Leute zwischen 18 und 25 auch noch als junge Erwachsene und werden hier mitberücksichtigt (Kluge 1998, 26). Die Entwicklungsprozesse im Jugendalter, die über die rein körperliche Reifung hinausgehen werden Adoleszenz genannt. Die Pubertät kann hier als Teilaspekt angesehen werden, da sie sich begrifflich auf die biologisch-physiologische und sexuelle Reifung bezieht. (vgl. Kluge 1998, 26). Sie beinhaltet körperliche, sowie psycho-sexuelle Komponenten. Da sich die Entwicklung nicht exakt auf ein Alter eingrenzen lässt, geht man von einer Pubertät zwischen dem 9. und 10. bis zum 17. und 19. Lebensjahr aus (vgl. ebd.).

Die „sexuelle Reife“ meint die Geschlechtsreife. Sie zeigt sich beim Mädchen in der ersten Menstruation und bei Jungen in der ersten Ejakulation (vgl. Kluge 1998,27). Beim Mädchen beginnt die sexuelle Reife zwischen dem 11. und dem 13. Lebensjahr, während sie bei den Jungen zwischen dem 14. und dem 15. Lebensjahr einsetzt (vgl. Kowoll 2007, 18). Beide Ereignisse werden von den Geschlechtern völlig unterschiedlich erlebt und haben andere Auswirkungen auf das Leben von Frauen und Männern. Sowohl Menstruation als auch Ejakulation haben jedoch einen gemeinsamen Zweck: die Reproduktion (vgl. Kluge 1998, 27). In der Pubertät finden allerdings noch weitere körperliche Veränderungen statt. So wird das Längen­wachstum beschleunigt, das Körpergewicht nimmt zu, die sekundären Geschlechtsmerkmale entwickeln sich, innere und äußere Geschlechtsorgane wachsen und das Skelettwachstum wird beendet (vgl. ebd., 26).

Die körperlichen Veränderungen in der Pubertät bedingen auch die psychosoziale Entwicklung. Somit kennzeichnet diese Phase der Entwicklung einen besonderen Lebensabschnitt. Pubertät soll definiert werden, als eine Zeit in der

Jugendliche[in der Pubertät] mit für sie neuen Herausforderungen konfrontiert sind, die aus einem Zusammenspiel von biologischen Veränderungen und kontextuellen Begebenheiten entstehen, die aber trotz ähnlicher biologischer Entwicklungen und der gleichen zumindest sozialhistorischen Ausgangsbasis sehr unterschiedlich erlebt und verarbeitet werden“ (Mantey 2017, 81-82).

Erikson bezieht sich in seiner Theorie zu Identität und Lebenszyklus auf die frühkindliche psychosexuelle Entwicklung nach Freud. Er geht davon aus, dass die Entwicklung der Identität ein lebenslanger Prozess ist, welcher stets mit Konflikten einhergeht und für das Individuum und seine Umgebung weitgehend unbewusst abläuft (vgl. Erikson 1993, 141). Diese Konflikte oder auch sogenannte Krisen, rücken zu bestimmten Zeitpunkten im Leben in den Vordergrund und sind miteinander verknüpft (vgl. ebd., 59). Es gibt also für bestimmte Lebensabschnitte bestimmte Konflikte, die bewältigt werden müssen. Die Bewältigung eben jener Krisen führt zu einem Zuwachs der Ich-Identität. Die Ich-Identität ist nach Erikson „ein spezifischer Zuwachs an Persönlichkeitsreife […], den das Individuum am Ende der Adoleszenz der Fülle seiner Kindheitserfahrungen entnommen haben muss, um für die Aufgaben des Erwachsenenalters gerüstet zu sein.“ (ebd., 123). Identität ist das vorherrschende Thema des Jugendalters. Erikson benennt für diese Zeit den Konflikt zwischen Identität und Identitätsdiffusion (vgl. ebd., 106). In dieser Lebensphase geht es also darum seine soziale Rolle zu festigen, und herauszufinden wer man im Vergleich zwischen dem eigenen Selbstgefühl und dem Blick der anderen ist (vgl. ebd.). Dieses Selbstgefühl muss in jeder Hauptkrise erneut bestätigt werden um sich zu der Überzeugung auszuwachsen, erfolgreich Erfahrungen bewältigen zu können und Anerkennung dafür zu erhalten (vgl. Erikson 1993, 107). Somit basiert sie stets auch auf den frühkindlichen Erfahrungen. Erikson benennt daher die Adoleszenz als letzte und abschließende Phase der Kindheit (vgl. ebd., 136).

Fend (2000) benennt neben der Identitätsarbeit, wie sie Erikson herausstellt, noch weitere Entwicklungsaufgaben, wie

- den Körper bewohnen lernen,
- Umgang mit Sexualität lernen
- Umbau der sozialen Beziehungen
- Umgang mit der Schule
- Berufswahl
- Bildung.

Besonders die ersten beiden Entwicklungsaufgaben sind für diese Arbeit von Bedeutung. „Den Körper bewohnen lernen“ meint, in einer Gesellschaft mit Schönheitsidealen zu bestehen und dennoch seinen Körper anzunehmen (vgl. Fend 2000, 222). Diese Ideale werden vor allem durch Medien produziert und verbreitet und vermitteln ein bestimmtes Bild von einem attraktiven Körper. Dies ist insofern problematisch, da durch die Pubertät körperliche Reifungsprozesse einsetzen, die dem Jugendlichen einen „neuen Körper“ bescheren, mit dem er zunächst einmal umgehen lernen muss (vgl. ebd., 225). Da es sich hier um geschlechtsspezifische Veränderungen handelt, muss sich auch mit der eigenen Geschlechtlichkeit als Mann oder Frau auseinandergesetzt werden (vgl. ebd.). Hierbei ist die Wahrnehmung und Interpretation der eigenen körperlichen Entwicklung von der Umwelt stark beeinflusst (vgl. Ortland 2005, 46). „Eine große implizite Frage der Pubertät richtet sich darauf, ob man ‚normal‘ sei“ (Fend 2000, 234) Die Reaktionen der Umwelt auf das körperliche Erscheinungsbild können hier negativ oder positiv ausfallen und haben Auswirkungen auf das Konzept der eigenen Attraktivität (vgl. Ortland 2005, 45). Vor allem die Reaktionen der Peer-Group sind hier mitbestimmend für das eigene Selbstkonzept. Die Fremdbewertung von Jugendlichen mit Körperbehinderungen wird meist als ablehnend erfahren und stellt, je nach Sichtbarkeit, einen Auslöser für Stigmatisierungen dar (vgl. Ortland 2008, 60). Die eigene Erfahrung mit der Behinderung kann einen erheblichen Einfluss auf das Selbstwertgefühl haben. Insbesondere der Einfluss von Ärzten und Therapeuten darf hier nicht unterschätzt werden, da ihre Arbeit sich stark auf die Behinderung ausrichtet und daher auch den Menschen mit Behinderung immer wieder auf diese reduziert (vgl. Hierholzer 2014, 70). Um mit diesen Stigmatisierungen umgehen zu können, muss der Behinderung eine untergeordnete Rolle im Leben zugeordnet werden (vgl. Leyendecker 2000, 48).

Meist wird die Behinderung von Betroffenen weniger als Einschränkung, sondern vielmehr als Aufgabe wahrgenommen und somit der Fokus von einer defizitären Sichtweise zu einer optimistischen Grundhaltung verändert (vgl. ebd.).

Die zweite Entwicklungsaufgabe nach Fend (2000) ist der „Umgang mit Sexualität“. Den verantwortlichen Umgang mit der entstanden Reproduktionsreife und der genitalen Sexualität gilt es zu erlernen (vgl. Fend 2000, 254). Dies geschieht innerhalb der normativen Strukturen der Gesellschaft und wird ebenfalls durch diese beeinflusst (vgl. ebd.). Für Jugendliche mit Körperbehinderung lässt sich hier festhalten, dass:

- Jugendliche mit Körperbehinderung erst später erste sexuelle Erfahrungen machen, manche Jugendliche auch keinerlei sexuelle Erfahrungen in dieser Phase machen werden;
- Isolation das größte Problem bei beiden Geschlechtern darstellt, da die Jugendlichen keinen Austausch erfahren und somit auch keine „sexuelle Sprache“ erlernen können;
- Die Jugendlichen selten von ihren Sorgeberechtigten aufgeklärt werden, obwohl diese Aufklärung für eine wichtige Aufgabe gehalten wird (Hierholzer 2014, 73-74).

Ein weiterer Aspekt, der die Sexuelle Entwicklung beeinträchtigen kann ist eine zusätzliche geistige Behinderung, die mit einer körperlichen Behinderung einhergehen kann. Der Anteil an Schüler*innen an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung (KmE), die nach den Richtlinien des Förderschwerpunktes Geistige Entwicklung unterrichtet werden, lag 2010 bei 47 % der Gesamtschülerschaft (vgl. Hansen 2012, 133). Daher ist dieser Aspekt für die spätere Betrachtung der Sexualpädagogik an der Förderschule nicht unerheblich.

„Als geistig behindert gilt, wer in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so beeinträchtigt ist, dass es voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und der motorischen Entwicklung einher. (Mühl 1991, zitiert nach Römer 1995, 10).

Die Diskrepanz zwischen Sexual- und Intelligenzalter führt dazu, dass es Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung in der Pubertät oft schwer fällt mit den damit verbundenen Herausforderungen adäquat umzugehen (vgl. Kowoll 2007, 19). Die kognitive Erfassung der körperlichen Veränderungen und die damit verbundene emotionale Verarbeitung sind deutlich beeinträchtigt (vgl. Ortland 2008, 77). Meist sind die Jugendlichen auch nicht auf die bevorstehenden körperlichen Veränderungen vorbereitet und können verunsichert und verängstigt reagieren (vgl. ebd.). Mit der Entwicklung eines neuen Körperbewusstseins entwickelt sich auch das Bewusstsein anders zu sein, was zu einer inneren Krise führen kann (vgl. ebd.). Um mit all den Herausforderungen der Pubertät umgehen zu können, sind Menschen mit geistiger Behinderung hinsichtlich der Sexualaufklärung weit mehr abhängig von ihren Bezugspersonen als Menschen ohne geistige Behinderung (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang sind sie in starkem Maße auch den Verhinderungstendenzen ihrer Bezugspersonen ausgeliefert (Kowoll 2007, 22). Dies gilt sowohl für Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen gleichermaßen. Daher müssen alle sexualpädagogischen Überlegungen bei den Bezugspersonen ansetzen. Zudem ist die Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung stark tabuisiert (vgl. Ortland 2008, 75). Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Menschen mit geistiger Behinderung deutlich mehr Stigmatisierung und Ablehnung erfahren, als Menschen mit einer reinen Körperbehinderung (vgl. ebd.). Vorurteile bezüglich ihrer Sexualität können in zwei Richtungen gehen. Zum einen können Menschen mit einer geistigen Behinderung als besonders triebbetont oder eher als asexuell gesehen werden. Diese Vorurteile sind allerdings wissenschaftlich nicht haltbar (vgl. ebd.). Aufgrund eingeschränkter verbaler Kommunikationsmöglichkeiten ist die leibliche Kommunikation von großer Bedeutung für die Verständigung, allerdings wird sie von nicht behinderten Menschen als sexuell interpretiert und wird daher meist unterbunden (vgl. ebd., 76). Es zeigt sich also, dass die sexuelle Entwicklung von Menschen mit einer zusätzlichen geistigen Behinderung deutlich erschwert ist.

Insgesamt gilt, dass die Krisenhaftigkeit der sexuellen Entwicklung und der Identitätsentwicklung für nicht behinderte und behinderte Jugendliche gleichermaßen vorhanden ist. Pubertätsstörungen und Entwicklungsschwierigkeiten treten bei beiden Personengruppe gleichermaßen auf (vgl. Kluge 1971, 17). Es lässt sich festhalten, dass die körperliche Reifeentwicklung bei Jugendlichen mit Körperbehinderung meist altersgemäß verläuft. Ausnahmen konnten bei frühkindlichen Hirnschädigungen und Kindern mit Störungen des Hormonhaushaltes festgestellt werden (vgl. Kluge 1971,17). Da die Gruppe der Menschen mit Körperbehinderung eine sehr heterogene Gruppe ist, lassen sich allerdings keine allgemeingültigen Aussagen zu Entwicklungsschwierigkeiten treffen. Es konnten lediglich einzelne Faktoren festgehalten werden, die Besonderheiten und Herausforderungen der Pubertät in Kombination mit Körperbehinderungen darstellen. Welche konkreten sexuellen Funktionsstörungen durch eine Körperbehinderung entstehen können und welche Einflüsse diese auf das sexuelle Erleben haben können, sollen nun im folgenden Kapitel näher betrachtet werden.

3.2 Einflüsse auf das Sexuelle Erleben bei Menschen mit Behinderung

Aus einer körperlichen Beeinträchtigung resultieren in der Regel veränderte Erfahrungen aber nicht zwangsläufig eine besondere sexuelle Entwicklung, da Sexualität auch stets etwas Subjektives und Individuelles ist. „Grundsätzlich hat jeder Mensch die Möglichkeit, auf der Grundlage seiner sexuellen Entwicklung zu einer individuell befriedigenden Sexualität zu finden“ (Ortland 2008, 58). Jedoch können sexuelle Funktionsstörung für Betroffene von großer Bedeutung sein.

Das ‚Besondere‘ der Lebenssituation vieler Menschen mit körperlichen Behinderungen liegt darin, dass sie sich ihrer sexuellen Bedürfnisse gleichermaßen wie Menschen ohne Behinderung bewusst sind, diese aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung jedoch nicht oder nur teilweise verwirklichen können. (Specht 2013, 290)

Es handelt sich hier zwar um die rein medizinisch-biologische Sichtweise der Sexualität, soll aber hier aufgrund ihrer speziellen Bedeutung für das sexuelle Erleben von Menschen mit Körperbehinderung sowie die sexualpädagogische Arbeit, kurz thematisiert werden. Nach ihren Ursachen lassen sich Körperbehinderungen in drei Gruppen klassifizieren: Schädigungen von Gehirn- und Rückenmark, Schädigungen von Muskulatur und Knochengerüst sowie Schädigungen durch chronische Krankheit und Fehlfunktion von Organen (vgl. Leyendecker 2000, 23). Diese drei Gruppen sollen nun differenzierter hinsichtlich ihrer möglichen Auswirkungen auf sexuelle Funktionsstörungen betrachtet werden. Dabei ist zu beachten, dass hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann, da sich nicht zu allen Behinderungsformen medizinische Hinweise finden lassen. Zudem bedingt nicht jede Schädigung eine sexuelle Funktionsstörung, denn diese können ebenso individueller, psychischer Natur sein (vgl. Ortland 2008, 25).

3.2.1 Sexualentwicklung und Schädigung von Gehirn und Rückenmark

In der Körperbehindertenpädagogik stellen Kinder und Jugendliche mit cerebralen Bewegungsstörungen (Cerebralparesen) die größte Gruppe dar (vgl. Bergeest et al. 2015, 95). Bei der infantilen Cerebralparese handelt es sich um eine sensomotorische Störung (Störung der gegen die Schwerkraft gerichteten Stütz- und Zielmotorik) als Folge einer frühkindlichen Hirnschädigung, die im Zeitraum vom Beginn der pränatalen Hirnentwicklung bis zum Ende der Markentwicklung im 4. Lebensjahr auftritt. (Bergeest et al. 2015, 95f)

Spätere Einwirkungen auf das Gehirn (Erkrankungen, Verletzungen, Sauerstoffmangel) bewirken andere neurophysiologische Prozesse und unterschiedliche Erscheinungsformen (vgl. Bergeest et al. 2015, 95f). Allgemein zeichnet sich eine Cerebralparese durch abnorme Muskelspannungen, eingeschränkte Willkürmotorik, pathologische Reflexe, Totalsynergien und assoziierte Reaktionen aus (vgl. Bergeest et al. 2015, 97). In der Regel werden drei Hauptformen unterschieden: Spastik (hyperton), Athetose (schwankender Muskeltonus) und Ataxie (hypoton) (vgl. Leyendecker 2000, 24). Am häufigsten sin dabei die spastischen Lähmungen (vgl. ebd.). Je nach betroffenen Körperteilen kann es sich um Tetra-, Di- sowie Hemiplegien handeln (vgl. Bergeest et al. 2015, 97). Neben den primären Störungen können Begleitstörungen auftreten, wie Störung der Nahrungsaufnahme, Störung des Sprechens, Sehens und Hörens, Epilepsien, vegetative Störungen, Auffälligkeiten in der kognitiven sowie emotional-sozialen Entwicklung (vgl. ebd., 99-101).

Kinder und Jugendliche mit cerebralen Bewegungsstörungen gibt es ein spezifisches Förderbedürfnis nach lustvoller Selbstwahrnehmung. Der liebevolle Umgang mit der eigenen Körperlichkeit stellt die Basis einer jeden partnerschaftlichen Zärtlichkeit dar (vgl. Bergeest et al. 2015, 109). Die mangelnde Bewegungsfähigkeit, Koordinationsstörungen und soziale Unsicherheit können die Masturbation und den Geschlechtsverkehr beeinflussen. Das Bedürfnis nach Hilfe ist hier meist nicht einfach zu lösen (vgl. ebd.). Auf medizinischer Seite kann bei cerebralen Schädigungen eine verminderte oder vermehrte Sekretion im Genitalbereich auftreten. Störungen der Tiefensensibilität können den Wechsel von Stellungen erschweren, sowie Veränderungen der Oberflächensensibilität die lustvolle Qualität von Berührungen einzuschränken vermögen (vgl. Ortland 2008, 26).

Eine weitere Behinderungsform, bei der Gehirn und Rückenmark betroffen sind ist die sogenannte Spina bifida. Spina bifida meint eine Hemmungsfehlbildung des Neuralrohrs, also eine Verschlussstörung bei Umwandlung der Neuralplatte zum Neuralrohr in der 3./4. Schwangerschaftswoche. Dies führt bei fortlaufender Entwicklung zu Fehlbildungen des Zentralnervensystems (vgl. Bergeest et al. 2015, 116). Die Folgen können von neurologischen Symptomen, partiellen sensiblen motorischen Lähmungen bis hin zur vollständigen Lähmung mit Rollstuhlabhängigkeit reichen (vgl. ebd.). Es werden drei Formen unterschiedene: Meningocele (Hautsack gefüllt mit Liquor, Rückenmark weitestgehend intakt), Myelomeningocele (ausgestülpter Rückenmarkssack, umgeben von Rückenmarkshüllen) und Myelocele (ausgestülpter Rückenmarkssack ohne schützende Hüllen) (vgl. ebd.). Bei ca. 80 % der letztgenannten Formen tritt ein Hydrocephalus auf (Bergeest et al.2015, 116). Eine weitere Problematik stellen die Störungen der ableitenden Harnwege und des Mastdarms dar (vgl. ebd., 119). Eine weitere Lähmungserscheinung kann durch spinale Kinderlähmung hervorgerufen werden, welche durch eine Infektion der Rückenmarksnerven entstehen kann. Diese ist jedoch dank erfolgreicher Impfmaßnahmen selten geworden (vgl. Leyendecker 2000, 25).

Bei einer Verletzung des Rückenmarks sind die Auswirkungen auf die sexuelle Funktion groß. Ausschlagegebend hier ist die Höhe der Läsion. Ca. 80-90 % der Menschen mit Querschnittlähmung haben eine gestörte sexuelle Funktion mit Auswirkungen auf die Erektionsfähigkeit, Ejakulation, Orgasmus, Gefühle im Genitalbereich und der Lubrikation (Flüssigkeitsabsonderung in der Vagina) (vgl. Ortland 2008, 26). Die benannte Problematik der Harn- und Stuhlinkontinenz kann zu Barrieren bei sexuellen Kontakten führen. Auch die Fruchtbarkeit ist häufig vermindert. (vgl. ebd.). Des Weiteren ist zu beachten, dass Menschen mit Spina bifida häufig ein gestörtes Verhältnis zur gelähmten Körperpartie entwickeln. Aus psychosozialer Sicht kommen die bereits erwähnten Ambivalenzen in der Eltern-Kind-Beziehung hinzu. Ebenso haben Minderwertigkeits- und Versagensängste, Probleme bei der Partnersuche aufgrund von einem eingeschränkten Aktionsradius, sowie Unkenntnis über sexualbiologische Zusammenhänge einen Einfluss auf die sexuelle Entwicklung (vgl. Bergeest et al. 2015, 121).

Cerebrale Anfallsleiden zählen ebenfalls zu den Schädigungen des Gehirns und zeichnen sich durch abnorme Hirnstromentladungen aus, welche als epileptischer Anfall wahrgenommen werden (vgl. Bergeest et al. 2015, 136). Hierbei wird zwischen Generalisierten (beide Hirnhemisphären sind betroffen) und Fokalen (nur einzelne Hirnareale sind betroffen) Anfällen unterschieden (vgl. ebd., 137f). Bei generalisierten Anfällen kann darüber hinaus eine Unterscheidung zwischen „Petit mal“ (Absencen, Blitzkrämpfe, Dämmerattacken) und „Grand mal“ (Tonisch-klonische Anfälle, Sturz in Folge von Bewusstlosigkeit, Krämpfe bedingen unter anderem Atemstillstand, Zungenbiss Einnässen) getroffen werden (vgl. Ortland 2008, 26). Epilepsien treten meist als Begleitstörung bei Kindern mit cerebralen Bewegungsstörungen oder Spina bifida/ Hydrocephalus auf (vgl. Bergeest et al. 2015, 137).

Epilepsien können sich auf den Hormonhaushalt auswirken und die sexuellen Funktionen beeinflussen. Dies kann zu einer verminderten Fertilität und Libidostörungen führen (vgl. Ortland 2008, 27).

3.2.2 Sexualentwicklung und Schädigung von Muskulatur und Knochengerüst

Schädigungen an Muskulatur und Knochengerüst können sich in verschiedenen Störungen und Krankheitsbildern manifestieren. Für die Körperbehindertenpädagogik sind insbesondere die spinalen Muskelatrophien und die progressive Muskeldystrophie vom Typ Duchenne von Bedeutung (vgl. Bergeest et al. 2015, 160f). Bei der Spinalen Muskelatrophie kommt es zum Untergang der im Rückenmark befindlichen motorischen Nervenzellen. Bei der Muskeldystrophie kommt es dagegen zur fortschreitenden Auflösung der Muskelzellen (vgl. ebd.). Die Sexualität ist zwar durch abnehmende Bewegungsfähigkeit, jedoch nicht primär durch eine Funktionsstörung eingeschränkt (vgl. ebd., 163).

Eine Schädigung des Knochengerüsts kann verschiedene Ursachen und Ausprägungen haben: Kleinwuchs, Fehlbildungen des Gesichts, Gliedmaßenfehlbildungen oder auch Folgen der Glasknochenerkrankung (vgl. Bergeest et al. 2015, 169). Diese Fehlbildungen können genetisch bedingt sein oder auch durch Umweltfaktoren in der embryonalen Entwicklung wie zum Beispiel Krankheit der Mutter oder chemische Stoffe, erfolgt sein. Auch hier liegen die sexuellen Einschränkungen hauptsächlich im Bereich der Beweglichkeit, die je nach Ausmaß der Fehlbildungen unterschiedlich sein können (vgl. Ortland 2008, 28). Im Falle der Kleinwüchsigkeit hängt die sexuelle Funktion von der Ursache des Kleinwuchses ab. Bestimmte Syndrome wie das Ullrich-Turner-Syndrom oder das Klinefelter-Syndrom führen zu Hypogonadismus (endokrine Funktionsstörung der Gonaden). Die verminderte oder ausbleibende Funktion der endokrinen Geschlechtsdrüsen führt dazu, dass die Pubertät verzögert wird oder sogar ausbleibt (vgl. ebd. 28). Somit wird auch die Ausbildung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale gestört (vgl. ebd.).

3.2.3 Sexualentwicklung und chronische Krankheiten sowie Fehlfunktionen von Organen

Chronische Erkrankungen sind „Erkrankungen mit häufig schleichendem Beginn, verlängerter Dauer, lediglich erleichternder bzw. ineffektiver Behandlung (oft verbunden mit wiederholtem Aufenthalt im Krankenhaus oder Rehabilitationszentrum) und ungünstiger Prognose“ (Bergeest et al. 2015, 142). Folgende Erkran­kungen sind für die Körperbehindertenpädagogik von besonderer Relevanz: Asthma, Neurodermitis/Allergien, Rheuma, Diabetes, Herzkrankheiten, Hämophilie, Niereninsuffizienz und Zöliakie (vgl. ebd.). Diese Krankheiten sind geprägt von permanenten Schmerzen, Juckreiz, Atemnot und körperlicher Schwächung (vgl. ebd., 143). Kennzeichnend für das körperliche Erleben sind vor allem der Verlust der körperlichen Autonomie (Bergeest et al.2015, 143.). Vor allem bei Rheumatischen Erkrankungen ist dies festzustellen. Hier haben darüber hinaus Medikamente oft irreversible Schädigungen des Organsystems zur Folge. Außerdem kann bei Frauen der Zyklus und bei Männern die Spermiogenese sowie die Fruchtbarkeit beeinträchtigt sein (vgl. Ortland 2008, 29). Die schmerz-reaktiven Veränderungen des Nervensystems können dazu führen, dass zum Beispiel zärtliche Berührungen als unangenehm empfunden werden. Dazu kommen Kraftlosigkeit und Müdigkeit (vgl. ebd.).

3.3 Personale und Soziale Einflüsse auf die Sexualität von Menschen mit Behinderung

In den vorigen Unterkapiteln konnte dargelegt werden, welche körperlichen und psychosexuellen Aspekte die Entwicklung der Sexualität bei Menschen mit Körperbehinderung beeinflussen und auch beeinträchtigen können. Im folgenden Kapitel soll es nun um die sozialen, rechtlichen und gesellschaftlichen Einflüsse auf dieses Thema gehen.

Sexualität ist integraler Bestandteil der Persönlichkeit jedes menschlichen Wesens. Ihre volle Entfaltung verlangt die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse wie Sehnsucht nach Kontakt, nach Intimität, nach Ausdruck von Gefühlen, nach Lust, Zärtlichkeit und Liebe. (World Association for Sexual Health 1999, 72)

Diese Sicht auf Sexualität wurde bereits eingangs in der dieser Arbeit zugrunde liegenden Definition nach Ortland (2008) aufgegriffen. Auf dieser Grundlage formuliert die World Association for Sexual Health (1999) elf Sexual-Grundrechte, die für jeden Menschen gelten sollen:

1. Das Recht auf sexuelle Freiheit
2. Das Recht auf sexuelle Autonomie, sexuelle Integrität und körperliche Unversehrtheit
3. Das Recht auf eine sexuelle Privatsphäre
4. Das Recht auf sexuelle Gleichwertigkeit
5. Das Recht auf sexuelle Lust
6. Das Recht auf Ausdruck Sexueller Empfindungen
7. Das Recht auf freie Partnerwahl
8. Das Recht auf freie und verantwortungsbewusste Fortpflanzungsentscheidungen
9. Das Recht auf wissenschaftlich fundierte Sexualaufklärung
10. Das Recht auf umfassende Sexualerziehung
11. Das Recht auf sexuelle Gesundheitsfürsorge. (73-74)

Mit diesen Grundrechten soll Sexualität zu einem Menschenrecht deklariert werden, welches ebenso wie jedes andere Menschenrecht keinen Unterschied zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung machen darf. In wieweit sich diese Sexual-Grundrechte in der Gesetzgebung wiederfinden, soll im Folgenden erläutert werden.

3.3.1 Sexualität - Ein Menschenrecht?

Die UN-BRK legte 2009 einen entscheidenden Grundstein für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Gleichberechtigung, Schutz vor Diskriminierung, Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe sind zentrale Aspekte dieser Übereinkunft der Vereinten Nationen (vgl. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen 2018). Daraus ergeben sich schließlich auch die Rechte der Sexualität der World Association für Sexual Health, die eingangs aufgeführt wurden. Alle Menschen haben demnach nicht nur einfach ein Recht auf Gleichberechtigung, sondern auch auf sexuelle Gleichberechtigung. In einer so vielfältigen Gesellschaft wie wir sie heute vorfinden, sollte eigentlich kein großes Umdenken mehr nötig sein. Und doch gibt es immer noch Behinderungen in der freien Entfaltung der Sexualität, die es abzubauen gilt.

„Es gibt nicht die Behinderung, nicht die Sexualität, nur immer konkrete Menschengeschichten.“ (Herrath 2013, 21). Diese Grundphilosophie kann dazu beitragen, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Da es insbesondere im Feld der Sexualität eine so bedeutende Vielfalt gibt, warum sollte dann die „Behindertensexualität“ gesondert betrachtet werden? Folgt man diesem Gedanken, wird Sexualität von Menschen mit Behinderung durch die äußeren Bedingungen „behindert“ und somit zur „behinderten Sexualität“. Wie zuvor gezeigt, spielen auch körperliche und medizinische Aspekte eine Rolle, jedoch ändern sie nichts an dem grundlegenden Fakt, dass jeder Mensch ein sexuelles Wesen ist und ihm ermöglicht werden muss, dies in all seiner Vielfalt ausleben zu können.

Die UN-BRK hat viele Verbesserungsanstrengungen für Menschen mit Behinderung angestoßen, jedoch ist der Bereich der Sexualität kein konkret benanntes Thema. Das Thema lässt sich nur indirekt in verschiedenen Artikeln herauslesen, wie der „Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung“(Art.5), Bewusstseinsbildung“ (Art. 8), Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“ (Art. 19), „Achtung der Privatsphäre“ (Art. 22), und „Bildung“ (Art. 24). Aspekte wie die unabhängige Lebensführung und die Achtung der Privatsphäre sind im Kontext von Sexualität hervorzuheben. Selbstbestimmung auch im Bereich von Sexualität ist hier ein immer wieder einzuforderndes Recht bei Menschen mit Behinderung. Eine starke Abhängigkeit von anderen Personen kann diese Selbstbestimmung stark erschweren. Dies zeigt, dass die UN-BRK als Unterstützungswerk nicht überschätzt werden darf und auch die Erklärung der World Association for Sexual Health noch lange keine Realität abbildet (vgl. Herrath 2013, 30). Es besteht also Handlungsbedarf um die „sexuellen Menschenrechte“ greifbarer und für den Alltag handfester zu gestalten. Denn die Konvention konkretisiert und unterstreicht nur bestehende Menschenrechte für die Personengruppe „Menschen mit Behinderungen“, erklärt diese aber nicht. Es ist also nicht erst mit der Ratifizierung die Aufgabe entstanden, die Rechte der Menschen mit Behinderung zu wahren, sondern wurde durch sie nur noch gestärkt (vgl. Herrath 2013, 31). Somit ist ein Grundstein für mehr Bewusstsein im Bereich der Rechte von Menschen mit Behinderung geschaffen, welchen es nun gilt in die Tat umzusetzen gilt und die Würde und das Selbstbestimmungsrecht herauszustellen, um es Menschen mit Behinderung leichter zu machen, Sexualität selbstbestimmt zu leben (vgl. Arnade 2013, 43). Achtung Schutz und Gewährleistung sind die sogenannte „Pflichtentrias“, zu der sich Deutschland mit der Ratifikation verpflichtet hat (vgl. ebd., 44). Dies soll allerdings nicht nur auf staatlicher Seite ein Appell sein, sondern auch die Gesellschaft und jede Einzelperson betreffen und verpflichten, diese anzuerkennen. „Achtung“ bedeutet hier die Menschenrechte behinderter Menschen zu respektieren, „Schutz“ meint, diese auch vor Verletzungen durch Dritte zu schützen und „Gewährleistung“ heißt, Schritte und Maßnahmen zu ergreifen um diese Rechte sicherzustellen (vgl. Arnade 2013, 44).

Gesetze und Verordnungen bieten zwar einen formalen Rahmen für sexuelle Selbstbestimmung, allerdings muss das Umdenken hin zur Akzeptanz und Respekt vor der Vielfalt von Sexualität innerhalb der Gesellschaft noch deutlich vorangetrieben werden. Generell gibt es kein Gesetz, dass konkret ein Recht auf Sexualität insbesondere für Menschen mit Behinderung beschreibt. Jedoch lässt es sich aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ableiten. Zunächst einmal steht dort zu den Grundrechten in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten, zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“ Hier geht es vor allem auch um die persönliche Freiheit. In Artikel 2 wird dies noch einmal erweitert: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit […]“. Dies bedeutet auch die Selbstentfaltung als Mann oder Frau (vgl. Sporken, Jacobi, van der Arend 1980, 15). Sieht man Sexualität als gesellschaftlich bedingten Lernprozess wird zudem deutlich, dass Sexualität gefördert und entwickelt werden muss. Diese Entwicklung ist somit auch Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung (Kluge & Sander 1987,18).

Im Folgenden soll daher die gesellschaftliche Wahrnehmung von Sexualität und Behinderung genauer betrachtet werden. Dabei soll vor allem auf vorherrschende Vorurteile, sowie Tabuisierungen in diesem Bereich eingegangen werden, um die Problematiken der heutigen gesellschaftlichen Sichtweise zu konkretisieren.

3.3.2 Gesellschaftliche Wahrnehmung von Sexualität und Behinderung

Behinderung im Allgemeinen ist auch in heutiger Zeit noch mit Vorurteilen und Berührungsängsten verbunden. In der UN-BRK wird erstmalig anerkannt, „dass Behinderung eine gesellschaftliche Vorstellung ist, die letztlich zur Ausgrenzung führt“ (Hierholzer 2014, 30). Der Inklusionsgedanke setzt sich zwar Stück für Stück in der Gesellschaft um, trifft allerdings immer wieder auf Barrieren struktureller, gesellschaftlicher und sozialer Art. Auch Sexualität ist ein polarisierendes Thema der Gesellschaft und ist genauso wenig problemlos wie vor der „Enttabuisierungswelle“ (Knapp 1978, 103). In Kombination sind also Behinderung und Sexualität ein gesellschaftliches Thema, was zu vielen Konflikten führen kann.

Bis in die 70er Jahre waren Menschen mit Behinderung im gesellschaftlichen Leben nicht präsent. Dies hatte unter anderem den Grund, dass sie sie häufig ihr Leben lang fremdversorgt wurden und in großen Anstalten untergebracht wurden. Dort wurden sie als Patienten „behandelt“ und die Grundversorgung stand im Vordergrund (vgl. Specht 2010, 3). Das Thema Sexualität wurde wenig bis gar nicht thematisiert, sogar unterbunden. Durch Berichterstattungen und Fachpublikationen wurden die Missstände zunehmend öffentlich. Mit dem „Normalisierungsprinzip“ wurde eine veränderte Sichtweise auf Menschen mit Behinderung und ihre Begleitung etabliert (vgl. Specht 2010, 3). Zentral war hier die Erkenntnis, dass sich behinderte Menschen nicht von nicht-behinderten Menschen in ihren Bedürfnissen unterscheiden (vgl. ebd.). Somit wurde aus pflegerischer Versorgung pädagogische Förderung. In den 80er und 90er Jahren rückte auch der Bereich der Sexualität mehr und mehr ins Blickfeld. Die Fachwissenschaftlichen Erkenntnisse sorgten dafür, dass das Thema mehr und mehr enttabuisiert werden konnte (vgl. Specht 2010, 3). Leider muss festgestellt werden, dass Sexualität in der Praxis noch nicht als selbstverständlicher Teil der Persönlichkeitsentwicklung behandelt wird (vgl. ebd. 4).

Diehl und Reuber (1995) bestätigen in einer Interview-Studie die Annahme, dass „die Sexualität behinderter Menschen in der Gesellschaft vielfach geleugnet wird“ (58). Ebenso wird eine Unterscheidung von „Normaler- und Behinderter-Sexualität“ (ebd.) vorgenommen. Die Gesellschaft sieht bei Menschen mit Behinderung die Behinderung als vordergründiges Merkmal und weniger das Geschlecht als Mann oder Frau (vgl. Ortland 2008, 30). Sexualität wird Menschen mit Behinderung meist pauschal abgesprochen oder eine Behinderung in diesem Bereich unterstellt (vgl. ebd.). Die Ablehnung der Geschlechtlichkeit behinderter Menschen scheint auch mit der fehlenden Vorstellungskraft von Menschen ohne Behinderung zusammenzuhängen (vgl. ebd.). Diese wollen oder können sich Sexualität nicht in Kombination mit einer Behinderung vorstellen, da die von der Gesellschaft propagierten Schönheitsideale nicht erfüllt sind und somit ein Mensch mit Behinderung nicht als attraktiver Sexualpartner erscheint (vgl. ebd.). Der Ausdruck körperlicher Hilflosigkeit führt bei nichtbehinderten Personen zu der Annahme, innerlicher Hilflosigkeit. Gekoppelt mit normativen Vorstellungen, wie Sexualität gelebt werden „soll“ verstärken sich diese Einstellungen (vgl. Weinwurm-Krause 1995, 6). Dadurch wird den Menschen mit Behinderung die Akzeptanz des eigenen Körpers erschwert und blockiert somit „den Weg zu einer individuellen Anpassung und Umformung der Geschlechtsrolle.“ (Weinwurm-Krause 1995, 7). Dies kann auch psychische Störungen zur Folge haben. Das Entstehen vieler Neurosen kann durch berührungsarme und asexuelle Beziehungen begründet sein (vgl. Weinwurm-Krause 1995, 6). Es lässt sich feststellen, dass „entsozialisierte Sexualität“ sich ins Gegenteil verwandeln kann, nämlich in Auto- und Fremdaggression (vgl. ebd., 6). Diese Verhaltensstörungen resultieren somit auch aus der Frustration der gesellschaftlichen Behinderung zur Auslebung der Sexualität von Menschen mit Behinderung.

Doch auch die strukturellen Bedingungen be- oder verhindern sogar die Sexualität. Insbesondere bei Heimunterbringungen bekommt dieser Aspekt des menschlichen Lebens kaum Raum (vgl. Ortland 2008, 31). Wenig Privatsphäre, restriktive Heimordnungen und eine eher ablehnende Haltung der Mitarbeiter*innen sind hier als wichtige Faktoren zu nennen (vgl. ebd.).

Jedoch finden sich nicht nur die Vorurteile der Asexualität, sondern insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung wird besondere Triebhaftigkeit unterstellt. Die verbreitetsten Vorurteile fasst Walter (1996) hier noch einmal zusammen als „Verdrängung, Dramatisierung, Fehldeutung“ (32-34). Der geistig behinderte Mensch ist dabei immer in Abhängigkeit von seiner Umwelt zu betrachten, welche ein bestimmtes Verhalten erwartet. Das „unschuldige Kind“ ist hier ein Vorurteil, das sich darauf bezieht, dass insbesondere die Eltern aber auch die soziale Umwelt den geistig behinderten Menschen als naives, geschlechtsloses und „unverdorbenes“ großes Kind betrachtet. Da jedoch die sexuelle Reifung trotzdem altersgemäß verläuft, entsteht eine Differenz zwischen dieser Vorstellung und den neuen Bedürfnissen während und nach der Pubertät (vgl. ebd., 32). Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität wird dadurch deutlich eingeschränkt und manchmal auch aktiv verhindert. (vgl. ebd.). Kann ein bestimmtes Verhalten jedoch nicht verhindert oder ignoriert werden, kann auch ein anderes Vorurteil die Folge sein. Geistig behinderte Menschen werden mit dem Attribut „triebgesteuert“ versehen und ihnen wird die Fähigkeit abgesprochen, Sexualität in sozial akzeptierter Weise auszuüben (vgl. ebd., 32). Meist hängen diese Dramatisierungen auch mit Fehldeutungen von bestimmten Verhaltensweisen zusammen, welche aus Kommunikationsproblemen resultieren. Verbalen Kommunikationsprobleme werden meist durch non-verbale und körperliche Kommunikation kompensiert (vgl. ebd., 33). Meist wird diese Art der Kommunikation als distanzlos empfunden und negativ konnotiert (vgl. ebd.).

Es lässt sich also festhalten, dass die Gesellschaft durch Vorurteile, Tabuisierungen und ablehnende Einstellung gegenüber der Sexualität von Menschen mit Behinderung, diese deutlich erschwert und behindert, wenn nicht sogar verhindert. Doch auch im Mikrosystem Familie lassen sich Einflussfaktoren feststellen. Im Folgenden soll daher die genaue Rolle der Eltern in der Sexualität von Menschen mit Körperbehinderung beleuchtet werden.

3.3.3 Die Rolle der Eltern in der Sexualität von Menschen mit Körperbehinderung

Um die Einflüsse der Familie und insbesondere der Eltern auf die Sexualität von Menschen mit Körperbehinderung zu betrachten, ist wichtig vorweg zu nehmen, dass dies wiederum keine Verallgemeinerungen zulässt. Hier spielen viele Faktoren eine Rolle, die Einflüsse haben können und in jeder Familie anders ausgeprägt sind, auch hinsichtlich der verschiedenen Behinderungsformen. Im Folgenden sollen daher eher mögliche Problematiken beleuchtet werden, die einen Einfluss auf die Sexualität haben können.

Grundsätzlich hängt vieles von der Rolle des Betreffenden innerhalb der Familie ab. Es kann sein, dass ein Sonderstatus (im Sinne von Ablehnung oder auch besonderer Zuwendung) zugeschrieben wird oder jedes Familienmitglied gleichwertig respektiert und wahrgenommen wird (vgl. Heidenreich & Kluge 1977, 65). Das Verhältnis zueinander kann also bereits ein Faktor in der Entwicklung von Sexualität sein, denn es bietet die Grundlage für die individuelle Entwicklung der Identität, Geschlechtsrolle und den Umgang mit Sexualität. Die Gesprächskultur in der Familie und die familiären Vorbilder sind zudem Grundlagen für gelingende sexuelle Beziehungen (Dannenbeck & Stich 2002, 190). Die Studie von Kluge & Sander (1987) ergab in der Auswertung von 225 Einzelinterviews mit Jugendlichen mit und ohne Behinderung, dass Eltern sich in der Erziehung von Kindern mit Körperbehinderung meist behütend oder streng kontrollierend verhalten (409). Diese Überbehütung kann durch den großen Bedarf an Versorgungsleistung und Maßnahmen entstehen, die ein hohes Maß an Engagement seitens der Eltern erfordern (vgl. ebd.). Durch vermehrte Krankenhausaufenthalte findet häufig eine zeitweise Trennung von den Eltern statt, welche einen kontinuierlichen liebevollen Bindungsaufbau erschwert (vgl. ebd., 410).

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Ende der Leseprobe aus 162 Seiten

Details

Titel
Sexualerziehung bei Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung. Herausforderungen für Eltern und Lehrkräfte
Autor
Jahr
2020
Seiten
162
Katalognummer
V539786
ISBN (eBook)
9783963550942
ISBN (Buch)
9783963550959
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sexualentwicklung, sexuelles Erleben, Aufklärung, Sexualpädagogik, Inklusion, Elternarbeit
Arbeit zitieren
Mareike Heider (Autor:in), 2020, Sexualerziehung bei Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung. Herausforderungen für Eltern und Lehrkräfte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539786

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